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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 15.07.2013<br />

[297]<br />

M[eine] H[erren!]<br />

Die Kunst und das gesellschaftliche Leben *, 1<br />

Vortrag, gehalten am 10. November 1912 in Paris<br />

1. Stunde<br />

Die Frage nach der Beziehung der Kunst zum gesellsch[aftlichen] Leben spielte und spielt<br />

eine wichtige Rolle in allen Literaturen, die eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht haben.<br />

Meistens wird sie in zweifachem, direkt sich widersprechendem Sinne gelöst.<br />

Die einen sagen: Nicht der Mensch ist für den Sabbat da, sondern der Sabbat für den<br />

M[enschen]. Nicht die Gesellschaft ist für den Künstler da, sondern der Künst[ler] für die<br />

Gesellschaft. Die Kunst muß zur Entwicklung des menschlichen Bewußtseins und zur Verbesserung<br />

der gesellschaftlichen Einrichtungen beitragen.<br />

Die anderen lehnen diesen Nützlichkeitsstandpunkt bezüglich der Kunst entschieden ab.<br />

Nach ihrer Meinung darf die Kunst nicht Mittel zur Erreichung irgendwelcher fremder, wenn<br />

auch edler Ziele sein. Sie dient sich selbst als Zweck. Sie muß völlige Unabhängigkeit genießen,<br />

und sie aus einem Zweck in ein Mittel verwandeln, heißt den Wert des Kunstwerkes<br />

herabsetzen.<br />

Die erste dieser beiden Anschauungen über die K[unst] vertrat leidenschaftlich Belinski während<br />

der letzten Jahre seines Lebens und Schaffens; nicht weniger leidenschaftlich wurde sie<br />

von den führenden Männern der sechziger Jahre vertreten: von Tschern[yschewski], Dobroljubow<br />

und ihren Anhängern. Von diesen Kritikern und Publizisten haben auch viele russische<br />

Künstler sie übernommen. Man braucht nur in der Dichtkunst an Nekrassow und in der Malerei<br />

an Kramskoi zu erinnern. 2<br />

*Anmerkungen zu: Die Kunst und das gesellschaftliche Leben (S. 297-318) am Ende des Kapitels.<br />

1 Titel und Untertitel stammen von G. W. Plechanow. Die Red.<br />

2 Wir führen eine einzelne im Archiv vorgefundene und mit der Ziffer II ‹9› numerierte Seite an, worin die Anschauung<br />

der Männer der sechziger Jahre über die Frage des „Kunstgenusses“ ausführlicher entwickelt ist:<br />

„... einer von den russischen Konservativen der damaligen Zeit und von den russischen Dekadenten unserer<br />

Tage so mißverstandenen und so sinnlos interpretierten [298] Beziehung zur Kunst. Für die führenden Männer<br />

der sechziger Jahre war die Frage nach der Kunst vor allem eine moralische Frage; sie fragten sich: Haben wir<br />

ein Recht auf Kunstgenuß in einer Zeit, wo die Mehrzahl unserer Mitmenschen nicht nur dieses Genusses, sondern<br />

auch der Möglichkeit beraubt ist, die elementarsten, dafür aber auch alltäglichsten, dringendsten Bedürfnisse<br />

zu befriedigen? Und sie hat man der Unmoral, der Gefühlsroheit, der Beschränktheit der Auffassungen und<br />

beinahe sogar der Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen eben jener armen Menschen beschuldigt, um<br />

derentwillen sie auf den Kunstgenuß und die übrigen Annehmlichkeiten des Lebens verzichteten.“<br />

In engem Zusammenhang zu dieser Seite steht eine andere Seite, die G. W. Plechanow „Zusatz zu Seite 10“<br />

überschrieben hat, auf der von der Hand W. I. Sassulitschs ein Auszug gemacht ist unter dem Titel:<br />

Kunstgenuß<br />

„Was habe ich davon, daß es für die Auserwählten Seligkeit gibt, wenn die Mehrheit nicht einmal eine Ahnung<br />

von deren Möglichkeit hat? Fort mit der Seligkeit, wenn sie nur mir als einem von Tausenden zuteil wird. Ich<br />

will nichts von ihr wissen, wenn ich sie nicht mit meinen geringeren Brüdern gemein habe! Mein Herz blutet<br />

und krampft sich zusammen beim Anblick der Menge und ihrer Vertreter. (Trauer, schwere Trauer überfällt<br />

mich, wenn ich die barfüßigen Jungen sehe, die auf der Straße Knöchel spielen, oder einen abgerissenen Bettler<br />

oder einen betrunkenen Kutscher, ... oder einen Beamten, der mit der Aktentasche unterm Arm angelaufen<br />

kommt...)“ [Die Einklammerung muß von Plechanow stammen.] „... wenn ich einer Bettlerin einen Groschen<br />

gegeben habe, laufe ich von ihr weg, als hätte ich etwas Schlechtes getan und als wollte ich das Schlurfen meiner<br />

eigenen Schritte nicht hören. Auch das ist Leben: in Lumpen auf der Straße sitzen mit idiotischem Gesichtsausdruck,<br />

tagsüber ein paar Groschen einheimsen und sie abends in der Kneipe vertrinken – und die Leute sehen<br />

1

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