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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 Schönen ändern sich ohne Zweifel im Laufe des geschichtlichen Prozesses. Wenn es aber kein absolutes Kriterium des Schönen gibt; wenn alle seine Kriterien relativ sind, so bedeutet das noch nicht, daß uns jede objektive Möglichkeit genommen ist, darüber zu urteilen, ob eine künstlerische Idee gut ausgeführt ist. Nehmen wir an, ein Künstler will die „Dame in Blau“ malen. Wenn das, was er auf seinem Bilde darstellt, in der Tat einer solchen Dame gleicht, so sagen wir, es sei ihm gelungen, ein schönes Bild zu malen. Wenn wir aber an Stelle einer in Blau gekleideten Dame auf seiner Leinwand einige stereometrische Figuren sehen, auf die stellenweise mehr oder weniger dick oder mehr oder weniger grob blaue Farbe aufgetragen ist, werden wir sagen, er habe weiß Gott was, nur kein schönes Bild gemalt. Je mehr die Ausführung dem Vorwurf entspricht oder – um einen allgemeineren Ausdruck zu gebrauchen – je mehr die Form des Kunstwerkes seiner Idee entspricht, desto gelungener ist es. Da habt ihr den objektiven Maßstab. Und nur weil es einen solchen Maßstab gibt, sind wir berechtigt zu behaupten, daß die Bilder beispielsweise von Leonardo da Vinci besser sind als die Bilder irgendeines kleinen Themistoklus 1 , der das Papier zu seinem Vergnügen vollschmiert. Wenn Leonardo da Vinci, sagen wir, einen alten Mann mit einem Bart zeichnete, dann wurde es bei ihm auch ein alter Mann mit einem Bart. Ja, und wie er es wurde! Wenn wir ihn sehen, sagen wir: Wie lebend! Wenn aber ein Themistoklus einen solchen alten Mann zeichnet, tun wir besser, zur Vermeidung von Mißverständnissen darunterzuschreiben: das ist ein alter Mann mit Bart und nicht irgend was anderes. Wenn Herr Lunatscharski behauptete, es gebe keinen objektiven Maßstab des [294] Schönen, so beging er den gleichen Fehler, den sich viele bürgerliche Ideologen bis zu den Kubisten einschließlich zuschulden kommen lassen: den Fehler des extremen Subjektivismus. Mir ist ganz unbegreiflich, wie ein Mensch, der sich als Marxist bezeichnet, einen solchen Fehler begehen kann. Es ist indes hinzuzufügen, daß der Ausdruck „schön“ hier von mir in einem sehr weiten, wenn Sie wollen, in einem zu weiten Sinne angewandt wird: einen alten Mann mit Bart schön zeichnen bedeutet nicht einen schönen, d. h. hübschen alten Mann zeichnen. Das Gebiet der Kunst ist weiter als das Gebiet des „Schönen“. Aber in ihrem ganzen weiten Gebiet läßt sich mit der gleichen Bequemlichkeit das von mir angegebene Kriterium anwenden: Übereinstimmung der Form mit der Idee. Herr Lunatscharski behauptete (wenn ich ihn richtig verstanden habe), die Form könne auch einer verlogenen Idee vollständig entsprechen. Aber damit kann ich nicht einverstanden sein. Denken wir an de Curels Stück „Le repas du lion“. Diesem Stück liegt, wie wir wissen, die verlogene Idee zugrunde, der Unternehmer stehe zu den Arbeitern in dem gleichen Verhältnis wie der Löwe zu den Schakalen, die sich von den Brocken nähren, die von seinem königlichen Tische fallen. Es fragt sich: hätte de Curel diese irrige Idee in seinem Drama in einer der Wahrheit entsprechenden Weise darstellen können? Nein! Diese Idee ist gerade deshalb irrig, weil sie den wirklichen Beziehungen zwischen dem Unternehmer und seinen Arbeitern widerspricht. Sie in einem Kunstwerk darstellen bedeutet die Wirklichkeit entstellen. Und wenn ein Kunstwerk die Wirklichkeit entstellt, dann ist es ein mißlungenes Werk. Und deshalb steht „Le repas du lion“ weit unter dem Talent de Curels, und aus demselben Grunde steht das Stück „An des Reiches Pforten“ weit unter dem Talent Hamsuns. Zweitens hat Herr Lunatscharski mir zu großen Objektivismus der Darstellung vorgeworfen. Er hat offenbar zugegeben, daß der Apfelbaum Äpfel tragen muß und der Birnbaum Birnen. Aber er bemerkte, daß es unter den Künstlern, die auf dem bürgerlichen Standpunkt stehen, anzuerkennen. Aber die Menschen, die so urteilen, sind reinblütige Idealisten, ich aber halte mich für einen nicht minder reinblütigen Materialisten. Ich anerkenne nicht nur nicht das Vorhandensein der „einen unvergänglichen Schönheit“, sondern verstehe nicht einmal, welcher Sinn mit diesen Worten: „die eine unvergängliche Schönheit“, verbunden sein kann. Mehr noch, ich bin überzeugt, die Herren Idealisten verstehen das selbst nicht. Alle Erörterungen über eine solche Schönheit sind nichts als ein Spiel mit Worten. 1 [Figur aus Gogols „Tote Seelen“: der achtjährige Sohn Manilows.] 44

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 solche mit schwankender Haltung gebe und daß man diese überzeugen und nicht der elementaren Kraft der bürgerlichen Einflüsse überlassen müsse. Ich gestehe, diesen Vorwurf halte ich für noch weniger begreiflich als den ersten. In meinem „Referat“ sagte ich und – ich möchte es gern glauben – zeigte ich, daß die moderne Kunst im Verfall begriffen ist. 1 [295] Ich habe als Ursache dieser Erscheinung, gegen die niemand, der die Kunst aufrichtig liebt, gleichgültig bleiben kann, den Umstand angegeben, daß die Mehrzahl der jetzigen Künstler auf dem bürgerlichen Standpunkt steht und völlig unzugänglich ist für die großen Freiheitsideen unserer Zeit. Es fragt sich, wie dieser Hinweis auf die Schwankenden einen Einfluß haben kann. Ist er erzeugend, dann muß er die Schwankenden zum Übergang auf den Standpunkt des Proletariats bewegen. Das ist alles, was man von einem Referat verlangen kann, das der Erörterung der Frage der Kunst gewidmet ist und nicht der Darstellung und Verteidigung der Grundsätze des Sozialismus. Last not least [nicht zuletzt] findet Herr Lunatscharski, der es für unmöglich hält, den Verfall der bürgerlichen Kunst zu beweisen, daß ich rationeller verfahren wäre, wenn ich den bürgerlichen Idealen ein wohlgeordnetes System – so drückte er sich, wie mir erinnerlich ist, aus – ihnen entgegengesetzter Begriffe gegenübergestellt hätte. Und er teilte dem Auditorium mit, ein solches System würde mit der Zeit ausgearbeitet. Ein solcher Einwand geht schon vollends über meine Begriffe. Wenn ein solches System eben erst ausgearbeitet werden soll, so ist klar, daß es noch keines gibt. Und wenn es keines gibt, wie konnte ich es dann den bürgerlichen Ansichten gegenüberstellen? Und was ist das für ein wohlgeordnetes Begriffssystem? Der moderne wissenschaftliche Sozialismus stellt ohne Zweifel eine völlig logische Theorie dar. Und er hat den Vorzug, daß er schon existiert. Aber, wie ich bereits sagte, es wäre sehr seltsam, wenn ich, nachdem ich mir vorgenommen hatte, ein „Referat“ über das Thema „Die Kunst und das gesellschaftliche Leben“ zu halten, die Lehre des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, zum Beispiel die Theorie des Mehrwerts dargelegt hätte. Gut ist nur, was zur rechten Zeit am rechten Platze ist. Es ist indes möglich, daß Herr Lunatscharski unter einem logischen Begriffssystem jene Betrachtungen über die proletarische Kultur verstand, die sein nächster Gesinnungsgenosse, Herr Bogdanow, vor gar nicht langer Zeit in der Presse vortrug. In diesem Falle liefe sein letzter Einwand darauf hinaus, daß ich meine Sache noch geschickter angepackt hätte, [296] wenn ich bei Herrn Bogdanow ein bißchen was gelernt hätte. Ich danke für den Rat. Allein, ich habe nicht die Absicht, davon Gebrauch zu machen. Und sollte sich einer, weil er in diesen Dingen nicht Bescheid weiß, für Herrn Bogdanows Broschüre „Über die proletarische Kultur“ interessieren, so möchte ich ihn daran erinnern, daß diese Broschüre von einem anderen nächsten Gesinnungsgenossen des Herrn Lunatscharski, von Herrn Alexinski, in „Sowremenni Mir“, in recht gelungener Weise verspottet worden ist.# 1 Ich fürchte, es kann auch hier ein Mißverständnis geben. Der Ausdruck „im Verfall begriffen“ bedeutet bei mir comme de raison [wie recht und billig] einen ganzen Prozeß und nicht eine einzelne Erscheinung. Dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen, wie auch der soziale Prozeß des Verfalls der bürgerlichen Ordnung noch nicht beendet ist. Es wäre deshalb seltsam zu denken, die jetzigen bürgerlichen Ideologen seien endgültig außerstande, irgendwelche hervorragenden Werke zu liefern. Solche Werke sind [295] natürlich auch jetzt möglich. Aber die Aussichten, daß solche erscheinen, werden in verhängnisvoller Weise verringert. Überdies tragen auch die hervorragenden Werke das Gepräge der Verfallsepoche an sich. Nehmen wir meinetwegen den oben angeführten russischen Dreistern: wenn Herrn Philosophoff jegliches Talent auf allen Gebieten abgeht, so besitzt Frau Hippius ein gewisses künstlerisches Talent, und Herr Mereschkowsky ist sogar ein sehr talentvoller Künstler. Aber es ist leicht einzusehen, daß zum Beispiel sein letzter Roman (Alexander I.) heillos verpfuscht ist durch seinen religiösen Wahn, der seinerseits eine der Verfallsepoche eigentümliche Erscheinung ist. In solchen Epochen können auch sehr große Talente bei weitem nicht das leisten, was sie unter günstigeren gesellschaftlichen Bedingungen leisten würden. 45

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

Schönen ändern sich ohne Zweifel im Laufe des geschichtlichen Prozesses. Wenn es aber<br />

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das noch nicht, daß uns jede objektive Möglichkeit genommen ist, darüber zu urteilen, ob<br />

eine künstlerische Idee gut ausgeführt ist. Nehmen wir an, ein Künstler will die „Dame in<br />

Blau“ malen. Wenn das, was er auf seinem Bilde darstellt, in der Tat einer solchen Dame<br />

gleicht, so sagen wir, es sei ihm gelungen, ein schönes Bild zu malen. Wenn wir aber an Stelle<br />

einer in Blau gekleideten Dame auf seiner Leinwand einige stereometrische Figuren sehen,<br />

auf die stellenweise mehr oder weniger dick oder mehr oder weniger grob blaue Farbe aufgetragen<br />

ist, werden wir sagen, er habe weiß Gott was, nur kein schönes Bild gemalt. Je mehr<br />

die Ausführung dem Vorwurf entspricht oder – um einen allgemeineren Ausdruck zu gebrauchen<br />

– je mehr die Form des Kunstwerkes seiner Idee entspricht, desto gelungener ist es. Da<br />

habt ihr den objektiven Maßstab. Und nur weil es einen solchen Maßstab gibt, sind wir berechtigt<br />

zu behaupten, daß die Bilder beispielsweise von Leonardo da Vinci besser sind als<br />

die Bilder irgendeines kleinen Themistoklus 1 , der das Papier zu seinem Vergnügen vollschmiert.<br />

Wenn Leonardo da Vinci, sagen wir, einen alten Mann mit einem Bart zeichnete,<br />

dann wurde es bei ihm auch ein alter Mann mit einem Bart. Ja, und wie er es wurde! Wenn<br />

wir ihn sehen, sagen wir: Wie lebend! Wenn aber ein Themistoklus einen solchen alten Mann<br />

zeichnet, tun wir besser, zur Vermeidung von Mißverständnissen darunterzuschreiben: das ist<br />

ein alter Mann mit Bart und nicht irgend was anderes. Wenn Herr Lunatscharski behauptete,<br />

es gebe keinen objektiven Maßstab des [294] Schönen, so beging er den gleichen Fehler, den<br />

sich viele bürgerliche Ideologen bis zu den Kubisten einschließlich zuschulden kommen lassen:<br />

den Fehler des extremen Subjektivismus. Mir ist ganz unbegreiflich, wie ein Mensch, der<br />

sich als Marxist bezeichnet, einen solchen Fehler begehen kann.<br />

Es ist indes hinzuzufügen, daß der Ausdruck „schön“ hier von mir in einem sehr weiten, wenn<br />

Sie wollen, in einem zu weiten Sinne angewandt wird: einen alten Mann mit Bart schön zeichnen<br />

bedeutet nicht einen schönen, d. h. hübschen alten Mann zeichnen. Das Gebiet der Kunst<br />

ist weiter als das Gebiet des „Schönen“. Aber in ihrem ganzen weiten Gebiet läßt sich mit der<br />

gleichen Bequemlichkeit das von mir angegebene Kriterium anwenden: Übereinstimmung der<br />

Form mit der Idee. Herr Lunatscharski behauptete (wenn ich ihn richtig verstanden habe), die<br />

Form könne auch einer verlogenen Idee vollständig entsprechen. Aber damit kann ich nicht<br />

einverstanden sein. Denken wir an de Curels Stück „Le repas du lion“. Diesem Stück liegt, wie<br />

wir wissen, die verlogene Idee zugrunde, der Unternehmer stehe zu den Arbeitern in dem gleichen<br />

Verhältnis wie der Löwe zu den Schakalen, die sich von den Brocken nähren, die von<br />

seinem königlichen Tische fallen. Es fragt sich: hätte de Curel diese irrige Idee in seinem Drama<br />

in einer der Wahrheit entsprechenden Weise darstellen können? Nein! Diese Idee ist gerade<br />

deshalb irrig, weil sie den wirklichen Beziehungen zwischen dem Unternehmer und seinen<br />

Arbeitern widerspricht. Sie in einem Kunstwerk darstellen bedeutet die Wirklichkeit entstellen.<br />

Und wenn ein Kunstwerk die Wirklichkeit entstellt, dann ist es ein mißlungenes Werk. Und<br />

deshalb steht „Le repas du lion“ weit unter dem Talent de Curels, und aus demselben Grunde<br />

steht das Stück „An des Reiches Pforten“ weit unter dem Talent Hamsuns.<br />

Zweitens hat Herr Lunatscharski mir zu großen Objektivismus der Darstellung vorgeworfen.<br />

Er hat offenbar zugegeben, daß der Apfelbaum Äpfel tragen muß und der Birnbaum Birnen.<br />

Aber er bemerkte, daß es unter den Künstlern, die auf dem bürgerlichen Standpunkt stehen,<br />

anzuerkennen. Aber die Menschen, die so urteilen, sind reinblütige Idealisten, ich aber halte mich für einen<br />

nicht minder reinblütigen Materialisten. Ich anerkenne nicht nur nicht das Vorhandensein der „einen unvergänglichen<br />

Schönheit“, sondern verstehe nicht einmal, welcher Sinn mit diesen Worten: „die eine unvergängliche<br />

Schönheit“, verbunden sein kann. Mehr noch, ich bin überzeugt, die Herren Idealisten verstehen das selbst nicht.<br />

Alle Erörterungen über eine solche Schönheit sind nichts als ein Spiel mit Worten.<br />

1 [Figur aus Gogols „Tote Seelen“: der achtjährige Sohn Manilows.]<br />

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