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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 mit unbekannten Genies spekuliert.“ 1 Ich möchte en passant [im Vorübergehen, beiläufig] bemerken, daß sich durch diese Spekulation mit den unbekannten Genies unter anderem auch jene fieberhafte Jagd nach dem „Neuen“ erklärt, der sich die Mehrzahl der heutigen Künstler hingibt. „Zum Neuen“ streben die Menschen immer deshalb, weil das Alte sie nicht befriedigt. Aber die Frage ist die, weshalb es sie nicht befriedigt. Viele, viele moderne Künstler befriedigt das Alte einzig und allein deshalb nicht, weil ihre eigene Genialität, solange das Publikum am Alten festhält, „unbekannt“ bleibt. Zur Ablehnung des Alten treibt sie nicht die Liebe zu irgendeiner neuen Idee, sondern zu immer derselben „einzigen Wirklichkeit“, immer zu demselben lieben „Ich“. Aber eine solche Liebe gibt dem Künstler keine Inspiration, sondern macht ihn nur im voraus dazu geneigt, auch den „Götzen von Belvedere“ vom Standpunkt des Nutzens aus zu betrachten. „Die Geldfrage ist so stark mit der Frage der Kunst verflochten“, fährt Mauclair fort, „daß sich die Kunstkritik wie in einem Schraubstock fühlt. Die besten Kritiker können, was sie denken, nicht sagen, und die übrigen sagen nur, was sie im gegebenen Falle für angebracht halten, da man doch von dem, was man schreibt, leben muß. Ich sage nicht, daß man daran Anstoß nehmen muß, aber man kann sich immerhin von der Kompliziertheit des Problems einen Begriff machen.“ 2 Wir sehen: die Kunst für die Kunst hat sich in die Kunst für das Geld verwandelt. Und das ganze Problem, das Mauclair interessierte, läuft auf [291] die Bestimmung der Ursache hinaus, aus der es so geworden ist. Es ist nicht so schwer, sie zu bestimmen. „Es gab eine Zeit, wo man, wie im Mittelalter, nur den Überfluß austauschte, den Überschuß der Produktion über den Verbrauch. Es gab ferner eine Zeit, wo nicht nur der Überfluß, sondern alle Produkte, das ganze industrielle Dasein, in den Handel übergegangen waren, wo die ganze Produktion vom Austausch abhing... Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen usw., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde. Es ist die Zeit der allgemeinen Korruption, der universellen Käuflichkeit oder, um die ökonomische Ausdrucksweise zu gebrauchen, die Zeit, in der jeder Gegenstand, ob physisch oder moralisch, als Handelswert auf den Markt gebracht wird, um auf seinen richtigsten Wert abgeschätzt zu werden.“ 3 Kann man sich darüber wundern, daß die Kunst in der Zeit der allgemeinen Käuflichkeit ebenfalls käuflich wird? Mauclair will nicht sagen, daß man sich darüber aufregen muß. Bei mir besteht ebenfalls kein Verlangen, diese Erscheinung vom Standpunkt der Moral zu würdigen. Mein Bestreben ist, nach einem bekannten Ausdruck, nicht zu weinen, nicht zu lachen, sondern zu verstehen. Ich sage nicht: die zeitgenössischen Künstler „müssen“ sich von den freiheitlichen Bestrebungen des Proletariats inspirieren lassen. Nein, wenn der Apfelbaum Äpfel tragen, der Birnbaum Birnen bringen muß, so müssen die Künstler, die auf dem Standpunkt der Bourgeoisie stehen, gegen die angegebenen Bestrebungen protestieren. Die Kunst der Zeiten des Verfalls „muß“ eine Kunst des Verfalls (dekadent) sein. Das ist unvermeidlich. Und wir würden uns vergeblich darüber „aufregen“. Indes, im Manifest der Kommunistischen Partei heißt es ganz richtig: „In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, 1 Mauclair, „Drei Krisen der modernen Kunst“, Paris 1906, S. 319/320. Die Red. 2 Ebenda, S. 321. 3 K. Marx, „Das Elend der Philosophie“, St. Petersburg 1906, S. 3/4. [Ausgabe Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 53/54]. 42

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen [292] Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.“ 1 Unter den Bourgeoisideologen, die auf die Seite des Proletariats übergehen, sehen wir sehr wenige Künstler. Das erklärt sich wahrscheinlich damit, daß sich zum „theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung“ nur Denkende „hinaufarbeiten“ können, und die Künstler unserer Zeit – zum Unterschiede beispielsweise von den großen Meistern der Renaissancezeit – denken außergewöhnlich wenig. 2 Wie dem aber auch sei, man kann mit Sicherheit sagen, daß jedes irgendwie bedeutsame künstlerische Talent seine Schaffenskraft in sehr hohem Grade steigert, wenn es sich von den großen Freiheitsideen unserer Zeit durchdringen läßt. Es ist nur nötig, daß diese Ideen ihm in Fleisch und Blut übergehen, daß er sie eben als Künstler zum Ausdruck bringt. 3 Ebenfalls nötig ist es, daß er den Modernismus in der Kunst bei den heutigen Ideologen der Bourgeoisie nach ihrem Werte würdigen kann. Die herrschende Klasse befindet sich jetzt in einer Lage, in der Fortschreiten gleichbedeutend ist mit Herunterkommen. Und dieses ihr klägliches Schicksal teilen mit ihr alle ihre Ideologen. Am fortschrittlichsten unter ihnen sind gerade die, die tiefer als alle ihre Vorgänger gesunken sind. Als ich die hier dargelegten Ansichten äußerte, erhob Herr Lunatscharski einige Einwände gegen mich, von denen ich die wichtigsten hier untersuchen will. Erstens wunderte er sich darüber, daß ich, wie er meinte, das Vorhandensein eines absoluten Kriteriums des Schönen annehme. Ein solches Kriterium gebe es aber nicht. Alles fließe, alles verändere sich. Es ändern sich unter anderem auch die Schönheitsbegriffe der Menschen. Deshalb können wir nicht beweisen, daß die moderne Kunst tatsächlich eine Krisis des Häßlichen durchmache. [293] Hierauf erwiderte ich und erwidere ich, daß es, meiner Ansicht nach, kein absolutes Kriterium des Schönen gibt und auch nicht geben kann. 4 Die Begriffe der Menschen vom 1 [Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1952, S. 35.] 2 „Nous touchons ici au défaut de culture générale qui caractérise la plupart des artistes jeunes. Une fréquentation assidue vous démontrera vite qu’ils sont en général très ignorants... incapables ou indifférents devant les antagonismes d’idées et les situations dramatiques actuelles, ils œuvrent péniblement à l’écart de toute l’agitation intellectuelle et sociale, confinés dans les conflits de technique, absorbés par l’apparence matérielle de la peinture plus que par sa signification générale et son influence intellectuelle.“ [„Wir haben es hier mit dem Mangel an allgemeiner Bildung zu tun, der für die meisten jungen Künstler kennzeichnend ist. Beim häufigen Umgang mit ihnen wird man schnell gewahr, daß sie im allgemeinen sehr unwissend sind... Verständnislos oder gleichgültig gegenüber den Ideenkämpfen und den dramatischen Situationen der Gegenwart, werkeln sie mühselig, abseits von der geistigen und sozialen Bewegung, beschränkt auf technische Probleme, mehr mit den materiellen Erscheinungsformen der Malerei beschäftigt als mit ihrer allgemeinen Bedeutung und ihrem geistigen Einfluß.“] Holl, „La jeune peinture contemporaine“, pp. 14/15, Paris 1912. 3 Hier berufe ich mich mit Vergnügen auf Flaubert. Er schrieb an George Sand: „Je crois la forme et le fond... deux entités qui n’existent jamais l’une sans l’autre“ („Ich halte Form und Inhalt... für zwei Wesenheiten, die niemals getrennt voneinander vorkommen“; „Correspondance“, quatrième serie, p. 225). Wer es für möglich hält, die Form „der Idee“ zu opfern, der ist kein Künstler mehr, wenn er auch vorher einer war. 4 „Nicht die unbewußte Laune eines wählerischen Geschmacks legt uns den Wunsch nahe, für sich bestehende ästhetische Werte zu finden, die nicht der Herrschaft der Modeeitelkeit, der herdenmäßigen Nachäfferei unterworfen sind. Der schöpferische Traum von der einen unvergänglichen Schönheit, die Lebensform, welche ‚die Welt retten‘ wird, die Verirrten und Gefallenen erleuchtet und zu neuem Leben erweckt, wird genährt durch das unausrottbare Bedürfnis des menschlichen Geistes, in die Schöpfergeheimnisse des Absoluten einzudringen“ (W. N. Speranski, „Die gesellschaftliche Rolle der Philosophie, Einführung“, S. XI, 1. Aufl., St. Petersburg, Verlag „Schipownik“, 1913). Menschen, die so urteilen, zwingt die Logik, ein absolutes Kriterium des Schönen 43

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

mit unbekannten Genies spekuliert.“ 1 Ich möchte en passant [im Vorübergehen, beiläufig]<br />

bemerken, daß sich durch diese Spekulation mit den unbekannten Genies unter anderem auch<br />

jene fieberhafte Jagd nach dem „Neuen“ erklärt, der sich die Mehrzahl der heutigen Künstler<br />

hingibt. „Zum Neuen“ streben die Menschen immer deshalb, weil das Alte sie nicht befriedigt.<br />

Aber die Frage ist die, weshalb es sie nicht befriedigt. Viele, viele moderne Künstler<br />

befriedigt das Alte einzig und allein deshalb nicht, weil ihre eigene Genialität, solange das<br />

Publikum am Alten festhält, „unbekannt“ bleibt. Zur Ablehnung des Alten treibt sie nicht die<br />

Liebe zu irgendeiner neuen Idee, sondern zu immer derselben „einzigen Wirklichkeit“, immer<br />

zu demselben lieben „Ich“. Aber eine solche Liebe gibt dem Künstler keine Inspiration,<br />

sondern macht ihn nur im voraus dazu geneigt, auch den „Götzen von Belvedere“ vom<br />

Standpunkt des Nutzens aus zu betrachten. „Die Geldfrage ist so stark mit der Frage der<br />

Kunst verflochten“, fährt Mauclair fort, „daß sich die Kunstkritik wie in einem Schraubstock<br />

fühlt. Die besten Kritiker können, was sie denken, nicht sagen, und die übrigen sagen nur,<br />

was sie im gegebenen Falle für angebracht halten, da man doch von dem, was man schreibt,<br />

leben muß. Ich sage nicht, daß man daran Anstoß nehmen muß, aber man kann sich immerhin<br />

von der Kompliziertheit des Problems einen Begriff machen.“ 2<br />

Wir sehen: die Kunst für die Kunst hat sich in die Kunst für das Geld verwandelt. Und das<br />

ganze Problem, das Mauclair interessierte, läuft auf [291] die Bestimmung der Ursache hinaus,<br />

aus der es so geworden ist. Es ist nicht so schwer, sie zu bestimmen. „Es gab eine Zeit,<br />

wo man, wie im Mittelalter, nur den Überfluß austauschte, den Überschuß der Produktion<br />

über den Verbrauch.<br />

Es gab ferner eine Zeit, wo nicht nur der Überfluß, sondern alle Produkte, das ganze industrielle<br />

Dasein, in den Handel übergegangen waren, wo die ganze Produktion vom Austausch abhing...<br />

Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten,<br />

Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo<br />

selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft,<br />

erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen usw., wo<br />

mit einem Wort alles Sache des Handels wurde. Es ist die Zeit der allgemeinen Korruption,<br />

der universellen Käuflichkeit oder, um die ökonomische Ausdrucksweise zu gebrauchen, die<br />

Zeit, in der jeder Gegenstand, ob physisch oder moralisch, als Handelswert auf den Markt<br />

gebracht wird, um auf seinen richtigsten Wert abgeschätzt zu werden.“ 3<br />

Kann man sich darüber wundern, daß die Kunst in der Zeit der allgemeinen Käuflichkeit<br />

ebenfalls käuflich wird?<br />

Mauclair will nicht sagen, daß man sich darüber aufregen muß. Bei mir besteht ebenfalls kein<br />

Verlangen, diese Erscheinung vom Standpunkt der Moral zu würdigen. Mein Bestreben ist,<br />

nach einem bekannten Ausdruck, nicht zu weinen, nicht zu lachen, sondern zu verstehen. Ich<br />

sage nicht: die zeitgenössischen Künstler „müssen“ sich von den freiheitlichen Bestrebungen<br />

des Proletariats inspirieren lassen. Nein, wenn der Apfelbaum Äpfel tragen, der Birnbaum Birnen<br />

bringen muß, so müssen die Künstler, die auf dem Standpunkt der Bourgeoisie stehen, gegen<br />

die angegebenen Bestrebungen protestieren. Die Kunst der Zeiten des Verfalls „muß“ eine<br />

Kunst des Verfalls (dekadent) sein. Das ist unvermeidlich. Und wir würden uns vergeblich darüber<br />

„aufregen“. Indes, im Manifest der Kommunistischen Partei heißt es ganz richtig: „In Zeiten<br />

endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß<br />

innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen,<br />

1 Mauclair, „Drei Krisen der modernen Kunst“, Paris 1906, S. 319/320. Die Red.<br />

2 Ebenda, S. 321.<br />

3 K. Marx, „Das Elend der Philosophie“, St. Petersburg 1906, S. 3/4. [Ausgabe Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 53/54].<br />

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