erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 lern, die „gedankenlos“ die edlen Appelle vernehmen, die vom Volke kommen. Diese Künstler werden bestenfalls dadurch schuldig, daß ihre Uhren um etwa 80 Jahre nachgehen. Indem sie die besten Bestrebungen ihrer Epoche ablehnen, bilden sie sich naiverweise ein, sie seien die Fortsetzer jenes Kampfes gegen das Spießertum, mit dem sich schon die Romantiker befaßt hatten. Über das Thema des Spießertums der jetzigen proletarischen Bewegung lassen sich sowohl die westeuropäischen wie auch, in ihrem Gefolge, unsere russischen Ästheten gern aus. Das ist lächerlich. Richard Wagner hat schon längst gezeigt, wie unbegründet der Vorwurf des Spießertums ist, den solche Herrschaften an die Adresse der Freiheitsbewegung der Arbeiterklasse richten. Nach der sehr richtigen Meinung Wagners ist die Freiheitsbewegung der Arbeiterklasse, genau betrachtet, ein Hinstreben nicht zum Spießertum, sondern vom Spießertum weg zum freien Leben, „zum künstlerischen Menschentum“. Sie ist „der Drang nach würdigem Genusse des Lebens, dessen materiellen Unterhalt der Mensch sich nicht mit dem Aufwande aller seiner Lebenskräfte mühselig mehr verdienen, sondern dessen er sich als Mensch erfreuen soll“. Diese Erlangung der materiellen Mittel zum Leben durch den Aufwand all seiner Lebenskraft bildet jetzt auch die Quelle der „kleinbürgerlichen“ Gefühle. Die ständige Sorge um den Lebensunterhalt „hat den Menschen schwach, knechtisch, stumpf und elend gemacht, zu einem Geschöpfe, das nicht lieben und nicht hassen kann, zu [288] einem Bürger, der jeden Augenblick den letzten Rest seines freien Willens hingab, wenn nur diese Sorge ihm erleichtert werden konnte“. Die Freiheitsbewegung des Proletariats führt zur Beseitigung dieser den Menschen erniedrigenden und verderbenden Sorge. Wagner fand, daß nur ihre Beseitigung, nur die Verwirklichung der freiheitlichen Bestrebungen des Proletariats die Worte Jesu wahr werden läßt: Kümmert euch nicht um das, was ihr essen werdet, usw. 1 Er konnte mit Recht hinzufügen, daß nur die Verwirklichung des eben Gesagten jener Gegenüberstellung von Ästhetik und Moral, der wir bei den Anhängern der Kunst für die Kunst, zum Beispiel bei Flaubert 2 begegnen, jede ernste Begründung entzieht. Flaubert fand, daß „tugendhafte Bücher langweilig und verlogen“ („ennuyeux et faux“) sind. Er hatte recht. Aber nur deshalb, weil die Tugend der jetzigen Gesellschaft, die bürgerliche Tugend, langweilig und verlogen ist. Die antike „Tugend“ war in den Augen desselben Flaubert weder verlogen noch langweilig. Und dabei besteht ihr ganzer Unterschied zur bürgerlichen Tugend darin, daß ihr bürgerlicher Individualismus fremd war. Schirinski-Schichmatow, in seiner Eigenschaft als Volksbildungsminister Nikolaus’ I., erblickte die Aufgabe der Kunst in der „Befestigung jenes für das gesellschaftliche und private Leben so wichtigen Glaubens, daß die Missetat schon auf Erden ihre verdiente Strafe findet“, d. h. in einer Gesellschaft, die von Schirinski-Schichmatow so angelegentlich bevormundet wurde. Das war natürlich eine große Lüge und eine langweilige Trivialität. Die Künstler tun sehr gut, sich von einer derartigen Lüge und Plattheit abzuwenden. Und wenn wir bei Flaubert lesen, daß es in einem gewissen Sinne „nichts Poetischeres gibt als das Laster“ 3 ‚ so verstehen wir, daß der wahre Sinn dieser Gegenüberstellung die Gegenüberstellung des Lasters und der platten, langweiligen, verlogenen Tugend von bürgerlichen Moralisten und Leuten wie Schirinski-Schichmatow ist. Mit der Beseitigung der gesellschaftlichen Zustände, die diese platte, langweilige und verlogene Tugend hervorgebracht haben, wird jedoch auch das moralische Bedürfnis nach der Idealisierung des Lasters beseitigt. Ich wiederhole, die antike Tugend erschien Flaubert nicht platt, langweilig und verlogen, auch wenn er, infolge der extremen Unentwickeltheit seiner sozialen und politischen Begriffe, in seiner Wertschätzung dieser Tugend von einer so sonderbaren Verneinung derselben, wie es das Verhalten Neros war, entzückt sein konnte. In der soziali- 1 „Die Kunst und die Revolution“ (R. Wagner, Gesammelte Schriften, Bd. III, Leipzig 1872, S. 40/41). 2 „Les carnets de Gustave Flaubert“ (L. Bertrand, „Gustave Flaubert“, S. 260). 3 Ebenda. 40

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 stischen Gesellschaft wird das Schwärmen für die Kunst um der Kunst willen rein [289] logisch in demselben Maße unmöglich, in welchem die Verflachung der gesellschaftlichen Moral aufhört, die jetzt eine unvermeidliche Folge des Dranges der herrschenden Klasse ist, ihre Privilegien zu bewahren. Flaubert sagt: „L’art, c’est la recherche de l’inutile“ („Die Kunst sucht das Nutzlose“). In diesen Worten erkennt man unschwer den Grundgedanken des Puschkin-Gedichtes „Der Dichter und die Menge“. Aber die Begeisterung für diesen Gedanken bedeutet nur die Empörung des Künstlers gegen den bornierten Utilitarismus der herrschenden Klasse oder des herrschenden Standes... Mit der Beseitigung der Klassen wird auch dieser beschränkte Utilitarismus beseitigt, der dem Eigennutz nahe verwandt ist. Eigennutz hat mit Ästhetik nichts gemein: ein Geschmacksurteil setzt immer das Fehlen von Erwägungen persönlichen Nutzens bei der Person voraus, die es ausspricht. Nun sind persönlicher Nutzen und gesellschaftlicher Nutzen zwei verschiedene Dinge. Das Bestreben, der Gesellschaft nützlich zu sein, das der antiken Tugend zugrunde lag, ist eine Quelle der Selbstlosigkeit, und eine selbstlose Handlung kann sehr leicht Gegenstand einer ästhetischen Darstellung werden – und war es auch sehr oft, wie das die Geschichte der Kunst zeigt. Man braucht nur an die Lieder der Naturvölker oder, um nicht so weit zu gehen, an das Denkmal des Harmodius und des Aristogeiton in Athen zu denken. Schon die antiken Denker – zum Beispiel Plato und Aristoteles – haben sehr wohl begriffen, wie den Menschen das Aufgehen seiner ganzen Lebenskraft in der Sorge um die materielle Existenz erniedrigt. Das verstehen auch die heutigen Ideologen der Bourgeoisie. Sie halten es ebenfalls für nötig, dem Menschen die ihn erniedrigende Bürde der ständigen wirtschaftlichen Nöte abzunehmen. Aber der Mensch, den sie im Auge haben, ist der Mensch der höheren Gesellschaftsklasse, die von der Ausbeutung der Werktätigen lebt. Sie erblicken die Lösung der Frage ebenfalls in dem, worin sie schon die antiken Denker erblickt haben: in der Versklavung der schaffenden Menschen durch ein kleines Häuflein auserwählter Glücksritter, die mehr oder weniger dem Ideal der „Übermenschen“ nahekommen. Wenn diese Lösung schon zur Zeit Platos und Aristoteles’ konservativ war, so wurde sie in der gegenwärtigen Zeit ultrareaktionär. Und wenn die konservativen griechischen Sklavenhalter in der Zeit des Aristoteles damit rechnen konnten, daß es ihnen gelingen werde, ihre herrschende Stellung zu bewahren, indem sie sich auf ihre eigene „Heldenhaftigkeit“ stützten, so verhalten sich die jetzigen Apostel der Versklavung der Volksmasse sehr skeptisch zur Heldenhaftigkeit der Ausbeuter aus dem bürgerlichen Milieu. Deshalb träumen sie sehr gern von dem Erscheinen eines genialen Übermenschen an der Spitze des Staates, der mit der Kraft seines eisernen Willens das jetzt ins Schwanken [290] geratende Gebäude der Klassenherrschaft festigen soll. Die Dekadenten, denen politische Interessen nicht fremd sind, sind oft begeisterte Anhänger Napoleons I. Wenn Renan eine starke Regierung haben wollte, welche die „guten Bauernburschen“ für ihn arbeiten lassen sollte, während er sich seinen Betrachtungen hingeben würde, so brauchen die jetzigen Ästheten eine Gesellschaftsordnung, die das Proletariat zwingen würde, zu schuften, während sie sich dem verfeinerten Genusse hingeben... wie Zeichnen und Malen von Würfeln und anderen stereometrischen Figuren. Organisch unfähig zu irgendwelcher ernsten Arbeit, empfinden sie eine aufrichtige Entrüstung bei dem Gedanken an eine solche Gesellschaftsordnung, in der es überhaupt keine Nichtstuer geben wird. Wer mit den Wölfen lebt, muß mit den Wölfen heulen. In Worten das Spießertum bekämpfend, verbeugen sich die modernen bürgerlichen Ästheten selbst nicht minder als der ordinärste Spießer vor dem goldenen Kalb. „Sie glauben, daß sich auf dem Gebiete der Kunst etwas rührt“, sagt Mauclair, „in Wirklichkeit rührt sich etwas auf der Gemäldebörse, wo man auch 41

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stischen Gesellschaft wird das Schwärmen für die Kunst um der Kunst willen rein [289] logisch<br />

in demselben Maße unmöglich, in welchem die Verflachung der gesellschaftlichen Moral<br />

aufhört, die jetzt eine unvermeidliche Folge des Dranges der herrschenden Klasse ist, ihre<br />

Privilegien zu bewahren. Flaubert sagt: „L’art, c’est la recherche de l’inutile“ („Die Kunst<br />

sucht das Nutzlose“). In diesen Worten erkennt man unschwer den Grundgedanken des<br />

Puschkin-Gedichtes „Der Dichter und die Menge“. Aber die Begeisterung für diesen Gedanken<br />

bedeutet nur die Empörung des Künstlers gegen den bornierten Utilitarismus der herrschenden<br />

Klasse oder des herrschenden Standes... Mit der Beseitigung der Klassen wird auch<br />

dieser beschränkte Utilitarismus beseitigt, der dem Eigennutz nahe verwandt ist. Eigennutz<br />

hat mit Ästhetik nichts gemein: ein Geschmacksurteil setzt immer das Fehlen von Erwägungen<br />

persönlichen Nutzens bei der Person voraus, die es ausspricht. Nun sind persönlicher<br />

Nutzen und gesellschaftlicher Nutzen zwei verschiedene Dinge. Das Bestreben, der Gesellschaft<br />

nützlich zu sein, das der antiken Tugend zugrunde lag, ist eine Quelle der Selbstlosigkeit,<br />

und eine selbstlose Handlung kann sehr leicht Gegenstand einer ästhetischen Darstellung<br />

werden – und war es auch sehr oft, wie das die Geschichte der Kunst zeigt. Man braucht nur<br />

an die Lieder der Naturvölker oder, um nicht so weit zu gehen, an das Denkmal des Harmodius<br />

und des Aristogeiton in Athen zu denken.<br />

Schon die antiken Denker – zum Beispiel Plato und Aristoteles – haben sehr wohl begriffen,<br />

wie den Menschen das Aufgehen seiner ganzen Lebenskraft in der Sorge um die materielle<br />

Existenz erniedrigt. Das verstehen auch die heutigen Ideologen der Bourgeoisie. Sie halten es<br />

ebenfalls für nötig, dem Menschen die ihn erniedrigende Bürde der ständigen wirtschaftlichen<br />

Nöte abzunehmen. Aber der Mensch, den sie im Auge haben, ist der Mensch der höheren<br />

Gesellschaftsklasse, die von der Ausbeutung der Werktätigen lebt. Sie erblicken die Lösung<br />

der Frage ebenfalls in dem, worin sie schon die antiken Denker erblickt haben: in der<br />

Versklavung der schaffenden Menschen durch ein kleines Häuflein auserwählter Glücksritter,<br />

die mehr oder weniger dem Ideal der „Übermenschen“ nahekommen. Wenn diese Lösung<br />

schon zur Zeit Platos und Aristoteles’ konservativ war, so wurde sie in der gegenwärtigen<br />

Zeit ultrareaktionär. Und wenn die konservativen griechischen Sklavenhalter in der Zeit des<br />

Aristoteles damit rechnen konnten, daß es ihnen gelingen werde, ihre herrschende Stellung zu<br />

bewahren, indem sie sich auf ihre eigene „Heldenhaftigkeit“ stützten, so verhalten sich die<br />

jetzigen Apostel der Versklavung der Volksmasse sehr skeptisch zur Heldenhaftigkeit der<br />

Ausbeuter aus dem bürgerlichen Milieu. Deshalb träumen sie sehr gern von dem Erscheinen<br />

eines genialen Übermenschen an der Spitze des Staates, der mit der Kraft seines eisernen<br />

Willens das jetzt ins Schwanken [290] geratende Gebäude der Klassenherrschaft festigen soll.<br />

Die Dekadenten, denen politische Interessen nicht fremd sind, sind oft begeisterte Anhänger<br />

Napoleons I.<br />

Wenn Renan eine starke Regierung haben wollte, welche die „guten Bauernburschen“ für ihn<br />

arbeiten lassen sollte, während er sich seinen Betrachtungen hingeben würde, so brauchen die<br />

jetzigen Ästheten eine Gesellschaftsordnung, die das Proletariat zwingen würde, zu schuften,<br />

während sie sich dem verfeinerten Genusse hingeben... wie Zeichnen und Malen von Würfeln<br />

und anderen stereometrischen Figuren. Organisch unfähig zu irgendwelcher ernsten Arbeit,<br />

empfinden sie eine aufrichtige Entrüstung bei dem Gedanken an eine solche Gesellschaftsordnung,<br />

in der es überhaupt keine Nichtstuer geben wird.<br />

Wer mit den Wölfen lebt, muß mit den Wölfen heulen. In Worten das Spießertum bekämpfend,<br />

verbeugen sich die modernen bürgerlichen Ästheten selbst nicht minder als der ordinärste<br />

Spießer vor dem goldenen Kalb. „Sie glauben, daß sich auf dem Gebiete der Kunst etwas<br />

rührt“, sagt Mauclair, „in Wirklichkeit rührt sich etwas auf der Gemäldebörse, wo man auch<br />

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