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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013 Diese Frage, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist die große Frage nach den Ursachen der historischen Entwicklung und des Fortschritts der Menschheit, ist die Frage, die den Gegenstand dessen bildet, [4] was man früher Geschichtsphilosophie nannte und was, meiner Meinung nach, besser mit dem Terminus „Geschichtsauffassung“ zu bezeichnen wäre, Geschichte, als Wissenschaft betrachtet, d. h. Geschichte, die sich nicht mit dem Studium dessen zufriedengibt, wie die Ereignisse abliefen, sondern wissen will, warum sie gerade diesen Verlauf nahmen und nicht einen anderen. Wie jeder Gegenstand, so hat auch die Geschichtsphilosophie ihre eigene Geschichte. Ich will damit sagen, daß die Menschen, die sich mit der Frage nach den Ursachen der historischen Entwicklung beschäftigt haben, diese wichtige Frage in den verschiedenen Epochen der Geschichte verschieden beantwortet haben. Jede Epoche hat ihre eigene Geschichtsphilosophie. Sie werden mir wahrscheinlich entgegenhalten, daß häufig in ein und derselben historischen Periode nicht nur eine, sondern mehrere Schulen der Geschichtsphilosophie bestanden. Ich stimme dem zu, aber in Verbindung damit möchte ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß den verschiedenen philosophischen Schulen, die in einer historischen Periode bestehen, immer etwas gemeinsam ist, und darum können wir sie als verschiedene Arten ein und derselben Gattung betrachten. Natürlich‚ man kann in ihnen auch verschiedene Überbleibsel der Vergangenheit beobachten! Darum können wir, um die zu untersuchende Frage zu vereinfachen, sagen, daß jede historische Periode ihre eigene Geschichtsphilosophie hat. Mit einigen Richtungen der Geschichtsphilosophie werden wir uns in unseren Gesprächen vertraut machen. Ich beginne mit der theologischen Philosophie oder theologischen Geschichtsauffassung. Was ist die theologische Philosophie oder theologische Geschichtsauffassung? Sie ist die primitivste Auffassung: sie ist eng mit den ersten Bemühungen des menschlichen Denkens verbunden, sich in der Umwelt zurechtzufinden. In der Tat, die einfachste Vorstellung des Menschen von der Natur ist die, in ihr voneinander unabhängige und durch unveränderliche Gesetze gelenkte Erscheinungen zu sehen und die Ereignisse als durch das Wirken eines oder mehrerer Willen, die seinem eigenen Willen ähnlich sind, veranlaßt zu betrachten. Der französische Philosoph Guyau 1 erzählt in einem seiner Bücher, ein Kind habe in seiner Gegenwart den Mond als böse bezeichnet, weil er sich nicht am Himmelszelt zeigen wollte. 2* Dieses Kind hielt den Mond für ein beseeltes Wesen, und der Urmensch hielt, [5] ähnlich wie dieses Kind, die ganze Natur für beseelt. Der Animismus (die Beseelung der Natur) ist die erste Entwicklungsphase des religiösen Denkens; der erste Schritt der Wissenschaft ist die Beseitigung der animistischen Erklärung der Naturerscheinungen und die Erkenntnis, daß es Erscheinungen sind, die bestimmten Gesetzen unterliegen. Während das Kind denkt, der Mond zeige sich nicht, weil er böse ist, erklärt uns der Naturforscher die Gesamtheit der natürlichen Bedingungen, die uns in jedem gegebenen Augenblick gestatten oder hindern, diesen oder jenen Himmelskörper zu sehen. 1 [Bei Plechanow irrtümlich Guyot.] 2* Plechanow hat die Arbeit von M. Guyau, „Der Unglaube der Zukunft“ (in russischer Übersetzung erschienen im Jahre 1908), im Auge. Hier lesen wir im ersten Teil („Entstehung der Religion in der Urgesellschaft“) im ersten Kapitel („Religiöse Physik“): „Indem der Mensch die Welt als einen Komplex von physisch äußerst mächtigen Willen auffaßt, qualifiziert er diese Willen moralisch und sozial nach der Art und Weise, wie sie sich in bezug auf ihn verhalten haben. ‚Heute abend ist der Mond böse‘, sagte zu mir ein Kind, ‚er will sich nicht zeigen.‘ Der primitive Mensch sagte ebenfalls, der Orkan war böse, der Donner war böse usw., während die Sonne, der Mond, das Feuer, wenn sie wollten, gut und wohltätig waren. Somit haben wir jetzt bald gute, bald böse Willen vor uns, ausgerüstet mit unüberwindlicher Kraft, die leicht in Zorn geraten und rachsüchtig werden, mit einem Wort, Willen, welche die Eigenschaften des Menschen selbst besitzen. Was bedarf es noch mehr, um sie für Gottheiten zu erklären? ...“ (S. 50 in der russischen Ausgabe vom Jahre 1908.) 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013 Während sich die Wissenschaft im Studium und im Verstehen der Natur verhältnismäßig schnellen Schritts vorwärtsbewegte, entwickelte sich die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft und ihrer Geschichte bedeutend langsamer. Geschichtliche Ereignisse wurden noch in Zeiten animistisch erklärt, als die animistische Erklärung der Naturerscheinungen bereits nur mehr lächerlich wirkte. In einem verhältnismäßig zivilisierten Milieu, oft sogar in einem hochzivilisierten Milieu, hielt man es für durchaus möglich, die historische Entwicklung der Menschheit als die Offenbarung des Willens eines einzelnen oder mehrerer Götter zu erklären; und eben diese Erklärung des historischen Prozesses durch den göttlichen Willen nennen wir die theologische Geschichtserklärung. Um Ihnen zwei Beispiele einer solchen Erklärung zu geben, verweile ich gleich bei der Geschichtsphilosophie zweier berühmter Männer: nämlich bei der des heiligen Augustinus, des Bischofs von Hippo (heute Algier), und der des Bischofs der Stadt Meaux (Frankreich), Bossuet. Der hl. Augustinus (354-430) glaubt, die geschichtlichen Ereignisse hingen von der göttlichen Vorsehung ab; ja, mehr noch, er ist überzeugt, daß man mit einer anderen Einstellung gar nicht an sie herangehen kann. Bedenkt, sagt er, „der allerhöchste Gott..., dieser einzige und allmächtige Gott, Urheber und Schöpfer aller Seelen und aller Leiber..., der den Menschen zu einem vernünftigen, aus Leib und Seele bestehendem Tiere schuf ... von dem alles Ziel, alle Schönheit, alle Ordnung kommt; – von dem Maß, Zahl und Gewicht, und was immer im Reiche der Natur besteht, von welcher Art und von welchem Werte es sei, herstammt...: konnte auf keine Weise die Staaten der Menschen, ihre Herrschaft und Knechtschaft von den Gesetzen seiner Vorsehung ausschließen wollen.“ („Cité de Dieu“, traduction d’Emile Saisset, livre V, chap. XI, pp. 292/93.) 1 Von diesem allgemeinen Gesichtspunkt geht der hl. Augustinus in keiner seiner Erklärungen der historischen Ereignisse ab. Handelt es sich darum, die Größe der Römer zu erklären, so erläutert [6] uns der Bischof von Hippo mit großer Genauigkeit, daß die göttliche Vorsehung diese Größe angeblich brauche. „Deshalb also wollte Gott, daß, nachdem die orientalischen Reiche lange Zeit hindurch glänzend geblüht hatten, nun auch ein Reich im Abendlande glänzte, das, der Zeit nach später, doch durch seinen weiten Umfang herrlicher sein sollte. Und dies Reich gewährte Er, die schweren Laster vieler Völker zu strafen, vorzüglich solchen Menschen, die aus Sucht nach Ehre, Lob und Ruhm, für ihr Vaterland sorgten, worin selbst sie ihre Ehre suchten; und die keinen Anstand nahmen, sein Heil ihrem eigenen Heile vorzuziehen; so wie sie auch durch dies eine Laster, das heißt durch die Ruhmgier, den Geldgeiz und viele andere Laster unterdrückten. Denn der urteilt allerdings richtig, der die Ruhmgier als ein Laster erkennt“ usw. (Bd. 1, S. 301). 2 Müssen Pracht und Herrlichkeit des ersten christlichen Kaisers, Konstantin, erklärt werden, so erscheint auf der Bildfläche der göttliche Wille und löst und erklärt alles ganz einfach. „Denn der gütige Gott“, sagt uns der hl. Augustinus, „um zu verhüten, daß die Menschen, die ihm des ewigen Lebens wegen dienen, nicht etwa glaubten, es könne niemand zu den erhabensten Würden und zur Herrschaft gelangen, wofern er nicht die Dämonen darum anflehete, weil diese Geister hierin Vieles vermöchten: beschenkte den Kaiser Konstantinus, der die Dämonen nicht anrief, sondern Ihn selbst, den wahren Gott, anbetete, in so reichlichem Maße 1 [„Des heiligen Augustinus zweiundzwanzig Bücher von der Stadt Gottes (Gottesstaat)“ in zwei Bänden, Wien 1826, Bd. 1, 5. Buch, 11. Kapitel, S. 302/03.] 2 [„Gottesstaat“, Bd. 1, 5. Buch, 15. Kapitel, S. 311.] 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013<br />

Diese Frage, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist die große Frage nach den Ursachen<br />

der historischen Entwicklung und des Fortschritts der Menschheit, ist die Frage, die den Gegenstand<br />

dessen bildet, [4] was man früher Geschichtsphilosophie nannte und was, meiner<br />

Meinung nach, besser mit dem Terminus „Geschichtsauffassung“ zu bezeichnen wäre, Geschichte,<br />

als Wissenschaft betrachtet, d. h. Geschichte, die sich nicht mit dem Studium dessen<br />

zufriedengibt, wie die Ereignisse abliefen, sondern wissen will, warum sie gerade diesen Verlauf<br />

nahmen und nicht einen anderen.<br />

Wie jeder Gegenstand, so hat auch die Geschichtsphilosophie ihre eigene Geschichte. Ich will<br />

damit sagen, daß die Menschen, die sich mit der Frage nach den Ursachen der historischen<br />

Entwicklung beschäftigt haben, diese wichtige Frage in den verschiedenen Epochen der Geschichte<br />

verschieden beantwortet haben. Jede Epoche hat ihre eigene Geschichtsphilosophie.<br />

Sie werden mir wahrscheinlich entgegenhalten, daß häufig in ein und derselben historischen<br />

Periode nicht nur eine, sondern mehrere Schulen der Geschichtsphilosophie bestanden. Ich<br />

stimme dem zu, aber in Verbindung damit möchte ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit darauf<br />

zu lenken, daß den verschiedenen philosophischen Schulen, die in einer historischen Periode<br />

bestehen, immer etwas gemeinsam ist, und darum können wir sie als verschiedene Arten ein<br />

und derselben Gattung betrachten. Natürlich‚ man kann in ihnen auch verschiedene Überbleibsel<br />

der Vergangenheit beobachten! Darum können wir, um die zu untersuchende Frage<br />

zu vereinfachen, sagen, daß jede historische Periode ihre eigene Geschichtsphilosophie hat.<br />

Mit einigen Richtungen der Geschichtsphilosophie werden wir uns in unseren Gesprächen<br />

vertraut machen. Ich beginne mit der theologischen Philosophie oder theologischen Geschichtsauffassung.<br />

Was ist die theologische Philosophie oder theologische Geschichtsauffassung? Sie ist die<br />

primitivste Auffassung: sie ist eng mit den ersten Bemühungen des menschlichen Denkens<br />

verbunden, sich in der Umwelt zurechtzufinden.<br />

In der Tat, die einfachste Vorstellung des Menschen von der Natur ist die, in ihr voneinander<br />

unabhängige und durch unveränderliche Gesetze gelenkte Erscheinungen zu sehen und die<br />

Ereignisse als durch das Wirken eines oder mehrerer Willen, die seinem eigenen Willen ähnlich<br />

sind, veranlaßt zu betrachten. Der französische Philosoph Guyau 1 erzählt in einem seiner<br />

Bücher, ein Kind habe in seiner Gegenwart den Mond als böse bezeichnet, weil er sich nicht<br />

am Himmelszelt zeigen wollte. 2* Dieses Kind hielt den Mond für ein beseeltes Wesen, und<br />

der Urmensch hielt, [5] ähnlich wie dieses Kind, die ganze Natur für beseelt. Der Animismus<br />

(die Beseelung der Natur) ist die erste Entwicklungsphase des religiösen Denkens; der erste<br />

Schritt der Wissenschaft ist die Beseitigung der animistischen Erklärung der Naturerscheinungen<br />

und die Erkenntnis, daß es Erscheinungen sind, die bestimmten Gesetzen unterliegen.<br />

Während das Kind denkt, der Mond zeige sich nicht, weil er böse ist, erklärt uns der Naturforscher<br />

die Gesamtheit der natürlichen Bedingungen, die uns in jedem gegebenen Augenblick<br />

gestatten oder hindern, diesen oder jenen Himmelskörper zu sehen.<br />

1 [Bei Plechanow irrtümlich Guyot.]<br />

2* Plechanow hat die Arbeit von M. Guyau, „Der Unglaube der Zukunft“ (in russischer Übersetzung <strong>erschien</strong>en<br />

im Jahre 1908), im Auge. Hier lesen wir im ersten Teil („Entstehung der Religion in der Urgesellschaft“) im<br />

ersten Kapitel („Religiöse Physik“): „Indem der Mensch die Welt als einen Komplex von physisch äußerst<br />

mächtigen Willen auffaßt, qualifiziert er diese Willen moralisch und sozial nach der Art und Weise, wie sie sich<br />

in bezug auf ihn verhalten haben. ‚Heute abend ist der Mond böse‘, sagte zu mir ein Kind, ‚er will sich nicht<br />

zeigen.‘ Der primitive Mensch sagte ebenfalls, der Orkan war böse, der Donner war böse usw., während die<br />

Sonne, der Mond, das Feuer, wenn sie wollten, gut und wohltätig waren. Somit haben wir jetzt bald gute, bald<br />

böse Willen vor uns, ausgerüstet mit unüberwindlicher Kraft, die leicht in Zorn geraten und rachsüchtig werden,<br />

mit einem Wort, Willen, welche die Eigenschaften des Menschen selbst besitzen. Was bedarf es noch mehr, um<br />

sie für Gottheiten zu erklären? ...“ (S. 50 in der russischen Ausgabe vom Jahre 1908.)<br />

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