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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

sich selbst dann nicht endgültig gegen die Vernunft erheben, wenn er ihre Rechte aus diesen<br />

oder jenen Beweggründen, zum Beispiel im Interesse der Religion, beschränkt. 1 Wenn nun<br />

[280] ein Mensch, der sein eigenes „Ich“ für die einzige Realität hält, nicht zur philosophischen<br />

Spekulation neigt, dann wird er sich gar keine Gedanken darüber machen, wie die äußere<br />

Welt durch dieses „Ich“ geschaffen wird. Und dann wird er gar nicht geneigt sein, in der<br />

Außenwelt auch nur einen gewissen Teil von Vernünftigkeit, das heißt von Gesetzmäßigkeit<br />

anzunehmen. Im Gegenteil, dann wird ihm diese Welt als das Reich der „sinnlosen Zufälligkeit“<br />

erscheinen. Und wenn es ihm einfällt, einmal mit irgendeiner großen gesellschaftlichen<br />

Bewegung zu sympathisieren, so wird er sicher sagen, ähnlich wie Falk, ihr Erfolg könne<br />

durchaus nicht durch den gesetzmäßigen Gang der gesellschaftlichen Entwicklung gesichert<br />

werden, sondern nur durch die menschliche „Dummheit“ oder – was dasselbe ist –<br />

durch die „sinnlose“ geschichtliche „Zufälligkeit“. Aber, wie ich schon sagte, die mystische<br />

Auffassung der Hippius und ihrer beiden Gesinnungsgenossen von der russischen Freiheitsbewegung<br />

unterscheidet sich ihrem Wesen nach in nichts von der Ansicht Falks über die<br />

„sinnlosen“ Ursachen der großen historischen Ereignisse. Während die Verfasser des von mir<br />

oben genannten deutschen Buches danach trachten, Europa durch die unerhörte Grenzenlosigkeit<br />

der freiheitlichen Bestrebungen des russischen Menschen in Erstaunen zu setzen, bleiben<br />

sie Dekadente reinsten Wassers, die nur Sympathie für das zu empfinden imstande sind,<br />

„was nicht ist, niemals ist“, das heißt, mit anderen Worten, die nicht fähig sind, dem, was in<br />

der Wirklichkeit vorgeht, irgendwie mit Sympathie zu begegnen. Folglich schwächt ihr mystischer<br />

Anarchismus in keiner Weise jene Schlußfolgerungen ab, zu denen ich auf Grund der<br />

lyrischen Ergüsse der Frau Hippius gelangt bin.<br />

Nachdem ich nun einmal begonnen habe, darüber zu sprechen, will ich meinen Gedanken bis<br />

zu Ende ausführen. Die Ereignisse der Jahre 1905/06 haben auf die russischen Dekadenten<br />

den gleichen starken Eindruck gemacht, den die Ereignisse der Jahre 1848/49 auf die französischen<br />

Romantiker gemacht haben. Sie haben in ihnen das Interesse am gesellschaftlichen<br />

Leben geweckt. Aber dieses Interesse paßte zur geistigen Verfassung der Dekadenten noch<br />

weniger als zur geistigen Verfassung der Romantiker. Deshalb erwies es sich als noch weniger<br />

beständig. Und so besteht kein Anlaß, es irgendwie ernst zu nehmen.<br />

Kehren wir zur modernen Kunst zurück. Wenn jemand geneigt ist, sein „Ich“ für die einzige<br />

Wirklichkeit zu halten, dann „liebt er sich“, wie Frau Hippius, „wie Gott“. Das ist völlig verständlich<br />

und ganz und gar [281] unausbleiblich. Und wenn ein Mensch „sich liebt wie<br />

Gott“‚ so wird er sich in seinen Kunstwerken nur mit sich selbst beschäftigen. Die Außenwelt<br />

wird ihn nur insoweit interessieren, als sie auf diese oder jene Weise immer die gleiche „einzige<br />

Realität“, immer das gleiche kostbare „Ich“ berührt. Bei Sudermann, in seinem sehr interessanten<br />

Stück „Das Blumenboot“‚ in der ersten Szene des zweiten Aktes, sagt die Baronin<br />

Erfflingen zu ihrer Tochter Thea: „Menschenkinder unseres Schlages sind dazu da, aus den<br />

Dingen dieser Welt eine Art von heiterem Panorama zu machen, das an uns vorüberzieht.<br />

Oder vielmehr vorüberzuziehen scheint. – Denn in Wahrheit ziehn wir unsern Weg... Unbeirrt!<br />

Und dabei können wir keinerlei Ballast brauchen.“ 2 Besser als mit diesen Worten kann<br />

man das Lebensziel von Menschen jener Klasse nicht bezeichnen, zu der Frau Erfflingen gehört,<br />

von Menschen, die mit vollster Überzeugung die Worte Barrès’ wiederholen können:<br />

„Die einzige Realität ist unser ‚Ich‘.“ Aber Menschen, die ein solches Lebensziel verfolgen,<br />

werden die Kunst nur als ein Mittel betrachten, auf diese oder jene Weise jenes Panorama<br />

1 Als Beispiel eines solchen Denkers, der die Rechte der Vernunft im Interesse der Religion einschränkt, kann<br />

man auf Kant hinweisen „Ich mußte also das [280] Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“;<br />

„Kritik der reinen Vernunft“, Vorrede zur zweiten Ausgabe, S. 26, Leipzig, Druck und Verlag von Philipp<br />

Reclam, zweite verbesserte Auflage.<br />

2 [Hermann Sudermann, „Das Blumenboot“, Stuttgart und Berlin 1905, S. 49.]<br />

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