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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

Auszüge legen hoffentlich in genügender Weise dar, daß Frau Hippius, nachdem sie sich<br />

(endlich!) für gesellschaftliche Fragen interessiert hat, dasselbe geblieben ist, als was sie uns<br />

in den oben zitierten Gedichten <strong>erschien</strong>: eine extreme Individualistin dekadenter Art, die<br />

nach dem Wunder ebendeshalb durstet, weil sie keinerlei ernste Beziehung zum lebendigen<br />

gesellschaftlichen Leben hat. Der Leser hat den Gedanken Leconte de Lisles nicht vergessen,<br />

daß die Dichtkunst jetzt dem ein ideelles Leben gibt, der kein reales Leben mehr hat. Und<br />

wenn bei einem Menschen jeder geistige Verkehr mit den ihn umgebenden Menschen aufhört,<br />

dann verliert sein ideelles Leben jegliche Verbindung mit der Erde. Und dann entrückt<br />

ihn seine Phantasie in den Himmel, dann wird er Mystiker. Ihr von Mystizismus ganz und gar<br />

durchtränktes Interesse für gesellschaftliche Fragen ist in sich völlig unfruchtbar. 1 Ganz zu<br />

Unrecht glaubt sie mit ihren Mitarbeitern, ihr heftiges Verlangen nach dem „Wunder“ und<br />

ihre „mystische“ Verneinung der „Politik“ „als Wissenschaft“ bilde ein Charaktermerkmal<br />

der russischen Dekadenten. 2 Der „nüchterne“ Westen hat schon eher als das „ver-<br />

[279]soffene“ Rußland Menschen an die Oberfläche geschwemmt, die sich im Namen des<br />

unvernünftigen Triebes gegen den Verstand erhoben haben. Erich Falk 3 bei Przybyszewski<br />

schimpft auf die Sozialdemokraten und die „Salonanarchisten vom Schlage eines J. Henry<br />

Mackay“ aus keinem anderen Grunde als wegen ihres angeblich übergroßen Glaubens an die<br />

Vernunft.<br />

„Sie alle“, sagt dieser nichtrussische Dekadent, „verkünden die friedliche Revolution, das<br />

Einsetzen eines neuen Rades an Stelle eines zerbrochenen, während der Wagen in Bewegung<br />

ist. Ihr ganzer dramatischer Aufbau ist blödsinnig dumm ebendeshalb, weil er so logisch ist,<br />

denn er gründet sich auf die Allmacht der Vernunft. Aber bis auf den heutigen Tag ist alles<br />

nicht vernunftsgemäß zugegangen, sondern durch dumme, sinnlose Zufälligkeit.“<br />

Falks Hinweis auf die „Dummheit“ und „sinnlose Zufälligkeit“ ist seiner Natur nach vollkommen<br />

das gleiche wie die Sucht nach dem „Wunder“, von der das deutsche Buch der Frau<br />

Hippius und der Herren Mereschkowsky und Philosophoff von Anfang bis zu Ende durchtränkt<br />

ist. Es ist ein und derselbe Gedanke unter verschiedenen Bezeichnungen. Seine Entstehung<br />

findet ihre Erklärung in dem extremen Subjektivismus eines beträchtlichen Teiles der<br />

jetzigen bürgerlichen Intelligenz. Wenn jemand sein eigenes „Ich“ für die einzige „Realität“<br />

hält, dann kann er auch nicht zugeben, daß es einen objektiven, „vernünftigen“, d. h. gesetzmäßigen<br />

Zusammenhang zwischen diesem „Ich“ einerseits und der es umgebenden äußeren<br />

Welt anderseits gibt. Die äußere Welt muß ihm entweder als gänzlich unwirklich oder aber<br />

als nur teilweise, d. h. in dem Maße wirklich erscheinen, in welchem ihre Existenz sich auf<br />

die einzig wahre Realität, d. h. auf unser „Ich“, stützt. Wenn solch ein Mensch die philosophische<br />

Spekulation liebt, so wird er sagen, daß unser Ich, das die äußere Welt hervorbringt,<br />

in sie wenigstens einen gewissen Teil seiner Vernünftigkeit hineinträgt; der Philosoph kann<br />

1 Mereschkowsky, Hippius und Philosophoff lehnen in ihrem deutschen Buch die Bezeichnung „Dekadente“<br />

durchaus nicht ab. Sie beschränken sich darauf, Europa bescheiden davon Mitteilung zu machen, daß die russischen<br />

Dekadenten „die höchsten Gipfel der Weltkultur erreicht haben“. Gen. Werk, S. 151.<br />

2 Ihr mystischer Anarchismus kann natürlich gar niemand erschrecken. Der Anarchismus stellt überhaupt nur die<br />

äußerste Schlußfolgerung aus den Grundvoraussetzungen des bürgerlichen Idealismus dar. Deshalb treffen wir<br />

bei den bürgerlichen Ideologen der Verfallsperiode oft auf Sympathie mit dem Anarchismus. Maurice Barrès<br />

sympathisierte ebenfalls mit dem Anarchismus zu der Zeit seiner Entwicklung, als er behauptete, es gebe keine<br />

andere Wirklichkeit als unser „Ich“. Jetzt hat er sicher keine bewußte Sympathie mehr für den Anarchismus,<br />

denn alle scheinbar stürmischen Wallungen seines Individualismus sind schon längst vorüber. Jetzt sind [279]<br />

jene „Gewißheiten“ für ihn bereits „wieder verschafft“, die er einmal für „gestürzt“ erklärt hatte. Der Prozeß<br />

ihrer Wiederherstellung vollzog sich auf dem Wege seines Übergangs zum reaktionären Standpunkt des vulgärsten<br />

Nationalismus. Und an einem solchen Übergang ist nichts Verwunderliches: vom extremen bürgerlichen<br />

Idealismus ist nur ein Schritt bis zu den reaktionärsten „Wahrheiten“. Avis [zur Kenntnisnahme] für Frau Hippius<br />

und auch Herrn Mereschkowsky und Herrn Philosophoff.<br />

3 [Gestalt aus Przybyszewskis Roman „Homo sapiens“.]<br />

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