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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 Ach, entsetzliche Qual, wie mein Leben entflieht, entflieht, Weiß selbst nicht, wohin es mich zieht, mich zieht... Weiß nicht, woher denn dieses Verlangen, woher gegangen; Aber mein Herz will Wunder erflehn und erbangen, Wunder erbangen. O, möchte doch sein, was nicht ist, niemals ist. Der blasse Himmel mir Wunder verspricht, verspricht. Ob falscher Verheißung wein’ ich ohne Tränen, wein’ ich ohne Tränen... Was nicht ist auf Erden, das muß ich ersehnen, das muß ich ersehnen. Das ist gar nicht übel gesagt. Ein Mensch, der sich „selbst wie Gott“ liebt und die Fähigkeit der Gemeinschaft mit anderen Menschen verloren hat, kann nur noch „Wunder erflehn“ und danach streben, „was nicht ist auf Erden“: das Irdische kann ihm nicht interessant sein. Bei Sergejew-Zenski sagt Leutnant Babajew: „... die Bleichsucht hat die Kunst erdacht.“ 1 Dieser philosophierende Marsjünger täuscht sich schwer, wenn er [276] annimmt, jede Kunst sei eine Erfindung der Bleichsucht. Völlig unbestreitbar ist hingegen, daß eine Kunst, die nach dem strebt, „was nicht ist auf Erden“, eine Schöpfung der „Bleichsucht“ ist. Sie kennzeichnet den Verfall des ganzen Systems der gesellschaftlichen Verhältnisse und wird daher sehr treffend als dekadent bezeichnet. Allerdings ist das System der gesellschaftlichen Verhältnisse, dessen Verfall durch diese Kunst gekennzeichnet wird, d. h. das System der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, in unserem Lande noch weit vom Verfall entfernt. Bei uns in Rußland hat der Kapitalismus die alte Ordnung noch nicht endgültig erledigt. Aber die russische Literatur seit Peter I. ist in stärkstem Maße von den westeuropäischen Literaturen beeinflußt. Deshalb dringen in sie häufig solche Strömungen ein, die zwar den westeuropäischen gesellschaftlichen Verhältnissen völlig entsprechen, weit weniger aber den relativ rückständigen Verhältnissen in Rußland. Es gab eine Zeit, wo manche unserer Aristokraten für die Lehre der Enzyklopädisten 2 schwärmten, die einer der letzten Phasen des Kampfes des dritten Standes gegen die Aristokratie in Frankreich entsprach. Jetzt ist eine Zeit gekommen, wo viele unserer „Intellektuellen“ für die gesellschaftlichen, philosophischen und ästhetischen Lehren schwärmen, die der Epoche des Verfalls der westeuropäischen Bourgeoisie entsprechen. Dieses Schwärmen eilt dem Gang unserer eigenen gesellschaftlichen Entwicklung in demselben Maße voraus, in welchem ihm die Schwärmerei der Menschen des 18. Jahrhunderts für die Theorie der Enzyklopädisten vorausgeeilt war. 3 1 Erzählungen, Ausgabe „Schipownik“, 1908, Bd. II, S. 128. Die Red. 2 Bekanntlich wurde zum Beispiel Helvétius’ Werk „De l’homme“ im Jahre 1772 in Haag von einem der Fürsten Golizyn herausgegeben. 3 Das Schwärmen der russischen Aristokraten für die französischen Enzyklopädisten hatte durchaus keine ernsten Folgen. Indes, es war in dem Sinne nützlich, als es immerhin manche aristokratischen Köpfe von allerlei aristokratischen Vorurteilen säuberte. Umgekehrt ist die jetzige Schwärmerei eines gewissen Teils unserer Intelligenz für die philosophischen Ansichten und ästhetischen Geschmacksrichtungen der im Niedergang befindlichen Bourgeoisie in dem Sinne schädlich, als sie die Köpfe unserer „Intellektuellen“ mit solchen bürgerlichen Vorurteilen anfüllt, für deren selbständiges Entstehen der Gang der gesellschaftlichen Entwicklung in Rußland noch nicht genügend den Boden bereitet hat. Diese Vorurteile dringen auch in die Gehirne vieler Russen ein, die mit der proletarischen Bewegung sympathisieren. Deshalb bildet sich bei ihnen eine erstaunliche Mischung von 32

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 Wenn das Entstehen des russischen Dekadententums durch unsere sozusagen häuslichen Ursachen nicht hinreichend erklärt werden kann, so ändert das an seiner Natur nicht das geringste. Vom Westen her zu uns verweht, hört es auch bei uns nicht auf, das zu sein, was es zu Hause war: [277] ein Produkt der „Bleichsucht“, das mit dem Verfall einer Klasse einhergeht, die jetzt in Westeuropa herrscht. Frau Hippius könnte vielleicht sagen, ich habe ihr ganz willkürlich eine völlige Gleichgültigkeit gegen gesellschaftliche Fragen zugeschrieben. Aber fürs erste habe ich ihr nichts zugeschrieben, ich habe mich auf ihre eigenen lyrischen Ergüsse berufen und mich auf die Bestimmung ihres Sinnes beschränkt. Ich überlasse dem Leser das Urteil, ob ich diese Ergüsse richtig verstanden habe. Zweitens weiß ich natürlich, daß Frau Hippius jetzt auch ganz gern ein bißchen über die soziale Bewegung plaudern will. So kann zum Beispiel ein Buch, das sie in Zusammenarbeit mit Herrn D. Mereschkowsky und Herrn D. Philosophoff geschrieben und in Deutschland im Jahre 1908 herausgegeben hat, als überzeugender Beweis zugunsten ihres Interesses für die russische gesellschaftliche Bewegung dienen. Aber man braucht nur das Vorwort zu diesem Buche zu lesen, um zu sehen, daß die Verfasser ausschließlich auf das hinstreben, „was sie nicht wissen“. Dort heißt es, Europa sei zwar das Werk der russischen Revolution, nicht aber ihre Seele bekannt. Und wahrscheinlich zu dem Zwecke, Europa mit der Seele der russischen Revolution bekannt zu machen, erzählen die Verfasser den Europäern folgendes: „Wir sind euch ähnlich, wie die linke Hand der rechten ähnlich ist... Wir sind euch gleich, jedoch in umgekehrtem Sinne ... Kant würde sagen: unser Geist liege im Transzendentalen, der eurige aber im Phänomenalen. Nietzsche würde sagen: bei euch herrscht Apollo, bei uns Dionysos; euer Genius besteht im Maßvollen, der unsere im ungestümen Drang. Ihr versteht rechtzeitig innezuhalten; wenn ihr auf eine Wand stoßt, haltet ihr an oder umgeht sie; wir rennen uns aber die Köpfe ein. Wir kommen nicht leicht in Schwung, aber wenn wir einmal in Schwung gekommen sind, können wir nicht mehr anhalten. Wir gehen nicht, wir rennen. Wir laufen nicht, wir fliegen, wir fliegen nicht, wir stürzen dahin. Ihr liebt den goldenen Mittelweg, wir lieben die Extreme. Ihr seid gerecht, für uns gibt es keinerlei Gesetze; ihr könnt euer seelisches Gleichgewicht bewahren, wir streben immer danach, es zu verlieren. Ihr besitzt das Reich der Gegenwart, wir suchen das Reich der Zukunft. Schließlich stellt ihr immerhin stets die Staatsmacht über alle die Freiheiten, die ihr erringen könnt. Wir aber bleiben Empörer und Anarchisten, selbst wenn wir an Sklavenketten geschmiedet sind. Verstand und Gefühl führen uns bis zur äußersten Grenze der Verneinung, und dessen ungeachtet bleiben wir alle im tiefsten Grunde unseres Wesens und unseres Willens Mystiker.“ 1 [278] Weiterhin erfahren die Europäer, daß die russische Revolution ebenso absolut sei wie die Staatsform, gegen die sie gerichtet ist, und daß, wenn das empirisch bewußte Ziel dieser Revolution der Sozialismus sei, ihr unbewußt mystisches Ziel die Anarchie sei. 2 Zum Schluß teilen unsere Verfasser mit, daß sie sich nicht an die europäische Bourgeoisie wenden, sondern... Sie denken, lieber Leser, an das Proletariat? Sie irren sich! „Nur an einzelne Geister von universaler Bildung, an Menschen, welche die Ansicht Nietzsches teilen, daß der Staat das kälteste von allen kalten ‚Ungeheuern‘ ist“ usw. 3 Ich habe diese Auszüge durchaus nicht zu polemischen Zwecken gebracht. Ich führe hier überhaupt keine Polemik, sondern bin nur bestrebt, gewisse Einstellungen gewisser gesellschaftlicher Schichten zu charakterisieren und zu erklären. Die von mir soeben gemachten Sozialismus und Modernismus, der ein Produkt des Niedergangs der Bourgeoisie ist, heraus. Dieser Mischmasch bringt sogar in der Praxis nicht geringen Schaden. 1 Dmitri Mereschkowsky, Zinaida Hippius, Dmitri Philosophoff, „Der Zar und die Revolution“, München, R. Piper & Co. Verlag, 1908, S. 12. 2 Ebenda, S. 5. 3 Ebenda, S. 6. 33

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

Wenn das Entstehen des russischen Dekadententums durch unsere sozusagen häuslichen Ursachen<br />

nicht hinreichend erklärt werden kann, so ändert das an seiner Natur nicht das geringste.<br />

Vom Westen her zu uns verweht, hört es auch bei uns nicht auf, das zu sein, was es zu<br />

Hause war: [277] ein Produkt der „Bleichsucht“, das mit dem Verfall einer Klasse einhergeht,<br />

die jetzt in Westeuropa herrscht.<br />

Frau Hippius könnte vielleicht sagen, ich habe ihr ganz willkürlich eine völlige Gleichgültigkeit<br />

gegen gesellschaftliche Fragen zugeschrieben. Aber fürs erste habe ich ihr nichts zugeschrieben,<br />

ich habe mich auf ihre eigenen lyrischen Ergüsse berufen und mich auf die Bestimmung<br />

ihres Sinnes beschränkt. Ich überlasse dem Leser das Urteil, ob ich diese Ergüsse<br />

richtig verstanden habe. Zweitens weiß ich natürlich, daß Frau Hippius jetzt auch ganz gern<br />

ein bißchen über die soziale Bewegung plaudern will. So kann zum Beispiel ein Buch, das sie<br />

in Zusammenarbeit mit Herrn D. Mereschkowsky und Herrn D. Philosophoff geschrieben<br />

und in Deutschland im Jahre 1908 herausgegeben hat, als überzeugender Beweis zugunsten<br />

ihres Interesses für die russische gesellschaftliche Bewegung dienen. Aber man braucht nur<br />

das Vorwort zu diesem Buche zu lesen, um zu sehen, daß die Verfasser ausschließlich auf das<br />

hinstreben, „was sie nicht wissen“. Dort heißt es, Europa sei zwar das Werk der russischen<br />

Revolution, nicht aber ihre Seele bekannt. Und wahrscheinlich zu dem Zwecke, Europa mit<br />

der Seele der russischen Revolution bekannt zu machen, erzählen die Verfasser den Europäern<br />

folgendes: „Wir sind euch ähnlich, wie die linke Hand der rechten ähnlich ist... Wir sind<br />

euch gleich, jedoch in umgekehrtem Sinne ... Kant würde sagen: unser Geist liege im Transzendentalen,<br />

der eurige aber im Phänomenalen. Nietzsche würde sagen: bei euch herrscht<br />

Apollo, bei uns Dionysos; euer Genius besteht im Maßvollen, der unsere im ungestümen<br />

Drang. Ihr versteht rechtzeitig innezuhalten; wenn ihr auf eine Wand stoßt, haltet ihr an oder<br />

umgeht sie; wir rennen uns aber die Köpfe ein. Wir kommen nicht leicht in Schwung, aber<br />

wenn wir einmal in Schwung gekommen sind, können wir nicht mehr anhalten. Wir gehen<br />

nicht, wir rennen. Wir laufen nicht, wir fliegen, wir fliegen nicht, wir stürzen dahin. Ihr liebt<br />

den goldenen Mittelweg, wir lieben die Extreme. Ihr seid gerecht, für uns gibt es keinerlei<br />

Gesetze; ihr könnt euer seelisches Gleichgewicht bewahren, wir streben immer danach, es zu<br />

verlieren. Ihr besitzt das Reich der Gegenwart, wir suchen das Reich der Zukunft. Schließlich<br />

stellt ihr immerhin stets die Staatsmacht über alle die Freiheiten, die ihr erringen könnt. Wir<br />

aber bleiben Empörer und Anarchisten, selbst wenn wir an Sklavenketten geschmiedet sind.<br />

Verstand und Gefühl führen uns bis zur äußersten Grenze der Verneinung, und dessen ungeachtet<br />

bleiben wir alle im tiefsten Grunde unseres Wesens und unseres Willens Mystiker.“ 1<br />

[278] Weiterhin erfahren die Europäer, daß die russische Revolution ebenso absolut sei wie<br />

die Staatsform, gegen die sie gerichtet ist, und daß, wenn das empirisch bewußte Ziel dieser<br />

Revolution der Sozialismus sei, ihr unbewußt mystisches Ziel die Anarchie sei. 2 Zum Schluß<br />

teilen unsere Verfasser mit, daß sie sich nicht an die europäische Bourgeoisie wenden, sondern...<br />

Sie denken, lieber Leser, an das Proletariat? Sie irren sich! „Nur an einzelne Geister<br />

von universaler Bildung, an Menschen, welche die Ansicht Nietzsches teilen, daß der Staat<br />

das kälteste von allen kalten ‚Ungeheuern‘ ist“ usw. 3<br />

Ich habe diese Auszüge durchaus nicht zu polemischen Zwecken gebracht. Ich führe hier<br />

überhaupt keine Polemik, sondern bin nur bestrebt, gewisse Einstellungen gewisser gesellschaftlicher<br />

Schichten zu charakterisieren und zu erklären. Die von mir soeben gemachten<br />

Sozialismus und Modernismus, der ein Produkt des Niedergangs der Bourgeoisie ist, heraus. Dieser Mischmasch<br />

bringt sogar in der Praxis nicht geringen Schaden.<br />

1 Dmitri Mereschkowsky, Zinaida Hippius, Dmitri Philosophoff, „Der Zar und die Revolution“, München, R.<br />

Piper & Co. Verlag, 1908, S. 12.<br />

2 Ebenda, S. 5.<br />

3 Ebenda, S. 6.<br />

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