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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

viele der jetzigen Künstler. Ich verleumde sie nicht. Sie gestehen es selbst ein. So schreibt<br />

zum Beispiel unsere Landsmännin, Frau S. Hippius:<br />

„Ich halte das Gebet für ein natürliches und ganz unumgängliches Bedürfnis der menschlichen<br />

Natur. Jeder Mensch betet unbedingt oder hat in sich den Drang zum Beten, ganz gleich,<br />

ob er sich dessen bewußt ist oder nicht, ganz gleich, in welche Form sich bei ihm das Gebet<br />

ergießt oder an welchen Gott es gerichtet ist. Die Form hängt ab von den Fähigkeiten und<br />

Neigungen jedes einzelnen. Die Poesie überhaupt, das Gedichtemachen im besonderen, die<br />

Musik der Worte – das ist nur eine der Formen, die in unserer Seele das Gebet annimmt.“ 1<br />

[274] Natürlich ist diese Gleichsetzung der „Musik der Sprache“ mit dem Gebet ganz unbegründet.<br />

In der Geschichte der Poesie hat es sehr lange Perioden gegeben, während welcher<br />

sie überhaupt keinerlei Beziehung zum Gebet hatte. Aber darüber braucht man gar nicht zu<br />

streiten. Für mich war es hier nur wichtig, den Leser mit der Terminologie der Frau Hippius<br />

bekannt zu machen, weil ihm ohne die Kenntnis dieser Terminologie, beim Lesen der folgenden<br />

Auszüge, die für uns schon ihrem Wesen nach wichtig sind, gewisse Unklarheiten entstehen<br />

könnten.<br />

Frau Hippius fährt fort: „Sind wir schuld daran, daß jedes ‚Ich‘ jetzt ein besonderes, für sich<br />

bestehendes, von dem anderen ‚Ich‘ losgerissenes und darum für es unverständliches und<br />

unnützes ‚Ich‘ geworden ist? Für uns, und zwar für jeden, ist unser Gebet schrecklich notwendig,<br />

begreiflich und teuer, wir brauchen unser Dichtwerk – die Widerspiegelung dessen,<br />

wovon unser Herz im Augenblick voll ist. Aber für den anderen, dessen heiliges ‚Selbst‘ ein<br />

anderes ist, ist mein Gebet unbegreiflich und fremd. Das Bewußtsein der Einsamkeit reißt die<br />

Menschen noch mehr voneinander los, sondert die Seele ab, macht, daß sie sich in sich verschließt.<br />

Wir schämen uns unserer Gebete, und da wir wissen, daß wir in ihnen ja doch mit<br />

niemand verschmelzen, sprechen, formen wir sie nur noch halblaut, für uns selbst, in Andeutungen,<br />

die nur für uns selbst klar sind.“ 2<br />

Wenn der Individualismus diesen äußersten Grad erreicht, dann verschwindet in der Tat, wie<br />

Frau Hippius ganz richtig sagt, „die Möglichkeit des Verkehrs gerade im Gebet (d. h. in der<br />

Dichtkunst. G. P.), die Gemeinsamkeit des Gebetsimpulses (d. h. des dichterischen Impulses.<br />

G. P.)“. Und darunter muß die Dichtkunst und die Kunst allgemein leiden, die als eines der<br />

Mittel des Verkehrs der Menschen untereinander dient. Schon der biblische Jehova hat in<br />

überaus begründeter Weise bemerkt, daß es für den Menschen nicht gut ist, allein zu sein.<br />

Und das wird vortrefflich durch das Beispiel der Frau Hippius selbst bestätigt. In einem ihrer<br />

Gedichte lesen wir:<br />

Mein Weg kennt kein Erbarmen,<br />

er führt mich hin zum Tod;<br />

aber Liebe wird meine Seele retten,<br />

denn ich liebe mich wie Gott.<br />

Man darf daran zweifeln. Wer liebt „sich selbst wie Gott“? Ein schrankenloser Egoist. Und<br />

ein schrankenloser Egoist ist wohl kaum imstande, die Seele irgendeines Menschen zu retten.<br />

[275] Aber es handelt sich gar nicht darum, ob die Seelen der Frau Hippius und all derer gerettet<br />

werden, die – wie sie – „sich selbst wie Gott“ lieben. Es handelt sich darum, daß Dichter,<br />

die sich selbst wie Gott lieben, kein Interesse für das aufbringen können, was in der Gesellschaft<br />

um sie herum vorgeht. Ihr Streben wird bis zum höchsten Grade unbestimmt sein,<br />

und zwar notwendigerweise. In dem Gedicht „Das Lied“ „singt“ Frau Hippius:<br />

1 [S. Hippius,] Gesammelte Dichtungen (1889-1903), Ausgabe „Skorpion“, 1904, Vorwort, S. II, russ. Die Red.<br />

2 Ebenda, S. III. Die Red.<br />

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