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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

Mit der von ihm geschaffenen Gestalt widerspricht Bourget seinem eigenen Gedanken. Und<br />

das wiederum aus demselben Grunde, aus welchem der Weise, wenn er andere bedrückt,<br />

dumm wird. Wenn sich ein begabter Künstler von einer fehlerhaften Idee inspirieren läßt,<br />

verdirbt er sein eigenes Werk. Und der moderne Künstler kann sich unmöglich von einer<br />

wahren Idee inspirieren lassen, wenn er die Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen das Proletariat<br />

verteidigen will.<br />

Ich habe gesagt, daß es für den Künstler, der auf bürgerlichem Standpunkt steht, jetzt unvergleichlich<br />

schwieriger ist als früher, konsequent an der Theorie der Kunst für die Kunst festzuhalten.<br />

Das gesteht unter anderen auch Bourget ein. Er drückt sich sogar viel entschiedener<br />

aus. „Die Rolle des indifferenten Geschichtsschreibers“, sagt er, „ist unmöglich für einen<br />

Geist, der fähig ist zu denken, und für ein Herz, das fähig ist zu fühlen, wenn es sich um jene<br />

schrecklichen inneren Kriege handelt, von denen, wie es manchmal scheint, die ganze Zukunft<br />

des Vaterlandes und der Zivilisation abhängt.“ 1 Aber hier ist es an der Zeit, eine Einschränkung<br />

zu machen. Ein Mensch, der einen denkenden Geist und ein mitfühlendes Herz<br />

besitzt, kann in der Tat kein gleichgültiger Zuschauer des Bürgerkrieges bleiben, der in der<br />

modernen Gesellschaft vor sich geht. Ist sein Gesichtsfeld von bürgerlichen Vorurteilen eingeengt,<br />

so steht er auf der einen Seite der „Barrikade“, ist er von diesen Vorurteilen nicht<br />

angesteckt – auf der anderen Seite. So ist es. Aber nicht alle Kinder der Bourgeoisie – und<br />

natürlich auch jeder anderen Klasse – besitzen einen denkenden Geist. Die, welche denken,<br />

haben nicht immer ein mitfühlendes Herz. Ihnen fällt es auch jetzt nicht schwer, konsequente<br />

Anhänger der Theorie der Kunst für die Kunst zu bleiben. Sie entspricht der Gleichgültigkeit<br />

gegen die gesellschaftlichen – wenn auch eng klassenmäßigen –Interessen am allerbesten.<br />

Und die bürgerliche Gesellschaftsordnung kann eine derartige Gleichgültigkeit wohl mehr als<br />

jede andere entwickeln. Wo [273] ganze Geschlechter im Geiste des berüchtigten Prinzips<br />

erzogen werden: jeder für sich, und Gott für alle – da ist das Erscheinen von Egoisten, die nur<br />

an sich denken und sich nur für sich interessieren, etwas überaus Natürliches. Und wir sehen<br />

in der Tat, daß solche Egoisten innerhalb der modernen Bourgeoisie wohl in größerer Zahl<br />

anzutreffen sind als zu irgendeiner anderen Zeit. Hierfür haben wir das überaus wertvolle<br />

Zeugnis eines ihrer hervorragendsten Ideologen, nämlich – Maurice Barrès’.<br />

„Unsere Moral, unsere Religion, unser Nationalgefühl sind gestürzte Dinge“, sagt er, „aus<br />

denen wir keine Lebensregeln ableiten können, und solange wir warten, daß unsere Lehrer<br />

uns wieder Gewißheiten verschaffen, müssen wir uns an die einzige Realität, an unser ‚Ich‘<br />

halten.“ 2<br />

Wenn für einen Menschen alles „zusammengebrochen“ ist außer seinem eigenen „Ich“, dann<br />

hindert ihn nichts, die Rolle des leidenschaftslosen Geschichtsschreibers des großen Kampfes<br />

zu spielen, der im Innern der modernen Gesellschaft vor sich geht. Doch nein. Auch dann ist<br />

etwas vorhanden, was ihn hindert, diese Rolle zu spielen. Dieses Etwas ist gerade das Fehlen<br />

jeglichen gesellschaftlichen Interesses, das in den von mir angeführten Zeilen Barrès’ so<br />

deutlich gekennzeichnet ist. Wozu soll ein Mensch, der sich weder für den Kampf noch für<br />

die Gesellschaft im geringsten interessiert, als Geschichtsschreiber des gesellschaftlichen<br />

Kampfes auftreten? Alles, was solchen Kampf betrifft, wird bei ihm eine unüberwindliche<br />

Langeweile auslösen. Und wenn er ein Künstler ist, wird er ihn in seinen Werken nicht einmal<br />

andeuten. Er wird sich auch hier nur mit der „einzigen Wirklichkeit“, das heißt mit seinem<br />

„Ich“ beschäftigen. Und da sein „Ich“ immerhin langweilig werden kann, da er keine<br />

andere Gesellschaft hat als sich selbst, wird er dafür eine phantastische, „jenseitige“ Welt<br />

ausdenken, die hoch über der Erde und über allen irdischen „Fragen“ steht. So machen es<br />

1 [Paul Bourget,] „La barricade“, préface, p. XXIV.<br />

2 [Maurice Barrès,] „Sous l’œil des barbares“, éd. 1901, p. 18.<br />

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