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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

und Böse jeglicher Rechtfertigung, wie es überhaupt jede Rechtfertigung dort verliert, wo es<br />

um reaktionärer Ziele willen vollzogen wird. Man kann mir entgegenhalten, wenn Iwar Kareno<br />

keine Rechtfertigung vom Standpunkte des Proletariats finden könne, müsse er sie vom Standpunkte<br />

der Bourgeoisie aus doch finden. Damit bin ich völlig einverstanden. Aber der Standpunkt<br />

der Bourgeoisie ist in dem vorliegenden Falle der Standpunkt der bevorrechteten Minderheit,<br />

die danach strebt, ihre Vorrechte für ewige Zeiten zu behalten. Und der Standpunkt des<br />

Proletariats ist der Standpunkt der Mehrheit, die die Abschaffung aller Privilegien fordert. Und<br />

wenn man nun sagt, die Tätigkeit eines bestimmten Menschen sei vom Standpunkt der Bourgeoisie<br />

gerechtfertigt, so liegt darin das Zugeständnis, daß sie vom Standpunkt all derer aus<br />

verurteilt wird, die nicht geneigt sind, die Interessen der Ausbeuter [271] zu vertreten. Und das<br />

genügt mir vollauf, da der unabwendbare Gang der ökonomischen Entwicklung mir dafür<br />

bürgt, daß die Zahl solcher Menschen unbedingt immer weiter anwächst.<br />

Die Neuromantiker hassen die „Schläfrigen“ von ganzer Seele und wünschen Bewegung.<br />

Aber die Bewegung, die sie erstreben, ist eine konservative Bewegung in ihrer Gegensätzlichkeit<br />

zu der freiheitlichen Bewegung unserer Zeit. Darin liegt das ganze Geheimnis ihrer<br />

Psychologie. Und darin liegt auch das Geheimnis der Tatsache, daß selbst die talentvollsten<br />

unter ihnen nicht solche bedeutenden Werke schaffen können, die sie bei einer anderen Richtung<br />

ihrer gesellschaftlichen Sympathien und bei einer anderen Verfassung ihrer Denkweise<br />

schaffen würden. Wir haben schon gesehen, bis zu welchem Grade jene Idee fehlerhaft ist,<br />

die de Curel seinem Stück „Le repas du lion“ zugrunde gelegt hat. Aber eine falsche Idee<br />

muß einem Kunstwerk schaden, da sie in die Psychologie der handelnden Personen die Lüge<br />

hineinträgt. Es ließe sich unschwer zeigen, wieviel Unwahres in der Psychologie des Haupthelden<br />

des eben genannten Stückes – Jean de Sancy – enthalten ist. Das würde mich jedoch<br />

zu einer längeren Abschweifung veranlassen, als das nach dem Plan meines Aufsatzes wünschenswert<br />

ist. Ich will ein anderes Beispiel nehmen, das mir erlaubt, mich kürzer zu fassen.<br />

Die Grundidee des Stückes „La barricade“ ist die, daß am gegenwärtigen Klassenkampf jeder,<br />

gemeinsam mit seiner Klasse, mitwirken muß. Wen hält Bourget aber für die „sympathischste<br />

Figur“ seines Stückes? Den alten Arbeiter Gaucheron 1 , der nicht mit den Arbeitern,<br />

sondern mit dem Unternehmer geht. Das Benehmen dieses Arbeiters widerspricht ganz und<br />

gar der Grundidee des Stückes und kann nur dem sympathisch erscheinen, den seine Sympathie<br />

für das Bürgertum gänzlich blind gemacht hat. Das Gefühl, von dem sich Gaucheron<br />

leiten läßt, ist das Gefühl des Sklaven, der mit Ehrfurcht auf seine Ketten schaut. Aber wir<br />

wissen schon seit der Zeit des Grafen Alexei Tolstoi, wie schwer es ist, Sympathie für die<br />

Selbstverleugnung des Sklaven bei allen denen hervorzurufen, die nicht im Geiste des Sklaventums<br />

erzogen sind. Denken Sie an Wassili Schibanow, der die „sklavische Treue“ so erstaunlich<br />

gut bewahrte. Er starb als Held trotz aller schrecklichen Foltern:<br />

O Zar! – das war sein einzig Wort:<br />

Er lobpries seinen Herrn so immerfort. 2<br />

[272] Und dabei läßt dieses sklavische Heldentum den modernen Leser kalt, der überhaupt<br />

kaum begreifen kann, wie bei einem „sprechenden Werkzeug“ eine selbstlose Hingabe gegenüber<br />

seinem Besitzer möglich ist. Und der alte Gaucheron im Stück Bourgets ist nun so<br />

eine Art Schibanow, der sich aus einem Knecht in einen modernen Proletarier verwandelt hat.<br />

Es gehört schon viel Verblendung dazu, ihn zur „sympathischsten Figur“ des Stückes zu erklären.<br />

Und eines steht auf jeden Fall außer Zweifel: wenn Gaucheron sympathisch ist, so<br />

zeigt das, entgegen Bourget, daß jeder von uns nicht mit der Klasse gehen muß, zu der er<br />

gehört, sondern mit der, deren Sache ihm gerechter erscheint.<br />

1 Das sind seine eigenen Worte. Siehe „La barricade“, Paris 1910, préface, p. XIX.<br />

2 Verse aus dem Gedicht „Wassili Schibanow“ von A-Tolstoi.<br />

29

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