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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

[263] Ich konnte schon auf Knut Hamsuns Schauspiel „An des Reiches Pforten“ 1 als Beispiel<br />

eines Kunstwerkes, das an der Verlogenheit seiner grundlegenden Idee leidet, hinweisen.<br />

Der Leser wird entschuldigen, wenn ich ihn wieder daran erinnere.<br />

Als Held dieses Stückes tritt vor uns hin ein junger und wenn vielleicht auch nicht talentvoller,<br />

so doch jedenfalls über alle Maßen selbstbewußter Schriftsteller, Iwar Kareno. Er bezeichnet<br />

sich als einen Menschen „mit Gedanken, die frei sind wie der Vogel“. Worüber<br />

schreibt dieser Denker, der frei ist wie der Vogel? Über „den Widerstand“. Über „den Haß“.<br />

Wem rät er, Widerstand zu leisten? Wen lehrt er hassen? Er gibt den Rat, dem Proletariat zu<br />

widerstehen. Er lehrt, das Proletariat zu hassen. Nicht wahr, das ist ein Held der allerneuesten<br />

Sorte. Solche haben wir in der schönen Literatur bisher nur sehr wenig gesehen, um nicht zu<br />

sagen: überhaupt nicht. Aber ein Mensch, der den Widerstand gegen das Proletariat verkündet,<br />

ist ganz zweifellos ein Ideologe der Bourgeoisie. Dieser Ideologe der Bourgeoisie, der<br />

Iwar Kareno heißt, erscheint sich selbst und seinem Schöpfer Knut Hamsun als der größte<br />

Revolutionär. Wir haben schon am Beispiel der ersten französischen Romantiker erfahren,<br />

daß es solche „revolutionäre“ Gesinnungen gibt, deren Hauptkennzeichen in ihrem Konservatismus<br />

besteht. Théophile Gautier haßte den „Bourgeois“, zu gleicher Zeit aber donnerte er<br />

gegen die Menschen los, die meinten, es sei Zeit, die bürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

zu beseitigen. Iwar Kareno ist offenbar einer der geistigen Nachkömmlinge des berühmten<br />

französischen Romantikers. Der Nachkomme ging indes viel weiter als sein Vorfahre.<br />

Er ist bewußt feindlich gegen das eingestellt, wogegen der Vorfahre nur eine instinktive<br />

Abneigung empfand. 2 Wenn die [264] Romantiker konservativ waren, so ist Iwar Kareno ein<br />

Reaktionär reinsten Wassers. Und dabei ein Utopist vom Schlage des wilden Großgrundbesitzers<br />

bei Schtschedrin. Er will das Proletariat vertilgen, wie dieser den Mushik vertilgen<br />

1 Siehe meinen Aufsatz „Dr. Stockmanns Geisteskind“ in meinem Sammelband „Von der Abwehr zum Angriff“.<br />

[Siehe im vorliegenden Bande S. 929-950.]<br />

2 Ich spreche von der Zeit, da Gautier sein berühmtes rotes Wams noch nicht ganz hatte ablegen können. In der<br />

Folge – zum Beispiel in der Zeit der Pariser Kommune – war er bereits ein bewußter – und noch dazu welch ein<br />

wütender! – Feind der Freiheitsbestrebungen der Arbeiterklasse. Übrigens muß man bemerken, daß man Flaubert<br />

ebenfalls einen geistigen Vorläufer Knut Hamsuns <strong>nennen</strong> kann, und sogar mit noch größerem Recht. In<br />

einem seiner Notizbücher kommen folgende bemerkenswerte Zeilen vor: „Ce n’est pas contre Dieu que<br />

Prométhée aujourd’hui devrait se révolter, mais contre le Peuple, dieu nouveau. Aux vieilles tyrannies sacerdotales,<br />

féodales et monarchiques on a succédé une autre, plus subtile, inextricable, impérieuse et qui dans quelque<br />

temps ne laissera pas un seul coin de la terre qui soit libre“ („Nicht mehr gegen Gott müßte sich heutzutage<br />

Prometheus empören, sondern gegen das Volk, den neuen Gott. An die Stelle der alten Tyrannei der Priester,<br />

Feudalherren und Monarchen ist eine andere getreten, noch feiner, unentwirrbarer, herrischer, die in einiger Zeit<br />

keinen Winkel der Erde übrig lassen wird, der noch [264] frei ist“). Siehe das Kapitel „Les carnets de Gustave<br />

Flaubert“ in dem Buche von Louis Bertrand: „Gustave Flaubert“, Paris MCMXII, S. 255.<br />

Das ist gerade jener Gedanke, frei wie der Vogel, der Iwar Kareno inspiriert. In einem Briefe an George Sand<br />

vom 8. September 1871 sagte Flaubert: „Je crois que la foule, le troupeau sera toujours haissable. Il n’y a<br />

d’important qu’un petit groupe d’esprits toujours les mêmes et qui se repassent le flambeau“ („Ich glaube, daß<br />

die Masse, der Haufe stets hassenswert sein wird. Es gibt nichts Wichtiges außer einer kleinen Gruppe von<br />

geistvollen Köpfen, die immer die gleichen sind“ [so in der von uns zitierten deutschen Übersetzung]). In dem<br />

gleichen Briefe finden sich die von mir oben angeführten Zeilen über das allgemeine Wahlrecht, das angeblich<br />

eine Schande des menschlichen Geistes ist, da dank ihm die Zahl „sogar das Geld“ (!) beherrscht. (Siehe Flaubert,<br />

Correspondance, quatrième série (1869-1880), huitième mille, Paris 1910 [zit. Werk, Potsdam 1919, S.<br />

128/129, 130].) In diesen Ansichten würde Iwar Kareno sicherlich seine eigenen Gedanken erkennen, die frei<br />

sind wie der Vogel. Aber diese Ansichten haben in den Romanen Flauberts noch keinen direkten Ausdruck<br />

gefunden. Der Kampf der Klassen in der modernen Gesellschaft mußte weit vorangeschritten sein, bevor die<br />

Ideologen der herrschenden Klasse das Bedürfnis fühlten, ihren Haß gegen die freiheitlichen Bestrebungen des<br />

„Volkes“ in der Literatur unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Aber diejenigen unter ihnen, bei denen sich mit<br />

der Zeit dieses Bedürfnis einstellte, konnten nicht mehr die „absolute Autonomie“ der Ideologien vertreten. Im<br />

Gegenteil, sie stellten den Ideologien das bewußte Ziel, als geistige Waffe im Kampf gegen das Proletariat zu<br />

dienen. Doch hierüber später.<br />

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