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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 Aber ihre Blindheit gegenüber der neuen Strömung, die auf die Erneuerung des gesamten gesellschaftlichen Lebens gerichtet war, machte ihre Ansichten fehlerhaft, eng, einseitig und verringerte den Wert jener Ideen, die sie in ihren Werken zum Ausdruck brachten. Die natürliche Folge war die ausweglose Lage des französischen Realismus, welche dekadente Schwärmerei und die Neigung zum Mystizismus selbst bei Schriftstellern hervorrief, die einmal durch die realistische (naturalistische) Schule gegangen waren. Diese Schlußfolgerung wird in dem folgenden Aufsatz genau geprüft werden. Jetzt aber ist es Zeit, daß ich zu Ende komme. Zum Schluß will ich nur noch ein paar Worte über Puschkin sagen. Wenn sein Dichter über den „Pöbel“ wettert, klingen seine Worte recht zornig, aber wir hören nichts Triviales, was D. I. Pissarew auch sagen mag. 1 Der Dichter wirft der Masse der besseren Gesellschaft – ja, gerade der besseren Gesellschaft, und nicht dem wirklichen Volk, das gänzlich außerhalb des Gesichtsfeldes der damaligen russischen Literatur stand –vor, ihr sei der Topf auf dem Ofen lieber als der Apoll von Belvedere. Das heißt, ihr enger praktischer Sinn war ihm unerträglich. Und das ist alles. Seine entschiedene Abneigung, die Menge zu belehren, zeugt nur davon, daß er ihren Fall als völlig hoffnungslos betrachtete. Aber seine Ansicht hat keinerlei reaktionären Beigeschmack. Und darin besteht der ungeheure Vorzug Puschkins vor solchen Verteidigern der Kunst für die Kunst, wie es Gautier war. Dieser Vorzug hat bedingten Charakter. Puschkin spottete nicht über die Saint-Simonisten Und er hat auch schwerlich von ihnen gehört 2* . Er war ein ehrlicher und großmütiger Mensch. Aber dieser ehrliche und großmütige Mensch hatte sich von Jugend auf gewisse Klassenvorurteile angeeignet. Die Abschaffung der Ausbeutung der einen Klasse durch die andere mußte ihm als eine nicht zu verwirklichende und sogar lächerliche Utopie erscheinen. Hätte er von irgendwelchen praktischen Plänen ihrer Beseitigung gehört und, namentlich, wäre in Rußland um diese Pläne so viel Lärm geschlagen worden wie um die Saint-Simon-[261]schen Pläne in Frankreich, so wäre er wahrscheinlich in scharfen polemischen Artikeln und in höhnenden Epigrammen dagegen zu Felde gezogen. Einige seiner Bemerkungen – in dem Artikel „Gedanken auf den Weg“ – über die Vorzüge der Lage des russischen leibeigenen Bauern im Vergleich zu der Lage des westeuropäischen Arbeiters legen den Gedanken nahe, daß der kluge Puschkin im gegebenen Falle wohl ebenso manchmal mit seinem Urteil daneben geraten wäre wie der ungleich weniger kluge Gautier. Vor dieser möglichen Schwäche rettete ihn die wirtschaftliche Rückständigkeit Rußlands. Das ist eine alte, aber ewig neue Geschichte. Wenn eine Klasse von der Ausbeutung einer anderen Klasse lebt, die auf der wirtschaftlichen Stufenleiter unter ihr steht, und wenn sie zur vollen Herrschaft in der Gesellschaft gelangt ist, dann bedeutet fortschreiten für diese Klasse soviel wie herunterkommen. Darin besteht ja auch die Erklärung für die auf den ersten Blick unverständliche und meinetwegen sogar unglaubliche Erscheinung, daß die Ideologie der herrschenden Klassen in wirtschaftlich rückständigen Ländern nicht selten viel höher ist als in fortgeschrittenen Ländern. Jetzt hat auch Rußland schon jene Höhe der ökonomischen Entwicklung erreicht, auf der die Anhänger der Theorie der Kunst für die Kunst zu bewußten Verfechtern der sozialen Ord- 1 [In seinem Aufsatz „Puschkin und Belinski“ (1865).] 2* Plechanow wußte nicht, daß Puschkin nicht nur von Tschaadajew und A. Turgenew vom Saint-Simonismus gehört hatte, sondern die Werke Saint-Simons auch selbst kannte. In Puschkins persönlicher Bibliothek waren drei Bücher: „Die Lehre Saint-Simons. Eine Darlegung“ (1831), des Saint-Simonisten Barrot Schrift „An die Künstler. Über die Vergangenheit und Zukunft der schönen Künste“ (in der Ausgabe „Die Saint-Simonistische Religion“) und der Roman von Joséphine Lebanu, „Die Saint-Simonistin“ (1833), der den Anhängern der neuen Lehre gewidmet ist. Näheres hierüber siehe in dem Aufsatz „Puschkin und der Saint-Simonismus“ von L. P. Grossman in der Zeitschrift „Krasnaja Now“ (1936, Heft 6, Juni, S. 157-168). 22

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 nung werden, die sich auf die Ausbeutung der einen Klasse durch die andere gründet. Deshalb redet man jetzt auch bei uns im Namen der „absoluten Autonomie der Kunst“ reichlich viel sozial-reaktionären Unsinn. Aber zur Zeit Puschkins war es noch nicht so. Und das war ein großes Glück für ihn. III Ich habe gesagt, es gebe kein Kunstwerk, das gänzlich ohne ideellen Gehalt wäre. Und ich habe hinzugefügt, einem Kunstwerk lasse sich nicht jede Idee zugrunde legen. Nur was zum Verkehr der Menschen untereinander beiträgt, vermag dem Künstler die wahre Inspiration zu geben. Die möglichen Grenzen eines solchen Verkehrs bestimmt nicht der Künstler, sie werden durch die Höhe der von diesem gesellschaftlichen Ganzen erreichten Kultur, dem dieser angehört, bestimmt. In einer in Klassen geteilten Gesellschaft hängt die Sache aber noch von den gegenseitigen Beziehungen dieser Klassen und davon ab, in welcher Phase der Entwicklung sich zur Zeit jede dieser Klassen befindet. Als die Bourgeoisie eben noch um ihre Befreiung vom Joche der weltlichen und geistlichen Aristokratie kämpfte, d. h., als sie selbst eine revolutionäre Klasse war, zog sie die [262] ganze werktätige Masse hinter sich her, die zusammen mit ihr den einen „dritten“ Stand bildete. Und damals waren die fortschrittlichen Ideologen der Bourgeoisie auch die fortschrittlichen Ideologen der „ganzen Nation mit Ausschluß der Privilegierten“. Mit anderen Worten: Damals waren die Grenzen jenes Verkehrs zwischen den Menschen, den die Werke der auf dem bürgerlichen Standpunkt stehenden Künstler vermittelten, verhältnismäßig weit gesteckt. Als aber die Interessen der Bourgeoisie nicht länger die Interessen der ganzen werktätigen Masse waren und besonders als sie mit den Interessen des Proletariats in einen feindlichen Konflikt gerieten – da wurden die Grenzen dieses Verkehrs sehr eingeengt. Wenn Ruskin sagte, der Geizhals könne nicht sein verlorenes Geld besingen, so war jetzt eine solche Zeit gekommen, da sich die Stimmung der Bourgeoisie der Stimmung des Geizhalses näherte, der seine Schätze beweint. Der Unterschied ist nur der, daß dieser Geizhals einen Verlust beweint, der bereits geschehen ist, daß aber die Bourgeoisie die Seelenruhe wegen des Verlustes verliert, der ihr in der Zukunft droht. „Der Weise wird dumm, wenn er andere bedrückt“, möchte ich mit den Worten des Ecclesiastes sagen. Eine ebenso schädliche Wirkung muß auf den Weisen (ja, auf den Weisen!) die Befürchtung ausüben, daß er der Möglichkeit beraubt wird, andere zu bedrücken. Die Ideologien der herrschenden Klasse verlieren ihren inneren Wert in dem Maße, wie diese dem Untergang entgegenreift. Die Kunst, geschaffen durch ihre Erlebnisse, verfällt. Die Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes besteht darin, das im vorangehenden Aufsatz hierüber Gesagte zu ergänzen, indem wir noch einige der markantesten Anzeichen des jetzigen Verfalls der bürgerlichen Kunst untersuchen. Wir haben gesehen, auf welchem Wege der Mystizismus in die zeitgenössische schöngeistige Literatur Frankreichs eingedrungen ist. Dazu führte das Bewußtsein der Unmöglichkeit, sich auf die Form ohne Inhalt, d. h. ohne Idee, zu beschränken, ein Bewußtsein, das begleitet war von der Unfähigkeit, sich zum Verständnis der großen Freiheitsideen unserer Zeit zu erheben. Das gleiche Bewußtsein und die gleiche Unfähigkeit haben noch viele andere Folgen nach sich gezogen, die den inneren Wert der Kunstwerke nicht weniger als der Mystizismus verminderten. Der Mystizismus ist ein unversöhnlicher Feind der Vernunft. Aber mit der Vernunft lebt nicht nur der in Feindschaft, der in Mystizismus verfällt. Mit ihm lebt in Zwist auch, wer aus diesem oder jenem Grunde, auf diese oder jene Weise eine verlogene Idee verteidigt. Und wenn die verlogene Idee dem Kunstwerk zugrunde gelegt wird, trägt sie in dieses Kunstwerk eben solche inneren Widersprüche hinein, unter denen sein ästhetischer Wert leidet. 23

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Aber ihre Blindheit gegenüber der neuen Strömung, die auf die Erneuerung des gesamten<br />

gesellschaftlichen Lebens gerichtet war, machte ihre Ansichten fehlerhaft, eng, einseitig und<br />

verringerte den Wert jener Ideen, die sie in ihren Werken zum Ausdruck brachten. Die natürliche<br />

Folge war die ausweglose Lage des französischen Realismus, welche dekadente<br />

Schwärmerei und die Neigung zum Mystizismus selbst bei Schriftstellern hervorrief, die<br />

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Diese Schlußfolgerung wird in dem folgenden Aufsatz genau geprüft werden. Jetzt aber ist es<br />

Zeit, daß ich zu Ende komme. Zum Schluß will ich nur noch ein paar Worte über Puschkin<br />

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Wenn sein Dichter über den „Pöbel“ wettert, klingen seine Worte recht zornig, aber wir hören<br />

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Gesellschaft – ja, gerade der besseren Gesellschaft, und nicht dem wirklichen Volk, das<br />

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der Topf auf dem Ofen lieber als der Apoll von Belvedere. Das heißt, ihr enger praktischer<br />

Sinn war ihm unerträglich. Und das ist alles. Seine entschiedene Abneigung, die Menge zu<br />

belehren, zeugt nur davon, daß er ihren Fall als völlig hoffnungslos betrachtete. Aber seine<br />

Ansicht hat keinerlei reaktionären Beigeschmack. Und darin besteht der ungeheure Vorzug<br />

Puschkins vor solchen Verteidigern der Kunst für die Kunst, wie es Gautier war. Dieser Vorzug<br />

hat bedingten Charakter. Puschkin spottete nicht über die Saint-Simonisten Und er hat<br />

auch schwerlich von ihnen gehört 2* . Er war ein ehrlicher und großmütiger Mensch. Aber dieser<br />

ehrliche und großmütige Mensch hatte sich von Jugend auf gewisse Klassenvorurteile<br />

angeeignet. Die Abschaffung der Ausbeutung der einen Klasse durch die andere mußte ihm<br />

als eine nicht zu verwirklichende und sogar lächerliche Utopie erscheinen. Hätte er von irgendwelchen<br />

praktischen Plänen ihrer Beseitigung gehört und, namentlich, wäre in Rußland<br />

um diese Pläne so viel Lärm geschlagen worden wie um die Saint-Simon-[261]schen Pläne in<br />

Frankreich, so wäre er wahrscheinlich in scharfen polemischen Artikeln und in höhnenden<br />

Epigrammen dagegen zu Felde gezogen. Einige seiner Bemerkungen – in dem Artikel „Gedanken<br />

auf den Weg“ – über die Vorzüge der Lage des russischen leibeigenen Bauern im<br />

Vergleich zu der Lage des westeuropäischen Arbeiters legen den Gedanken nahe, daß der<br />

kluge Puschkin im gegebenen Falle wohl ebenso manchmal mit seinem Urteil daneben geraten<br />

wäre wie der ungleich weniger kluge Gautier. Vor dieser möglichen Schwäche rettete ihn<br />

die wirtschaftliche Rückständigkeit Rußlands.<br />

Das ist eine alte, aber ewig neue Geschichte. Wenn eine Klasse von der Ausbeutung einer<br />

anderen Klasse lebt, die auf der wirtschaftlichen Stufenleiter unter ihr steht, und wenn sie zur<br />

vollen Herrschaft in der Gesellschaft gelangt ist, dann bedeutet fortschreiten für diese Klasse<br />

soviel wie herunterkommen. Darin besteht ja auch die Erklärung für die auf den ersten Blick<br />

unverständliche und meinetwegen sogar unglaubliche Erscheinung, daß die Ideologie der<br />

herrschenden Klassen in wirtschaftlich rückständigen Ländern nicht selten viel höher ist als<br />

in fortgeschrittenen Ländern.<br />

Jetzt hat auch Rußland schon jene Höhe der ökonomischen Entwicklung erreicht, auf der die<br />

Anhänger der Theorie der Kunst für die Kunst zu bewußten Verfechtern der sozialen Ord-<br />

1 [In seinem Aufsatz „Puschkin und Belinski“ (1865).]<br />

2* Plechanow wußte nicht, daß Puschkin nicht nur von Tschaadajew und A. Turgenew vom Saint-Simonismus<br />

gehört hatte, sondern die Werke Saint-Simons auch selbst kannte. In Puschkins persönlicher Bibliothek waren<br />

drei Bücher: „Die Lehre Saint-Simons. Eine Darlegung“ (1831), des Saint-Simonisten Barrot Schrift „An die<br />

Künstler. Über die Vergangenheit und Zukunft der schönen Künste“ (in der Ausgabe „Die Saint-Simonistische<br />

Religion“) und der Roman von Joséphine Lebanu, „Die Saint-Simonistin“ (1833), der den Anhängern der neuen<br />

Lehre gewidmet ist. Näheres hierüber siehe in dem Aufsatz „Puschkin und der Saint-Simonismus“ von L. P.<br />

Grossman in der Zeitschrift „Krasnaja Now“ (1936, Heft 6, Juni, S. 157-168).<br />

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