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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 Reaktion zu festigen, deren Wesen in dem konservativen Bestreben besteht, die Erfolge der neuesten Naturforschung mit der alten religiösen Überlieferung in Einklang zu bringen oder, genauer ausgedrückt, den Betstuhl mit dem Laboratorium zu versöhnen. 1 Auch die Kunst entging dem allgemeinen Schicksal nicht. Wir werden noch sehen, zu welchen lächerlichen Albernheiten der Einfluß der gegenwärtigen idealistischen Reaktion einige der neuesten Maler geführt hat. Jetzt will ich nur das folgende sagen: Die konservative und teils sogar reaktionäre Denkweise der ersten Realisten hat sie nicht gehindert, das sie umgebende Milieu gründlich zu studieren und in künstlerischer Beziehung sehr Wertvolles zu schaffen; aber es unterliegt keinem Zweifel, daß sie ihren Horizont stark eingeengt hat. Indem sie sich feindselig von der großen Befreiungsbewegung ihrer Zeit abwandten, schlossen sie aus der Zahl der von ihnen beobachteten „Mastodone“ und „Krokodile“ die interessantesten Exemplare mit dem reichsten Innenleben aus. Ihre Objektivität gegenüber dem von ihnen studierten Milieu bedeutete eigentlich das Fehlen der Anteilnahme. Und natürlich konnten sie dem keine Anteilnahme entgegenbringen, was bei ihrem Konservativismus ihrer Beobachtung einzig und allein zugänglich war: den „kleinlichen Ideen“ und „kleinlichen Leidenschaften“, die im „unreinen Morast“ des kleinbürgerlichen Alltagslebens geboren werden. Aber dieses Fehlen der Anteilnahme an den beobachteten und erfundenen Gegenständen mußte sehr bald zum Verfall des Interesses überhaupt führen. Der Naturalismus, den sie mit ihren bemerkenswerten Werken erst [258] begründet hatten, geriet, nach einem Ausdruck Huysmans’, bald in eine „Sackgasse, in einen Tunnel mit versperrtem Ausgang“. Er konnte, wie sich Huysmans ausdrückte, alles, bis zur Syphilis einschließlich, zu seinem Gegenstande machen. 2 Aber die moderne Arbeiterbewegung blieb ihm unzugänglich. Ich erinnere mich natürlich, daß Zola „Germinal“ geschrieben hat. Man darf aber, abgesehen von den schwachen Seiten dieses Romans, eines nicht vergessen: wenn Zola gar, wie er sagte, zum Sozialismus hinzuneigen begann, erwies sich seine sogenannte experimentelle Methode vollends als ungeeignet zur künstlerischen Erfassung und Darstellung der großen gesellschaftlichen Bewegungen. Diese Methode war aufs engste mit dem Standpunkt jenes Materialismus verbunden, den Marx den naturwissenschaftlichen nannte und der nicht versteht, daß die Handlungen, Neigungen, Geschmacksrichtungen und Denkgewohnheiten des gesellschaftlichen Menschen keine genügende Erklärung in der Physiologie oder Pathologie finden können, da sie durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt werden. Indem die Künstler dieser Methode treu blieben, konnten sie ihre „Mastodone“ und „Krokodile“ zwar als Individuen studieren und darstellen, aber nicht als Glieder eines großen Ganzen. Und das hat Huysmans auch gefühlt, als er sagte, der Naturalismus sei in eine Sackgasse geraten und es bleibe ihm nichts anderes übrig, als immer und immer wieder von dem Liebesverhältnis des ersten besten Weinhändlers mit der ersten besten Krämersfrau zu erzählen. 3 Die Erzählungen über solche Verhältnisse konnten nur in dem Falle von Interesse sein, wenn sie über eine gewisse Seite der gesellschaftlichen Verhältnisse Licht verbreiteten, wie das im russischen Realismus der Fall war. Aber ein gesellschaftliches Interesse war bei den französischen Realisten 1 „On peut, sans contradiction, aller successivement à son laboratoire et à son oratoire“ („Man kann ohne inneren Widerspruch nacheinander in sein Laboratorium und in seinen Betstuhl gehen“) – sagte vor zehn Jahren Grasset, Professor der klinischen Medizin in Montpellier. Diesen Ausspruch wiederholen begeistert solche Theoretiker wie Jules Soury, der Verfasser des Buches „Bréviaire de l’histoire du matérialisme“, das im Geiste des bekannten Werkes von Lange über das gleiche Thema geschrieben ist. (Siehe den Aufsatz „Oratoire et laboratoire“ in Sourys Sammelband „Campagnes nationalistes“, Paris 1902, pp. 233-266, 267.) Siehe in der gleichen Schriftensammlung den Artikel „Science et Religion“, dessen hauptsächlicher Gedanke durch die bekannten Worte von Du Bois-Reymond – ignoramus et ignorabimus [wir wissen nichts, und wir werden nie etwas wissen] – ausgedrückt wird. 2 Mit diesen Worten spielte Huysmans auf den Roman „Les virus d’amour“ des Belgiers Tabaran an. 3 Siehe Jules Huret, „Enquête sur l’évolution littéraire“, eine Unterhaltung mit Huysmans, S. 176/177. 20

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013 nicht vorhanden. Infolgedessen wurde die Darstellung des „Liebesverhältnisses des ersten besten Weinhändlers mit der ersten besten Krämersfrau“ schließlich uninteressant, langweilig und sogar einfach abstoßend. In seinen ersten Werken, zum Beispiel in dem Roman „Les sœurs Vatard“, war Huysmans selbst Naturalist reinsten Wassers. Aber die Darstellung der „sieben Todsünden“ (wiederum Worte von ihm) wurde ihm zu langweilig, und er sagte sich vom Naturalismus los, wobei er aber, nach einem deutschen Ausdruck, das Kind mit dem Bade ausschüttete. In dem seltsamen, stellenweise äußerst langweiligen, aber gerade durch seine Mängel äußerst lehrreichen Roman „A rebours“ hat er in der Person des Desessent einen eigenartigen Übermenschen (aus völlig degeneriertem Adel) [259] dargestellt oder, besser gesagt, mit einem alten Ausdruck: erdichtet, dessen ganzer Lebensstil eine völlige Umkehrung der Lebensweise des „Weinhändlers“ und der „Krämersfrau“ darstellen sollte. Die Schaffung derartiger Typen hat zum soundsovielten Male die Richtigkeit jenes Gedankens von Leconte de Lisle bestätigt, daß da, wo kein reales Leben vorhanden ist, die Aufgabe der Dichtkunst darin bestehe, ein ideelles Leben zu schaffen. Aber das ideelle Leben des Desessent entbehrt bis zu einem solchen Grade jeglichen menschlichen Inhalts, daß seine Erdichtung nicht den geringsten Ausweg aus der Sackgasse eröffnete. Und da verfiel nun Huysmans in den Mystizismus, der als „ideeller“ Ausweg aus einer Lage diente, aus der auf „realem“ Wege herauszukommen unmöglich war. Unter den angegebenen Umständen war das ganz und gar natürlich. Indes, wir wollen sehen, was sich für uns daraus ergibt. Der Künstler, der zum Mystiker geworden ist, verschmäht den ideellen Gehalt nicht, er verleiht ihm nur einen eigentümlichen Charakter. Der Mystizismus ist auch eine Idee, aber eine dunkle, formlose, nebelhafte, die der Vernunft todfeind ist. Der Mystiker ist nicht abgeneigt, nicht nur etwas zu erzählen, sondern sogar zu beweisen. Nur erzählt er etwas „nicht Wirkliches“, und in seinen Beweisen nimmt er die Verneinung des gesunden Menschenverstandes zum Ausgangspunkt. Das Beispiel Huysmans’ zeigt wiederum, daß ein Kunstwerk ohne ideellen Gehalt nicht auskommen kann. Wenn aber die Künstler gegenüber den wichtigsten gesellschaftlichen Strömungen ihrer Zeit blind werden, wird die Natur der in ihren Werken ausgedrückten Ideen in ihrem inneren Werte sehr stark herabgesetzt. Und darunter müssen unvermeidlich auch die Werke leiden. Dieser Umstand ist für die Kunst- und Literaturgeschichte so wichtig, daß wir ihn aufmerksam von den verschiedenen Seiten her werden untersuchen müssen. Bevor wir an diese Aufgabe herangehen, wollen wir jedoch die Schlußfolgerungen zusammenfassen, zu denen uns die vorangegangene Untersuchung geführt hat. Die Neigung zur Kunst für die Kunst erscheint und festigt sich da, wo ein hoffnungsloser Zwiespalt zwischen den Menschen, die sich mit Kunst beschäftigen, und dem sie umgebenden gesellschaftlichen Milieu vorhanden ist. Dieser Zwiespalt wirkt sich auf das künstlerische Schaffen in dem Maße vorteilhaft aus, als er den Künstlern hilft, sich über das sie umgebende Milieu zu erheben. So Puschkin in der Epoche Nikolaus’ I. So die Romantiker, die Parnassiens und die ersten Realisten in Frankreich. Wenn man die Zahl der Beispiele vermehrte, könnte man beweisen, daß es immer da so gewesen ist, wo der angegebene Zwiespalt bestand. Erhoben sie sich auch gegen die trivialen Sitten des sie umgebenden gesellschaftlichen Milieus, hatten die Romantiker, Parnassiens und Realisten doch nichts [260] gegen jene gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen diese trivialen Sitten wurzelten. Im Gegenteil, sie verwünschten den „Bourgeois“ und hielten zugleich fest an der bürgerlichen Ordnung – zuerst instinktiv, dann aber mit vollem Bewußtsein. Und je mehr sich im neuzeitlichen Europa die gegen die bürgerliche Ordnung gerichtete Freiheitsbewegung verstärkte, desto bewußter gestaltete sich die Verbundenheit der französischen Anhänger der Kunst für die Kunst mit dieser Ordnung. Und je bewußter sich bei ihnen diese Verbundenheit gestaltete, desto weniger konnten sie gegen den ideellen Gehalt ihrer Werke gleichgültig bleiben. 21

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nicht vorhanden. Infolgedessen wurde die Darstellung des „Liebesverhältnisses des ersten<br />

besten Weinhändlers mit der ersten besten Krämersfrau“ schließlich uninteressant, langweilig<br />

und sogar einfach abstoßend. In seinen ersten Werken, zum Beispiel in dem Roman „Les<br />

sœurs Vatard“, war Huysmans selbst Naturalist reinsten Wassers. Aber die Darstellung der<br />

„sieben Todsünden“ (wiederum Worte von ihm) wurde ihm zu langweilig, und er sagte sich<br />

vom Naturalismus los, wobei er aber, nach einem deutschen Ausdruck, das Kind mit dem<br />

Bade ausschüttete. In dem seltsamen, stellenweise äußerst langweiligen, aber gerade durch<br />

seine Mängel äußerst lehrreichen Roman „A rebours“ hat er in der Person des Desessent einen<br />

eigenartigen Übermenschen (aus völlig degeneriertem Adel) [259] dargestellt oder, besser<br />

gesagt, mit einem alten Ausdruck: erdichtet, dessen ganzer Lebensstil eine völlige Umkehrung<br />

der Lebensweise des „Weinhändlers“ und der „Krämersfrau“ darstellen sollte. Die<br />

Schaffung derartiger Typen hat zum soundsovielten Male die Richtigkeit jenes Gedankens<br />

von Leconte de Lisle bestätigt, daß da, wo kein reales Leben vorhanden ist, die Aufgabe der<br />

Dichtkunst darin bestehe, ein ideelles Leben zu schaffen. Aber das ideelle Leben des Desessent<br />

entbehrt bis zu einem solchen Grade jeglichen menschlichen Inhalts, daß seine Erdichtung<br />

nicht den geringsten Ausweg aus der Sackgasse eröffnete. Und da verfiel nun Huysmans<br />

in den Mystizismus, der als „ideeller“ Ausweg aus einer Lage diente, aus der auf „realem“<br />

Wege herauszukommen unmöglich war. Unter den angegebenen Umständen war das ganz<br />

und gar natürlich. Indes, wir wollen sehen, was sich für uns daraus ergibt.<br />

Der Künstler, der zum Mystiker geworden ist, verschmäht den ideellen Gehalt nicht, er verleiht<br />

ihm nur einen eigentümlichen Charakter. Der Mystizismus ist auch eine Idee, aber eine<br />

dunkle, formlose, nebelhafte, die der Vernunft todfeind ist. Der Mystiker ist nicht abgeneigt,<br />

nicht nur etwas zu erzählen, sondern sogar zu beweisen. Nur erzählt er etwas „nicht Wirkliches“,<br />

und in seinen Beweisen nimmt er die Verneinung des gesunden Menschenverstandes<br />

zum Ausgangspunkt. Das Beispiel Huysmans’ zeigt wiederum, daß ein Kunstwerk ohne ideellen<br />

Gehalt nicht auskommen kann. Wenn aber die Künstler gegenüber den wichtigsten gesellschaftlichen<br />

Strömungen ihrer Zeit blind werden, wird die Natur der in ihren Werken ausgedrückten<br />

Ideen in ihrem inneren Werte sehr stark herabgesetzt. Und darunter müssen unvermeidlich<br />

auch die Werke leiden.<br />

Dieser Umstand ist für die Kunst- und Literaturgeschichte so wichtig, daß wir ihn aufmerksam<br />

von den verschiedenen Seiten her werden untersuchen müssen. Bevor wir an diese Aufgabe<br />

herangehen, wollen wir jedoch die Schlußfolgerungen zusammenfassen, zu denen uns<br />

die vorangegangene Untersuchung geführt hat.<br />

Die Neigung zur Kunst für die Kunst erscheint und festigt sich da, wo ein hoffnungsloser<br />

Zwiespalt zwischen den Menschen, die sich mit Kunst beschäftigen, und dem sie umgebenden<br />

gesellschaftlichen Milieu vorhanden ist. Dieser Zwiespalt wirkt sich auf das künstlerische<br />

Schaffen in dem Maße vorteilhaft aus, als er den Künstlern hilft, sich über das sie umgebende<br />

Milieu zu erheben. So Puschkin in der Epoche Nikolaus’ I. So die Romantiker, die Parnassiens<br />

und die ersten Realisten in Frankreich. Wenn man die Zahl der Beispiele vermehrte,<br />

könnte man beweisen, daß es immer da so gewesen ist, wo der angegebene Zwiespalt bestand.<br />

Erhoben sie sich auch gegen die trivialen Sitten des sie umgebenden gesellschaftlichen<br />

Milieus, hatten die Romantiker, Parnassiens und Realisten doch nichts [260] gegen jene gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse, in denen diese trivialen Sitten wurzelten. Im Gegenteil, sie<br />

verwünschten den „Bourgeois“ und hielten zugleich fest an der bürgerlichen Ordnung – zuerst<br />

instinktiv, dann aber mit vollem Bewußtsein. Und je mehr sich im neuzeitlichen Europa<br />

die gegen die bürgerliche Ordnung gerichtete Freiheitsbewegung verstärkte, desto bewußter<br />

gestaltete sich die Verbundenheit der französischen Anhänger der Kunst für die Kunst mit<br />

dieser Ordnung. Und je bewußter sich bei ihnen diese Verbundenheit gestaltete, desto weniger<br />

konnten sie gegen den ideellen Gehalt ihrer Werke gleichgültig bleiben.<br />

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