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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

die Bewegung, die in den Prinzipien des Jahres 1789 eben auf das deutlichste zum Ausdruck<br />

gelangte. Deshalb können wir, im Gegensatz zu Turgenew, sagen, daß die Venus von Milo<br />

im neuen Europa um so „unbezweifelbarere“ Geltung bekam, als die europäische Bevölkerung<br />

zur Verkündung der Prinzipien des Jahres 1789 heranreifte. Das ist kein Paradoxon,<br />

sondern die nackte historische Tatsache. Der ganze Sinn der Kunstgeschichte in der Renaissancezeit<br />

– vom Gesichtspunkt des Schönheitsbegriffs aus betrachtet – liegt darin, daß das<br />

christlich-mönchische Ideal der äußeren menschlichen Erscheinung allmählich in den Hintergrund<br />

gedrängt wird durch das irdische Ideal, dessen Aufkommen durch die Freiheitsbewegung<br />

der Städte bedingt wurde und dessen Ausgestaltung durch die Erinnerung an die antiken<br />

Teufelsweiber erleichtert worden ist. Schon Belinski, der in den letzten Jahren seines literarischen<br />

Schaffens ganz richtig behauptet hatte, daß es eine „reine“, losgelöste, unbedingte oder,<br />

wie die Philosophen sagen, „absolute Kunst nie und nirgends gegeben hat“, machte doch das<br />

Zugeständnis, daß sich die Werke der Malerei der italienischen Schule des 16. Jahrhunderts<br />

bis zu einem gewissen Grade dem Ideal der absoluten Kunst genähert hätten, da sie die<br />

Schöpfung einer Zeit seien, in deren Verlauf die „Kunst als Hauptinteresse ausschließlich die<br />

gebildetste Schicht der Gesellschaft beschäftigte“. Als Beispiel wies er auf die „Madonna<br />

Raffaels, dieses chef-d’œuvre [Meisterstück; Hauptwerk] der italienischen Malerei des 16.<br />

Jahrhunderts“ 1 hin, d. h. auf die sogenannte Sixtinische Madonna, die sich in der Dresdener<br />

Galerie befindet. Aber die italienischen Schulen des [252] 16. Jahrhunderts beschließen den<br />

langen Prozeß eines Kampfes des irdischen Ideals gegen das christlich-mönchische. Und so<br />

ausschließlich das Interesse des gebildetsten Teils der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts für<br />

die Kunst 2 gewesen sein mag, so ist doch unbestreitbar, daß die Raffaelschen Madonnen eine<br />

der charakteristischsten künstlerischen Ausdrucksformen des Sieges des irdischen Ideals über<br />

das christlich-mönchische sind.<br />

Das kann man ohne jegliche Übertreibung auch von den Madonnen sagen, die bereits gemalt<br />

wurden, als Raffael noch unter dem Einflusse seines Lehrers Perugino stand, und auf deren<br />

Gesichtern sich eine, wie es scheint, rein religiöse Stimmung widerspiegelt. Durch ihre religiöse<br />

äußere Erscheinung hindurch sieht man eine solche Fülle der Kraft und eine solche gesunde<br />

irdische Lebensfreude, daß in ihnen nichts Gemeinsames mehr mit den frommen Gottesmüttern<br />

der byzantinischen Meister übrigbleibt. 3 Die Werke der italienischen Meister des<br />

16. Jahrhunderts waren ebensowenig Schöpfungen der „absoluten Kunst“ wie die Werke aller<br />

früheren Meister, angefangen von Cimabue und Duccio di Buoninsegna. Diese Kunst hat es<br />

in der Tat nie und nirgends gegeben. Und wenn sich I. S. Turgenew auf die Venus von Milo<br />

berief, als auf das Produkt einer solchen Kunst, so rührte das einzig und allein daher, daß er,<br />

wie alle Idealisten, eine fehlerhafte Ansicht vom wirklichen Gang der ästhetischen Entwicklung<br />

der Menschheit hatte.<br />

Das Ideal der Schönheit. das zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Gesellschaft oder in<br />

einer bestimmten Klasse der Gesellschaft herrscht, wurzelt teils in den biologischen Bedingungen<br />

der Entwicklung des Menschengeschlechts, die unter anderem auch die rassischen Besonderheiten<br />

hervorbringen, und teils in den historischen Bedingungen des Entstehens und Bestehens<br />

dieser Gesellschaft oder dieser Klasse. Und deshalb ist es immer sehr reich an völlig bestimmtem<br />

und durchaus nicht absolutem, d. h. nicht unbedingtem Inhalt. Wer der „reinen<br />

1 [W. G. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 483, deutsch.]<br />

2 Seine Ausschließlichkeit, die sich nicht bestreiten läßt, bedeutet nur, daß im 16. Jahrhundert ein hoffnungsloser<br />

Zwiespalt zwischen den Menschen, die Sinn hatten für die Kunst, und dem sie umgebenden gesellschaftlichen<br />

Milieu bestand. Dieser Zwiespalt erzeugte auch damals den Hang zur reinen Kunst, d. h. zur Kunst für die<br />

Kunst. Vorher, sagen wir zur Zeit Giottos, gab es weder den angeführten Zwiespalt noch die angeführte Tendenz.<br />

3 Es ist bemerkenswert, daß die Zeitgenossen selbst Perugino des Atheismus verdächtigten.<br />

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