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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

beherrschende Stellung in der Gesellschaft ein-[240]nahm, als ihr Leben nicht mehr vom<br />

Feuer des Befreiungskampfes durchglüht war, da blieb der neuen Kunst nur eines übrig: die<br />

Idealisierung der Verneinung der bürgerlichen Lebensweise. Die romantische Kunst war nun<br />

eine solche Idealisierung. Die Romantiker waren bestrebt, ihre ablehnende Haltung gegenüber<br />

der bürgerlichen Mäßigung und Akkuratesse nicht nur in ihren künstlerischen Werken<br />

zum Ausdruck zu bringen, sondern auch in ihrem Äußeren. Wir haben schon von Gautier<br />

gehört, daß die Jünglinge, die das Parterre bei der ersten Aufführung des „Chatterton“ füllten,<br />

langes Haar trugen. Wer hätte nicht von dem roten Wams eben dieses Gautier gehört, über<br />

das sich die „anständigen Leute“ entsetzten? Phantastische Kleidung und langes Haar waren<br />

für die jungen Romantiker ein Mittel, sich zu den verhaßten Bourgeois in Gegensatz zu stellen.<br />

Ein weiteres solches Mittel bestand in der Blässe des Gesichts: sie war gewissermaßen<br />

ein Protest gegen die bürgerliche Sattheit.<br />

Gautier sagt: „Damals herrschte in der romantischen Schule die Mode, blaß, fahl, grünlich<br />

und, wenn möglich, ein wenig leichenhaft auszusehen. Das verlieh einem ein schicksalhaftes,<br />

Byronsches giaurisches, von Leidenschaften und von Gewissensbissen gepeinigtes Aussehen.<br />

Die empfindsamen Frauen hätten Sie interessant gefunden.“ 1 Bei Gautier lesen wir, daß die<br />

Romantiker Victor Hugo sein gepflegtes Äußere nur schwer verziehen und in intimen Gesprächen<br />

mehr als einmal ihr Bedauern über diese Schwäche des genialen Poeten zum Ausdruck<br />

brachten, wodurch er sich „der Menschheit und sogar der Bourgeoisie annäherte“ 2 .<br />

Allgemein ist zu bemerken, daß sich in den Bestrebungen der Menschen, sich diese oder jene<br />

äußere Erscheinung zu verleihen, immer die gesellschaftlichen Beziehungen einer gegebenen<br />

Epoche widerspiegeln. Über dieses Thema ließe sich eine interessante soziologische Untersuchung<br />

schreiben.<br />

Bei dieser Einstellung der jungen Romantiker zur Bourgeoisie konnte es nicht ausbleiben,<br />

daß die Idee von der „nützlichen Kunst“ sie empörte. Aus der Kunst etwas Nützliches machen<br />

bedeutete in ihren Augen soviel wie sie zum Dienst für dieselben Bourgeois heranziehen,<br />

die sie so tief verachteten. Dadurch erklären sich auch die von mir früher angeführten<br />

übermütigen Ausfälle Gautiers gegen die Verkünder der nützlichen Kunst, die er mit Ausdrücken<br />

wie „Dummköpfe, Kretins und Kropfhälse“ usw. belegt. Dadurch erklärt sich auch<br />

sein Paradoxon, daß der Wert der Men-[241]schen in seinen Augen im umgekehrten Verhältnis<br />

zu dem Nutzen steht, den sie bringen. Alle diese Ausfälle und Paradoxa sind ihrem Inhalt<br />

nach völlig gleichbedeutend mit dem Puschkinschen<br />

Hinweg! Nie dient des Pöbels Zwecken<br />

Des Dichters friedereiches Lied!<br />

Die Parnassiens und die ersten französischen Realisten (Goncourt, Flaubert u. a.) verachteten<br />

die sie umgebende bürgerliche Gesellschaft ebenfalls grenzenlos. Sie schmähten die ihnen<br />

verhaßten „Bourgeois“ ebenfalls ohne Unterlaß. Wenn sie auch ihre Werke drucken ließen,<br />

so, wie sie sagten, durchaus nicht für das breite Leserpublikum, sondern nur für einige weniéclat<br />

de rire, l’un venant de l’âme, l’autre du corps“ [Von da an bildeten sich gleichsam zwei Lager: auf der<br />

einen Seite die leidenden überspannten Geister, all die expansiven Gemüter, die sich nach der Unendlichkeit<br />

sehnen; sie senkten weinend den Kopf und hüllten sich in krankhafte Träume, und man sah nur noch schwanke<br />

Schilfrohre auf einem Ozean von Bitterkeit. Auf der anderen Seite die Menschen von Fleisch und Bein, die<br />

aufrecht und unbeugsam blieben inmitten von greifbaren Genüssen und die keine andere Sorge hatten, als das<br />

Geld zu zählen, das sie besaßen. Das war nun ein Schluchzen und ein Gelächter, jenes aus der Seele kommend,<br />

dieses aus dem Leibe.“] („La confession d’un enfant du siècle“, p. 10. [„Bekenntnisse eines Kindes seiner Zeit“,<br />

Berlin 1915, S. 16.]).<br />

1 Gen. Werk [„Histoire du romantisme“], S. 31.<br />

2 Ebenda, S. 32.<br />

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