18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 14.07.2013<br />

[230]<br />

Die Kunst und das gesellschaftliche Leben *, 1<br />

I<br />

Die Frage nach der Beziehung der Kunst zum gesellschaftlichen Leben hat in allen Literaturen,<br />

die einen gewissen Grad der Entwicklung erreicht haben, stets eine sehr wichtige Rolle<br />

gespielt. Meistens wurde sie und wird sie in zweifachem, direkt sich widersprechendem Sinne<br />

gelöst.<br />

Die einen sagten und sagen: Nicht der Mensch ist für den Sabbat da, sondern der Sabbat für<br />

den Menschen; nicht die Gesellschaft ist für den Künstler da, sondern der Künstler für die<br />

Gesellschaft. Die Kunst muß zur Entwicklung des menschlichen Bewußtseins, zur Verbesserung<br />

der Gesellschaftsordnung beitragen.<br />

Andere lehnen diese Ansicht entschieden ab. Nach ihrer Meinung ist die Kunst Selbstzweck;<br />

sie in ein Mittel zur Erreichung irgendwelcher fremder, wenn auch noch so edler Ziele verwandeln,<br />

heißt den Wert des Kunstwerkes herabsetzen.<br />

Die erste dieser zwei Ansichten fand ihren klarsten Ausdruck in unserer führenden Literatur<br />

der sechziger Jahre. Ganz abgesehen von Pissarew 2* , der in seiner äußersten Einseitigkeit<br />

darin so weit ging, fast eine Karikatur daraus zu machen, kann man an Tschernyschewski und<br />

Dobroljubow als die gründlichsten Verteidiger dieser Ansicht in der damaligen Kritik erinnern.<br />

In einem seiner ersten kritischen Artikel schrieb Tschernyschewski:<br />

„Der Gedanke einer ‚Kunst um der Kunst willen‘ ist in unserer Zeit ebenso sonderbar, wie es<br />

der Gedanke ‚Reichtum um des Reichtums willen‘ oder ‚Wissenschaft um der Wissenschaft<br />

willen‘ usw. wäre. Alles, was der [231] Mensch tut, muß, wenn es nicht zur leeren und müßigen<br />

Beschäftigung werden soll, für den Menschen von Nutzen sein; der Reichtum ist dazu da,<br />

daß der Mensch sich seiner bedient, die Wissenschaft dazu, daß sie den Menschen den Weg<br />

weist; auch die Kunst muß irgendeinen wesentlichen Nutzen bringen und darf nicht nur steriles<br />

Vergnügen sein.“ 3 Nach Meinung Tschernyschewskis wird die Bedeutung der Kunst, ins-<br />

* Anmerkungen zu: Die Kunst und das gesellschaftliche Leben (S. 230-296) am Ende des Kapitels.<br />

1 Die den Lesern zum aufmerksamen Studium vorgelegte Arbeit ist die Umarbeitung eines „Referats“, das ich in<br />

russischer Sprache im November dieses Jahres [1912] in Lüttich und Paris gehalten habe. Deshalb wurde die<br />

Form der Vorlesung bis zu einem gewissen Grade beibehalten. Am Schlusse ihres zweiten Teils werden die<br />

Einwendungen behandelt, die Herr Lunatscharski in der Pariser Öffentlichkeit hinsichtlich des Kriteriums des<br />

Schönen gegen mich vorgebracht hat. Nachdem ich seinerzeit mündlich darauf geantwortet habe, halte ich es für<br />

angebracht, mich damit schriftlich des längeren auseinanderzusetzen.<br />

2* Pissarew hat die utilitaristische Kunstauffassung durchaus nicht so durchgängig vertreten. Er wandte sich<br />

entschieden gegen die feudale, adlige „Ästhetik“ und stellte ihr die inhaltlich Gedankentiefe, von den fortschrittlichen<br />

Ideen der Zeit durchdrungene, von leidenschaftlicher Beziehung zur Wirklichkeit erfüllte Kunst gegenüber.<br />

In dem Aufsatz „Die Realisten“ (1864) behauptete er: „Ich lehne ganz entschieden das sogenannte unbewußte<br />

und zwecklose Schaffen ab. Ich habe den Verdacht, daß es nichts ist als ein Mythus, geschaffen von der<br />

ästhetischen Kritik, um der Sache einen mehr mystischen Anstrich zu geben... Die literarischen Gegner unseres<br />

Realismus sind der naiven Überzeugung, daß wir einige philanthropische Phrasen auswendig gelernt haben und<br />

daß wir im Namen dieser Aphorismen durchweg alles ablehnen, woraus man den hungernden und frierenden<br />

Menschen kein Essen bereiten, keine Kleider nähen oder Wohnungen bauen kann... Sie haben wahrscheinlich<br />

erwartet, daß ich einfach alles wahllos über den Haufen werfe: Shakespeare ist nicht Shakespeare, Goethe ist<br />

nicht Goethe, schaut doch mich an, lauter Schafsköpfe sind es, und ich will von keinem von ihnen etwas wissen...<br />

Das wäre von unserer Seite ein ganz törichter Rigorismus und Formalismus, wenn wir eine geniale Idee<br />

mit der Begründung von der Hand weisen wollten, daß sie in einem Gedicht oder einem Roman durchgeführt ist<br />

und nicht in einer theoretischen Abhandlung... ich bringe den erstrangigen Dichtern aller Zeiten und aller Völker<br />

tiefe und durchaus aufrichtige Hochachtung entgegen.“ (Pissarew, Ausgewählte literaturkritische Aufsätze,<br />

Moskau 1939, S. 257, 275, 277, 279, russ.)<br />

3 [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1953, S. 559, dtsch.]<br />

1

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!