erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013 „Es ist recht schwierig: sich den historischen Prozeß klarzumachen und dabei konsequent an einem einzigen Prinzip festzuhalten. Was soll man aber machen? Die Wissenschaft ist nun einmal kein Spiel, vorausgesetzt, daß es nicht eine ‚subjektive‘ Wissenschaft ist: da lassen sich alle Fragen erstaunlich leicht klären. Und da nun schon einmal bei uns davon die Rede ist, wollen wir Herrn Michailowski sagen, daß sich in den Fragen der Entwicklung der Ideologie vielleicht die besten Kenner der ‚Saite‘ 1 mitunter als machtlos erweisen, wenn sie nicht über ein gewisses besonderes Talent, nämlich den künstlerischen Instinkt, verfügen. Die Psychologie paßt sich der Ökonomie an. Aber diese Anpassung ist ein komplizierter Prozeß, und um seinen ganzen Verlauf zu verstehen, um sich und anderen anschaulich zu vergegenwärtigen, wie er sich eigentlich vollzieht, wird man immer und immer wieder des Talents des Künstlers bedürfen. So hat zum Beispiel schon Balzac viel zur Klärung der Psychologie der verschiedenen Klassen der Gesellschaft seiner Zeit beigetragen. Vieles können wir auch bei Ibsen lernen, aber bei wem noch? Wir wollen hoffen, daß es mit der Zeit viele solche Künstler gebe, die einerseits die ‚ehernen Gesetze‘ der Bewegung der ‚Saite‘ verstehen und anderseits verstehen [227] und zeigen können, wie auf der ‚Saite‘ und namentlich auf Grund ihrer Bewegung das ‚lebendige Kleid‘ der Ideologie erwächst.“ 2 Ich denke auch jetzt noch so. Um das zu verstehen, was ich damals das lebendige Kleid der Ideologie genannt habe, muß man schon das Talent oder wenigstens den Instinkt des Künstlers besitzen. Dieser Instinkt ist um so mehr von Nutzen in den Fällen, wo wir um die Bestimmung des soziologischen Äquivalents der Kunstwerke kämpfen. Diese Bestimmung ist ebenfalls eine sehr schwierige und sehr verwickelte Aufgabe. Und es ist nicht verwunderlich, daß wir – wenigstens in der gleichen Artikelsammlung „Literarischer Verfall“, die Herrn I. veranlaßt hat, für die „Russkije Wedomosti“ den von mir oben zitierten Feuilletonartikel zu schreiben – nicht selten auf solche kritischen Erwägungen stoßen, die uns zeigen, daß nicht alle, die es möchten, dieser schwierigen Aufgabe gerecht zu werden imstande sind. Auch hier sind viele berufen, aber wenige auserwählt. Ich sage das jetzt nicht, um die materialistische Methode zu rechtfertigen – ich habe schon gesagt, daß die Möglichkeit einer falschen Anwendung einer Methode noch nicht dazu berechtigt, die Methode selbst zu verurteilen –‚ sondern um auf die Fehler ihrer Anhänger aufmerksam zu machen. In den Fragen der Taktik werden bei uns viele Fehler von Leuten gemacht, die sich mit mehr oder weniger großem Recht für Nachfolger Marx’ halten. Es wäre sehr schade, wenn sie ähnliche Fehler auch auf dem Gebiete der Literaturkritik machten. Und zu ihrer Vermeidung gibt es kein anderes Mittel, als immer und immer wieder die Grundfragen des Marxismus zu studieren. Ein solches Studium hat besonderen Nutzen in der gegenwärtigen Zeit, wo bei uns unter dem Einfluß der Ereignisse der letzten Jahre eine „Umwertung“ der theoretischen „Werte“ beginnt. Schon Goethe hat gesagt, alle reaktionären Epochen neigen zum Subjektivismus. Wir leben jetzt gerade in einer zum Subjektivismus neigenden Epoche, und wir müssen uns anscheinend auf wahre Orgien des Subjektivismus gefaßt machen. Manches in dieser Beziehung können wir ja schon jetzt sehen: Herrn Tschulkows mystischen Anarchismus, das „Gottbildnertum“ des Herrn Lunatscharski, die erotische Geistesverwirrung des Herrn Arzybaschew – all das sind verschiedene, aber deutliche Symptome ein und derselben Krankheit. Ohne im geringsten die Absicht zu haben, die Menschen zu kurieren, die bereits von dieser Krankheit angesteckt sind, möchte ich doch diejenigen, die bis jetzt noch gesund sind, warnend auf sie aufmerksam machen. Die Mikroben des Subjektivismus gehen in der gesunden Atmosphäre der Marxschen Lehre sehr rasch zugrunde. Deshalb ist der Marxismus das beste Vorbeugungsmittel gegen diese Krank-[228]heit. Damit der Marxismus aber als solches Mittel dienen könne, 1 In einem der gegen uns gerichteten polemischen Artikel hatte Michailowski die ökonomische Struktur der Gesellschaft als „ökonomische Saite“ bezeichnet. 2 2. Auflage, Petersburg 1905, S. 192/193. 6
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013 muß man ihn auch wirklich verstehen, und man darf sich nicht auf eine leichtsinnige Anwendung der marxistischen Terminologie beschränken. Herr Lunatscharski hält sich, wenn ich mich nicht irre, noch heute für einen Marxisten; aber gerade deshalb, weil er nicht tief in die Lehre von Marx eingedrungen ist, sondern sich auf die ausschließliche Wiederholung der marxistischen Termini beschränkt hat, ist er bei seinem so überaus komischen „Gottbildnertum“ angelangt. Sein Beispiel – andern eine Lehre... 1 Herr Lunatscharski hat die Keime seiner jetzigen Krankheit schon lange in sich getragen. Ihr erstes Symptom war seine Schwärmerei für die Philosophie von Avenarius, mit der er den Marxismus „begründen“ wollte. Jedem Einsichtigen war es schon damals klar, daß dieser Versuch, Marx zu „begründen“, nur die Haltlosigkeit des Herrn Lunatscharski selbst bewies. Deshalb kann sich ein jeder über ein neues Krankheitssymptom des Herrn Lunatscharski weder wundern noch aufregen. Die Einsichtigen regen sich über keinerlei Subjektivismus auf. Gibt es bei uns viele Einsichtige? O weh, es gibt ihrer sehr wenige! Und nur weil ihrer so wenige sind, müssen wir, nach einem Wort Belinskis, Krieg führen gegen die Frösche und solche literarischen Schelme ernstlich zurechtweisen, die bestenfalls wert sind, daß man herzlich über sie lacht. Und nur weil es bei uns wenige Einsichtige gibt, ist eine solche betrübliche literarische Erscheinung möglich wie „Die Beichte“ von Herrn Gorki, die alle wirklichen Verehrer dieses sehr großen Talents veranlaßt, sich die bange Frage vorzulegen: Ist er denn wirklich schon am Ende seiner Weisheit angelangt? Ich wage es nicht – und ich sträube mich dagegen –‚ diese Frage bejahend zu beantworten. Ich möchte nur sagen, daß Herr Gorki in seiner „Beichte“ auf jene schiefe Ebene geraten ist, auf der vor ihm solche Giganten wie Gogol, Dostojewski, Tolstoi abgerutscht sind. Wird er sich vor dem Fall bewahren können? Kann er weg von der gefährlichen Ebene? Das weiß ich nicht. Aber ich weiß sehr wohl, daß er von dieser Ebene nur wegkommt unter der Bedingung, daß er sich den Marxismus gründlich aneignet. Diese meine Worte können Anlaß geben zu einer ganzen Reihe mehr oder weniger geistreicher Witzeleien bezüglich meiner „Einseitigkeit“. Ich nehme gelungene Witze schon im vorhinein mit großem Beifall auf, aber bei meiner Meinung bleibe ich nach wie vor. Nur der Marxismus [229] könnte Herrn Gorki kurieren. Und diese meine feste Haltung muß um so verständlicher sein, als es hier angebracht ist, an die sprichwörtliche Redensart zu denken: Womit du dir weh getan hast, damit mußt du dich heilen. Herr Gorki hält sich doch bereits für einen Marxisten; er ist doch in seinem Roman „Die Mutter“ bereits als Verkünder der Ansichten Marx’ aufgetreten. Aber derselbe Roman hat auch gezeigt, daß Herr Gorki sich durchaus nicht für die Rolle eines Verkünders dieser Ansichten eignet, denn die Ansichten von Marx versteht er absolut nicht. „Die Beichte“ war ein neuer und womöglich noch überzeugenderer Beweis für diesen völligen Mangel an Verständnis. Und nun sage ich: Wenn Herr Gorki den Marxismus predigen will, dann möge er sich zuvor die Mühe geben, ihn zu verstehen. Es ist überhaupt nützlich und angenehm, den Marxismus zu verstehen. Und Herrn Gorki wird sein Verstehen auch den nicht zu ersetzenden Vorteil bringen, daß ihm klar werden wird, wie wenig sich die Rolle des Verkünders, d. h. eines Menschen, der vorzugsweise die Sprache der Logik spricht, für den Künstler eignet, d. h. für einen Menschen, der vorzugsweise in der Sprache der Bilder spricht. Und wenn Herr Gorki sich davon überzeugt hat, wird er gerettet sein... 1 [A. S. Puschkin, „Eugen Onegin“, Erstes Buch, I.] 7
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der marxistischen Terminologie beschränken. Herr Lunatscharski hält sich, wenn ich<br />
mich nicht irre, noch heute für einen Marxisten; aber gerade deshalb, weil er nicht tief in die<br />
Lehre von Marx eingedrungen ist, sondern sich auf die ausschließliche Wiederholung der<br />
marxistischen Termini beschränkt hat, ist er bei seinem so überaus komischen „Gottbildnertum“<br />
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Sein Beispiel – andern eine Lehre... 1<br />
Herr Lunatscharski hat die Keime seiner jetzigen Krankheit schon lange in sich getragen. Ihr<br />
erstes Symptom war seine Schwärmerei für die Philosophie von Avenarius, mit der er den<br />
Marxismus „begründen“ wollte. Jedem Einsichtigen war es schon damals klar, daß dieser<br />
Versuch, Marx zu „begründen“, nur die Haltlosigkeit des Herrn Lunatscharski selbst bewies.<br />
Deshalb kann sich ein jeder über ein neues Krankheitssymptom des Herrn Lunatscharski weder<br />
wundern noch aufregen. Die Einsichtigen regen sich über keinerlei Subjektivismus auf.<br />
Gibt es bei uns viele Einsichtige? O weh, es gibt ihrer sehr wenige! Und nur weil ihrer so<br />
wenige sind, müssen wir, nach einem Wort Belinskis, Krieg führen gegen die Frösche und<br />
solche literarischen Schelme ernstlich zurechtweisen, die bestenfalls wert sind, daß man herzlich<br />
über sie lacht. Und nur weil es bei uns wenige Einsichtige gibt, ist eine solche betrübliche<br />
literarische Erscheinung möglich wie „Die Beichte“ von Herrn Gorki, die alle wirklichen<br />
Verehrer dieses sehr großen Talents veranlaßt, sich die bange Frage vorzulegen: Ist er denn<br />
wirklich schon am Ende seiner Weisheit angelangt?<br />
Ich wage es nicht – und ich sträube mich dagegen –‚ diese Frage bejahend zu beantworten.<br />
Ich möchte nur sagen, daß Herr Gorki in seiner „Beichte“ auf jene schiefe Ebene geraten ist,<br />
auf der vor ihm solche Giganten wie Gogol, Dostojewski, Tolstoi abgerutscht sind. Wird er<br />
sich vor dem Fall bewahren können? Kann er weg von der gefährlichen Ebene? Das weiß ich<br />
nicht. Aber ich weiß sehr wohl, daß er von dieser Ebene nur wegkommt unter der Bedingung,<br />
daß er sich den Marxismus gründlich aneignet.<br />
Diese meine Worte können Anlaß geben zu einer ganzen Reihe mehr oder weniger geistreicher<br />
Witzeleien bezüglich meiner „Einseitigkeit“. Ich nehme gelungene Witze schon im vorhinein<br />
mit großem Beifall auf, aber bei meiner Meinung bleibe ich nach wie vor. Nur der<br />
Marxismus [229] könnte Herrn Gorki kurieren. Und diese meine feste Haltung muß um so<br />
verständlicher sein, als es hier angebracht ist, an die sprichwörtliche Redensart zu denken:<br />
Womit du dir weh getan hast, damit mußt du dich heilen. Herr Gorki hält sich doch bereits<br />
für einen Marxisten; er ist doch in seinem Roman „Die Mutter“ bereits als Verkünder der<br />
Ansichten Marx’ aufgetreten. Aber derselbe Roman hat auch gezeigt, daß Herr Gorki sich<br />
durchaus nicht für die Rolle eines Verkünders dieser Ansichten eignet, denn die Ansichten<br />
von Marx versteht er absolut nicht. „Die Beichte“ war ein neuer und womöglich noch überzeugenderer<br />
Beweis für diesen völligen Mangel an Verständnis. Und nun sage ich: Wenn<br />
Herr Gorki den Marxismus predigen will, dann möge er sich zuvor die Mühe geben, ihn zu<br />
verstehen. Es ist überhaupt nützlich und angenehm, den Marxismus zu verstehen. Und Herrn<br />
Gorki wird sein Verstehen auch den nicht zu ersetzenden Vorteil bringen, daß ihm klar werden<br />
wird, wie wenig sich die Rolle des Verkünders, d. h. eines Menschen, der vorzugsweise<br />
die Sprache der Logik spricht, für den Künstler eignet, d. h. für einen Menschen, der vorzugsweise<br />
in der Sprache der Bilder spricht. Und wenn Herr Gorki sich davon überzeugt hat,<br />
wird er gerettet sein...<br />
1 [A. S. Puschkin, „Eugen Onegin“, Erstes Buch, I.]<br />
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