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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013 se“ zu verstehen, wie Herr I. meint. Es gibt „Antispießbürgertum“ und „Antispießbürgertum“. Es gibt „Antispießbürger“, die sich mehr oder weniger leicht mit der Ausbeutung der Masse („der großen Menge“) durch die Bourgeoisie abfinden, aber keineswegs mit den Fehlern des bürgerlichen Charakters, die im Grunde durch die gleiche Ausbeutung bedingt sind. Es gibt ein anderes „Antispießbürgertum“, das natürlich vor den schlechten Seiten des bürgerlichen Charakters die Augen nicht verschließt, aber sehr wohl versteht, daß sie nur beseitigt werden können mittels der Beseitigung der Produktionsverhältnisse, durch die sie bedingt werden. Und es läßt sich leicht verstehen, daß jede dieser zwei Arten von „Antispießbürgertum“ ihren Ausdruck in der Literatur finden muß und auch wirklich findet. Und wer das verstanden hat, der wird auch mühelos begreifen, was es mit den „Sprenggeschossen“ auf sich hat. Er wird sagen, daß es „Schrapnells“ und „Schrapnells“ gibt. Die einen davon fliegen aus jenem Lager, in dem sich Menschen verschanzt haben, die wünschen, der Bourgeois möge die durch die bürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugten Fehler ablegen, solle aber die Herrschaft über die Arbeit der von ihm ausgebeuteten Masse beibehalten. Diese „Schrapnells“ sind in ihrer Wirkung Fliegenklappen gleich, die eben nur für Fliegen schrecklich sind. Aber es gibt auch andere „Schrapnells“, die [224] aus dem Lager der Menschen fliegen, die sich gegen jegliche Ausbeutung „des Menschen durch den Menschen“ wenden. Diese Menschen sind ernster zu nehmen als die Menschen der ersten Kategorie. Und nicht nur Herr Dubrowin gehört keineswegs zu ihnen, sondern auch Théophile Gautier nicht; mit ihnen hat auch die große Mehrzahl der heutigen russischen Gegner des „Spießbürgertums“ nichts gemein. Zu ihnen gehört zum Beispiel auch nicht Herr Tschukowski, nach dessen Meinung „Gorki ein Spießbürger vom Scheitel bis zur Sohle ist“. Gorki hat viele Fehler; man kann ihn mit vollem Recht einen Utopisten nennen; aber Spießbürger kann ihn nur der nennen, der, wie Herr Dubrowin, Sozialismus und Spießbürgertum verwechselt. Auch Herr I. täuscht sich sehr, wenn er sagt: „Herr Gorki wirft immer noch den andern ihr Spießbürgertum vor; die andern werfen es ihm vor; da ist ja alles gut. Das Ganze ist offensichtlich eine Kinderei.“ Kann man denn sagen, alles sei gut verlaufen in der Literatur, in der mit so ernsten Begriffen wie „Spießbürgertum“ und „Antispießbürgertum“ gespielt wird? Und muß nicht jeder, der es mit den Aufgaben der Literatur ernst meint, bestrebt sein, einer solchen Spielerei ein Ende zu machen? Um aber dem kindischen Spiel mit ernsten Begriffen ein Ende zu machen, muß man eben imstande sein, das soziologische Äquivalent dieses Spiels zu bestimmen, d. h. die gesellschaftliche Einstellung aufzudecken, die dazu führt. Und das kann man wiederum nicht, ohne mit beiden Händen an jenem unbestreitbaren Satz festzuhalten, demzufolge das gesellschaftliche Bewußtsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt wird, d. h. an dem Gedanken, den ich meinen kritischen Artikeln zugrunde zu legen bemüht war. Bei weitem nicht jeder „Spießbürgerfeind“ kann Anspruch darauf erheben, als Ideologe des Proletariats bezeichnet zu werden. Das ist jedem klar, der mit der Geschichte der literarischen Strömungen des Westens bekannt ist. Leider kennen diese Geschichte bei uns bei weitem nicht alle, die sich für die gesellschaftlichen Fragen interessieren, und dadurch wird auch das von Herrn I. bezeichnete schädliche Spiel möglich. Vor noch gar nicht langer Zeit, man kann sagen, erst kürzlich noch, haben sich Leute in den Mantel eines „Ideologen des Proletariats“ gehüllt, die in ihrem Herzensgrunde nichts anderes empfanden als einen romantischen, d. h. par excellence kleinbürgerlichen Haß gegen das Spießbürgertum. Nicht wenige solcher Leute befanden sich unter den Mitarbeitern der Zeitung „Nowaja Shisn“. Einer von ihnen, Herr Minski, wies, einige Monate nachdem die genannte Zeitung ihr Erscheinen eingestellt hatte, triumphierend darauf hin, daß sich unsere Dichter der dekadenten Richtung größtenteils den extremen Strömungen unserer Freiheitsbewegung angeschlossen hatten, während die Verteidiger des Realismus in der Kunst viel weniger Hin-[225]neigung zu diesen Strömungen zeig- 4

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013 ten. Es war wirklich so, wie er sagte. Aber diese Tatsache beweist durchaus nicht das, was Herr Minski beweisen wollte. Es haben doch auch in Frankreich viele Gegner des „Spießbürgertums“, die selbst völlig vom bürgerlichen Geist durchdrungen waren –zum Beispiel Baudelaire –‚ sehr für die Bewegung des Jahres 1848 geschwärmt, was sie nicht hinderte, sich davon abzuwenden, sobald sie niedergeschlagen war. Leute von diesem Schlag, die sich für kraftvolle „Übermenschen“ halten, sind in Wirklichkeit ganz große Schwächlinge und fühlen sich wie alles Schwache natürlicherweise von dem Starken angezogen. Aber sie sind kein neues Element der Kraft, sondern eine negative Größe, die man am besten von sich fernhält, um die Kraft der Bewegung nicht zu schwächen. Und eine schwere Schuld haben die Verteidiger der Arbeiterinteressen auf sich geladen, die sich mit diesen Herrschaften verbrüdert haben. Wir wollen indes zu den Aufgaben der Literaturkritik zurückkehren. Ich hatte gesagt, die idealistischen Kritiker aus der Hegelschen Schule fühlten sich verpflichtet, die Idee des Kunstwerkes aus der Sprache der Kunst in die Sprache der Philosophie zu übertragen. Aber sie haben sehr wohl begriffen, daß sich ihre Aufgabe keinesfalls auf die Erfüllung dieser Verpflichtung beschränkte. Die angeführte Übertragung war in ihren Augen nur der erste Akt des Prozesses der philosophischen Kritik; die Aufgabe des zweiten Aktes dieses Prozesses bestand für sie darin – wie Belinski schrieb –‚ „die Idee des Kunstwerkes in ihrer konkreten Erscheinung aufzuspüren, sie in Bildern darzustellen und das Ganze und Allgemeine in den Besonderheiten zu finden“. Das bedeutet, auf die Würdigung der Idee des Kunstwerkes muß die Analyse seiner künstlerischen Werte folgen. Die Philosophie hat die Ästhetik nicht beseitigt, sondern, im Gegenteil, ihr den Weg gebahnt, sie war bestrebt, ihr eine feste Grundlage zu schaffen. Das gleiche muß man auch von der materialistischen Kritik sagen. In dem Bestreben, das gesellschaftliche Äquivalent einer bestimmten literarischen Erscheinung zu finden, wird diese Kritik ihrer eigenen Natur untreu, wenn sie nicht versteht, daß sich die Aufgabe nicht auf das Auffinden dieses Äquivalents beschränken kann und daß die Soziologie die Tore vor der Ästhetik nicht verschließen darf, sondern, im Gegenteil, ganz weit vor ihr öffnen muß. Der zweite Akt der sich selbst treu bleibenden materialistischen Kritik muß – wie das auch bei den idealistischen Kritikern so war – die Würdigung der ästhetischen Werte des untersuchten Werkes sein. Verzichtete der materialistische Kritiker auf eine solche Würdigung unter dem Vorwande, er habe das soziologische Äquivalent des Werkes bereits gefunden, so würde er damit nur kundtun, daß er den Standpunkt nicht begreift, auf den er sich als auf eine feste Grundlage stützen will. [226] Die Besonderheiten des künstlerischen Schaffens jeder gegebenen Epoche stehen immer in engstem ursächlichem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Einstellung, die darin zum Ausdruck kommt. Die gesellschaftliche Einstellung jeder gegebenen Epoche wird nun stets bedingt durch die dieser Epoche eigentümlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Das zeigt die Geschichte der Kunst und der Literatur ganz vortrefflich. Und deshalb würde die Bestimmung des soziologischen Äquivalents jedes gegebenen literarischen Werkes unvollständig und folglich auch ungenau bleiben, wenn der Kritiker auf die Würdigung seiner künstlerischen Werte verzichtete. Mit anderen Worten, der erste Akt der materialistischen Kritik macht den zweiten Akt nicht nur nicht überflüssig, sondern setzt ihn als seine notwendige Ergänzung voraus. Ich wiederhole, die Möglichkeit einer falschen Anwendung der Methode der materialistischen Kritik kann nicht als Beweisgrund gegen sie dienen – aus dem einfachen Grunde, weil es eine Methode nicht gibt und geben kann, von der man keinen falschen Gebrauch machen könnte. In meinem Buche „Über die Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung“ habe ich, als ich gegen Michailowski Stellung nahm, geschrieben: 5

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se“ zu verstehen, wie Herr I. meint. Es gibt „Antispießbürgertum“ und „Antispießbürgertum“.<br />

Es gibt „Antispießbürger“, die sich mehr oder weniger leicht mit der Ausbeutung der<br />

Masse („der großen Menge“) durch die Bourgeoisie abfinden, aber keineswegs mit den Fehlern<br />

des bürgerlichen Charakters, die im Grunde durch die gleiche Ausbeutung bedingt sind.<br />

Es gibt ein anderes „Antispießbürgertum“, das natürlich vor den schlechten Seiten des bürgerlichen<br />

Charakters die Augen nicht verschließt, aber sehr wohl versteht, daß sie nur beseitigt<br />

werden können mittels der Beseitigung der Produktionsverhältnisse, durch die sie bedingt<br />

werden. Und es läßt sich leicht verstehen, daß jede dieser zwei Arten von „Antispießbürgertum“<br />

ihren Ausdruck in der Literatur finden muß und auch wirklich findet. Und wer das verstanden<br />

hat, der wird auch mühelos begreifen, was es mit den „Sprenggeschossen“ auf sich<br />

hat.<br />

Er wird sagen, daß es „Schrapnells“ und „Schrapnells“ gibt. Die einen davon fliegen aus jenem<br />

Lager, in dem sich Menschen verschanzt haben, die wünschen, der Bourgeois möge die<br />

durch die bürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugten Fehler ablegen, solle aber<br />

die Herrschaft über die Arbeit der von ihm ausgebeuteten Masse beibehalten. Diese „Schrapnells“<br />

sind in ihrer Wirkung Fliegenklappen gleich, die eben nur für Fliegen schrecklich sind.<br />

Aber es gibt auch andere „Schrapnells“, die [224] aus dem Lager der Menschen fliegen, die<br />

sich gegen jegliche Ausbeutung „des Menschen durch den Menschen“ wenden. Diese Menschen<br />

sind ernster zu nehmen als die Menschen der ersten Kategorie. Und nicht nur Herr<br />

Dubrowin gehört keineswegs zu ihnen, sondern auch Théophile Gautier nicht; mit ihnen hat<br />

auch die große Mehrzahl der heutigen russischen Gegner des „Spießbürgertums“ nichts gemein.<br />

Zu ihnen gehört zum Beispiel auch nicht Herr Tschukowski, nach dessen Meinung<br />

„Gorki ein Spießbürger vom Scheitel bis zur Sohle ist“. Gorki hat viele Fehler; man kann ihn<br />

mit vollem Recht einen Utopisten <strong>nennen</strong>; aber Spießbürger kann ihn nur der <strong>nennen</strong>, der,<br />

wie Herr Dubrowin, Sozialismus und Spießbürgertum verwechselt. Auch Herr I. täuscht sich<br />

sehr, wenn er sagt: „Herr Gorki wirft immer noch den andern ihr Spießbürgertum vor; die<br />

andern werfen es ihm vor; da ist ja alles gut. Das Ganze ist offensichtlich eine Kinderei.“<br />

Kann man denn sagen, alles sei gut verlaufen in der Literatur, in der mit so ernsten Begriffen<br />

wie „Spießbürgertum“ und „Antispießbürgertum“ gespielt wird? Und muß nicht jeder, der es<br />

mit den Aufgaben der Literatur ernst meint, bestrebt sein, einer solchen Spielerei ein Ende zu<br />

machen? Um aber dem kindischen Spiel mit ernsten Begriffen ein Ende zu machen, muß man<br />

eben imstande sein, das soziologische Äquivalent dieses Spiels zu bestimmen, d. h. die gesellschaftliche<br />

Einstellung aufzudecken, die dazu führt. Und das kann man wiederum nicht,<br />

ohne mit beiden Händen an jenem unbestreitbaren Satz festzuhalten, demzufolge das gesellschaftliche<br />

Bewußtsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt wird, d. h. an dem Gedanken,<br />

den ich meinen kritischen Artikeln zugrunde zu legen bemüht war.<br />

Bei weitem nicht jeder „Spießbürgerfeind“ kann Anspruch darauf erheben, als Ideologe des<br />

Proletariats bezeichnet zu werden. Das ist jedem klar, der mit der Geschichte der literarischen<br />

Strömungen des Westens bekannt ist. Leider kennen diese Geschichte bei uns bei weitem<br />

nicht alle, die sich für die gesellschaftlichen Fragen interessieren, und dadurch wird auch das<br />

von Herrn I. bezeichnete schädliche Spiel möglich. Vor noch gar nicht langer Zeit, man kann<br />

sagen, erst kürzlich noch, haben sich Leute in den Mantel eines „Ideologen des Proletariats“<br />

gehüllt, die in ihrem Herzensgrunde nichts anderes empfanden als einen romantischen, d. h.<br />

par excellence kleinbürgerlichen Haß gegen das Spießbürgertum. Nicht wenige solcher Leute<br />

befanden sich unter den Mitarbeitern der Zeitung „Nowaja Shisn“. Einer von ihnen, Herr<br />

Minski, wies, einige Monate nachdem die genannte Zeitung ihr Erscheinen eingestellt hatte,<br />

triumphierend darauf hin, daß sich unsere Dichter der dekadenten Richtung größtenteils den<br />

extremen Strömungen unserer Freiheitsbewegung angeschlossen hatten, während die Verteidiger<br />

des Realismus in der Kunst viel weniger Hin-[225]neigung zu diesen Strömungen zeig-<br />

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