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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013 gen wir mal, ins Blut“ übergeht, als entschiedener Gegner des Materialismus, indem er dartut, daß Materie und Geist nicht ein und dasselbe seien. „Sehen Sie doch“, argumentiert er, „nicht einmal im ‚Russkoje Slowo‘ behauptet man geradeheraus, daß das ein und dasselbe sei...“ „Wenn es so wäre, dann könnte man ja auch einen Knüppel nehmen, das ist das Rückgrat! Dann wickeln wir Bindfaden herum, das sind die Nerven! Und wenn man noch etwas hinzufügt, schon kann man ihn zum Richter wählen: man braucht ihm bloß ein Barett aufzusetzen.“ 1 Dieser Diakon hat eine zahlreiche Nachkommenschaft hinterlassen. Er ist der Stammvater aller Marx„kritiker“. Zu seinen Nachkommen gehört offenbar auch mein „Verfasser“. Aber man muß schon die Wahrheit sagen: Der Diakon ist nicht so „beschränkt“ wie seine Nachkommen. Er hat ganz unparteiisch erklärt, daß ein Rückgrat sogar dem „Russkoje Slowo“ zufolge kein Knüppel ist und daß die Nerven kein Bindfaden sind. Aber mein ungnädiger Kritiker möchte mir nun offensichtlich so etwas andichten, als sei ich der festen Überzeugung, Nerven und Bindfaden und [221] Knüppel und Rückgrat seien das gleiche. Und tut das nur mein Kritiker? Man braucht ja nur an die Einwände zu denken, mit denen die Volkstümler und die Subjektivisten gegen den Marxismus aufgetreten sind, um sich davon zu überzeugen, daß diese unsere Gegner uns allen Ernstes solchen Unsinn angedichtet haben und eigentlich bis auf den heutigen Tag immer noch andichten. Nicht nur das: man kann ohne jede Übertreibung sagen, daß sogar die westeuropäischen Marxkritiker, zum Beispiel der unrühmlich bekannte Herr Bernstein, den „orthodoxen“ Marxisten solche Ansichten bezüglich der „Nerven“ und des „Bindfadens“ angedichtet haben, die der kritisch denkende Diakon dem Materialismus niemals hätte zuschreiben wollen. Ich weiß nicht, ob einmal eine Zeit kommt, wo wir nicht mehr das Vergnügen haben werden, uns mit solchen „Kritikern“ herumschlagen zu müssen. Ich glaube, ja; ich glaube, sie wird kommen nach jener gesellschaftlichen Umformung, die die sozialen Ursachen mancher philosophischen und anderer Vorurteile beseitigen wird. Aber bis dahin werden wir noch viele, viele Male von unseren „Kritikern“ ernste Ermahnungen zu hören bekommen in dem Sinne, daß man doch nicht einen mit einem Bindfaden umwickelten Knüppel, der mit einem Barett verziert ist, zum „Richter“ wählen könne. Unwillkürlich muß man mit Gogol ausrufen: Es ist trübe auf dieser Welt, meine Herren! Man wird mir vielleicht sagen, der Kritiker, der die Bestimmung des soziologischen Äquivalents der Kunstwerke vornimmt, könne von seiner Methode leicht fälschlichen Gebrauch machen. Ich weiß das. Aber wo gibt es eine Methode, die man nicht fälschlich anwenden könnte? Die gibt es nicht und kann es nicht geben. Ich will noch mehr sagen: je seriöser eine Methode ist, desto unsinniger sind ihre mißbräuchlichen Anwendungen, die sich Leute erlauben, die sie schlecht zu handhaben verstehen. Aber ist das vielleicht ein Beweisgrund gegen eine ernsthafte Methode? Die Menschen haben sehr viel Mißbrauch mit dem Feuer getrieben; aber die Menschheit könnte auf seinen Gebrauch nicht verzichten, ohne auf die niedrigste Stufe der kulturellen Entwicklung zurückzukehren. Bei uns wird gegenwärtig großer Mißbrauch mit dem Epitheton „bürgerlich“, „kleinbürgerlich“ getrieben. So sehr, daß ich die folgenden Zeilen von Herrn I. im Feuilleton der „Russkije Wedomosti“ Nr. 94 nicht ohne Sympathie gelesen habe: „Unsere heutige Literatur hat versucht, ein Mittel zu erfinden, das restlos alles zersetzt und zerstört und dabei doch gegen den, der es gebraucht, unschädlich bleibt. Es besteht in den Worten ‚bürgerlich‘ und ‚kleinbürgerlich‘. Man braucht diese Worte nur gegen irgend jemand, der im öffentlichen Leben steht, oder gegen ein literarisches Werk zu richten, und sie werden wie ein zersetzendes, vernichtendes Gift wirken, [222] das den stärksten Organismus 1 [Gleb Uspenski, „Neue Zeiten, neue Sorgen“, Berlin 1952, S. 275.] 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013 umbringt. Das Wort ‚bürgerlich‘ enthält jenes unwiderlegliche Argument, gegen das keine Klügeleien, keine Kunstgriffe eines polemischen Talents etwas ausrichten können. Es ist ein Geschoß, dem man nicht nachweisen kann, es sei nicht dahin gerichtet, wohin es soll, und habe nicht die richtige Stelle getroffen. So oder so, es hat doch die getroffene Stelle bereits zertrümmert. Die einzige hinreichende Antwort auf die schreckliche Beschuldigung kann an die Adresse gerichtet sein, von der das todbringende Gastgeschenk des betreffenden Geschosses herangeflogen kam. Woher man auf euch mit dem Worte ‚bürgerlich‘ geschossen hat, dahin schießt ihr wieder mit ‚kleinbürgerlich‘ zurück, und dieselben Verwüstungen, die ihr bei euch seht, werdet ihr im feindlichen Lager finden, weil es keine Festungen gibt und keine Verschanzungen geben kann, in denen man sich vor dem Sprenggeschoß schützen kann.“ Herr I. hat auf seine Art recht; aber nur auf seine Art hat er recht; er hat recht als Mensch, der eine bekannte Erscheinung wohl erkennt, sich aber nicht die Mühe macht, ihren gesellschaftlichen Sinn zu erfassen. Dabei aber wäre es, wenn Herr I. den Wunsch hätte, diesen Sinn zu erfassen, für ihn ein leichtes, dies zu tun – auf Grund des Umstandes, daß jetzt mit diesen Epitheta ein schrecklicher Mißbrauch getrieben wird. Herr Desesperanto sagt richtig (in „Kiewskaja Mysl“ Nr. 134, Jahrgang 1908): Jedermann ist „Bourgeois“ nach Sollogub Und nach Dubrowin – ein „Jude“. So ist es. Aber weshalb ist für Herrn Dubrowin jedermann ein „Jude“? Läßt sich nicht das soziologische Äquivalent dieser seltsamen psychologischen Aberration bestimmen? Diese Frage wird wohl kaum ein jeder bejahend beantworten, und es dürfte wohl kaum einem jeden leichtfallen, dieses Äquivalent ohne weiteres zu bestimmen. Nun, und wie steht es mit der psychologischen Aberration des Herrn Sollogub? Ist es möglich, ihr soziologisches Äquivalent zu bestimmen? Meine Ansicht ist wiederum die, daß es möglich ist. Sehen Sie mal. Vor gar nicht langer Zeit stand in dem Organ des Herrn Dubrowin: „Das satte bürgerliche Glück, das uns der Sozialismus versprochen hat, wird uns nicht befriedigen“ (zitiert in „Kiewskaja Mysl“ Nr. 132, Jahrgang 1908). Es zeigt sich, daß Herr Dubrowin jetzt seinen Gegnern einen Vorwurf daraus macht, nicht nur, daß sie Juden, sondern auch daß sie Bourgeois sind. Das ist äußerst interessant. Aber beachten Sie, Herr Dubrowin hat [223] die schreckliche Sprengwaffe des Vorwurfs bürgerlicher Einstellung nicht selbst hergestellt: er bekam sie fertig geliefert, wollen wir sagen, bei dem gleichen Sollogub, für den jedermann ein „Bourgeois“ ist, oder bei Herrn Iwanow- Rasumnik, der am liebsten gleich die Natur selbst bourgeoiser Einstellung beschuldigen möchte. Aber auch diese Herren haben das schreckliche Schrapnell nicht selber hergestellt; sie haben es von einigen Marxkritikern übernommen, und den letzteren ist es als Erbe der französischen Romantiker zugefallen. Bekanntlich haben sich die französischen Romantiker energisch gegen die „Bourgeois“ und gegen die „bourgeoise Einstellung“ gewandt. Aber jetzt ist jedem, der in der Geschichte der französischen Literatur bewandert ist, auch bekannt, daß die Romantiker, die sich gegen die „Bourgeois“ und die „bourgeoise Einstellung“ wandten, selbst völlig von bürgerlichem Geist durchdrungen waren. Somit hatten ihre Ausfälle gegen den „Bourgeois“ und ihre Abneigung gegen das „Bürgerliche“ nur die Bedeutung eines Familienzwistes in den Reihen der bürgerlichen Klasse. Théophile Gautier war ein erbitterter Feind der „Bourgeois“, und doch begrüßte er den Sieg der Bourgeoisie über das Proletariat im Mai 1871 mit blutgieriger Wonne. Schon daraus läßt sich ersehen, daß nicht jeder, der gegen die „Bourgeois“ wettert, ein Gegner der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ist. Und wenn dem so ist, dann ist es durchaus nicht so schwierig, die fürchterlichen „Sprenggeschos- 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013<br />

gen wir mal, ins Blut“ übergeht, als entschiedener Gegner des Materialismus, indem er dartut,<br />

daß Materie und Geist nicht ein und dasselbe seien. „Sehen Sie doch“, argumentiert er, „nicht<br />

einmal im ‚Russkoje Slowo‘ behauptet man geradeheraus, daß das ein und dasselbe sei...“<br />

„Wenn es so wäre, dann könnte man ja auch einen Knüppel nehmen, das ist das Rückgrat!<br />

Dann wickeln wir Bindfaden herum, das sind die Nerven! Und wenn man noch etwas hinzufügt,<br />

schon kann man ihn zum Richter wählen: man braucht ihm bloß ein Barett aufzusetzen.“<br />

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Dieser Diakon hat eine zahlreiche Nachkommenschaft hinterlassen. Er ist der Stammvater<br />

aller Marx„kritiker“. Zu seinen Nachkommen gehört offenbar auch mein „Verfasser“. Aber<br />

man muß schon die Wahrheit sagen: Der Diakon ist nicht so „beschränkt“ wie seine Nachkommen.<br />

Er hat ganz unparteiisch erklärt, daß ein Rückgrat sogar dem „Russkoje Slowo“<br />

zufolge kein Knüppel ist und daß die Nerven kein Bindfaden sind. Aber mein ungnädiger<br />

Kritiker möchte mir nun offensichtlich so etwas andichten, als sei ich der festen Überzeugung,<br />

Nerven und Bindfaden und [221] Knüppel und Rückgrat seien das gleiche. Und tut das<br />

nur mein Kritiker? Man braucht ja nur an die Einwände zu denken, mit denen die Volkstümler<br />

und die Subjektivisten gegen den Marxismus aufgetreten sind, um sich davon zu überzeugen,<br />

daß diese unsere Gegner uns allen Ernstes solchen Unsinn angedichtet haben und eigentlich<br />

bis auf den heutigen Tag immer noch andichten. Nicht nur das: man kann ohne jede<br />

Übertreibung sagen, daß sogar die westeuropäischen Marxkritiker, zum Beispiel der unrühmlich<br />

bekannte Herr Bernstein, den „orthodoxen“ Marxisten solche Ansichten bezüglich der<br />

„Nerven“ und des „Bindfadens“ angedichtet haben, die der kritisch denkende Diakon dem<br />

Materialismus niemals hätte zuschreiben wollen. Ich weiß nicht, ob einmal eine Zeit kommt,<br />

wo wir nicht mehr das Vergnügen haben werden, uns mit solchen „Kritikern“ herumschlagen<br />

zu müssen. Ich glaube, ja; ich glaube, sie wird kommen nach jener gesellschaftlichen Umformung,<br />

die die sozialen Ursachen mancher philosophischen und anderer Vorurteile beseitigen<br />

wird. Aber bis dahin werden wir noch viele, viele Male von unseren „Kritikern“ ernste<br />

Ermahnungen zu hören bekommen in dem Sinne, daß man doch nicht einen mit einem Bindfaden<br />

umwickelten Knüppel, der mit einem Barett verziert ist, zum „Richter“ wählen könne.<br />

Unwillkürlich muß man mit Gogol ausrufen: Es ist trübe auf dieser Welt, meine Herren!<br />

Man wird mir vielleicht sagen, der Kritiker, der die Bestimmung des soziologischen Äquivalents<br />

der Kunstwerke vornimmt, könne von seiner Methode leicht fälschlichen Gebrauch machen.<br />

Ich weiß das. Aber wo gibt es eine Methode, die man nicht fälschlich anwenden könnte?<br />

Die gibt es nicht und kann es nicht geben. Ich will noch mehr sagen: je seriöser eine Methode<br />

ist, desto unsinniger sind ihre mißbräuchlichen Anwendungen, die sich Leute erlauben,<br />

die sie schlecht zu handhaben verstehen. Aber ist das vielleicht ein Beweisgrund gegen eine<br />

ernsthafte Methode? Die Menschen haben sehr viel Mißbrauch mit dem Feuer getrieben; aber<br />

die Menschheit könnte auf seinen Gebrauch nicht verzichten, ohne auf die niedrigste Stufe<br />

der kulturellen Entwicklung zurückzukehren.<br />

Bei uns wird gegenwärtig großer Mißbrauch mit dem Epitheton „bürgerlich“, „kleinbürgerlich“<br />

getrieben. So sehr, daß ich die folgenden Zeilen von Herrn I. im Feuilleton der „Russkije<br />

Wedomosti“ Nr. 94 nicht ohne Sympathie gelesen habe:<br />

„Unsere heutige Literatur hat versucht, ein Mittel zu erfinden, das restlos alles zersetzt und<br />

zerstört und dabei doch gegen den, der es gebraucht, unschädlich bleibt. Es besteht in den<br />

Worten ‚bürgerlich‘ und ‚kleinbürgerlich‘. Man braucht diese Worte nur gegen irgend jemand,<br />

der im öffentlichen Leben steht, oder gegen ein literarisches Werk zu richten, und sie<br />

werden wie ein zersetzendes, vernichtendes Gift wirken, [222] das den stärksten Organismus<br />

1 [Gleb Uspenski, „Neue Zeiten, neue Sorgen“, Berlin 1952, S. 275.]<br />

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