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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013<br />

[219]<br />

Vorwort zur dritten Auflage des Sammelbandes<br />

„Zwanzig Jahre“ *<br />

Ich übergebe die neue Auflage meines Sammelbandes „Zwanzig Jahre“ der Öffentlichkeit<br />

und möchte ihm diesmal einige Bemerkungen voranschicken.<br />

Ein nicht nur nicht wohlgeneigter, sondern offensichtlich durch und durch unaufmerksamer<br />

Kritiker hat mir ein wahrhaft erstaunliches literarisches Kriterium zugeschrieben. Er hat behauptet,<br />

ich lobe die Belletristen, die den Einfluß des gesellschaftlichen Milieus auf die Entwicklung<br />

der Persönlichkeit anerkennen, und lehne die ab, die diesen Einfluß nicht anerkennen.<br />

Man kann mich nicht schlechter verstehen.<br />

Ich vertrete die Ansicht, daß das gesellschaftliche Bewußtsein durch das gesellschaftliche<br />

Sein bestimmt wird. Einem Menschen, der diese Ansicht vertritt, ist es klar, daß jede gegebene<br />

„Ideologie“ – folglich auch die Kunst und die sogenannte schöne Literatur – die Bestrebungen<br />

und die Verfassung einer gegebenen Gesellschaft oder, wenn wir es mit einer in<br />

Klassen geteilten Gesellschaft zu tun haben, einer gegebenen Gesellschaftsklasse zum Ausdruck<br />

bringt. Einem Menschen, der diese Ansicht vertritt, ist auch klar, daß sich der Literaturkritiker,<br />

der die Beurteilung eines Kunstwerkes vornimmt, vor allem klarmachen muß,<br />

welche Seite des gesellschaftlichen (oder Klassen-) Bewußtseins es ist, die gerade in diesem<br />

Kunstwerk widergespiegelt wird. Die idealistischen Kritiker der Hegelscheu Schule, unter<br />

ihnen auch unser genialer Belinski in seiner entsprechenden Entwicklungsepoche, haben gesagt,<br />

die Aufgabe der philosophischen Kritik bestehe darin, die vom Künstler in seinem Werk<br />

zum Ausdruck gebrachte Idee aus der Sprache der Kunst in die Sprache der Philosophie, aus<br />

der Sprache der Bilder in die Sprache der Logik zu übertragen. Als Anhänger der materialistischen<br />

Weltanschauung sage ich, die erste Aufgabe des Kritikers besteht darin, die Idee eines<br />

gegebenen Kunstwerkes aus der Sprache der Kunst in die Sprache der Soziologie zu übertragen,<br />

um das zu finden, was man als soziologisches Äquivalent einer gegebenen literarischen<br />

Erscheinung bezeichnen kann. Diese meine Ansicht ist in [220] meinen literarischen Artikeln<br />

mehr als einmal zum Ausdruck gekommen; wie man aber sieht, hat gerade sie meinen Kritiker<br />

irregeführt.<br />

Dieser scharfsinnige Mensch hat sich gesagt, daß ich, wenn die erste Aufgabe der literarischen<br />

Kritik nach meiner Meinung darin besteht, das soziologische Äquivalent der von ihr<br />

untersuchten literarischen Erscheinungen zu bestimmen, die Autoren, die in ihren Werken<br />

mir angenehme gesellschaftliche Bestrebungen zum Ausdruck bringen, loben und die ablehnen<br />

müsse, die als Repräsentanten der unangenehmen dienen. Das wäre schon an sich reichlich<br />

unsinnig, weil es beim Kritiker als solchem nicht darum geht, zu „lachen“ oder zu „weinen“,<br />

sondern darum, zu verstehen. Aber der „Verfasser“, den ich meine, hat die Sache noch<br />

mehr versimpelt. Bei ihm kam es so heraus, daß ich Lob oder Tadel austeile, je nachdem, ob<br />

der fragliche Autor meine Ansicht über die Bedeutung des gesellschaftlichen Milieus durch<br />

seine Werke stützt oder nicht. 1 Es kam dabei eine dumme Karikatur heraus, die gar nicht der<br />

Rede wert wäre, wenn sie nicht selbst für den Historiker unserer – und bedauerlicherweise<br />

nicht nur unserer – Literatur ein überaus interessantes „menschliches Dokument“ wäre.<br />

In G. I. Uspenskis Erzählung „Der Unheilbare“ erweist sich der Diakon, der an Trunksucht<br />

leidet und vom Doktor ein Heilmittel gegen diese Krankheit haben möchte, das „gleich, sa-<br />

* Anmerkungen zu: Vorwort zur dritten Auflage des Sammelbandes „Zwanzig Jahre (S. 219-229) am Ende<br />

des Kapitels.<br />

1 Er hat es versäumt, seine Worte auch nur durch einen einzigen Auszug aus meinen literarischen Artikeln zu<br />

bestätigen. Übrigens ist das ohne weiteres verständlich.<br />

1

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