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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013 („Wohltätigkeit“), hervortritt. Eine junge Frau in elegantem Kleid läßt ein offenbar fremdes und armes Kind an ihrer Brust trinken. Das ist äußerst rührend! Und durchaus angebracht ist hier das elegante Kleid! Wenn man bedenkt, daß die Summen, die die Armen von den Wohltätern erhalten, sogar in England, wo die Wohltätigkeit sehr entwickelt ist, nach ganz übertriebenen Schät-[210]zungen nicht mehr als ein Prozent des Mehrwerts ausmachen, den die Kapitalisten aus dem Proletariat herausgepreßt haben, so muß man sagen, daß sich die Bourgeoisie ihrer Wohltätigkeit schämen sollte; sie ist einer der belastendsten Beweisgründe gegen die bestehende Ordnung. Sehr gut hat mir das Bild „Abendstimmung“ des Italieners Giuseppe de Sanctis gefallen. Eine belebte, im Vordergrund in einen Platz einmündende Straße einer großen Stadt; die Straßenlaternen werden angezündet; die Läden werden beleuchtet, und ihr Licht spiegelt sich so schön in den Pfützen, die das Pflaster bedecken. Unten, auf dem Trottoir, hat der Abend in der Stadt mit der ihm eigentümlichen künstlichen Beleuchtung bereits seinen Einzug gehalten, und von oben her, am Ende der Straße, fällt eine Garbe blauen Lichtes des zur Neige gehenden Tages hernieder. De Sanctis hat in vorzüglicher Weise jene poetische Stimmung dargestellt, die diesem friedlichen Kampfe der nächtlichen Beleuchtung und des Tageslichtes entströmt und die jeder von uns in den ganz prosaischen Vierteln der ganz prosaischen Städte unserer Zeit beobachten kann. In diesen Städten ist die poetische Stimmung etwas Seltenes, aber um so willkommener ist sie und um so mehr verlangt man danach. Viel Poesie, wenn auch anderer Art: nämlich die Poesie des ländlichen und nicht des städtischen Lebens, ist auch in einem Gemälde von Francesco Gioli, „Herbst in Toscana“. Eine kleine Gruppe junger Bauern ist mit der Weinlese beschäftigt. Sie sind kräftig, munter, glücklich – in diesem Jahre ist offenbar eine gute Ernte –‚ und ihre Munterkeit und freudige Stimmung teilt sich auch dem Beschauer mit. Hier ist die Macht der Erde in einer ihrer anziehendsten Erscheinungen dargestellt. Beim Anblick dieses Bildes mußte ich an den verstorbenen G. I. Uspenski denken. Er hätte sich daran erfreut, wie er sich einst über Gedichte von Kolzow gefreut hat. Die sechste internationale Ausstellung in Venedig bringt eine große Zahl von Porträts. Einige darunter sind sehr gut; so zum Beispiel bleibt jeder, der den Saal XXIII – einen der beiden für die venezianischen Künstler bestimmten Säle – betritt, unwillkürlich vor dem Porträt des Giosué Carducci stehen, das Alessandro Milesi gemalt hat; im zweiten venezianischen Saal – in Saal XXIV – zieht das „Porträt eines Mannes“, das von G. Talamini ausgestellt wurde, die Aufmerksamkeit auf sich; im ungarischen Saal ist das von F. E. Laszlo gut gemalte Porträt des Grafen Pierre de Vey; im spanischen Saal das Porträt des „Jacques Lorrain“ von Antonio de la Gandara; im spanischen Saal das „Frauenbildnis“ von Salvino Tofanari; in einem der lombardischen Säle das „Bildnis einer Mailänderin“ („Ritratto di signora milanese“) von Emilio Gola; im latinischen Saal das Frauenbildnis (Pastellmalerei) von Arturo Noci; im fran- [211]zösischen Saal das Porträt Rodins von Emile Blanche usw. usw. Aber die besten, wahre Meisterwerke, sind die Frauenbildnisse von Maurice Greiffenhagen (Dame in „Grau“) und von John Lavery (Dame in „Grün“). An ihnen kann man sich nicht satt genug sehen. Wenn man Greiffenhagens Dame in „Grau“ lange betrachtet hat und sich dann das daneben – im englischen Saal – hängende andere Bild von ihm, „Mariä Verkündigung“, ansieht, ist man stark enttäuscht. Dort ist alles schlicht und einfach; hier haben wir eine affektierte Nachahmung Rossettis. In der Dame in „Grau“ fühlt man sich zum Künstler hingezogen, das Bild „Mariä Verkündigung“ erweckt in uns Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Woher kommt diese Verschiedenheit? Die Sache ist die, daß das Porträt überhaupt unter den verschiedenen Arten der Malerei eine Ausnahmestellung einnimmt. Es ist natürlich ebenfalls nicht unabhängig vom Einfluß der Zeit, aber diese Einflüsse hinterlassen weniger deutliche Spuren. Man nehme beispielsweise 9

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013 die von David gemalten Porträts und stelle sie neben jene Bilder von ihm, die am deutlichsten die innerhalb der revolutionären französischen Bourgeoisie am Ende des 18. Jahrhunderts herrschenden Auffassungen widerspiegeln. Die Porträts von David finden auch heutzutage noch allgemeines Lob, aber über seinen „Brutus“ und seine „Horatier“ zucken heute viele die Achsel. Wie kommt das? Sehr einfach! Vielen unserer Zeitgenossen sind die revolutionären Ideen, für die sich David begeisterte, nicht nur fremd, sondern direkt unsympathisch, und noch fremder ist uns allen die Reihe jener Auffassungen und Geschmacksrichtungen, mit denen sich diese großen revolutionären Ideen in den Köpfen der damaligen Franzosen assoziierten. Den „Horatiern“ und dem „Brutus“ ist in den Augen unserer Zeitgenossen gerade das abträglich, wovon die Zeitgenossen Davids besonders entzückt waren. In Davids Bildnissen ist dieses Element der Epoche jedoch viel weniger bemerkbar – der Hauptwert eines Bildnisses ist doch stets seine Ähnlichkeit mit dem Original. Deshalb verbirgt es vor unseren Zeitgenossen das gewaltig große, männliche und bei all seiner Phrasenhaftigkeit echte Talent Davids viel weniger, und deshalb waren auch, umgekehrt, die Franzosen des 18. Jahrhunderts viel weniger von den von David gemalten Porträts entzückt als von seinem „Brutus“ und seinen „Horatiern“. Und deshalb werden Sie schließlich auch nicht irregehen, wenn Sie in dem Wunsche, das Talent eines gegebenen Malers zu würdigen, vor allem die von ihm gemalten Porträts kennenlernen wollen. In ihrer Anwendung auf Maurice Greiffenhagen nimmt diese allgemeine Bemerkung folgende Form an: Dieser ohne Zweifel sehr begabte Maler lebt in einer solchen Epoche, in der sich die der Bourgeoisie eigen-[212]tümlichen Auffassungen – und für diese werden ja die Kunstwerke jeder Art in der Hauptsache geschaffen – durch Beschränktheit und Dürftigkeit des Inhalts auszeichnen. In ihnen ist kein Platz für etwas Weltumfassendes, etwas möglichst Großes, für etwas, was den gesellschaftlichen Menschen zu Heldentaten begeistert, was ihn veranlaßt, sich für das allgemeine Wohl aufzuopfern. Denn alles, was eine Anspielung auf eine Selbstaufopferung ist, erscheint dieser im Niedergang befindlichen Klasse als künstlich, „theatralisch“; diese Klasse verlangt „Einfachheit“. Aber das „Einfache“ in ihrer jetzigen Sprache bedeutet: dem ideellen Element Fremdes. Die wahre Einfachheit, von der sich zum Beispiel die holländischen Maler jener Generation inspirieren ließen, die in der Zeit des heroischen Kampfes gegen die spanischen Unterdrücker ihren Anfang nahm, hat in den Augen der heutigen Kinder der Bourgeoisie keinerlei Reiz. Sie ist ihnen ebenfalls zu „theatralisch“. Damit ihnen das Einfache nicht als theatralisch erscheint, muß es einen mehr oder weniger altertümlichen Anstrich haben. Die Vergangenheit ist in ihren Augen dadurch schön, daß sie sie an die gute alte Zeit erinnert, die von den „verfluchten Fragen“ unserer Tage nichts wußte und naiv an das glaubte, woran jetzt weder die Bourgeoisie noch ihr künftiger Totengräber – das Proletariat glauben kann. 1 Und da idealisieren sie nun die alte Zeit. Die Frucht einer solchen Idealisierung war unter anderem auch das Schaffen Rossettis. Aber die „Geistes“verfassung der Menschen unserer Epoche ist der Geistesverfassung der Menschen aus der Epoche der Frührenaissance so unähnlich, daß heutige Maler, die die Maler jener Epoche nachahmen, notwendigerweise in Manieriertheit verfallen. Diese Manieriertheit tritt unter anderem auch in den Werken Greiffenhagens in Erscheinung, die der Anwendung seiner ästhetischen Theorien großen Spielraum gewähren. Und deshalb ist sein Gemälde „Mariä Verkündigung“ unvergleichlich schwächer als seine Dame „in Grau“. 1 Die degenerierten Kinder der höheren Klassen finden deshalb Gefallen an dem Glauben an die gute alte Zeit, weil sie selbst an nichts mehr glauben und an nichts mehr zu glauben imstande sind. In gleicher Weise schwärmen sie für Nietzsche, weil sie in ihrem Wesen ganz kraftlos sind. Der Starke idealisiert das, was seine Stärke ist; der Schwache das, was ihm fehlt. 10

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 13.07.2013<br />

die von David gemalten Porträts und stelle sie neben jene Bilder von ihm, die am deutlichsten<br />

die innerhalb der revolutionären französischen Bourgeoisie am Ende des 18. Jahrhunderts<br />

herrschenden Auffassungen widerspiegeln. Die Porträts von David finden auch heutzutage<br />

noch allgemeines Lob, aber über seinen „Brutus“ und seine „Horatier“ zucken heute viele die<br />

Achsel.<br />

Wie kommt das? Sehr einfach! Vielen unserer Zeitgenossen sind die revolutionären Ideen,<br />

für die sich David begeisterte, nicht nur fremd, sondern direkt unsympathisch, und noch<br />

fremder ist uns allen die Reihe jener Auffassungen und Geschmacksrichtungen, mit denen<br />

sich diese großen revolutionären Ideen in den Köpfen der damaligen Franzosen assoziierten.<br />

Den „Horatiern“ und dem „Brutus“ ist in den Augen unserer Zeitgenossen gerade das abträglich,<br />

wovon die Zeitgenossen Davids besonders entzückt waren. In Davids Bildnissen ist dieses<br />

Element der Epoche jedoch viel weniger bemerkbar – der Hauptwert eines Bildnisses ist<br />

doch stets seine Ähnlichkeit mit dem Original. Deshalb verbirgt es vor unseren Zeitgenossen<br />

das gewaltig große, männliche und bei all seiner Phrasenhaftigkeit echte Talent Davids viel<br />

weniger, und deshalb waren auch, umgekehrt, die Franzosen des 18. Jahrhunderts viel weniger<br />

von den von David gemalten Porträts entzückt als von seinem „Brutus“ und seinen „Horatiern“.<br />

Und deshalb werden Sie schließlich auch nicht irregehen, wenn Sie in dem Wunsche,<br />

das Talent eines gegebenen Malers zu würdigen, vor allem die von ihm gemalten Porträts<br />

kennenlernen wollen.<br />

In ihrer Anwendung auf Maurice Greiffenhagen nimmt diese allgemeine Bemerkung folgende<br />

Form an: Dieser ohne Zweifel sehr begabte Maler lebt in einer solchen Epoche, in der sich<br />

die der Bourgeoisie eigen-[212]tümlichen Auffassungen – und für diese werden ja die<br />

Kunstwerke jeder Art in der Hauptsache geschaffen – durch Beschränktheit und Dürftigkeit<br />

des Inhalts auszeichnen. In ihnen ist kein Platz für etwas Weltumfassendes, etwas möglichst<br />

Großes, für etwas, was den gesellschaftlichen Menschen zu Heldentaten begeistert, was ihn<br />

veranlaßt, sich für das allgemeine Wohl aufzuopfern. Denn alles, was eine Anspielung auf<br />

eine Selbstaufopferung ist, erscheint dieser im Niedergang befindlichen Klasse als künstlich,<br />

„theatralisch“; diese Klasse verlangt „Einfachheit“. Aber das „Einfache“ in ihrer jetzigen<br />

Sprache bedeutet: dem ideellen Element Fremdes. Die wahre Einfachheit, von der sich zum<br />

Beispiel die holländischen Maler jener Generation inspirieren ließen, die in der Zeit des heroischen<br />

Kampfes gegen die spanischen Unterdrücker ihren Anfang nahm, hat in den Augen<br />

der heutigen Kinder der Bourgeoisie keinerlei Reiz. Sie ist ihnen ebenfalls zu „theatralisch“.<br />

Damit ihnen das Einfache nicht als theatralisch erscheint, muß es einen mehr oder weniger<br />

altertümlichen Anstrich haben. Die Vergangenheit ist in ihren Augen dadurch schön, daß sie<br />

sie an die gute alte Zeit erinnert, die von den „verfluchten Fragen“ unserer Tage nichts wußte<br />

und naiv an das glaubte, woran jetzt weder die Bourgeoisie noch ihr künftiger Totengräber –<br />

das Proletariat glauben kann. 1 Und da idealisieren sie nun die alte Zeit. Die Frucht einer solchen<br />

Idealisierung war unter anderem auch das Schaffen Rossettis. Aber die „Geistes“verfassung<br />

der Menschen unserer Epoche ist der Geistesverfassung der Menschen aus<br />

der Epoche der Frührenaissance so unähnlich, daß heutige Maler, die die Maler jener Epoche<br />

nachahmen, notwendigerweise in Manieriertheit verfallen. Diese Manieriertheit tritt unter<br />

anderem auch in den Werken Greiffenhagens in Erscheinung, die der Anwendung seiner<br />

ästhetischen Theorien großen Spielraum gewähren. Und deshalb ist sein Gemälde „Mariä<br />

Verkündigung“ unvergleichlich schwächer als seine Dame „in Grau“.<br />

1 Die degenerierten Kinder der höheren Klassen finden deshalb Gefallen an dem Glauben an die gute alte Zeit, weil<br />

sie selbst an nichts mehr glauben und an nichts mehr zu glauben imstande sind. In gleicher Weise schwärmen sie<br />

für Nietzsche, weil sie in ihrem Wesen ganz kraftlos sind. Der Starke idealisiert das, was seine Stärke ist; der<br />

Schwache das, was ihm fehlt.<br />

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