erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 seinem Verhältnis zu einigen von ihnen zum ästhetischen Standpunkt übergeht. Das wirft ein neues Licht auf die Geschichte der Kunst. Selbstverständlich erscheint dem gesellschaftlichen Menschen nicht jeder nützliche Gegenstand als schön; aber zweifelsohne kann ihm nur das als schön erscheinen, was ihm nützlich ist, d. h. was in seinem Daseinskampf mit der Natur oder mit einem anderen gesellschaftlichen Menschen eine Bedeutung hat. Das bedeutet nicht, daß beim gesellschaftlichen Menschen der Nützlichkeitsstandpunkt mit dem ästhetischen zusammenfällt. Durchaus nicht. Der Nutzen wird mit dem Verstand erkannt, das Schöne mit dem Kontemplationsvermögen. Das Gebiet des ersteren ist die Berechnung; das Gebiet des zweiten ist der Instinkt. Dabei – und daran muß man sich auch erinnern – ist das Gebiet, das zur Beschaulichkeit gehört, unvergleichlich weiter als das Gebiet des Verstandes: während der gesellschaftliche Mensch sich an dem ergötzt, was ihm als schön erscheint, wird er sich fast niemals des Nutzens bewußt, mit dessen Vorstellung bei ihm die Vorstellung von diesem Gegenstand verbunden ist. 1 In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle könnte dieser Nutzen nur durch [197] eine wissenschaftliche Analyse aufgedeckt werden. Das wichtigste Kennzeichen des ästhetischen Genusses ist seine Unmittelbarkeit. Aber der Nutzen existiert trotzdem; er liegt dem ästhetischen Genuß trotzdem zugrunde (erinnern wir uns, daß nicht von der Einzelperson die Rede ist, sondern vom gesellschaftlichen Menschen); wenn der Nutzen nicht wäre, so würde der Gegenstand nicht als schön erscheinen. Dagegen wird wohl eingewendet, daß die Farbe eines Gegenstandes dem Menschen unabhängig von der Bedeutung gefällt, die dieser Gegenstand für ihn in seinem Kampf ums Dasein haben konnte oder haben kann. Ohne mich in lange Erörterungen hierüber einzulassen, will ich an eine Bemerkung Fechners erinnern. Die rote Farbe gefällt uns, wenn wir sie, sagen wir, bei einer jungen und schönen Frau auf den Wangen sehen. Welchen Eindruck würde diese Farbe jedoch auf uns ausüben, wenn wir sie nicht auf den Wangen, sondern auf der Nase unserer Schönen erblicken? Hier bemerkt man die völlige Parallele mit der Sittlichkeit. Bei weitem nicht alles, was dem gesellschaftlichen Menschen nützt, ist auch sittlich. Aber sittliche Bedeutung kann für ihn nur das gewinnen, was seinem Leben und seiner Entwicklung nützlich ist: nicht der Mensch ist für die Sittlichkeit da, sondern die Sittlichkeit für den Menschen. Genauso kann man sagen, daß nicht der Mensch für das Schöne, sondern das Schöne für den Menschen da ist. Und das ist schon Utilitarismus, verstanden in seinem wirklichen, d. h. weiten Sinne, d. h. im Sinne des Nützlichen nicht für den einzelnen Menschen, sondern für die Gesellschaft: den Stamm, das Geschlecht, die Klasse. Aber eben weil wir nicht die einzelne Person im Auge haben, sondern die Gesellschaft (Stamm, Volk, Klasse), bleibt uns Raum auch für die Kantsche Betrachtungsweise in dieser Frage: Das Geschmacksurteil setzt unzweifelhaft das Fehlen jeglicher Nützlichkeitserwägungen beim Individuum, das es ausspricht, voraus. Hier liegt auch eine völlige Parallele mit den Urteilen vor, die vom Standpunkt der Sittlichkeit ausgesprochen werden: wenn ich eine Handlung nur deshalb für sittlich erkläre, weil sie mir nützt, so habe ich keinerlei sittlichen Instinkt. Anmerkungen Zum erstenmal veröffentlicht in der Zeitschrift „Prawda“ (1905, September bis Oktober, S. 49-70) mit der Unterschrift N. Beltow. Wir drucken den Text der Gesamtausgabe der Werke Plechanows, Bd. XIV, S. 95-110. Der Aufsatz wurde zu Lebzeiten des Verfassers wiederholt neu herausgegeben; die Drucktexte weisen keinerlei bedeutende Abweichungen auf. 1 Unter Gegenstand sind hier nicht nur die materiellen Dinge zu verstehen, sondern auch die Erscheinungen der Natur, die menschlichen Gefühle und die Beziehungen der Menschen untereinander. 18

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 In diesem Aufsatz machte Plechanow neben prinzipiell richtigen Thesen über die Entwicklung der französischen dramatischen Literatur und Malerei im 18. Jahrhundert und richtigen Bestimmungen des Klassencharakters der klassischen Tragödie und des „weinerlichen“ Bürgerdramas, neben einer feinen Analyse von Form und Inhalt der bezeichneten Literaturgattungen und einer Analyse der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts, ihrer Genres und ihrer Besonderheiten, die bis auf den heutigen Tag ihre Bedeutung nicht verloren hat, ein Zugeständnis an die Kantsche idealistische Theorie der Kunst, indem er dazu neigte, den Instinkt, das geistige Schauen zur Grundlage, zur Quelle der Kunst zu erklären. „Kant sagte“, schreibt hier Plechanow, „das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, sei ohne alles Interesse, und ein Urteil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse mengt, sei sehr parteilich und kein reines Geschmacksurteil. Das ist völlig richtig in der Anwendung auf eine einzelne Person.“ Kantsche Elemente klingen auch an in den Behauptungen Plechanows, daß das „wichtigste Kennzeichen des ästhetischen Genusses seine Unmittelbarkeit ist“ (siehe S. 196/197); daß das Schöne erkannt wird durch das „Kontemplationsvermögen“, daß sein Gebiet der Instinkt ist (ebenda). Plechanow schließt seinen Aufsatz mit der Erklärung, daß er die Kantsche Betrachtungsweise anerkenne. „Aber eben weil wir nicht die einzelne Person im Auge haben, sondern die Gesellschaft (Stamm, Volk, Klasse), bleibt uns Raum auch für die Kantsche Betrachtungsweise in dieser Frage.“ 19

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

seinem Verhältnis zu einigen von ihnen zum ästhetischen Standpunkt übergeht. Das wirft ein<br />

neues Licht auf die Geschichte der Kunst. Selbstverständlich erscheint dem gesellschaftlichen<br />

Menschen nicht jeder nützliche Gegenstand als schön; aber zweifelsohne kann ihm nur das<br />

als schön erscheinen, was ihm nützlich ist, d. h. was in seinem Daseinskampf mit der Natur<br />

oder mit einem anderen gesellschaftlichen Menschen eine Bedeutung hat. Das bedeutet nicht,<br />

daß beim gesellschaftlichen Menschen der Nützlichkeitsstandpunkt mit dem ästhetischen<br />

zusammenfällt. Durchaus nicht. Der Nutzen wird mit dem Verstand erkannt, das Schöne mit<br />

dem Kontemplationsvermögen. Das Gebiet des ersteren ist die Berechnung; das Gebiet des<br />

zweiten ist der Instinkt. Dabei – und daran muß man sich auch erinnern – ist das Gebiet, das<br />

zur Beschaulichkeit gehört, unvergleichlich weiter als das Gebiet des Verstandes: während<br />

der gesellschaftliche Mensch sich an dem ergötzt, was ihm als schön erscheint, wird er sich<br />

fast niemals des Nutzens bewußt, mit dessen Vorstellung bei ihm die Vorstellung von diesem<br />

Gegenstand verbunden ist. 1 In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle könnte dieser Nutzen<br />

nur durch [197] eine wissenschaftliche Analyse aufgedeckt werden. Das wichtigste Kennzeichen<br />

des ästhetischen Genusses ist seine Unmittelbarkeit. Aber der Nutzen existiert trotzdem;<br />

er liegt dem ästhetischen Genuß trotzdem zugrunde (erinnern wir uns, daß nicht von der Einzelperson<br />

die Rede ist, sondern vom gesellschaftlichen Menschen); wenn der Nutzen nicht<br />

wäre, so würde der Gegenstand nicht als schön erscheinen.<br />

Dagegen wird wohl eingewendet, daß die Farbe eines Gegenstandes dem Menschen unabhängig<br />

von der Bedeutung gefällt, die dieser Gegenstand für ihn in seinem Kampf ums Dasein<br />

haben konnte oder haben kann. Ohne mich in lange Erörterungen hierüber einzulassen,<br />

will ich an eine Bemerkung Fechners erinnern. Die rote Farbe gefällt uns, wenn wir sie, sagen<br />

wir, bei einer jungen und schönen Frau auf den Wangen sehen. Welchen Eindruck würde<br />

diese Farbe jedoch auf uns ausüben, wenn wir sie nicht auf den Wangen, sondern auf der Nase<br />

unserer Schönen erblicken?<br />

Hier bemerkt man die völlige Parallele mit der Sittlichkeit. Bei weitem nicht alles, was dem<br />

gesellschaftlichen Menschen nützt, ist auch sittlich. Aber sittliche Bedeutung kann für ihn nur<br />

das gewinnen, was seinem Leben und seiner Entwicklung nützlich ist: nicht der Mensch ist<br />

für die Sittlichkeit da, sondern die Sittlichkeit für den Menschen. Genauso kann man sagen,<br />

daß nicht der Mensch für das Schöne, sondern das Schöne für den Menschen da ist. Und das<br />

ist schon Utilitarismus, verstanden in seinem wirklichen, d. h. weiten Sinne, d. h. im Sinne<br />

des Nützlichen nicht für den einzelnen Menschen, sondern für die Gesellschaft: den Stamm,<br />

das Geschlecht, die Klasse.<br />

Aber eben weil wir nicht die einzelne Person im Auge haben, sondern die Gesellschaft<br />

(Stamm, Volk, Klasse), bleibt uns Raum auch für die Kantsche Betrachtungsweise in dieser<br />

Frage: Das Geschmacksurteil setzt unzweifelhaft das Fehlen jeglicher Nützlichkeitserwägungen<br />

beim Individuum, das es ausspricht, voraus. Hier liegt auch eine völlige Parallele mit den<br />

Urteilen vor, die vom Standpunkt der Sittlichkeit ausgesprochen werden: wenn ich eine<br />

Handlung nur deshalb für sittlich erkläre, weil sie mir nützt, so habe ich keinerlei sittlichen<br />

Instinkt.<br />

Anmerkungen<br />

Zum erstenmal veröffentlicht in der Zeitschrift „Prawda“ (1905, September bis Oktober, S.<br />

49-70) mit der Unterschrift N. Beltow. Wir drucken den Text der Gesamtausgabe der Werke<br />

Plechanows, Bd. XIV, S. 95-110. Der Aufsatz wurde zu Lebzeiten des Verfassers wiederholt<br />

neu herausgegeben; die Drucktexte weisen keinerlei bedeutende Abweichungen auf.<br />

1 Unter Gegenstand sind hier nicht nur die materiellen Dinge zu verstehen, sondern auch die Erscheinungen der<br />

Natur, die menschlichen Gefühle und die Beziehungen der Menschen untereinander.<br />

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