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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

derleglich, daß die Kunst, auch nachdem sie „sansculottisch“ geworden war, ganz und gar<br />

nicht starb und nicht aufhörte, Kunst zu sein, sondern nur von einem völlig neuen Geist<br />

durchdrungen wurde. Wie die Tugend (vertu) des damaligen französischen „Patrioten“ vorzugsweise<br />

eine politische Tugend war, so war auch seine Kunst vorzugsweise eine politische<br />

Kunst. Erschrecken Sie nicht, lieber Leser. Das bedeutet, daß der Bürger der damaligen Zeit –<br />

d. h. natürlich der Bürger, der dieser seiner Bezeichnung würdig ist – gleichgültig oder beinahe<br />

gleichgültig war gegen solche Werke der Kunst, denen nicht irgendeine ihm teure politische<br />

Idee zugrunde lag. 1 Und man sage nicht, eine solche Kunst sei notwendigerweise unfruchtbar.<br />

Das ist ein Irrtum. Die unnachahmliche Kunst der alten Griechen war in ganz bedeutendem<br />

Maße gerade eine solche politische Kunst. Und trifft das nur auf sie allein zu? Die<br />

französische Kunst des „Zeitalters Ludwigs XIV.“ diente ebenfalls gewissen politischen<br />

Ideen, was sie indes nicht daran hinderte, in ihrer ganzen Pracht zu erblühen. Und was die<br />

französische Kunst der Revolutionszeit betrifft, so führten die „Sansculotten“ sie auf einen<br />

Weg, den die Kunst der höheren Klassen nicht zu beschreiten vermochte: sie wurde eine Angelegenheit<br />

des ganzen Volkes.<br />

Die zahlreichen bürgerlichen Feiertage, Prozessionen und festlichen Aufzüge jener Zeit sind<br />

das beste und überzeugendste Zeugnis der „sansculottischen“ Ästhetik. Nur wird dieses<br />

Zeugnis nicht von allen berücksichtigt.<br />

Infolge der historischen Umstände jener Epoche besaß die Volkskunst jedoch keine feste gesellschaftliche<br />

Grundlage. Die wilde Reaktion des Thermidor setzte der Herrschaft der Sansculotten<br />

bald ein Ende und eröffnete eine neue Ära in der Politik, eröffnete auch eine neue<br />

Epoche in der Kunst – eine Epoche, die die Bestrebungen und Neigungen der neuen höheren<br />

Klasse: der zur Herrschaft gelangten Bourgeoisie, zum Ausdruck brachte. Hier wollen wir<br />

nicht von dieser neuen Epoche sprechen, sie verdient eine ausführliche Betrachtung; aber wir<br />

müssen jetzt zum Ende kommen.<br />

Was folgt nun aus all dem, was hier gesagt wurde?<br />

Es ergeben sich die Schlußfolgerungen, die folgende Thesen bestätigen.<br />

Erstens. Wenn man sagt, die Kunst – ebenso wie die Literatur – sei die Widerspiegelung des<br />

Lebens, so heißt das einen Gedanken aussprechen, [196] der zwar richtig, aber trotzdem noch<br />

sehr unbestimmt ist. Um zu begreifen, auf welche Weise die Kunst das Leben widerspiegelt,<br />

muß man den Mechanismus des Lebens verstehen. Bei den zivilisierten Völkern ist eine der<br />

wichtigsten Triebfedern in diesem Mechanismus der Klassenkampf. Und nur wenn wir diese<br />

Triebfeder untersucht, nur wenn wir den Kampf der Klassen berücksichtigt und seine zahlreichen<br />

Peripetien studiert haben, werden wir imstande sein, uns in einigermaßen befriedigender<br />

Weise die „Geistes“geschichte der zivilisierten Gesellschaft zu erklären: die „Entwicklung<br />

ihrer Ideen“ widerspiegelt die Geschichte ihrer Klassen und ihres Kampfes gegeneinander.<br />

Zweitens. Kant sagte, das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, sei ohne<br />

alles Interesse, und ein Urteil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse mengt, sei<br />

sehr parteilich und kein reines Geschmacksurteil. 2 Das ist völlig richtig in der Anwendung<br />

auf eine einzelne Person. Wenn mir ein Gemälde nur gefällt, weil ich es vorteilhaft verkaufen<br />

kann, so ist mein Urteil natürlich kein reines Geschmacksurteil. Aber die Sache bekommt ein<br />

anderes Gesicht, wenn wir uns auf den Standpunkt der Gesellschaft stellen. Das Studium der<br />

Kunst der Naturvölker hat gezeigt, daß der gesellschaftliche Mensch die Gegenstände und<br />

Erscheinungen anfangs vom Nützlichkeitsstandpunkt aus betrachtet und erst in der Folge in<br />

1 Wir gebrauchen das Wort „politisch“ in jenem weiten Sinne, in welchem gesagt wurde, daß jeder Klassenkampf<br />

ein politischer Kampf ist.<br />

2 [Immanuel Kant, „Kritik der Urteilskraft“, 3. Auflage, Leipzig 1902, S. 42 u. 43.]<br />

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