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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

à l’état). Chalier findet, daß alle zueinander du sagen müssen: „Indem wir zueinander du sagen,<br />

vollenden wir den Zusammenbruch des alten Systems der Frechheit und Tyrannei.“ Chaliers<br />

Abhandlung hat offensichtlich Eindruck gemacht: Am 8. November 1793 schrieb der<br />

Konvent allen Beamten vor, in ihrem gegenseitigen Verkehr das Fürwort „du“ anzuwenden.<br />

Ein gewisser Le Bon, überzeugter Demokrat und leidenschaftlicher Revolutionär, erhielt von<br />

seiner Mutter einen teuren Anzug geschenkt. Da er die alte Frau nicht kränken wollte, nahm<br />

er das Geschenk an, wurde aber von grausamen Gewissensbissen gequält. Deshalb schrieb er<br />

an seinen Bruder: „Jetzt habe ich wegen dieses unglückseligen Anzugs schon zehn Nächte<br />

lang nicht geschlafen. Ich als Philosoph und Freund der Menschheit trage so teure Kleidung,<br />

während Tausende meiner Mitmenschen Hungers sterben und elende Lumpen auf dem Leibe<br />

tragen. Wenn ich mein prunkvolles Gewand angezogen habe – wie soll ich da ihre ärmliche<br />

Behausung aufsuchen? Wie soll ich einen armen Teufel vor der Ausbeutung seitens des Reichen<br />

schützen? Wie soll ich gegen die Geldprotzen auftreten, wenn ich es ihnen gleichtue in<br />

Luxus und Schwelgerei? Diese Gedanken verfolgen mich beständig und lassen mich nicht zur<br />

Ruhe kommen.“<br />

Und das ist durchaus keine Einzelerscheinung. Die Kleiderfrage wurde damals zu einer Gewissensfrage<br />

– ähnlich wie das bei uns in der Zeit des sogenannten Nihilismus gewesen ist.<br />

Und aus denselben Motiven. Im Januar 1793 sagt die Zeitschrift „Le courrier de l’égalité“, es<br />

sei eine Schande, zwei Anzüge zu haben, während die Soldaten, die an der Grenze die Unabhängigkeit<br />

des republikanischen Frankreichs verteidigten, völlig zerlumpt seien. Zur selben<br />

Zeit fordert der berühmte „Père Duchesne“ 1* , man solle die Modekaufhäuser in Werkstätten<br />

umwandeln; die Wagnermeister sollten Wagen nur für Fuhrleute bauen; die Goldschmiede<br />

sollten Schlosser werden und die Cafés, wo die Müßiggänger zusammenkommen, den Arbeitern<br />

für ihre Versammlungen übergeben werden.<br />

[193] Bei einem solchen Stand der „Sitten“ ist es völlig verständlich, warum die Kunst in<br />

ihrer Ablehnung aller alten ästhetischen Überlieferungen der aristokratischen Epoche bis zur<br />

äußersten Grenze ging.<br />

Das Theater, das, wie wir gesehen haben, dem dritten Stand schon in der vorrevolutionären<br />

Epoche als geistiges Werkzeug in seinem Kampf gegen die alte Ordnung gedient hatte, macht<br />

die Geistlichkeit und den Adel jetzt ohne alle Hemmungen lächerlich. Im Jahre 1790 hat das<br />

Drama „La liberté conquise ou le despotisme renversé“ einen großen Erfolg. Das die Vorstellung<br />

besuchende Publikum singt im Chor: „Aristokraten, ihr seid geschlagen!“ Die geschlagenen<br />

Aristokraten ihrerseits laufen in die Vorstellungen von Tragödien, die sie an die gute<br />

alte Zeit erinnern: „Cinna“, „Athalie“ u. ä. Im Jahre 1793 tanzt man auf der Bühne Carmagnole<br />

und macht sich über Könige und Emigranten lustig. Nach einem Ausdruck von Goncourt<br />

– dem wir die auf diese Periode Bezug nehmenden Angaben entnehmen – ist das Theater<br />

sans-culottisé 2 . Die Schauspieler verspotten die schwülstigen Manieren der Schauspieler<br />

der alten Zeit, sie treten äußerst ungezwungen auf; sie steigen zum Fenster herein, statt zur<br />

Tür hereinzukommen, usw. Goncourt sagt, während der Vorstellung des Stückes „Le faux<br />

savant“ habe sich einmal ein Schauspieler, statt durch die Tür einzutreten, durch den Kamin<br />

auf die Bühne heruntergelassen. „Se non è vero, è ben trovato.“ [Wenn es nicht wahr ist, ist<br />

es gut ausgedacht“ (italienische Redensart]<br />

Daß das Theater durch die Revolution sans-culottisé wurde, ist durchaus nicht verwunderlich,<br />

1* „Père Duchesne“ war der Name einer jakobinischen Zeitschrift während der Französischen Revolution, deren<br />

Leiter Jacques René Hébert war. Nach dem Namen des Blattes wurde er selbst genannt. Siehe auch S. 349.<br />

2 Sansculottiert (von „sansculotte“ [Ohnehosen], dem Schimpfwort für den dritten Stand, der die culotte, die<br />

enganliegende Kniehose des Adels gegen die bequeme lange Hose vertauschte); hier etwa gleich „dem Pöbel<br />

angepaßt“.<br />

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