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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 kenden Bourgeoisie – wie die zornigen Äußerungen des Tadels, die er an die Adresse des ihm verhaßten Boucher gerichtet hat. Greuze war in der Tat ein höchst sittlicher Maler. Wenn die Bürgerdramen von Nivelle de La Chaussée, Beaumarchais, Sedaine und anderen [188] des moralités en action [in Handlung gesetzte Moralität] waren, so kann man die Gemälde von Greuze moralité sur la toile [auf die Leinwand gebrachte Moralität] nennen. „Der Familienvater“ nimmt bei ihm einen Ehrenplatz in der vorderen Ecke ein, tritt in den verschiedensten, aber immer rührendsten Stellungen auf und zeichnet sich durch dieselben ehrbaren häuslichen Tugenden aus, die seine Zierde auch im Bürgerdrama sind. Dieser Patriarch ist zwar unbestrittenerweise jeder Achtung wert, offenbart aber keinerlei politisches Interesse. Er steht da als „verkörperter Vorwurf“ gegen die ausschweifende und sittenlose Aristokratie und geht über den „Vorwurf“ nicht hinaus. Und das ist durchaus nicht verwunderlich, weil sich der Künstler, der ihn geschaffen hat, selbst auch auf den „Vorwurf“ beschränkt. Greuze ist bei weitem kein Revolutionär. Er strebt nicht die Beseitigung der alten Ordnung an, sondern nur ihre Verbesserung im Geiste der Moral. Die französische Geistlichkeit ist für ihn die Hüterin der Religion und der guten Sitten, die französischen Geistlichen sind die geistlichen Väter aller Bürger. 1 Aber der Geist revolutionärer Unzufriedenheit dringt unterdes schon in die Reihen der französischen Künstler ein. In den fünfziger Jahren wird aus der französischen Akademie der Künste in Rom ein Schüler ausgeschlossen, der sich dem heiligen Abendmahl entsagte. Im Jahre 1767 wird ein anderer Schüler derselben Akademie, der Architekt Adr. Mouton, für dasselbe Vergehen bestraft. Der Bildhauer Claude Monot schließt sich Mouton an – er wird ebenfalls aus der Anstalt verwiesen. Die öffentliche Meinung von Paris tritt entschieden auf die Seite Moutons, der gegen den Direktor der römischen Akademie bei Gericht Klage erhebt, und das Gericht (Châtelet) erkennt diesen letzteren für schuldig und verurteilt ihn zur Zahlung von 20.000 Lire zugunsten Moutons. Die gesellschaftliche Atmosphäre erhitzt sich immer mehr, und in dem Maße, wie die revolutionäre Stimmung den dritten Stand ergreift, erkaltet die Begeisterung für die Genremalerei – diese mit Ölfarben gemalte weinerliche Komödie. Der Wechsel in der Stimmung der führenden Persönlichkeiten jener Zeit führt zur Veränderung ihrer ästhetischen Ansprüche – wie sie zur Veränderung ihrer literarischen Begriffe geführt hatte –‚ und die Genremalerei im Geiste eines Greuze, die noch vor kurzem allgemeine Begeisterung ausgelöst hatte 2 , wird durch die revolutionäre Malerei Davids und seiner Schule in den Schatten gedrängt. In der Folge, als David bereits Mitglied des Konvents war, sagte er in [189] seinem Vortrag vor dieser Versammlung: „Alle Gattungen der Kunst haben nichts anderes getan, als den Neigungen und Kapricen eines Häufleins von Weichlingen gedient, deren Taschen mit Gold gefüllt waren, und die Zünfte (David nennt so die Akademien) verfolgten die genialen Menschen und überhaupt alle diejenigen, die mit reinen Ideen der Moral und Philosophie zu ihnen kamen.“ Nach der Meinung Davids muß die Kunst dem Volke, der Republik dienen. Nun war aber derselbe David ein entschiedener Anhänger des Klassizismus. Ja, mehr noch: seine künstlerische Tätigkeit hauchte dem verfallenden Klassizismus neues Leben ein und verlängerte seine Herrschaft um ganze Jahrzehnte. Am Beispiel Davids wird am besten sichtbar, daß der französische Klassizismus am Ende des 18. Jahrhunderts nur der Form nach konservativ oder, wenn Sie wollen, reaktionär war, weil er ja von den neuesten Nachahmern rückwärts zu den antiken Vorbildern hinstrebte. Der Inhalt aber war durch und durch von revolutionärstem Geiste durchdrungen. 1 Siehe seinen Lettre à Messieurs les curiés im „Journal de Paris“ vom 5. Dezember 1786. 2 Eine solche Begeisterung rief zum Beispiel im Jahre 1735 das im Salon ausgestellte Gemälde von Greuze, „Le père de famille“, und im Jahre 1761 sein „L’accordée du village“ hervor. 12

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 Eins von den in dieser Beziehung charakteristischsten und bemerkenswertesten Gemälden Davids war sein „Brutus“. Die Liktoren tragen die Leichname seiner Kinder, die eben wegen der Teilnahme an monarchistischen Umtrieben hingerichtet worden waren; die Frau und die Tochter des Brutus weinen, er aber sitzt da, düster und unerschütterlich, und man sieht, daß für diesen Menschen das Wohl der Republik in der Tat das höchste Gesetz ist. Brutus ist auch ein „Familienvater“. Aber es ist ein Familienvater, der Bürger geworden ist. Seine Tugend ist die politische Tugend des Revolutionärs. Er zeigt uns, wie weit das bürgerliche Frankreich vorangeschritten war seit der Zeit, da Diderot Greuze wegen des moralischen Charakters seiner Malerei gepriesen hatte. 1 Der im Jahre 1789, in dem Jahre, da das große revolutionäre Erdbeben ausbrach, ausgestellte „Brutus“ hatte einen aufrüttelnden Erfolg. Er brachte das zum Bewußtsein, was zum tiefsten, zum dringlichsten Bedürfnis des Seins, das heißt des gesellschaftlichen Lebens im damaligen Frankreich geworden war. Ernest Chesneau sagt ganz richtig in seinem Buche über die Schulen der französischen Malerei: „David hat genau die Stimmung der Nation wiedergegeben, die, indem sie seine Bilder bejubelte, ihre eigene Darstellung bejubelt hat. Er malte genau die Helden, die sich das Publikum zum Vorbild genommen hatte; indem es sich an seinen Gemälden entzückte, bekräftigte es seine eigene Begeisterung für diese Helden. Daher jene Leichtigkeit, mit der sich in der Kunst der Umschwung vollzog, ähnlich dem Umschwung, der damals in den Sitten und in der gesellschaftlichen Ordnung stattfand.“ [190] Der Leser irrte sehr, wenn er glaubte, der Umschwung, den David in der Kunst herbeigeführt, habe sich nur auf die Auswahl der Gegenstände erstreckt. Wäre dem so, dann dürften wir noch nicht von einem Umschwung sprechen. Nein, der mächtige Hauch der herannahenden Revolution änderte die ganze Einstellung des Künstlers zu seiner Sache von Grund auf. Der Manieriertheit und Süßlichkeit der alten Schule – siehe zum Beispiel die Gemälde von Van Loo – stellten die Künstler der neuen Richtung eine rauhe Einfachheit gegenüber. Auch die Mängel dieser neuen Künstler erklären sich leicht aus der unter ihnen herrschenden Haltung. So warf man David vor, die handelnden Personen seiner Gemälde glichen Statuen. Dieser Vorwurf ist leider nicht unbegründet. Aber David suchte die Vorbilder bei den Alten, und der neuen Zeit gilt die Bildhauerei als die vorherrschende Kunst des Altertums. Außerdem hielt man David die Schwäche seiner Einbildungskraft vor. Auch das war ein berechtigter Vorwurf: David selbst gab zu, daß bei ihm das Vernunftmäßige überwiege. Das Rationale war aber der hervorstechendste Charakterzug aller Vertreter der damaligen Freiheitsbewegung. Und nicht nur der damaligen: das Rationale trifft auf ein weites Feld der Entwicklung und entwickelt sich in breitem Maße bei allen zivilisierten Völkern, die eine Epoche des Umschwungs durchmachen, wo die alte gesellschaftliche Ordnung sich dem Verfall zuneigt und wo die Vertreter der neuen gesellschaftlichen Bestrebungen sie ihrer Kritik unterziehen. Bei den Griechen der Zeit des Sokrates war das Rationale nicht weniger entwickelt als bei den Franzosen des 18. Jahrhunderts. Die deutschen Romantiker sind nicht umsonst über das Rationale des Euripides hergefallen. Das Rationale ist die Frucht des Kampfes des Neuen mit dem Alten, und es dient als sein Werkzeug. Das Rationale war auch allen großen Jakobinern eigen. Man hält es überhaupt ganz unbegründeterweise für ein Monopol der Hamletnaturen. 2 Wenn man sich jene gesellschaftlichen Ursachen klargemacht hat, die die Davidsche Schule 1 Der „Brutus“ hängt jetzt im Louvre. Ein Russe, der zufällig nach Paris kommen sollte, muß hingehen und ihn grüßen. 2 Deshalb könnte man viele kräftige Einwände gegen die von I. S. Turgenew in seinem berühmten Aufsatz „Hamlet und Don Quijote“ dargelegte Ansicht vorbringen. 13

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

kenden Bourgeoisie – wie die zornigen Äußerungen des Tadels, die er an die Adresse des ihm<br />

verhaßten Boucher gerichtet hat.<br />

Greuze war in der Tat ein höchst sittlicher Maler. Wenn die Bürgerdramen von Nivelle de La<br />

Chaussée, Beaumarchais, Sedaine und anderen [188] des moralités en action [in Handlung<br />

gesetzte Moralität] waren, so kann man die Gemälde von Greuze moralité sur la toile [auf die<br />

Leinwand gebrachte Moralität] <strong>nennen</strong>. „Der Familienvater“ nimmt bei ihm einen Ehrenplatz<br />

in der vorderen Ecke ein, tritt in den verschiedensten, aber immer rührendsten Stellungen auf<br />

und zeichnet sich durch dieselben ehrbaren häuslichen Tugenden aus, die seine Zierde auch<br />

im Bürgerdrama sind. Dieser Patriarch ist zwar unbestrittenerweise jeder Achtung wert, offenbart<br />

aber keinerlei politisches Interesse. Er steht da als „verkörperter Vorwurf“ gegen die<br />

ausschweifende und sittenlose Aristokratie und geht über den „Vorwurf“ nicht hinaus. Und<br />

das ist durchaus nicht verwunderlich, weil sich der Künstler, der ihn geschaffen hat, selbst<br />

auch auf den „Vorwurf“ beschränkt. Greuze ist bei weitem kein Revolutionär. Er strebt nicht<br />

die Beseitigung der alten Ordnung an, sondern nur ihre Verbesserung im Geiste der Moral.<br />

Die französische Geistlichkeit ist für ihn die Hüterin der Religion und der guten Sitten, die<br />

französischen Geistlichen sind die geistlichen Väter aller Bürger. 1 Aber der Geist revolutionärer<br />

Unzufriedenheit dringt unterdes schon in die Reihen der französischen Künstler ein. In<br />

den fünfziger Jahren wird aus der französischen Akademie der Künste in Rom ein Schüler<br />

ausgeschlossen, der sich dem heiligen Abendmahl entsagte.<br />

Im Jahre 1767 wird ein anderer Schüler derselben Akademie, der Architekt Adr. Mouton, für<br />

dasselbe Vergehen bestraft. Der Bildhauer Claude Monot schließt sich Mouton an – er wird<br />

ebenfalls aus der Anstalt verwiesen. Die öffentliche Meinung von Paris tritt entschieden auf<br />

die Seite Moutons, der gegen den Direktor der römischen Akademie bei Gericht Klage erhebt,<br />

und das Gericht (Châtelet) erkennt diesen letzteren für schuldig und verurteilt ihn zur<br />

Zahlung von 20.000 Lire zugunsten Moutons. Die gesellschaftliche Atmosphäre erhitzt sich<br />

immer mehr, und in dem Maße, wie die revolutionäre Stimmung den dritten Stand ergreift,<br />

erkaltet die Begeisterung für die Genremalerei – diese mit Ölfarben gemalte weinerliche Komödie.<br />

Der Wechsel in der Stimmung der führenden Persönlichkeiten jener Zeit führt zur<br />

Veränderung ihrer ästhetischen Ansprüche – wie sie zur Veränderung ihrer literarischen Begriffe<br />

geführt hatte –‚ und die Genremalerei im Geiste eines Greuze, die noch vor kurzem<br />

allgemeine Begeisterung ausgelöst hatte 2 , wird durch die revolutionäre Malerei Davids und<br />

seiner Schule in den Schatten gedrängt.<br />

In der Folge, als David bereits Mitglied des Konvents war, sagte er in [189] seinem Vortrag<br />

vor dieser Versammlung: „Alle Gattungen der Kunst haben nichts anderes getan, als den<br />

Neigungen und Kapricen eines Häufleins von Weichlingen gedient, deren Taschen mit Gold<br />

gefüllt waren, und die Zünfte (David nennt so die Akademien) verfolgten die genialen Menschen<br />

und überhaupt alle diejenigen, die mit reinen Ideen der Moral und Philosophie zu ihnen<br />

kamen.“ Nach der Meinung Davids muß die Kunst dem Volke, der Republik dienen. Nun war<br />

aber derselbe David ein entschiedener Anhänger des Klassizismus. Ja, mehr noch: seine<br />

künstlerische Tätigkeit hauchte dem verfallenden Klassizismus neues Leben ein und verlängerte<br />

seine Herrschaft um ganze Jahrzehnte. Am Beispiel Davids wird am besten sichtbar,<br />

daß der französische Klassizismus am Ende des 18. Jahrhunderts nur der Form nach konservativ<br />

oder, wenn Sie wollen, reaktionär war, weil er ja von den neuesten Nachahmern rückwärts<br />

zu den antiken Vorbildern hinstrebte. Der Inhalt aber war durch und durch von revolutionärstem<br />

Geiste durchdrungen.<br />

1 Siehe seinen Lettre à Messieurs les curiés im „Journal de Paris“ vom 5. Dezember 1786.<br />

2 Eine solche Begeisterung rief zum Beispiel im Jahre 1735 das im Salon ausgestellte Gemälde von Greuze, „Le<br />

père de famille“, und im Jahre 1761 sein „L’accordée du village“ hervor.<br />

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