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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

des 18. Jahrhunderts, die aus der englischen Literatur in großem Maße alles das übernahmen,<br />

was der Lage und den Gefühlen der französischen oppositionellen Bourgeoisie entsprach,<br />

übertrugen diese Seite der englischen weinerlichen Komödie uneingeschränkt nach Frankreich.<br />

Das französische Bürgerdrama predigt die bürgerlichen Familientugenden nicht<br />

schlechter als das englische. Darin lag eines der Geheimnisse seines Erfolges, und darin liegt<br />

auch die Erklärung des auf den ersten Blick völlig unverständlichen Umstandes, daß das<br />

französische [181] Bürgerdrama, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts als eine fest begründete<br />

Gattung literarischer Erzeugnisse erscheint, ziemlich bald in den Hintergrund rückt, vor<br />

der klassischen Tragödie zurücktritt, die, wie es doch schien, vor ihm zurücktreten sollte.<br />

Wir werden gleich sehen, womit dieser seltsame Umstand zu erklären ist, aber wir müssen<br />

zunächst noch folgendes bemerken.<br />

Diderot, der sich dank seiner Natur als leidenschaftlicher Neuerer für das Bürgerdrama begeistern<br />

mußte und der sich bekanntlich selber in der neuen literarischen Gattung übte (denken<br />

wir an sein Drama „Le fils naturel“ aus dem Jahre 1757 und an sein „Le père de famille“ aus<br />

dem Jahre 1758), forderte, daß auf der Bühne nicht eine Darstellung von Charakteren gegeben<br />

werde, sondern von Zuständen, und namentlich von gesellschaftlichen Zuständen. Man<br />

hielt ihm entgegen, die gesellschaftliche Lage bestimme den Menschen noch nicht. „Was<br />

ist“‚ so fragte man ihn, „der Richter an sich (le juge en soi)? Was ist der Kaufmann an sich<br />

(le négociant en soi)?“ Nun, hier lag ein riesiges Mißverständnis vor. Bei Diderot handelte es<br />

sich nicht um den Kaufmann „en soi“ und nicht um den Richter „en soi“, sondern um den<br />

damaligen Kaufmann und, insbesondere, um den damaligen Richter. Und daß die damaligen<br />

Richter viel lehrreiches Material für überaus lebhafte szenische Darstellungen lieferten, zeigt<br />

die berühmte Komödie „Le mariage de Figaro“ sehr schön. Die Forderung Diderots war nur<br />

eine literarische Widerspiegelung der revolutionären Bestrebungen des damaligen französischen<br />

„mittleren Standes“.<br />

Aber gerade der revolutionäre Charakter dieser Bestrebungen hinderte das französische Bürgerdrama<br />

daran, über die klassische Tragödie den endgültigen Sieg davonzutragen.<br />

Als Kind der Aristokratie herrschte die klassische Tragödie auf der französischen Bühne so<br />

lange ungeteilt und unbestritten, wie die Aristokratie ungeteilt und unbestritten herrschte – in<br />

den Grenzen, die durch die ständische Monarchie gezogen waren, welche selbst das historische<br />

Ergebnis eines langdauernden und erbitterten Klassenkampfes in Frankreich war. Als<br />

die Herrschaft der Aristokratie fraglich zu werden begann, als die „Menschen des mittleren<br />

Standes“ von oppositionellem Geist durchdrungen wurden, <strong>erschien</strong>en die alten literarischen<br />

Begriffe diesen Menschen als unbefriedigend und das alte Theater als nicht „lehrreich“ genug.<br />

Und damals kam neben der klassischen Tragödie, die sich rasch dem Verfall zuneigte,<br />

das Bürgerdrama auf. Im Bürgerdrama stellte der französische „Mensch des mittleren Standes“<br />

seine häuslichen Tugenden der tiefen Verderbtheit der Aristokratie gegenüber. Aber<br />

jener gesellschaftliche Widerspruch, den das damalige Frankreich zu lösen hatte, konnte mit<br />

[182] Hilfe der Moralpredigt nicht gelöst werden. Es handelte sich damals nicht um die Beseitigung<br />

der aristokratischen Laster, sondern um die Beseitigung der Aristokratie selbst. Es<br />

ist verständlich, daß das nicht ohne erbitterten Kampf abgehen konnte, und es ist nicht minder<br />

verständlich, daß der Familienvater („Le père de famille“‘) bei aller unbestrittenen Ehrbarkeit<br />

seiner bürgerlichen Sittlichkeit nicht als Muster des unermüdlichen und unerschrockenen<br />

Kämpfers dienen konnte. Das literarische „Porträt“ der Bourgeoisie flößte kein Heldentum<br />

ein. Allein, die Gegner der alten Ordnung fühlten das Bedürfnis nach Heldentum, waren sich<br />

der Notwendigkeit der Entwicklung einer staatsbürgerlichen Tugend des dritten Standes bewußt.<br />

Wo konnte man damals die Vorbilder einer solchen Tugend finden? Eben dort, wo man<br />

vorher die Muster des literarischen Geschmacks gesucht hatte: in der antiken Welt.<br />

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