18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

Er trat entschieden und leidenschaftlich dagegen auf. Er wandte sich mit beißendem Spott<br />

gegen jene literarische Gewohnheit, kraft deren als Helden der Tragödie Könige und andere<br />

Mächtige dieser Welt <strong>erschien</strong>en, während die Komödie Menschen des unteren Standes geißelte.<br />

„Menschen des Mittelstandes niedergeschlagen und im Unglück darstellen! Fi donc!<br />

[Pfui] Die darf man nie anders als verhöhnt zeigen. Lächerliche Bürger und unglückliche<br />

Könige: das ist das ganze bestehende und mögliche Theater; ich will das zur Kenntnis nehmen.“<br />

1<br />

Durch diesen spöttischen Ausruf eines der hervorragendsten Ideologen des dritten Standes<br />

werden also die oben angeführten psychologischen Erwägungen Brunetières offensichtlich<br />

bestätigt. Aber Beaumarchais will nicht nur nicht Menschen des mittleren Standes im „Unglück“<br />

darstellen. Er protestiert auch gegen die Gewohnheit, die handelnden Personen „seriöser“<br />

dramatischer Werke unter den Helden der antiken Welt zu wählen. „Was gehen mich“,<br />

fragt er, „den friedlichen Untertan eines monarchischen Staates des 18. Jahrhunderts, die Revolutionen<br />

Athens und Roms an? Welches Interesse kann ich für den Tod eines peloponnesischen<br />

Tyrannen, für die Opferung einer jungen Königstochter in Aulis aufbringen? Alles das<br />

hat mir nichts zu bedeuten, keine Moral, die mir ansteht.“ 2<br />

Die Auswahl der Helden aus der antiken Welt war eine der äußerst zahlreichen Offenbarungen<br />

jener Schwärmerei für das Altertum, die selbst eine ideologische Widerspiegelung des<br />

Kampfes der neuen, im Entstehen begriffenen gesellschaftlichen Ordnung mit dem Feudalismus<br />

war. Aus der Epoche der Renaissance ging dieses Schwärmen für die antike Zivilisation<br />

[180] auf das Zeitalter Ludwigs XIV. über, das man bekanntlich sehr gern mit dem Zeitalter<br />

des Augustus verglich. Als aber die Bourgeoisie von oppositioneller Stimmung durchdrungen<br />

zu werden begann, als ihre Herzen „voller Haß sind und nach Gerechtigkeit zu gieren“ begannen,<br />

da <strong>erschien</strong> das Schwärmen für die antiken Helden – das ihre gebildeten Vertreter<br />

früher voll und ganz geteilt hatten – auf einmal unangebracht und die „Revolutionen“ der<br />

antiken Geschichte nicht lehrreich genug. Der Held des Bürgerdramas ist „der Mensch des<br />

Mittelstandes“, von den damaligen Ideologen der Bourgeoisie mehr oder weniger idealisiert.<br />

Dieser charakteristische Umstand konnte „dem Porträt“ selbstverständlich nicht schaden.<br />

Gehen wir weiter. Der wirkliche Schöpfer des Bürgerdramas in Frankreich ist Nivelle de La<br />

Chaussée. Was sehen wir in seinen zahlreichen Werken? Die Auflehnung gegen diese oder<br />

jene Seite der aristokratischen Psychologie, den Kampf mit diesen oder jenen aristokratischen<br />

Vorurteilen oder – wenn Sie wollen – Lastern. Die Zeitgenossen schätzen an diesen Werken<br />

namentlich die darin enthaltene Moralpredigt. 3 Und von dieser Seite war die weinerliche<br />

Komödie ihrem Ursprung treu.<br />

Bekanntlich zeigten die Ideologen der französischen Bourgeoisie, die bestrebt waren, uns in<br />

ihren dramatischen Werken ihr „Porträt“ zu liefern, keine große Originalität. Sie haben das<br />

Bürgerdrama nicht geschaffen, sondern lediglich aus England nach Frankreich herübergebracht.<br />

In England entstand diese Gattung dramatischer Werke – am Ende des 17. Jahrhunderts<br />

– als Reaktion gegen die schreckliche Ausschweifung, die damals als Widerspiegelung<br />

des sittlichen Verfalls der damaligen englischen Aristokratie auf der Bühne herrschte. Die mit<br />

der Aristokratie kämpfende Bourgeoisie wollte, daß die Komödie „eines Christen würdig“<br />

werde, sie begann, durch sie ihre Moral zu predigen. Die französischen literarischen Neuerer<br />

1 [Beaumarchais,] „Lettre sur la critique du ‚Barbier de Séville“‘ [Paris 1778, p. 5].<br />

2 [Beaumarchais,] „Essai sur le genre dramatique sérieux“ ‚ Œuvres, I, p. 11.<br />

3 D’Alembert sagt über Nivelle de La Chaussée: „Sowohl in seiner literarischen Tätigkeit als auch in seinem<br />

ganzen Privatleben hielt er an dem Grundsatz fest, daß Weisheit derjenige besitzt, dessen Wünsche und Bestrebungen<br />

seinen Mitteln proportional sind.“ Dies ist eine Apologie der Ausgeglichenheit, der Mäßigkeit und der<br />

Akkuratesse.<br />

6

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!