erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
from max.stirner.archiv.leipzig.de More from this publisher
18.09.2015 Views

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 die ein Kind der höfischen Aristokratie war und weil als Hauptpersonen der Handlung Könige, „Helden“ und überhaupt „hochgestellte“ Personen auftraten, die sozusagen verpflichtet waren, „groß“ und „erhaben“ zu scheinen, wenn nicht gar zu sein. Ein Dramatiker, in dessen Werken nicht die gehörige konventionelle Dosis höfisch-aristokratischer „Erhabenheit“ war, hätte selbst bei großem Talent vergebens auf das Beifallklatschen der damaligen Zuschauer gewartet. Das ist am besten daraus ersichtlich, wie man damals in Frankreich und unter dem Einfluß Frankreichs auch in England Shakespeare beurteilte. Hume fand, man dürfe das Genie Shakespeares nicht übertreiben: unproportionierte Gestalten erscheinen oft größer als ihr wirklicher Wuchs; für seine Zeit hat Shakespeare getaugt, aber er paßt nicht zu einem verfeinerten Auditorium. Pope sprach sein Bedauern darüber aus, daß Shakespeare für das Volk geschrieben habe und nicht für die feinen Leute. „Shakespeare hätte besser geschrieben“, sagte er, „wenn er die Gunst des Herrschers genossen hätte und die Unterstützung seitens der Höflinge.“ Selbst Voltaire, der in seinem literarischen Schaffen der Künder einer neuen, „der alten Ordnung“ feindlich gesinnten Zeit war und vielen seiner Tragödien einen „philosophischen“ Inhalt gab, zollte den ästhetischen Begriffen der aristokratischen Gesellschaft einen ungeheuren Tribut. Shakespeare erschien ihm als ein genialer, aber grober Barbar. Seine Äußerung über „Hamlet“ ist höchst bemerkenswert. „Dieses Stück“, sagt er, „ist [177] voll Anachronismen und Albernheiten; in ihm wird Ophelia auf der Bühne begraben, und das ist ein so ungeheuerliches Schauspiel, daß der berühmte Garrick die Szene auf dem Kirchhof gestrichen hatte ... Dieses Stück wimmelt von vulgären Dingen. So sagt der Wachtposten in der ersten Szene: ‚Keine Maus hat sich geregt.‘ Kann man sich ein so unangebrachtes Zeug erlauben? Ohne Zweifel kann sich ein Soldat in seiner Kaserne so ausdrücken, aber er darf sich nicht so auf der Bühne ausdrücken vor auserlesenen Personen der Nation, vor Personen, die vornehm sprechen und in deren Gegenwart man sich nicht weniger vornehm auszudrücken hat. Stellen Sie sich, meine Herren, Ludwig XIV. in seinem Spiegelsaale vor, umgeben von dem glänzenden Hof, und stellen Sie sich weiter vor, ein in Lumpen gehüllter Hanswurst zwängt sich durch die Menge von Helden hindurch, durch all diese großen Männer und schönen Frauen, die die Hofgesellschaft bilden; er macht ihnen den Vorschlag, Corneille, Racine und Molière fahrenzulassen für den Hanswurst, der einen Schimmer von Talent hat, aber Faxen macht. Was meinen Sie? Wie würde man einen solchen Hanswurst empfangen?“ Diese Worte Voltaires enthalten nicht nur den Hinweis auf den aristokratischen Ursprung der französischen klassischen Tragödie, sondern auch auf die Ursachen ihres Verfalls. 1 Gewähltheit geht oft über in Manieriertheit, Manieriertheit schließt aber eine ernste und tiefgründige Bearbeitung des Gegenstandes aus. Und nicht nur die Bearbeitung. Der Kreis der zur Auswahl stehenden Gegenstände mußte sich unter dem Einfluß der Standesvorurteile der Aristokratie unbedingt verengen. Der standesgemäße Begriff von Schicklichkeit beschnitt der Kunst die Flügel. In dieser Beziehung ist äußerst charakteristisch und lehrreich die Forderung, die Marmontel an die Tragödie stellt. „Eine sowohl friedliche als auch wohlerzogene Nation“, sagt er, „in der sich jeder für verpflichtet hält, seine Ideen und Gefühle den Sitten und Gewohnheiten der Gesellschaft anzupassen, eine Nation, in der die Anstandsrücksichten als Gesetze dienen, eine solche Nation kann nur solche Charaktere dulden, die durch Rücksicht auf ihre Umgebung gemildert, und nur solche Laster, die durch feinen Anstand abgeschwächt sind.“ 1 Nebenbei bemerkt, durch diese Seite der Ansichten Voltaires wurde Lessing, ein konsequenter Ideologe des deutschen Bürgertums, abgestoßen, und das hat Fr. Mehring in seinem Buche „Die Lessing-Legende“ aufs beste geklärt. 4

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 Der standesbedingte Anstand wird zum Kriterium der Beurteilung künstlerischer Werke. Das genügt, den Niedergang der klassischen Tragödie hervorzurufen. Aber es reicht noch nicht aus, das Erscheinen einer neuen Gattung dramatischer Werke auf der französischen Bühne zu er-[178]klären. Indessen sehen wir aber, daß in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts eine neue literarische Gattung erscheint – die sogenannte comédie larmoyante, die weinerliche Komödie, die eine Zeitlang äußerst beachtlichen Erfolg genießt. Wenn sich das Bewußtsein durch das Sein erklärt, wenn sich die sogenannte geistige Entwicklung der Menschheit in ursächlicher Abhängigkeit von der ökonomischen Entwicklung befindet, so muß uns die Ökonomik des 18. Jahrhunderts unter anderem auch das Erscheinen der weinerlichen Komödie erklären. Es fragt sich, ob sie das kann. Sie kann es nicht nur, sie hat es zum Teil schon getan, allerdings ohne gründliche Methode. Zum Beweise wollen wir uns auf Hettner berufen, der die weinerliche Komödie in seiner Geschichte der französischen Literatur als Folge des Wachstums der französischen Bourgeoisie betrachtet. Aber das Wachstum der Bourgeoisie, wie das jeder anderen Klasse, kann nur durch die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft erklärt werden. Folglich nimmt Hettner, ohne sich dessen bewußt zu sein und ohne es zu wollen – er ist ein großer Feind des Materialismus, von dem er, nebenbei gesagt, eine ganz einfältige Vorstellung hat –‚ zur materialistischen Geschichtserklärung seine Zuflucht. Und nicht nur Hettner. Viel besser als Hettner hat Brunetière in seinem Buche „Les époques du théâtre français“ die uns schon längst bekannte ursächliche Abhängigkeit aufgedeckt. Er sagt dort: „... seit dem Bankrott der Law-Bank – um nicht weiter zurückzugreifen – verliert die Aristokratie, wie Sie wissen, von Tag zu Tag an Boden. Was eine Klasse nur tun kann, um sich zu diskreditieren, das beeilt sie sich zu tun... Aber sie ruiniert sich überhaupt; und die Bourgeoisie, der dritte Stand‚ bereichert sich nach und nach, wächst an Einfluß, gewinnt ein neues Bewußtsein seiner Rechte. Die Ungleichheiten erscheinen erschreckender, die Mißbräuche unerträglicher. Die Herzen sind ‚voller Haß‘, wie bald ein Dichter sagen wird, und ‚gieren nach Gerechtigkeit‘ 1 oder, besser gesagt, nach Gleichheit... Wäre es möglich, daß man, wenn man über ein solches Mittel der Propaganda und der Einflußnahme verfügt wie das Theater, sich dessen nicht bedient, daß man die Ungleichheiten, über die sich der Autor von ‚Bourgeois gentilhomme‘ und von ‚Georges Dandin‘ nur lustig macht, ernst, ja, beinahe tragisch nimmt? Und wäre es überhaupt möglich, daß sich diese schon triumphierende Bourgeoisie darin schickte, auf der Bühne immer nur Kaiser und Könige dargestellt zu sehen, und daß sie ihre Ersparnisse nicht zuerst dazu gebrauchte, wenn ich so sagen darf, ihr eigenes Porträt zu bestellen?“ 2 [179] Also, die weinerliche Komödie war das Porträt der französischen Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts. Das ist völlig richtig. Nicht umsonst wird sie auch Bürgerdrama genannt. Aber bei Brunetière hat diese richtige Ansicht einen zu allgemeinen und folglich abstrakten Charakter. Wir wollen uns bemühen, sie etwas eingehender zu entwickeln. Brunetière sagt, die Bourgeoisie konnte sich nicht damit abfinden, auf der Bühne immer nur Kaiser und Könige dargestellt zu sehen. Das ist nach den Erklärungen, die in dem von uns angeführten Zitate gegeben wurden, sehr wahrscheinlich, aber einstweilen ist es eben nur wahrscheinlich; unzweifelhaft wird es erst dann, wenn wir die Psychologie wenigstens einiger Personen kennenlernen, die am damaligen literarischen Leben Frankreichs aktiven Anteil genommen haben. Zu ihnen gehörte zweifellos der talentvolle Beaumarchais, der Autor einiger weinerlicher Komödien. Was meinte Beaumarchais zu der „ewigen Darstellung nur von Kaisern und Königen“? 1 Von uns hervorgehoben. 2 [Genanntes Werk, Paris 1896, p. 287.] 5

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

Der standesbedingte Anstand wird zum Kriterium der Beurteilung künstlerischer Werke. Das<br />

genügt, den Niedergang der klassischen Tragödie hervorzurufen. Aber es reicht noch nicht<br />

aus, das Erscheinen einer neuen Gattung dramatischer Werke auf der französischen Bühne zu<br />

er-[178]klären. Indessen sehen wir aber, daß in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts eine<br />

neue literarische Gattung erscheint – die sogenannte comédie larmoyante, die weinerliche<br />

Komödie, die eine Zeitlang äußerst beachtlichen Erfolg genießt. Wenn sich das Bewußtsein<br />

durch das Sein erklärt, wenn sich die sogenannte geistige Entwicklung der Menschheit in<br />

ursächlicher Abhängigkeit von der ökonomischen Entwicklung befindet, so muß uns die<br />

Ökonomik des 18. Jahrhunderts unter anderem auch das Erscheinen der weinerlichen Komödie<br />

erklären. Es fragt sich, ob sie das kann.<br />

Sie kann es nicht nur, sie hat es zum Teil schon getan, allerdings ohne gründliche Methode.<br />

Zum Beweise wollen wir uns auf Hettner berufen, der die weinerliche Komödie in seiner<br />

Geschichte der französischen Literatur als Folge des Wachstums der französischen Bourgeoisie<br />

betrachtet. Aber das Wachstum der Bourgeoisie, wie das jeder anderen Klasse, kann nur<br />

durch die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft erklärt werden. Folglich nimmt<br />

Hettner, ohne sich dessen bewußt zu sein und ohne es zu wollen – er ist ein großer Feind des<br />

Materialismus, von dem er, nebenbei gesagt, eine ganz einfältige Vorstellung hat –‚ zur materialistischen<br />

Geschichtserklärung seine Zuflucht. Und nicht nur Hettner. Viel besser als<br />

Hettner hat Brunetière in seinem Buche „Les époques du théâtre français“ die uns schon<br />

längst bekannte ursächliche Abhängigkeit aufgedeckt.<br />

Er sagt dort: „... seit dem Bankrott der Law-Bank – um nicht weiter zurückzugreifen – verliert<br />

die Aristokratie, wie Sie wissen, von Tag zu Tag an Boden. Was eine Klasse nur tun<br />

kann, um sich zu diskreditieren, das beeilt sie sich zu tun... Aber sie ruiniert sich überhaupt;<br />

und die Bourgeoisie, der dritte Stand‚ bereichert sich nach und nach, wächst an Einfluß, gewinnt<br />

ein neues Bewußtsein seiner Rechte. Die Ungleichheiten erscheinen erschreckender,<br />

die Mißbräuche unerträglicher. Die Herzen sind ‚voller Haß‘, wie bald ein Dichter sagen<br />

wird, und ‚gieren nach Gerechtigkeit‘ 1 oder, besser gesagt, nach Gleichheit... Wäre es möglich,<br />

daß man, wenn man über ein solches Mittel der Propaganda und der Einflußnahme verfügt<br />

wie das Theater, sich dessen nicht bedient, daß man die Ungleichheiten, über die sich der<br />

Autor von ‚Bourgeois gentilhomme‘ und von ‚Georges Dandin‘ nur lustig macht, ernst, ja,<br />

beinahe tragisch nimmt? Und wäre es überhaupt möglich, daß sich diese schon triumphierende<br />

Bourgeoisie darin schickte, auf der Bühne immer nur Kaiser und Könige dargestellt zu<br />

sehen, und daß sie ihre Ersparnisse nicht zuerst dazu gebrauchte, wenn ich so sagen darf, ihr<br />

eigenes Porträt zu bestellen?“ 2<br />

[179] Also, die weinerliche Komödie war das Porträt der französischen Bourgeoisie des 18.<br />

Jahrhunderts. Das ist völlig richtig. Nicht umsonst wird sie auch Bürgerdrama genannt. Aber<br />

bei Brunetière hat diese richtige Ansicht einen zu allgemeinen und folglich abstrakten Charakter.<br />

Wir wollen uns bemühen, sie etwas eingehender zu entwickeln.<br />

Brunetière sagt, die Bourgeoisie konnte sich nicht damit abfinden, auf der Bühne immer nur<br />

Kaiser und Könige dargestellt zu sehen. Das ist nach den Erklärungen, die in dem von uns<br />

angeführten Zitate gegeben wurden, sehr wahrscheinlich, aber einstweilen ist es eben nur<br />

wahrscheinlich; unzweifelhaft wird es erst dann, wenn wir die Psychologie wenigstens einiger<br />

Personen kennenlernen, die am damaligen literarischen Leben Frankreichs aktiven Anteil<br />

genommen haben. Zu ihnen gehörte zweifellos der talentvolle Beaumarchais, der Autor einiger<br />

weinerlicher Komödien. Was meinte Beaumarchais zu der „ewigen Darstellung nur von<br />

Kaisern und Königen“?<br />

1 Von uns hervorgehoben.<br />

2 [Genanntes Werk, Paris 1896, p. 287.]<br />

5

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!