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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

„Regeln“ geschriebene Tragödie. Sie rief eine Polemik hervor, in der die Gegner der „Regeln“<br />

Argumente gegen sie vorbrachten, die in vielem an die Argumente der [175] Romantiker<br />

erinnerten. Zur Verteidigung der drei Einheiten schlossen sich die Anhänger der antiken<br />

Literatur (les érudits) zusammen, und sie trugen einen entscheidenden und dauerhaften Sieg<br />

davon. Welchem Umstand verdankten sie aber ihren Sieg? Jedenfalls nicht ihrer „Gelehrsamkeit“,<br />

an der dem Publikum sehr wenig gelegen war, sondern den gesteigerten Kunstansprüchen<br />

der höheren Klasse, denen die naiven szenischen Albernheiten der vorangegangenen<br />

Epoche unerträglich geworden waren. „Die Einheiten stellen einen Gedanken dar, der ehrliche<br />

Leute hinreißen mußte“, fährt Lanson fort, „den einer Nachahmung, die der Wirklichkeit<br />

genau entspricht und geeignet ist, Illusionen zu wecken. In ihrer wahren Bedeutung waren sie<br />

ein Minimum an Konvention... So war der Sieg der Einheiten tatsächlich ein Sieg des Realismus<br />

über die Phantasie...“ 1<br />

So siegte hier eigentlich die Verfeinerung des aristokratischen Geschmacks, die sich gleichzeitig<br />

mit der Festigung der „ordnungsmäßigen und ritterlichen Monarchie“ herausgebildet<br />

hatte. Die weiteren Fortschritte der Bühnentechnik machten eine genaue Nachahmung der<br />

Wirklichkeit durchaus möglich – auch ohne Beachtung der Einheiten; aber die Vorstellung<br />

von diesen Einheiten assoziierte sich im Geiste der Zuschauer mit einer ganzen Reihe anderer<br />

ihnen lieber und wichtiger Vorstellungen, und deshalb gewann ihre Theorie gewissermaßen<br />

selbständigen Wert, der sich auf angeblich unbestreitbare Forderungen des guten Geschmacks<br />

stützte. In der Folge wurde die Herrschaft der drei Einheiten, wie wir weiter unten<br />

sehen werden, durch andere gesellschaftliche Ursachen gestützt, und deshalb traten für ihre<br />

Theorie auch diejenigen ein, die die Aristokratie haßten. Der Kampf mit ihnen wurde sehr<br />

schwierig: um sie zu Fall zu bringen, mußten die Romantiker viel Scharfsinn, Zähigkeit und<br />

fast revolutionäre Energie aufbringen.<br />

Da wir nun einmal die Bühnentechnik gestreift haben, wollen wir noch folgendes bemerken.<br />

Der aristokratische Ursprung der französischen Tragödie drückte unter anderem auch der<br />

Kunst der Schauspieler seinen Stempel auf. Es ist allen bekannt, daß sich zum Beispiel das<br />

Spiel der französischen dramatischen Schauspieler bis auf den heutigen Tag durch eine gewisse<br />

Künstelei und sogar Geziertheit auszeichnet, die auf den ungewohnten Zuschauer einen<br />

ziemlich unangenehmen Eindruck macht. Wer Sarah Bernhardt gesehen hat, wird mit uns<br />

nicht streiten. Diese Manier, zu spielen, haben die französischen dramatischen Schauspieler<br />

aus der Zeit ererbt, da auf der französischen Bühne die klassische Tragödie herrschte. Die<br />

aristokratische Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts hätte großes Mißfallen geäußert,<br />

[176] wenn es sich die tragischen Schauspieler hätten einfallen lassen, ihre Rollen mit derselben<br />

Einfachheit und derselben Natürlichkeit zu spielen, mit der zum Beispiel Eleonore Duse<br />

uns bezaubert. Ein einfaches und natürliches Spiel hätte allen Anforderungen der aristokratischen<br />

Ästhetik entschieden widersprochen. „Die Franzosen lassen es, um den Schauspielern<br />

der Tragödie den gehörigen Adel und die gehörige Würde zu geben, nicht an der Kleidung<br />

genug sein“, sagt stolz der Abbé Dubos. „Sie fordern auch von ihnen, daß sie in einem erhabnern,<br />

gesetztern und anhaltendern Tone sprechen, als es in einer gewöhnlichen Unterredung<br />

geschieht... Diese Art zu rezitieren ist freilich mühsamer (sic!)... Aber außerdem, daß sie<br />

mehr Hoheit hat, ist sie auch weit vorteilhafter für die Zuschauer, welche vermittelst derselben<br />

die Verse besser verstehen... Die Gebärden der tragischen Schauspieler müssen gleichfalls<br />

abgemeßner und edler... sein... Endlich fordern wir auch von den Schauspielern einer<br />

Tragödie, daß sie alles, was sie tun, mit einer gewissen Größe und Würde verrichten.“ 2<br />

Warum mußten die Schauspieler Größe und Erhabenheit an den Tag legen? Weil die Tragö-<br />

1 Ebenda.<br />

2 [Dubos, „Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey“, 1. Theil, Kopenhagen 1760, S. 390/391.]<br />

3

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