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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

merksam machen, daß sich die französische Aristokratie in der Epoche der Entstehung der Tragödie<br />

in Frankreich überhaupt nicht mit produktiver Arbeit beschäftigte und ihr Leben mit Produkten<br />

aufrecht erhielt, die die wirtschaftliche Tätigkeit des dritten Standes (tiers état) schuf. Es<br />

ist unschwer zu verstehen: diese Tatsache konnte nicht ohne Einfluß auf die Werke der Kunst<br />

bleiben, die im aristokratischen Milieu entstanden und dessen Geschmacksrichtungen ausdrückten.<br />

So ist zum Beispiel bekannt, daß die Neuseeländer in manchen ihrer Lieder den Anbau<br />

der Bataten besingen. Bekannt ist auch, daß ihre Lieder häufig von einem Tanz begleitet<br />

werden, der nichts anderes ist als die Wiedergabe jener Körperbewegungen, die der Landmann<br />

beim Anbau dieser Pflanzen ausführt. Hier ist deutlich sichtbar, wie die produktive Tätigkeit<br />

der Menschen ihre Kunst beeinflußt, und es ist nicht minder klar, daß die Kunst, die im Milieu<br />

der höheren Klassen entsteht, welche sich ja nicht mit produktiver Tätigkeit befassen, keinerlei<br />

direkte Beziehung zum gesellschaftlichen Produktionsprozeß haben kann. Heißt das aber, in der<br />

in Klassen geteilten Gesellschaft werde die ursächliche Abhängigkeit des Bewußtseins der<br />

Menschen von ihrem Sein abgeschwächt? Nein, das bedeutet es durchaus nicht, denn auch die<br />

Teilung der Gesellschaft in Klassen wird durch ihre ökonomische Entwicklung bedingt. Und<br />

wenn die von den höheren [174] Klassen geschaffene Kunst keine unmittelbare Beziehung zum<br />

Produktionsprozeß hat, so erklärt sich das letzten Endes auch aus ökonomischen Ursachen.<br />

Folglich ist die materialistische Geschichtserklärung auch in diesem Falle voll und ganz anwendbar;<br />

aber es versteht sich von selbst, daß sich der unzweifelhafte ursächliche Zusammenhang<br />

zwischen Sein und Bewußtsein, zwischen den gesellschaftlichen Beziehungen, die auf der<br />

Grundlage der „Arbeit“ entstehen, und der Kunst in diesem Falle nicht mehr so leicht offenbart.<br />

Hier bilden sich zwischen der „Arbeit“ auf der einen und der Kunst auf der anderen Seite einige<br />

Zwischeninstanzen, die die Aufmerksamkeit der Forscher oft auf sich gelenkt und dadurch das<br />

richtige Verstehen der Erscheinungen erschwert haben.<br />

Nach diesem notwendigen Vorbehalt kommen wir nun zu unserem Gegenstande und wenden<br />

uns vor allem der Tragödie zu.<br />

„Das französische Trauerspiel“, sagt Taine in seinen „Vorlesungen über die Kunst“, „... beginnt<br />

gleicherweise zu der Zeit, als die ordnungsmäßige und ritterliche Monarchie unter<br />

Ludwig XIV. das Reich der Wohlanständigkeit, das Hofleben, das schöne, würdevolle Auftreten<br />

und das zierlich-feine, adlige Bediententum begründet – und es zergeht in dem Augenblicke,<br />

in welchem diese Adelsgesellschaft mitsamt den Vorzimmer-Gesinnungen und -Sitten<br />

durch die Revolution verdrängt wird.“ 1<br />

Das ist völlig richtig. Aber der historische Prozeß der Entstehung und besonders des Verfalls<br />

der französischen klassischen Tragödie war etwas komplizierter, als ihn der berühmte Kunsttheoretiker<br />

darstellt.<br />

Betrachten wir diese Gattung literarischer Werke nach ihrer Form und nach ihrem Inhalt.<br />

Bezüglich der Form der klassischen Tragödie müssen vor allem die berühmten drei Einheiten<br />

unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken, um die in der Folge so viel Streit geführt worden ist<br />

– zur Zeit des in den Annalen der französischen Literatur für immer denkwürdigen Kampfes<br />

der Romantiker mit den Klassikern. Die Theorie dieser Einheiten war in Frankreich schon<br />

seit der Renaissance bekannt; aber ein literarisches Gesetz, eine unbestrittene Regel des guten<br />

„Geschmacks“ wurde sie erst im 17. Jahrhundert. „... als Corneille im Jahre 1629 seine<br />

Medea schrieb“‚ sagt Lanson, „hatte er von den drei Einheiten nicht einmal sprechen hören.“ 2<br />

Als Propagandist der drei Einheiten trat am Anfang der dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts<br />

Mairet auf. Im Jahre 1634 wurde seine Tragödie „Sophonisbe“ inszeniert, die erste nach den<br />

1 [Hippolyte Taine, „Philosophie der Kunst“, Erster Band, Leipzig 1902, S. 11.]<br />

2 [Lanson,] „Histoire de la littérature française“, p. 415.<br />

2

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