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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

[172]<br />

Die französische dramatische Literatur<br />

und die französische Malerei des 18. Jahrhunderts<br />

vom Standpunkt der Soziologie *<br />

Das Studium der Lebensweise der Naturvölker bestätigt auf das beste jene Grundthese des<br />

historischen Materialismus, die aussagt, daß das Bewußtsein der Menschen durch ihr Sein<br />

bestimmt wird. Zur Bestätigung dessen genügt es hier, auf die Schlußfolgerung zu verweisen,<br />

zu der Bücher in seiner bemerkenswerten Untersuchung „Arbeit und Rhythmus“ gelangte.<br />

Er sagt: „Wir kommen damit zu der Entscheidung, daß Arbeit, Musik und Dichtung auf der<br />

primitiven Stufe ihrer Entwicklung in eins verschmolzen gewesen sein müssen, daß aber das<br />

Grundelement dieser Dreieinheit die Arbeit gebildet hat, während die beiden anderen nur<br />

akzessorische Bedeutung haben.“ Nach Bücher ist die Entstehung der Poesie aus der Arbeit<br />

zu erklären („der Ursprung der Poesie ist in der Arbeit zu suchen“). Und wer mit der Literatur<br />

dieses Gegenstandes vertraut ist, wird Bücher nicht der Übertreibung bezichtigen. 1 Die<br />

Einwände kompetenter Leute betreffen nicht das Wesen, sondern nur einige nebensächliche<br />

Teile seiner Ansicht. In der Hauptsache hat Bücher zweifellos recht.<br />

Aber seine Schlußfolgerung betrifft eigentlich nur den Ursprung der Dichtkunst. Was ist aber<br />

über ihre weitere Entwicklung zu sagen? Wie steht es mit der Poesie und überhaupt mit der<br />

Kunst auf höheren Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung? Kann man denn, und auf welchen<br />

Stufen, das Vorhandensein eines Kausalzusammenhanges zwischen dem Sein und dem<br />

Bewußtsein, zwischen der Technik und der Ökonomik der Gesellschaft auf der einen Seite und<br />

ihrer Kunst auf der anderen beobachten?<br />

Die Antwort auf diese Frage werden wir in diesem Aufsatz suchen, gestützt auf die Geschichte<br />

der französischen Kunst im 18. Jahrhundert.<br />

[173] Hier müssen wir vor allem folgenden Vorbehalt machen.<br />

Die französische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ist vom Standpunkte der Soziologie vor<br />

allem durch den Umstand charakterisiert, daß sie eine in Klassen geteilte Gesellschaft war. Dieser<br />

Umstand mußte sich auf die Entwicklung der Kunst auswirken. In der Tat, nehmen wir<br />

meinetwegen das Theater. Auf der mittelalterlichen Bühne Frankreichs wie auch ganz Westeuropas<br />

nehmen die sogenannten Possen einen wichtigen Platz ein. Die Possen wurden für das<br />

Volk verfaßt und vor dem Volk gespielt. Sie dienten immer als Ausdruck der Ansichten des<br />

Volkes, seiner Bestrebungen und – was hier besonders zu vermerken angebracht ist – seiner<br />

Unzufriedenheit mit den höheren Ständen. Seit Beginn der Regierungszeit Ludwigs XIII. befindet<br />

sich die Posse jedoch im Verfall; man rechnet sie zu den Vergnügen, die sich nur für<br />

Lakaien schicken und für Leute mit verfeinertem Geschmack unpassend sind: „réprouvés des<br />

gens sages“ [von feingebildeten Menschen abgelehnt], wie ein französischer Schriftsteller im<br />

Jahre 1625 sagte. An die Stelle der Posse tritt die Tragödie; aber die französische Tragödie hat<br />

nichts gemein mit den Ansichten, den Bestrebungen und der Unzufriedenheit der Volksmasse.<br />

Sie ist eine Schöpfung der Aristokratie und drückt die Ansichten, den Geschmack und die Bestrebungen<br />

des höheren Standes aus. Wir werden gleich sehen, wie tiefe Spuren dieser Klassenursprung<br />

ihrem ganzen Charakter aufprägt; aber zuerst wollen wir den Leser darauf auf-<br />

* Anmerkungen zu: Die französische dramatische Literatur und die französische Malerei des 18. Jahrhunderts<br />

vom Standpunkt der Soziologie (S. 172-197) am Ende des Kapitels.<br />

1 M. Hoernes sagt von der Ornamentik der Naturvölker, daß sie „sich nur an der industriellen Tätigkeit entwickeln“<br />

konnte und daß die Völker, die, wie die Weddas auf Ceylon, noch keine industrielle Tätigkeit kennen, auch keine<br />

Ornamentik besitzen („Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa“, Wien 1898, S. 38). Das ist eine Schlußfolgerung<br />

ganz ähnlich der oben angeführten Schlußfolgerung Büchers. [Siehe auch S. 37 des vorliegenden Bandes.]<br />

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