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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013 die Gründe der Entstehung und Entwicklung der Ideen eines Menschen, der in der menschlichen Gesellschaft lebt, genau zu klären. Um unsere Aufgabe zu erleichtern, werden wir unsere Untersuchung methodisch durchführen, und wir wollen vor allem sehen, ob die Ideen, d. h., nach der von Suard gegebenen Begriffsbestimmung, die Summe der unter den Menschen verbreiteten Wahrheiten und Irrtümer – ob die Ideen angeboren sind, ob sie zusammen mit den Menschen wachsen und auch zusammen mit ihnen verschwinden. Das heißt, man muß sich fragen: Gibt es angeborene Ideen? Es gab eine Zeit, in der man davon fest überzeugt war, daß die Ideen, wenigstens teilweise, angeboren seien. Und weil man an das Vorhandensein angeborener Ideen glaubte, glaubte man damit auch, daß diese Ideen einen dem ganzen Menschengeschlecht gemeinsamen Grundbestand bilden, der zu allen Zeiten und in allen Ländern gleichbleibt. Diese Ansicht, einstmals sehr verbreitet, wurde erfolgreich durch den hervorragenden englischen Philosophen John Locke (1632-1704) wider-[15]legt. In seinem berühmten Buch „An Essay concerning human understanding“ bewies John Locke, daß es im menschlichen Verstand keine angeborenen Ideen, Prinzipien und Begriffe gibt. Ideen und Prinzipien erhält der Mensch aus der Erfahrung, und das trifft sowohl auf spekulative Prinzipien als auch auf praktische Prinzipien oder moralische Prinzipien zu. Die Moralprinzipien ändern sich abhängig von Zeit und Ort. Wenn die Menschen irgendeine Tätigkeit verurteilen, dann tun sie das, weil sie ihnen schädlich ist. Wenn sie sie loben, so heißt das, sie ist ihnen nützlich. Daraus folgt: Das Interesse (nicht das persönliche Interesse, sondern das gesellschaftliche Interesse) bestimmt die Urteile der Menschen auf dem Gebiet des gesellschaftlichen Lebens. Das war die Lehre Lockes, und alle französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts waren ihre überzeugten Anhänger. Wir haben bei unserer Kritik an ihrer Geschichtsauffassung folglich von seiner Lehre auszugehen. Es gibt im Verstand der Menschen keine angeborenen Ideen. Die Erfahrung bestimmt die spekulativen Ideen, das gesellschaftliche Interesse aber bestimmt die „praktischen“ Ideen. Nehmen wir diesen Satz als Prämisse und sehen wir, welche Schlußfolgerungen sich daraus ergeben. 10

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013 Sehr geehrte Damen und Herren! Zweite Vorlesung (15. März 1901) Wenn die Wiederholung – wie ein lateinisches Sprichwort sagt – die Mutter der Weisheit ist, ist die Zusammenfassung ihr Verwalter. Sie zieht die Bilanz dessen, was schon bekannt ist und erklärt seine Bedeutung. Ich beginne darum meine zweite Vorlesung mit einer Zusammenfassung des Vorhergegangenen. Ich sagte, daß die theologische Geschichtsauffassung in der Erklärung des historischen Prozesses und des Fortschritts des Menschengeschlechts durch das Wirken einer oder mehrerer übernatürlicher Kräfte, durch den Willen eines oder mehrerer Götter besteht. Dann untersuchte ich die Geschichtsphilosophie des hl. Augustinus und Bossuets und zeigte, daß die Geschichtsphilosophie Bossuets vor der Geschichtsphilosophie des hl. Augustinus den großen Vorzug hat, daß sie sich von der Erklärung der historischen Entwicklung durch das unmittelbare Schalten Gottes lossagte und auf der Forderung bestand, die Teil- [16]ursachen der historischen Ereignisse oder, mit anderen Worten, ihre natürlichen Ursachen zu suchen. Die Suche nach den natürlichen Ursachen der Ereignisse ist eine Absage an den theologischen Standpunkt und ein Übergehen zum wissenschaftlichen Standpunkt, denn der wissenschaftliche Standpunkt besteht in der Erklärung der Erscheinungen aus ihren natürlichen Ursachen und in der völligen Abstrahierung von jeglichem Einfluß übernatürlicher Kräfte. Ich zitierte Ihnen Voltaire, der da sagte, er überlasse alles Göttliche denen, die es zu bewahren haben, ihn selbst interessierten nur die historischen Tatsachen, d. h. die natürlichen Ursachen. Der Standpunkt Voltaires, wie auch der aller französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, war ein wissenschaftlicher Standpunkt. Da aber die Wissenschaft selbst sich auch entwickelt, fortschreitet, mußten wir den Standpunkt Voltaires etwas genauer untersuchen. Und wir fanden, daß es ein idealistischer Standpunkt war, d. h. daß Voltaire, wie alle Philosophen des 18. Jahrhunderts – auch die, die in ihrer Naturauffassung Materialisten waren (Holbach, Helvétius u. a.) –‚ den historischen Prozeß durch die Evolution der Ideen oder, wie man in jener Zeit sagte, der Meinungen erklärte. Beim Übergang zur Kritik dieser Geschichtserklärung sagte ich, daß sie in beschränktem Maße wahr sei, denn der Gedanke (die Meinung) hat wirklich einen großen Einfluß auf das Verhalten der Menschen. Dann fügte ich jedoch hinzu, daß das Entstehen und die Entwicklung des Denkens durch bestimmte Gesetze geleitet wird und daß der Historiker demzufolge die Ideen nicht als die Hauptursache und tiefste Ursache des historischen Prozesses ansehen kann. Wer das Studium dieses Prozesses vertiefen will, muß weitergehen und zum Studium der Ursachen vordringen, die in einer historischen Epoche die Herrschaft gerade dieser Ideen und nicht anderer bedingen. Zum Schluß der letzten Vorlesung zeigte ich Ihnen auch die Strömung, aus der diese Lehre hervorgegangen ist. Sie entstand aus der Richtung, die John Locke gewiesen hat: 1. Es gibt keine angeborenen Ideen; 2. die Ideen bilden sich aus der Erfahrung und 3. was die praktischen Ideen betrifft, so bedingt das Interesse (das allgemeine, nicht das persönliche) die Einreihung dieser Handlungen in die Kategorie der guten, jener in die Kategorie der schlechten. Das ist das, was wir schon wissen. Versuchen wir nun, etwas Neues zu erfahren. Ein großes historisches Ereignis trennt das achtzehnte Jahrhundert vom neunzehnten – die Französische Revolution, die über Frankreich wie ein Wirbelsturm dahinbrauste, die alte 11

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Zweite Vorlesung<br />

(15. März 1901)<br />

Wenn die Wiederholung – wie ein lateinisches Sprichwort sagt – die Mutter der Weisheit ist,<br />

ist die Zusammenfassung ihr Verwalter. Sie zieht die Bilanz dessen, was schon bekannt ist<br />

und erklärt seine Bedeutung. Ich beginne darum meine zweite Vorlesung mit einer Zusammenfassung<br />

des Vorhergegangenen.<br />

Ich sagte, daß die theologische Geschichtsauffassung in der Erklärung des historischen Prozesses<br />

und des Fortschritts des Menschengeschlechts durch das Wirken einer oder mehrerer<br />

übernatürlicher Kräfte, durch den Willen eines oder mehrerer Götter besteht.<br />

Dann untersuchte ich die Geschichtsphilosophie des hl. Augustinus und Bossuets und zeigte,<br />

daß die Geschichtsphilosophie Bossuets vor der Geschichtsphilosophie des hl. Augustinus<br />

den großen Vorzug hat, daß sie sich von der Erklärung der historischen Entwicklung durch<br />

das unmittelbare Schalten Gottes lossagte und auf der Forderung bestand, die Teil-<br />

[16]ursachen der historischen Ereignisse oder, mit anderen Worten, ihre natürlichen Ursachen<br />

zu suchen.<br />

Die Suche nach den natürlichen Ursachen der Ereignisse ist eine Absage an den theologischen<br />

Standpunkt und ein Übergehen zum wissenschaftlichen Standpunkt, denn der wissenschaftliche<br />

Standpunkt besteht in der Erklärung der Erscheinungen aus ihren natürlichen Ursachen<br />

und in der völligen Abstrahierung von jeglichem Einfluß übernatürlicher Kräfte.<br />

Ich zitierte Ihnen Voltaire, der da sagte, er überlasse alles Göttliche denen, die es zu bewahren<br />

haben, ihn selbst interessierten nur die historischen Tatsachen, d. h. die natürlichen Ursachen.<br />

Der Standpunkt Voltaires, wie auch der aller französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts,<br />

war ein wissenschaftlicher Standpunkt. Da aber die Wissenschaft selbst sich auch<br />

entwickelt, fortschreitet, mußten wir den Standpunkt Voltaires etwas genauer untersuchen.<br />

Und wir fanden, daß es ein idealistischer Standpunkt war, d. h. daß Voltaire, wie alle Philosophen<br />

des 18. Jahrhunderts – auch die, die in ihrer Naturauffassung Materialisten waren<br />

(Holbach, Helvétius u. a.) –‚ den historischen Prozeß durch die Evolution der Ideen oder, wie<br />

man in jener Zeit sagte, der Meinungen erklärte.<br />

Beim Übergang zur Kritik dieser Geschichtserklärung sagte ich, daß sie in beschränktem<br />

Maße wahr sei, denn der Gedanke (die Meinung) hat wirklich einen großen Einfluß auf das<br />

Verhalten der Menschen. Dann fügte ich jedoch hinzu, daß das Entstehen und die Entwicklung<br />

des Denkens durch bestimmte Gesetze geleitet wird und daß der Historiker demzufolge<br />

die Ideen nicht als die Hauptursache und tiefste Ursache des historischen Prozesses ansehen<br />

kann. Wer das Studium dieses Prozesses vertiefen will, muß weitergehen und zum Studium<br />

der Ursachen vordringen, die in einer historischen Epoche die Herrschaft gerade dieser Ideen<br />

und nicht anderer bedingen.<br />

Zum Schluß der letzten Vorlesung zeigte ich Ihnen auch die Strömung, aus der diese Lehre<br />

hervorgegangen ist. Sie entstand aus der Richtung, die John Locke gewiesen hat: 1. Es gibt<br />

keine angeborenen Ideen; 2. die Ideen bilden sich aus der Erfahrung und 3. was die praktischen<br />

Ideen betrifft, so bedingt das Interesse (das allgemeine, nicht das persönliche) die Einreihung<br />

dieser Handlungen in die Kategorie der guten, jener in die Kategorie der schlechten.<br />

Das ist das, was wir schon wissen. Versuchen wir nun, etwas Neues zu erfahren.<br />

Ein großes historisches Ereignis trennt das achtzehnte Jahrhundert vom neunzehnten – die<br />

Französische Revolution, die über Frankreich wie ein Wirbelsturm dahinbrauste, die alte<br />

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