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[1] Lenin als Philosoph Inaugural-Dissertation Genehmigt Von der ...

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OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 35<br />

muß sie notwendigerweise auch zu einer Ablehnung aller Apriorität gelangen. jede Erscheinung<br />

wird nicht <strong>als</strong> nur momentan dem Bewußtsein gegeben und „seiend“ betrachtet, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>als</strong> Entwicklungsprodukt gesehen und in einen historischen Werdegang eingeordnet. Wenn<br />

man in je<strong>der</strong> Beziehung diese Frage stellt, kann man auch zu gar keiner an<strong>der</strong>en Anschauung<br />

<strong>als</strong> <strong>der</strong> von Marx, Engels und <strong>Lenin</strong> vertretenen kommen, daß es gar keine Begriffe a priori<br />

gibt, die nur unserer menschlichen Vernunft eigentümlich sind (ist doch diese Vernunft selbst<br />

erst ein Entwicklungsprodukt); es ist dabei gleichgültig, ob es sich um die notiones communes<br />

[Allgemeinbegriff] o<strong>der</strong> ideae innatae [angeborene Ideen] <strong>der</strong> Rationalisten o<strong>der</strong> um die Anschauungsformen<br />

Raum und Zeit <strong>der</strong> Kantianer handelt. Wenn die Vernunft selbst nichts<br />

Feststehendes ist, können diese ja nicht von Anfang an in ihr enthalten sein, son<strong>der</strong>n man kann<br />

nur sagen, daß die Ideen davon bei ganz bestimmten Menschen in einer ganz bestimmten Zeit<br />

aufgetreten sind, sich <strong>als</strong>o entwickelt – und dann allerdings von Geschlecht zu Geschlecht<br />

modifiziert fortgeerbt haben. Das Wesentliche an <strong>der</strong> ganzen <strong>Philosoph</strong>ie ist daher die <strong>Philosoph</strong>iegeschichte,<br />

da sie <strong>als</strong> Ganzes genommen ja einen Überblick über die Relativität und<br />

Entwicklungsfähigkeit des Denkens gibt und <strong>als</strong> eine Darstellung des dialektischen Denkprozesses<br />

gelten kann.<br />

Wie sehr die Dialektik mit dem Empirismus verbunden ist und wie radikal durch diese Verbindung<br />

jede Apriorität geleugnet wird, geht am deutlichsten aus <strong>der</strong> Stellung des Marxismus<br />

zur Mathematik hervor. Denn auch sie ist „nicht im Kopf aus reinem Denken entsprungen“,<br />

son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Erfahrung hergeleitet worden. „Die Begriffe von Zahl und Figur sind nirgend<br />

an<strong>der</strong>s hergenommen, <strong>als</strong> aus <strong>der</strong> wirklichen Welt. Die zehn Finger, an denen die Menschen<br />

zählen, <strong>als</strong>o die erste arithmetische Operation vollziehn gelernt haben, sind alles andre, nur<br />

nicht eine freie Schöpfung des Verstandes. Zum Zählen gehören nicht nur zählbare Gegenstände,<br />

son<strong>der</strong>n auch schon die Fähigkeit, bei Betrachtung dieser Gegenstände von allen übrigen<br />

Eigenschaften abzusehen außer ihrer Zahl – und diese Fähigkeit ist das Ergebnis einer<br />

langen geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Entwicklung. Wie <strong>der</strong> Begriff Zahl, so ist <strong>der</strong><br />

Begriff Figur ausschließlich <strong>der</strong> Außenwelt entlehnt, nicht im Kopf aus dem reinen Denken<br />

entsprungen ... Ehe man auf die Vorstellung kam, die Form eines Zylin<strong>der</strong>s aus <strong>der</strong> Drehung<br />

eines Rechtecks um eine seiner Seiten abzuleiten, muß man eine Anzahl wirklicher Rechtecke<br />

und Zylin<strong>der</strong>, wenn auch in noch so unvollkommener Form, untersucht haben. Wie alle an<strong>der</strong>n<br />

Wissenschaften ist die Mathematik aus den Bedürfnissen <strong>der</strong> Menschen hervorgegangen: aus<br />

<strong>der</strong> Messung von Land und Gefäßinhalt, aus <strong>der</strong> Zeitrechnung und Mechanik. Aber wie in allen<br />

Gebieten des Denkens werden auf einer gewissen Entwicklungs-[41]stufe die aus <strong>der</strong> wirklichen<br />

Welt abstrahierten Gesetze von <strong>der</strong> wirklichen Welt getrennt, ihr <strong>als</strong> etwas Selbständiges<br />

gegenüber gestellt, <strong>als</strong> von außen kommende Gesetze, wonach die Welt sich zu richten hat 85* .<br />

So ist es in Gesellschaft und Staat hergegangen, so und nicht an<strong>der</strong>s wird die reine Mathematik<br />

nachher auf die Welt angewandt, obwohl sie eben dieser Welt entlehnt ist und nur einen Teil<br />

ihrer Zusammensetzungsformen darstellt – und gerade nur deswegen überhaupt anwendbar ist“<br />

(Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>der</strong> Wissenschaft, S. 25 f.) 86 .<br />

Wenn <strong>Lenin</strong> die Dialektik u. a. auch <strong>als</strong> die „Erkenntnistheorie des Marxismus“ bezeichnet, so<br />

will er damit sagen, daß auch die Erkenntnistheorie selbst dem dialektischen Prozeß unterworfen<br />

ist und daß „die Dialektik überhaupt <strong>der</strong> gesamten menschlichen Erkenntnis eigen ist“.<br />

„Die Dialektik <strong>als</strong> eine lebendige, vielseitige (bei ewig zunehmen<strong>der</strong> Zahl von Seiten) Erkenntnis<br />

mit einer Unzahl von Schattierungen jeglicher Art, Schattierungen <strong>der</strong> Annäherung an<br />

die Wirklichkeit (mit einem philosophischen System, das sich aus je<strong>der</strong> Schattierung zu einem<br />

Ganzen auswächst) – dies <strong>der</strong> unermeßlich reiche Inhalt, verglichen mit dem ‚metaphysischen‘<br />

85* [Dieser Satz] Vom Verf. hervorgehoben.<br />

86 Marx/Engels: Werke, Band 20, S. 36.

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