[1] Lenin als Philosoph Inaugural-Dissertation Genehmigt Von der ...
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OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 19<br />
schaftliche und das naturwissenschaftliche Außenweltsbild, <strong>der</strong> naive und <strong>der</strong> physikalische<br />
Realismus <strong>der</strong> Wahrheit nahe kommen, daß sie in wesentlichen Punkten richtig sind? Wie will<br />
man denn an<strong>der</strong>s diese erstaunliche Bewährung erklären? Wenn unsere Sinneswahrnehmungen<br />
immerfort sich so verhalten, <strong>als</strong> ob insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> physikalische Realismus zu Recht<br />
bestände, so liegt doch ein sehr gewichtiger Grund zu <strong>der</strong> Vermutung, daß er tatsächlich im<br />
wesentlichen zu Recht besteht“ (Erich Becher, Einführung in die <strong>Philosoph</strong>ie, S. 139).<br />
Für <strong>Lenin</strong> ist Materialismus nichts an<strong>der</strong>es <strong>als</strong> die (naiv-realistische) Überzeugung. daß die<br />
Dinge <strong>der</strong> Außenwelt existieren, daß sie an sich da sind. „Der Materialismus ist Anerkennung<br />
<strong>der</strong> ‚Objekte an sich‘ o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Objekte außerhalb des Geistes“ (<strong>Lenin</strong>, M. u. E., S. 7) 28 . Das<br />
bedeutet nicht, daß er behauptet, sie seien so, wie sie uns erscheinen, wie wir sie durch unsere<br />
Sinne wahrnehmen. Die Frage nach <strong>der</strong> essentia [Wesen] <strong>der</strong> Dinge wird nicht dahin beantwortet,<br />
sie seien schlechthin so, wie sie uns durch die Sinneswahrnehmung gegeben sind. Die<br />
existentia [Existenz] <strong>der</strong> Dinge aber ist für <strong>Lenin</strong> nicht problematisch, denn es steht von<br />
vornherein fest, auf Grund <strong>der</strong> naiv-realistischen Überzeugung und des „gesunden Menschenverstandes“,<br />
daß sie da sind, daß sie existieren, außerhalb unseres Bewußtseins, unabhängig<br />
von unserem Bewußtsein. Es erscheint <strong>Lenin</strong> unnötig, hierüber weiter zu reflektieren.<br />
Auch hieraus spricht die schon dargelegte Werthaltung, das Klasseninteresse. die Klassenpsychologie.<br />
Der Mensch des täglichen Lebens wird die Frage, ob er glaube, daß die Welt auch<br />
nach seinem Tode, <strong>als</strong>o nach dem Erlöschen seines individuellen Bewußtseins, genau so weiter<br />
existiere wie bisher, zwar nicht „für ihn“, aber „an sich“, mit Ja beantworten. Dies wird sogar<br />
<strong>der</strong> Solipsist tun müssen, insoweit er eben nicht Solipsist ist, d. h. ein Mensch, <strong>der</strong> in manchen<br />
Minuten seines Lebens über das Erkenntnisproblem nachgrübelt, son<strong>der</strong>n ein Mensch, <strong>der</strong> wie<br />
je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e atmet, ißt und trinkt und sich zu <strong>der</strong> Außenwelt eben so verhält, <strong>als</strong> ob sie selbständig<br />
wäre. <strong>Lenin</strong> hat kein Interesse daran, diesen Standpunkt zu verlassen, <strong>der</strong> für das<br />
praktische Leben ja doch allein entscheidend ist, und lehnt jede an<strong>der</strong>e Auffassung <strong>als</strong><br />
„Hirngespinst“, <strong>als</strong> „Metaphysik“ und <strong>der</strong>gleichen mehr ab. Nur wenn das Proletariat es versteht,<br />
an <strong>der</strong> naiv-realistischen Erkenntnistheorie Genüge [25] zu finden und den Ausbau des<br />
mit ihm weitestgehend übereinstimmenden „physikalischen“ Realismus den verschiedenen<br />
Naturwissenschaften zu überlassen, nur dann kann es ganz seine historische Aufgabe erfüllen,<br />
die auf einem an<strong>der</strong>en Gebiete liegt <strong>als</strong> auf dem rein theoretischer Spekulation. Die Aufgabe<br />
<strong>der</strong> materialistischen und naiv-realistischen Überzeugung, <strong>der</strong> „auffallend verbreiteten Meinung“,<br />
wie Berkeley sagt, „daß Häuser, Berge, Flüsse, mit einem Wort, alle sinnlichen Objekte,<br />
eine natürliche o<strong>der</strong> reale Existenz haben, welche von ihrem Perzipiertwerden durch den<br />
denkenden Geist verschieden ist“, kann für das Proletariat ebenso böse Folgen haben, wie für<br />
den christlichen Theologen Berkeley nach seinem eigenen Zugeständnis die Anerkennung <strong>der</strong><br />
Außenwelt <strong>als</strong> außerhalb unseres Bewußtseins existierend. Denn Berkeley erlaubt seine religiöse<br />
Überzeugung nur. den Geist <strong>als</strong> das Primäre, ja <strong>als</strong> das einzig wirklich Existierende zu<br />
betrachten. Sind doch „aus <strong>der</strong> Lehre von <strong>der</strong> Materie o<strong>der</strong> körperlichen Substanz ... auch alle<br />
jene unfrommen Systeme des Atheismus und <strong>der</strong> Religionsverwerfung hervorgegangen“<br />
(Berkeley, Abhandlung über die Prinzipien des menschlichen Verstandes. § 96). „Die Existenz<br />
einer Materie o<strong>der</strong> unwahrgenommener Körper ist nicht nur die Hauptstütze <strong>der</strong> Atheisten und<br />
Fatalisten gewesen, son<strong>der</strong>n auf dem nämlichen Prinzip ruht ebenso auch <strong>der</strong> Götzendienst in<br />
allen seinen mannigfachen Formen.“ Aller Zweifel an <strong>der</strong> Existenz <strong>der</strong> Außenwelt und ihrer<br />
Erkennbarkeit aber, <strong>als</strong>o jedes Aufgeben des naiv-realistischen Standpunktes hat für <strong>Lenin</strong> und<br />
für das gesamte Proletariat die entgegengesetzten „bösen Folgen“, nämlich die Hinneigung<br />
zum Idealismus und schließlich zur Religion. <strong>Lenin</strong> ist eifrig bemüht, aufzuzeigen, wohin <strong>der</strong><br />
Empiriokritizismus, für den die Körner nicht real existieren, son<strong>der</strong>n nur Empfindungskom-<br />
28 Das Zitat lautet korrekt: „Materialismus ist die Anerkennung <strong>der</strong> ‚Objekte an sich‘ o<strong>der</strong> außerhalb des Geistes“.<br />
<strong>Lenin</strong>: Werke, Band 14, S. 16.