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Komplette Ausgabe

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5<br />

Der einsame Hirte.<br />

Stille Nacht – einsam wacht<br />

Still ist die Nacht - still und gedankenschwer. Der strahlende<br />

Glanz des Tages ist erloschen ebenso wie die strahlende Präsenz<br />

meiner selbst. Verlassen sitze ich jetzt, in der Winterzeit<br />

meines Lebens, hier am Tisch und suche nach jenem Licht, das<br />

dieser Abend, dieser eine Abend, der Glück und Segen<br />

verheißt, in sich tragen soll. Die Freuden der Weihnacht,<br />

Frieden bringend und Ruhe verheißend, sind verblasst, sind<br />

viel zu ruhig, zu friedlich, zu einsam.<br />

Die Stube, einst gefüllt mit Leben, erfüllt vom Geschrei der<br />

Kinder und beseelt von den Menschen, die hier gemeinsam<br />

wohnten, arbeiteten und lebten, ist leer. Jeder Balken, jedes<br />

Möbelstück und jeder Gegenstand ist durch und durch getränkt<br />

vom Geist längst vergangener Zeiten, vergangener Menschen.<br />

Hier wurde ich geboren, hier wuchs ich auf und erlebte Liebe,<br />

Freude und Trauer. Heute, am Ende meiner Tage, bin ich allein,<br />

lebe von Erinnerungen und warte auf jenen Moment, wo auch<br />

ich in den Kreis all meiner Lieben, in Gottes Schoß, eingehen<br />

darf. Einsamkeit um mich herum. Eine Stille, die mich anschreit,<br />

Verzweiflung, die als Sehnsucht verkleidet mein Herz quält,<br />

und eine kummerschwere Müdigkeit, die auf meinen Augen<br />

und meinem Verstand lastet.<br />

Ist das der Lohn für ein erfülltes, arbeitsreiches, sorgenvolles aber<br />

auch glückliches Leben? Ist es das unausweichliche Schicksal<br />

des Alters, dass nach der Gemeinsamkeit die Einsamkeit folgt?<br />

Wie viele Male musste ich mich selbst vorantreiben, mich<br />

selbst ermutigen und mir selbst meiner Kraft bewusst werden,<br />

um weiter zu kommen – um zu wachsen. Wie viele Male war<br />

es mein Geist, mein Wille und mein Glaube, die mich zu Dingen<br />

führten, für die mein Verstand viel zu klein war.<br />

Wie schön war es, sorgenfrei als Kind an das Christkind zu<br />

glauben. Wie aufregend in der Jugend, die Welt, meine kleine<br />

Welt, zu erforschen und ihren Horizont abzustecken. Wie<br />

stolzerfüllt war jene Zeit, als ich die Liebe fand und die Kinder<br />

aufwachsen sah. Ich lernte, dass trotz aller Sorgen und Nöte<br />

das "Danach" immer besser, erfüllter und reicher war. Wie<br />

schmerzvoll war es, die Lieben gehen zu lassen, und wie traurig<br />

wurde ein Weihnachten um das andere, weil immer weniger<br />

Menschen an meiner Seite standen, da waren. Bis ich, dem<br />

Schicksal folgend, alleine übrig blieb.<br />

Und doch können Einsamkeit, Trauer und Selbstmitleid nur<br />

dann Oberhand gewinnen, wenn ich es zulasse. Verloren<br />

ist, wer verloren sein will, und das war und ist nicht meine<br />

Haltung, nicht das Spektrum meines Geistes, nicht die Route<br />

der Reise meiner Seele. Ich kann etwas tun, kann helfen - ja ich<br />

kann ein Segen für andere sein. Verblasst sind Einsamkeit und<br />

Mutlosigkeit, verweht die Schwere, die auf mir lastet. Wenn<br />

schon niemand zu mir kommt, dann gehe ich zu anderen.<br />

Ich bin der Engel der Weihnacht und muss keine Flügel haben,<br />

um zu fliegen. Und wie jeder Mensch bin auch ich gesandt und<br />

kann der Welt Licht, Liebe und Wärme geben. Ich kann Freunde<br />

besuchen, zu den Nachbarn gehen, Freude bereiten, helfen und<br />

Zeit schenken. Ich kann der dienende König sein, kann mir das<br />

Christuskind zum Vorbild nehmen, das trotz seiner strahlenden,<br />

alles überragenden Schönheit, allein zum Wohle der Menschen<br />

in diese Welt kam.<br />

Ich bin Weihnachten, der Träger des Lichtes, der hinausgeht,<br />

um es zu verbreiten. Ich bin derjenige, der anderen jenes Gefühl<br />

vermittelt, das Gott uns vor über 2 000 Jahren mit der Geburt<br />

seines Sohnes schenkte.<br />

Ich bin ein Hirte, mit all meinen Zweifeln und Fehlern. Und<br />

doch, dank der Gnade, berufen, das Wunder zu schauen. Das<br />

Wunder der Weihnacht, das Wunder meiner Wandlung, das<br />

Wunder des sich Öffnens. Ich bin ein Mensch und habe die<br />

Wahl, mich für alles zu entscheiden, das mir gut tut, nicht nur<br />

an diesem besonderen Tag, sondern an allen Tagen.<br />

S. Taler

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