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Der einsame Hirte.<br />
Stille Nacht – einsam wacht<br />
Still ist die Nacht - still und gedankenschwer. Der strahlende<br />
Glanz des Tages ist erloschen ebenso wie die strahlende Präsenz<br />
meiner selbst. Verlassen sitze ich jetzt, in der Winterzeit<br />
meines Lebens, hier am Tisch und suche nach jenem Licht, das<br />
dieser Abend, dieser eine Abend, der Glück und Segen<br />
verheißt, in sich tragen soll. Die Freuden der Weihnacht,<br />
Frieden bringend und Ruhe verheißend, sind verblasst, sind<br />
viel zu ruhig, zu friedlich, zu einsam.<br />
Die Stube, einst gefüllt mit Leben, erfüllt vom Geschrei der<br />
Kinder und beseelt von den Menschen, die hier gemeinsam<br />
wohnten, arbeiteten und lebten, ist leer. Jeder Balken, jedes<br />
Möbelstück und jeder Gegenstand ist durch und durch getränkt<br />
vom Geist längst vergangener Zeiten, vergangener Menschen.<br />
Hier wurde ich geboren, hier wuchs ich auf und erlebte Liebe,<br />
Freude und Trauer. Heute, am Ende meiner Tage, bin ich allein,<br />
lebe von Erinnerungen und warte auf jenen Moment, wo auch<br />
ich in den Kreis all meiner Lieben, in Gottes Schoß, eingehen<br />
darf. Einsamkeit um mich herum. Eine Stille, die mich anschreit,<br />
Verzweiflung, die als Sehnsucht verkleidet mein Herz quält,<br />
und eine kummerschwere Müdigkeit, die auf meinen Augen<br />
und meinem Verstand lastet.<br />
Ist das der Lohn für ein erfülltes, arbeitsreiches, sorgenvolles aber<br />
auch glückliches Leben? Ist es das unausweichliche Schicksal<br />
des Alters, dass nach der Gemeinsamkeit die Einsamkeit folgt?<br />
Wie viele Male musste ich mich selbst vorantreiben, mich<br />
selbst ermutigen und mir selbst meiner Kraft bewusst werden,<br />
um weiter zu kommen – um zu wachsen. Wie viele Male war<br />
es mein Geist, mein Wille und mein Glaube, die mich zu Dingen<br />
führten, für die mein Verstand viel zu klein war.<br />
Wie schön war es, sorgenfrei als Kind an das Christkind zu<br />
glauben. Wie aufregend in der Jugend, die Welt, meine kleine<br />
Welt, zu erforschen und ihren Horizont abzustecken. Wie<br />
stolzerfüllt war jene Zeit, als ich die Liebe fand und die Kinder<br />
aufwachsen sah. Ich lernte, dass trotz aller Sorgen und Nöte<br />
das "Danach" immer besser, erfüllter und reicher war. Wie<br />
schmerzvoll war es, die Lieben gehen zu lassen, und wie traurig<br />
wurde ein Weihnachten um das andere, weil immer weniger<br />
Menschen an meiner Seite standen, da waren. Bis ich, dem<br />
Schicksal folgend, alleine übrig blieb.<br />
Und doch können Einsamkeit, Trauer und Selbstmitleid nur<br />
dann Oberhand gewinnen, wenn ich es zulasse. Verloren<br />
ist, wer verloren sein will, und das war und ist nicht meine<br />
Haltung, nicht das Spektrum meines Geistes, nicht die Route<br />
der Reise meiner Seele. Ich kann etwas tun, kann helfen - ja ich<br />
kann ein Segen für andere sein. Verblasst sind Einsamkeit und<br />
Mutlosigkeit, verweht die Schwere, die auf mir lastet. Wenn<br />
schon niemand zu mir kommt, dann gehe ich zu anderen.<br />
Ich bin der Engel der Weihnacht und muss keine Flügel haben,<br />
um zu fliegen. Und wie jeder Mensch bin auch ich gesandt und<br />
kann der Welt Licht, Liebe und Wärme geben. Ich kann Freunde<br />
besuchen, zu den Nachbarn gehen, Freude bereiten, helfen und<br />
Zeit schenken. Ich kann der dienende König sein, kann mir das<br />
Christuskind zum Vorbild nehmen, das trotz seiner strahlenden,<br />
alles überragenden Schönheit, allein zum Wohle der Menschen<br />
in diese Welt kam.<br />
Ich bin Weihnachten, der Träger des Lichtes, der hinausgeht,<br />
um es zu verbreiten. Ich bin derjenige, der anderen jenes Gefühl<br />
vermittelt, das Gott uns vor über 2 000 Jahren mit der Geburt<br />
seines Sohnes schenkte.<br />
Ich bin ein Hirte, mit all meinen Zweifeln und Fehlern. Und<br />
doch, dank der Gnade, berufen, das Wunder zu schauen. Das<br />
Wunder der Weihnacht, das Wunder meiner Wandlung, das<br />
Wunder des sich Öffnens. Ich bin ein Mensch und habe die<br />
Wahl, mich für alles zu entscheiden, das mir gut tut, nicht nur<br />
an diesem besonderen Tag, sondern an allen Tagen.<br />
S. Taler