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Leseprobe_VergissdieVergangenheit.pdf

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IatrosEXKLUSIVE LESEPROBE


Über die Autorin:Sabine Mary Kunz, 1970 in Offenbach am Main geboren, lebt mitihrem Ehemann und ihren drei Kindern in einem kleinen Dorf inRheinhessen.Die schon als Kind mit reichlich Fantasie gesegnete Autorinbrachte im Dezember 2012, durch Musik inspiriert, ihr Erstlingswerk„Versuchung küsst finnisch“ heraus. Im Januar 2014 folgteder zweite Teil der „Finnisch“-Trilogie „Liebe lebt finnisch“.Dass sich die Autorin nicht auf ein bestimmtes Genre festlegenwill, beweist sie mit ihrem neuesten Roman „Vergiss die Vergangenheit“.2


Hilfe! Wo bist du? Ich habe Angst! Warum kommst du nicht, um mir zu helfen?ER tut mir weh, ER schlägt mich und macht Sachen, die ich nicht will Paps, ERtut mir so weh!…und ich schreie und schreie und rufe und rufe nach dir – und du kommst nicht!Du lässt mich im Stich, liebst mich nicht mehr!? Ich verspreche auch mich zu bessern– ich werde mich bessern, wenn du mir nur endlich zu Hilfe kommst. ER hat gesagt,ER kommt wieder und wieder und wieder...Hier sind Ratten, bestimmt sind hier Ratten - und Spinnen, ganz viele Spinnen!Du hast immer dafür gesorgt, dass in meinem Zimmer keine Spinnen sind – warumhilfst du mir jetzt nicht? Paps, ich ekle mich vor Spinnen, das weißt du doch und vorRatten habe ich Angst, ganz fürchterliche Angst. Aber noch mehr Angst habe ich vordem Mann, dem Maskenmann! Wenn ER wiederkommt, tut ER mir bestimmtwieder weh – so weh!Ich will nach Hause. Ich will zu Mutter. Ich glaube, ich fange an durchzudrehen.Ich höre ihre Stimme – Mutters Stimme. Sie will mir helfen – bestimmt will sie mirhelfen! Aber ER lässt sie nicht zu mir – ich hasse IHN und habe Angst vor IHM.Paps, bitte komm und hol mich... mit Mutter! Ich werde ganz brav sein, nie wiederwerde ich weglaufen oder böse sein. Nie wieder, Paps! Ich verspreche es!Bitte, bitte, bitte, hol mich hier raus……Paps, Paps, Paps…3


Donnerstag, 13. August 2009 - Mainzer LandgerichtVincenzo Montebello stand fassungslos in der ersten Reihe desLandgerichts Mainz. Wie betäubt starrte er seinem Vater, der Sekundennach der Urteilsverkündung aufgesprungen war, nach undsah, wie dieser schnellen Schrittes, ohne sich noch einmal umzudrehen,den Gerichtssaal verließ.Vincenzos Blick ging ins Leere. Nur am Rande bekam er mit,dass sich die Verteidiger und der Angeklagte Frank Minska beglückwünschtenund Minskas Familie freudestrahlend zu der kleinenGruppe an die Anklagebank trat.Sein Kopf schwirrte, sein Herz klopfte hart in seiner Brust, alser langsam, wie betäubt, den kurzen Weg zwischen den Zuschauerreihenentlang zum Ausgang schritt.Freispruch!Vincenzo konnte es nicht glauben. Wie gut, dass seine Schwesterden Freispruch nicht miterleben musste. Stefanie war heuteMorgen unter der Aufsicht einer Pflegerin zu Hause geblieben.Sie hätte den Ausgang der Verhandlung nicht ertragen - nicht nochmehr ertragen können, als sie schon erlebt hatte.Er verließ zögerlich das Gebäude und schaute suchend nachseinem Vater, aber alles, was er fand, waren die Gesichter vonSchaulustigen und Reportern.Er schritt die paar Stufen hinab und verharrte dort. Und jetzt?Was sollte er tun? Er fühlte eine innerliche Leere.Hinter ihm entstand Tumult, als die Verteidiger mit dem freigesprochenenAngeklagten das Gerichtsgebäude verließen. Sofortstürmte eine Meute Journalisten die wenigen Stufen empor undan ihm vorbei. Sie umringten die drei Männer und stellten ihnen,durcheinanderrufend, Fragen.Vincenzo drehte sich um und schaute emotionslos dem Treibenzu. Er spürte noch nicht einmal mehr die Wut, die ihn die letztenTage wie ein gehetztes Tier umhergetrieben hatte.4


Er wusste nicht, wie lange er dort stand und ausdruckslos vor sichhinstarrte. Langsam wurde es um ihn herum wieder ruhiger, die Reporterbekamen ihre Interviews und die Schaulustigen spürten, dasses nichts mehr zu sehen gab. Der Platz vor dem Gerichtsgebäudeleerte sich allmählich.Er wollte ebenfalls gehen, als er aus dem Augenwinkel seinenVater auf sich zukommen sah. Er konnte dessen angespannter Mienenichts entnehmen – nichts deutete darauf hin, was nur Sekundenspäter passieren sollte.Erleichtert, seinen Vater zu sehen, ging er langsam einen Schrittauf ihn zu. Ein vulgäres, lautes Lachen veranlasste ihn jedoch innezuhaltenund sich umzudrehen. Er sah auf Frank Minska, der nurwenige Meter vor ihm immer noch auf der Treppe des Gerichtsgebäudesstand. Minska lachte mit weitaufgerissenem Mund undseine kleinen Schweinsaugen strahlten siegesgewiss.Ihm wurde schlecht. Er spürte, wie die grenzenlose Wut wiederkehrte- am liebsten hätte er ihm dieses widerliche Grinsen ausdem Gesicht geschlagen.Und als ob seine Gedanken Schläge verteilen könnten, wich indiesem Moment das nunmehr breite Grinsen aus Frank MinskasGesicht. Auch in den Mienen seiner beiden Anwälte konnte Vincenzoplötzlich blankes Entsetzen lesen. Ihre Blicke hefteten sichpanisch auf einen Punkt hinter ihm.Noch vertieft in die Genugtuung, die dieser Anblick - das panischeEntsetzen der Drei - in ihm hervorrief, drehte er sich wiederzu seinem Vater um. Er verharrte in der Bewegung, als er im selbenMoment hörte, wie Schüsse durch die Luft hallten. Instinktiv warfer sich auf den Boden. Unter seinen schützend über den Kopf gehaltenenArmen hindurch konnte er sehen, dass sein Vater mit einerSchnellfeuerwaffe auf die drei Männer vor dem Gerichtsgebäudeschoss.Die Szene, die er sah, war wie aus einem Film und er wünschte,jemand würde diesen anhalten. Aber der Film ging weiter und5


Vince hörte Schreie - panische Schreie. Er sah, dass die letztennoch verweilenden Zuschauer kreischend Reißaus nahmen. DieReporter ließen ihre Kameras und Mikros fallen und versuchtenin Deckung zu gehen. Ebenfalls panisch schaute er sich um. Erversuchte einen Blick auf die drei Männer zu erhaschen, konnte sieaber im ersten Moment nicht sehen. Verwirrt hob er seinen Kopfein wenig an und starrte auf einen Punkt vor dem Gerichtsgebäude.Und da sah er sie. Dort, wo sie vor einem kurzen Augenblick nochlachend gestanden hatten, lag jetzt der blutüberströmte Körper vonMinska und die zwei Anwälte kauerten zusammengekrümmt in einerriesigen Blutlache auf den Treppenstufen. Das ganze dauertenur wenige Sekunden.Er versuchte gerade, entgeistert die Situation zu erfassen, alser erneut einen Schuss hörte. Seine Augen wanderten suchend zurückzu seinem Vater. Aber auch dieser stand nicht mehr. Er lag nurwenige Meter vor ihm, mit weit aufgerissenen Augen und Blut auseiner kleinen Wunde an der rechten Schläfe sickernd.Vincenzo Montebello rappelte sich mühsam auf und kniete Sekundenspäter vor seinem Vater und blickte in dessen friedvolles, fastschon zufrieden wirkendes Gesicht.Fassungslos griff er nach der Hand seines Vaters und versuchte,seine rasenden Gedanken zu kontrollieren. Wieso? Warum?Wie hatte Leonardo Montebello, seines Zeichens selbst Staatsanwalt,das Recht in seine eigene Hand nehmen können?Tränen der Verzweiflung liefen Vince die Wange herab undtropften auf den nur noch flach atmenden Brustkorb seines Vaters.Dienstag, 29. Mai 2012 - Oppenheim am RheinDas Geschriebene lag schwer in seiner Hand. Vince drehte es um,so dass er die Buchstaben, die über die Jahre verblasst waren,nicht mehr sehen musste. Obwohl er das Blatt Papier nach jedemBetrachten wieder schützend in eine Folie verpackt und in einer6


Schublade aufbewahrt hatte, konnte man die Zeilen kaum noch lesen.Er wollte sie auch nicht mehr lesen, nicht mehr sehen, damit erendlich aufhören konnte zu grübeln.Aber konnte er überhaupt aufhören? Und wie konnte er seinstetiges Nachdenken beenden? In regelmäßigen Abständen holte erdie letzten Zeilen seines alten Herrn hervor und las sie wieder undwieder, als ob er sie zum ersten Mal sehen würde. Er musste sienicht mehr lesen, er kannte sie auswendig.Erneut blickte er auf das leicht vergilbte, durch etliche Wutausbrüchevon seiner Faust zerknitterte und immer wieder fein säuberlichglatt gestrichene Blatt. Er suchte nach dem Sinn der Worte,versuchte sie zu verstehen und - wie meist - zu vergessen! Er warteteauf die Tränen - die Tränen, die er nunmehr seit drei Jahrennicht weinen konnte. Aber sie wollten nicht kommen, wollten nichtfließen, sie waren versiegt - seit drei Jahren versiegt!Vergesse, wenn du vergessen kannst! Verstehe, wenn du verstehenwillst! Suche, wenn du suchen sollst! Verzeihe, wenn du verzeihenkannst, willst oder sollst!!Verzeihen? Wie konnte er verzeihen? Sein Vater hatte seine Familieausgelöscht. Und nicht nur seine. Noch zwei andere, unschuldigeFamilien mussten unter dem schrecklichen Verbrechen leiden.Wie konnte er das verzeihen?Er legte das Blatt auf dem großen Mahagonischreibtisch zurSeite und schlug erneut die Zeitung auf, die auf der eingegangenenPost von heute lag.Ein oberflächlicher Leser hätte die kleine Notiz auf Seite fünfder heutigen Ausgabe überlesen. Nicht wie noch vor drei Jahren,als es groß und reißerisch auf Seite eins gestanden hatte. DiesesMal gab es nur eine Kurzmitteilung zum Ermittlungsverfahren:Der Fall „Staatsanwalt begeht Dreifachmord“ ruht weiterhin.Offensichtlich gab es keine neuen Erkenntnisse, da auch heute,drei Jahre nach dem Mord, der Hauptverdächtige, sein Vater, immernoch im Koma lag. Augenscheinlich hatten die Journalisten7


nun das Interesse an dem Fall verloren. Kurz beklagte die Pressenoch den Verlust von zwei erstklassigen Anwälten und sprach vomLeiden der unglücklichen Angehörigen. Hier wurde besonders dieFamilie des damals freigesprochenen Angeklagten Frank Minskaerwähnt sowie die jungen Tochter des Verteidigers, Sanni Hansson.Sie hatte durch den Amoklauf nicht nur ihren Vater sowie ihrenVerlobten verloren, sondern kurz darauf auch noch ihre Mutter beisetzenmüssen, die sich nur wenige Tage nach dem Tod des Ehemannsdas Leben genommen hatte.Er blätterte weiter zum Regionalteil der Zeitung. Hier fander unter „Fragen und Antworten“ einen Kommentar des hiesigenSensationsreporters, Leander Großmann, der in seiner Kolumneschrieb:Heute stellt sich uns nur eine Frage: Wo ist die junge SanniHansson? Die Villa in Wiesbaden Sonnenberg liegt verlassenund das bereits seit dem Geschehen vor gut drei Jahren. Die Heckensind übermächtig geworden. Sie lassen nur noch wenigeBlicke auf das einst so gepflegte Anwesen der Familie Hanssonfrei. Der Blick, der sich dort im Kleinen bietet, ist nicht sehenswert- ein verlassener und verfallener Pool; eine bröckelnde,vermooste Terrasse sowie eine Gartenhütte mit zerbrochenenScheiben. Wo befindet sich die junge Eigentümerin des Hauses?Warum veräußert sie dieses ehemals so herrschaftlicheHaus nicht, anstatt es verfallen zu lassen. Das werden wir, liebeLeserinnen und Leser, wohl nie erfahren. Denn trotz eifrigenNachforschungen meinerseits, bleibt Sanni Hansson seit MitteOktober 2009 verschwunden!Wütend zerriss Vincenzo Montebello den Teil der Tageszeitung,bis sie nur noch in kleinen Fetzen in seinem Büro herumflog.Seine Miene war versteinert – er wirkte verhärmt. Mit jedem Tagkamen mehr Zornesfalten dazu. Sein früher stets lächelnder Mundwar verkniffen, seine einst strahlend blauen Augen hatten ihrenGlanz verloren.8


Vor Zorn bebend umklammerte er eine alte italienische Steinskulptur,die er zum Beschweren seiner Post nahm. Er drückte sofest zu, dass sich die Adern seiner Hand hart abzeichneten und ereinen druckvollen Schmerz spürte. Er drückte weiter zu – immerfester!Er suchte einen Ersatzschmerz. Alles war besser als dieser unsägliche,nicht mehr enden wollende Schmerz der eisigen Hand,die sein Herz kalt umfasste. Er wollte diesen Schmerz in der Brustnicht mehr spüren, diesen unglaublichen, zerreißenden Schmerz,der ihn seit dem Tag, als sein Vater zum Mörder wurde und er diesenMörder mit einem Loch im Kopf und weit aufgerissenen Augenauf der belebten Straße hatte liegen sehen, nicht mehr los ließ. DieserSchmerz, der ihn hart gemacht hatte, der ihn verfolgte in jederverdammten Minute seines jungen Lebens.Er, sein Vater - der Mörder - hatte ihn alleine gelassen! Alleinemit seiner schwachsinnigen, nichts mehr wahrnehmenden kleinenHalbschwester, für die er seither die Verantwortung trug und mitdieser Verpflichtung er kaum fertig wurde.Mit einem heftigen Bersten der Glasvitrine, die dem Schreibtischgegenüber mit Alkoholika gefüllt stand, löste sich der Druckin seiner Hand. Die Statue fiel laut zu Boden und Flaschen gingenbeim Aufschlag zu Bruch. Eine Jack Daniels Falsche tanzte nochkurz auf dem unterem Glasboden, der heil geblieben war, bevor sielangsam, wie in Zeitlupe, zu Boden fiel, zerbrach und ihre brauneFlüssigkeit sich ebenfalls auf dem Parkett verteilte.Laut fluchend griff er nach den letzten Zeilen seines Vaters. DerDruck in Vincenzos Hand hatte beim Werfen der Statue nachgelassen– aber der Druck auf seinem Herzen blieb!Vergesse, wenn du vergessen kannst! Verstehe, wenn du verstehenwillst! Suche, wenn du suchen sollst! Verzeihe, wenn du verzeihenkannst, willst oder sollst!!„Vince?“Sein Kopf flog herum und er schaute in die entsetzen Augen9


seiner Verlobten.„Jana! Ich..mir...“, er rang nach Worten, „...verdammte Scheiße,was soll‘s!“Er war zu müde, um sich Entschuldigungen aus den Fingernzu saugen. Teilnahmslos blickte er auf die Frau, die ihn liebte, dieimmer für ihn da war – bedingungslos. Er versuchte, seine Gefühlezu ordnen, unter Kontrolle zu bringen. Aber er schaffte es nicht.„Lass das!“ Harsch fuhr er sie an, als sie sich wortlos bückte, umdie Scherben aufzuheben.„Soll ich im Krankenhaus anrufen, mich krank melden und mitdir fahren?“ Sie machte einfach weiter – bückte sich nach jederScherbe, warf sie in den Papierkorb und sprach mitfühlend zu ihm:„Stefanie erwartet dich. Schaffst du das heute?“Ihre liebevolle Art machte ihn noch rasender.„Natürlich schaffe ich das. Und was heißt: Sie wartet auf mich?Sie merkt doch eh nichts mehr!“„Das stimmt nicht, Vince, und das weißt du auch!“ Sie stelltedie Hälfte der zerbrochenen Jack Daniels Flasche auf seinenSchreibtisch. „Sie braucht dich heute. Es ist ihr 22. Geburtstag!Wenn du magst komme ich...“„...nein! Du brauchst nicht mitkommen. Ich fahre allein!“Ohne ein weiteres Wort schritt er an ihr vorbei und ging aus seinemArbeitszimmer zur Haustür. Krachend fiel diese hinter ihm insSchloss. Er atmete tief ein und versuchte den immer noch gewaltigenZorn, sein innerliches Beben zu kontrollieren. In seiner Jeansnach dem Autoschlüssel kramend, ging er die Eingangstreppen hinunter.Er lebte mit Jana im Haus seines Vaters in der Altstadt in Oppenheim,einer kleinen Weinbaugemeinde am Rhein. Von der Straßeaus war ihr Anwesen nicht einsehbar. Man musste erst durch dasTor eines alten Gebäudes gehen und nach gut fünfzig Metern führteeine Auffahrt hinauf, die links und rechts von dicht bewachsenenWeinreben umrankt war. Am Ende des steilen Weges eröffnete sich10


der Blick auf eine Parkanlage von knapp zweitausend Quadratmetern,in der ein mit weißen Rheinsteinen markierter Weg zum Hausführte. Das Haus war noch einmal einige Meter weiter oben erbautworden und ermöglichte somit den Bewohnern einen traumhaftenBlick, sowohl über die Stadt mit der geschichtsträchtigen Katharinenkirche,als auch auf den Fluss, bis hin zum weit entfernt liegendenOdenwald. Ein großzügiger Outdoor-Swimmingpool, ein Jacuzzi,eine Grillhütte und ein kleines Wäldchen direkt am Anwesenmachten das wunderschöne Ambiente perfekt.Das alles nahm Vince aber schon lange nicht mehr wahr – heuteschon gar nicht.Laut fluchend lief er den Weg entlang zu seinem Auto und dachtedabei über Jana nach. Tief im Inneren wusste er, dass er ungerechtzu ihr war. Aber er konnte - er wollte - es momentan nichtändern.Als er den Motor anließ, holte er tief Luft und fuhr sich mit derHand durch seine widerspenstigen schwarzen Locken. Eine knappdreistündige Fahrt lag vor ihm. Genug Zeit, um sich wieder zu beruhigen,bevor er seiner kleinen Schwester gegenübertreten würde.Die Kette – Mist! Er hatte sein Geschenk für sie im Haus vergessen.Letzte Woche hatte er in einem Schaufenster eines Juweliergeschäftsin der Mainzer Innenstadt, nicht weit von seiner Praxisentfernt, eine zarte, silberne Halskette mit einem Schutzengel alsAnhänger entdeckt. Unwillkürlich hatte er an Stefanie denken müssen.So viele Dinge erinnerten ihn an seine kleine, einst lebenslustigeSchwester. Auch seine Tätigkeit als Allgemeinmediziner bliebvon seinen oft hilflosen Gedanken nicht verschont. Wenn jungeMädchen zu ihm kamen, sah er vor sich Stefanie – eine lachende,stets unbeschwerte Stefanie.Vince drehte den Zündschlüssel wieder herum und haderte kurzmit sich, ob er nochmals zurückgehen sollte. Noch in seine Grübeleienvertieft, nahm er ein zaghaftes Klopfen an die Beifahrerscheibewahr. Jana!11


Er spürte Reue. Er wusste, dass Jana die Letzte war, die seinenZorn verdiente. Hastig öffnete er die Fahrertür, stieg aus und gingmit schnellen Schritten ums Auto. Wortlos zog er seine Verlobte indie Arme und drückte sie fest an sich. Sie schwieg ebenfalls, löstesich von ihm, reichte ihm das kleine Päckchen mit der Kette, drehtesich um und ging zurück ins Haus.Er blickte ihr lange nach. Er wusste, dass er mit ihr reden, sichentschuldigen, sich erklären musste.Heute Abend, wenn ich zurück bin! Noch als er darüber nachdachte,setzte er sich wieder ins Auto und fuhr los.Es war Dienstagmorgen, ein Tag nach Pfingsten. Auf den StraßenRichtung Schwarzwald war nicht viel los, da Baden-WürttembergFerien hatte. Zur Mittagszeit könnte er also am Sanatoriumsein, mit seiner Schwester eine Stunde verbringen und dann wiederverschwinden.Während er sicher die ihm wohlbekannte Strecke auf der A5entlang fuhr, schweiften seine Gedanken ab, wie jedes Mal, wenner sich auf dem Weg zu Stefanie befand……Freitag, 13. Februar 2009, der Tag, als seine kleine Halbschwesterwieder nach Hause gekommen war - am ganzen Körpermit blauen Flecken und offenen Wunden übersät. Noch heute konnteVince Stefanies Schreie hören: „Nicht mein Körper, nicht meinKörper...nein... nein... nein…“Sonntag, den 12. August 2012 - IrlandGedanken…Stille, die nur durch das Blöken der Schafe, das Wiehern der Pferde,das Muhen der Kühe oder das Atmen der Fische unterbrochenwird. Kannst Du das Atmen der Fische hören? Erst dann hörst Dudie Stille Irlands!„The calm, honey-eyed young woman?”, fragend, die Zigarettezwischen den letzten noch verbliebenen Zähnen geklemmt, den12


echten Arm auf einen Besen gestützt, schaute der alte Mann denReisebusfahrer, der vor ihm stand, an.„Ja, wir suchen, die junge Frau mit den Honigaugen. UnserenGästen wurde gesagt, dass sie ihre wunderschönen Gedanken überIrland aufschreibt und mit selbstgemalten Bildern der irischenLandschaft verkauft. Leider haben wir sie in Clonmacnoise nichtangetroffen, obwohl uns gesagt wurde, dass sie sich meist dort aufhält.Jetzt hoffen wir, dass Sie uns vielleicht weiterhelfen könnten?“Der Busfahrer, der zugleich auch Reiseführer war, war neuin diesem Geschäft und hatte mit Verwunderung festgestellt, dassTouristen auf so etwas wie schwermütige Gedichte, alte Mythenund Zeichnungen der irischen Landschaft standen und alles daransetzten,um solch ein extravagantes Souvenir mit nach Hause zubringen. Heute begleitete er den Ausflug einer russischen Reisegruppeund konnte langsam die Ungeduld der Fahrgäste spüren.Darum bat er den alten Mann noch einmal eindringlich, ihm dochweiterzuhelfen.„Da muss ich Sie leider enttäuschen, ich kann Ihnen auch nichtweiterhelfen. Versuchen Sie es doch am Lough Ree, am CoosanPoint, da ist sie auch des Öfteren zu finden.“Dankend tippte der Busfahrer sich an die Mütze, stieg wieder inden Bus und fuhr weiter.Als er an dem kleinen Hafen anhielt, das Fenster heruntergekurbelthatte und nach ein paar spielenden Kindern rief, fragte er auchdiese nach der Frau mit den Honigaugen.Aber auch hier hatte er keinen Erfolg. Die Kinder deuteten aufeine in dicke Decken gehüllte Person, die am Ufer des Sees saß undEnten fütterte. Sie meinten das Old Gràinne ihm vielleicht weiterhelfenkönnte.Widerwillig stieg er erneut aus und ging schnellenSchrittes zu der alten Frau.„Entschuldigen Sie...“ Erschrocken wich er einen Schritt zurück,als die Frau sich ihm zuwandte und er in das Gesicht derAlten blickte. Sie war verrunzelt und eingefallen und auch ohne13


dass sie den Mund öffnete, konnte man sehen, dass sie keine Zähnemehr besaß. Aber schlimmer noch waren die Augen. Das eineriesengroß und blassblau wie Wasser, das andere tiefhängend undhalb geschlossen, so dass nur ein Schlitz zu sehen war. Ihr ganzesGesicht war von Narben übersät und die grauen Haare fielen ihrsträhnig in die Stirn.Gràinne - die Schrecken verbreitende, hier stimmte sprichwörtlichdie Übersetzung des Namens. Der Busfahrer scheute sich beinahesie weiter anzusprechen. Auch er war Ire, ein junger Ire, nichtabergläubig – aber beim Blick in dieses alte, wie verwunscheneGesicht kamen ihm Erinnerungen an Kindheitserzählungen vonHexen und Gnomen, von Zauberern und Flüchen. Es schauderteihn. Er warf einen Blick über die Schulter zum Bus und den Reisenden– er musste die alte Frau weiterfragen, die Gäste wolltenwissen, wo die Honigaugen-Frau war.„Ähh, ich… ich suche die Frau mit den Honigaugen. KönnenSie mir vielleicht weiterhelfen?“Die Alte öffnete ihren zahnlosen Mund, um auszuspucken. IhrAuge, das große blaue, sah ihn durchdringend an.Erneut verspürteer, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief. „Du suchst Honigauge?“Sie sprach krächzend mit einem tiefen Akzent.Aus welcher Gegend Irlands sie stammte, konnte der jungeMann aus den wenigen Worten nicht heraushören.„Ja! Können Sie mir helfen?“„Sie ist heute nicht hier!“Er wollte schon entnervt erwidern, dass er das auch sehe, abermit einer abwehrenden Geste ihrer geschrumpelten rechten Hand,an der zu seinem Schreck zwei Finger fehlten, brachte sie ihn zumSchweigen.„Heute ist der 12. August. Da ist sie nie zu finden.“ Ihre Stimmeklang nun geheimnisvoll. Sie senkte das eine Augenlid und hieltsich ihre verkrüppelte Hand über die Augen. Ihr Blick ging RichtungSee, als sie mystisch weitersprach: „Seit März 2010 lebt14


Honigauge nun hier, an den Flussläufen des Shannons. Sie hat etwasRätselhaftes an sich. Keiner weiß, woher sie gekommen ist undkeiner weiß, wohin sie jedes Jahr im August für gut eine Wocheverschwindet. Du wirst sie nicht finden, nicht vor dem Zwanzigstendes Monats. Ihr Boot liegt verlassen im Hodson Bay. Versuch eserst gar nicht – sie würde es als störend empfinden, gefunden zuwerden. Sie ist rätselhaft, fast unheimlich...“, die Alte stockte undstarrte gedankenverloren auf die Nebelschwaden, die langsam überden Lough Ree zogen.„Könnte sie vielleicht…“„Ahhh… nein, geh! Geh!“ Einen schrillen, fast vogelgleichenSchrei ausstoßend unterbrach die Alte ihn. „Du wirst sie nicht finden.Schau in den Nebel, so unergründlich ist auch die Seele vonHonigauge. Geh! Sie ist mysteriös, unheimlich…“, mehr zu sichselbst als zu dem Busfahrer sprechend, brabbelte sie weiter vor sichhin, „…unergründlich, geheimnisvoll, gespenstig…“Nun wurde es dem jungen Iren noch mulmiger zu Mute – werwar hier gespenstig? Verärgert ging er zurück zum Bus. Wie sollteer das den Touristen erklären?Die Alte drehte sich schwerfällig um und schaute dem jungenMann lange nach.Ja, die Frau mit den Honigaugen zu finden war schwer!Vergiss die Vergangenheit von Sabine Mary KunzISBN 978-3-86963-517-0Iatros-Verlag & Services GmbHwww.iatros-verlag.de – info@iatros-verlag.dewww.sabine-mary-kunz.de – kontakt@sabine-mary-kunz.de15


Sabine Mary KunzVergiss dieergangenheitPaps…Paps, wo bist du? Wo bin ich? Mein Kopf tut weh… ich blute…Paps, ich blute!!! Hier ist es dunkel – furchtbar dunkel… finster!Durch die Tür scheint ein Licht… ich möchte nach Hause.Die Tür geht langsam auf… und da steht ER, der Maskenmann…ER kommt auf mich zu… Paps, ich habe Angst!Eine Faust trifft mich in die Magengrube, ich übergebe michund fange an zu schreien, zu weinen…Ich höre ein Lachen – ER lacht… und schlägt erneut zu…Eine grausame Schändung der Schwester!Ein unfassbarer Mord des Vaters!Ein Mann, der nicht verstehen kann!Eine Frau, die die Vergangenheit vergessen will!Eine Suche, die nie geführt wurde!Wie kann Vincenzo Montebello seinem Vater verzeihen, wenn ihmniemand die Chance zum Verstehen gibt?Er begibt sich auf die Suche… eine Suche, die ihn nach Finnland undIrland führt, wo er hofft, Antworten zu finden, um endlich verstehen,vergessen und verzeihen zu können.16

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