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Neue Szene Augsburg 2015-08

Das Stadtmagazin für Augsburg und Umgebung. Aktuelle Info und Veranstaltungskalender unter www.neue-szene.de

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Eine Kindheit in KabulAshraf Massoud (Name von der Redaktion geändert)ist 17 Jahre alt, seine Familie ist nicht arm, siegehört zur gehobenen, aber gefährdeten Schichteines der gefährlichsten Länder der Welt. SeinVater ist Regierungsbeamter. In einem „normalen“,westlichen Land wäre das die beste Voraussetzungfür eine materiell gesicherte Existenz. In Afghanistankann ein Posten, wie ihn Ashrafs Vater innehat,das Leben kosten. Die Taliban, die, anders als esdie USA und ihre Verbündeten, darunter Deutschland,behaupten, nicht besiegt wurden, sehen injedem, der für die Regierung oder deren Unterstützerarbeitete, einen Feind. Oft wird die Familie bedroht.Mit diesem Wissen wurde Ashraf groß. Sowie Kinder in Deutschland lernen, nicht bei Rotüber die Ampel zu gehen, lernte er, jeden Tag andereWege zur Schule zu gehen, damit Entführerihm nicht so leicht auflauern können. Ashraf ist einguter Schüler, er besucht eine weiterführendeSchule in einem der besseren Viertel Kabuls. Wennman ihn sieht, könnte man ihn für einen sehr höflichen,zurückhaltenden spanischen Erasmus-Studentenhalten. Er steht kurz vor dem Abschluss,doch dann muss er untertauchen.Die Taliban haben seinen älteren Bruder Raschidentführt. Er hat für die US-Armee als Dolmetschergearbeitet. Drei Tage wartet die Familie auf ein Lebenszeichen,manchmal fordern die Taliban einhohes Lösegeld, manchmal töten sie ihre Geiseln.Am vierten Tag findet man die Leiche Raschids amStadtrand. Ashrafs Vater berät sich mit Vertrauten:Soll er seinen Posten bei der Regierung aufgeben?Die Taliban würden ihn dennoch als Feind betrachten.Soll er den Rest der Familie in Sicherheit bringen?Er überlegt. Wieder vergehen Tage. Ashrafverlässt das Haus, er hält die drückende Stimmungnicht aus, will frische Luft schnappen. Doch die Talibanhaben ihre Informanten im Wohnviertel. Sieentführen auch Ashraf und verschleppen ihn in einBasislager. Er wird verhört, die Taliban wollen Insiderwissenüber die Regierung, über Gebäude, Arbeitsabläufe,Sicherheitsvorrichtungen. Ashrafweiß nichts davon. Er wird gefoltert. Die Narbensieht man noch heute in seinem Gesicht. Wenn manihn fragt, was genau die Taliban ihm angetanhaben, wendet er sich ab und schweigt. Nach zweiTagen kommt die Rettung, eine afghanische Spezialeinheitstürmt das Lager und befreit ihn.Die Flucht beginntAshrafs Vater beschließt, dass sein Sohn das Landverlassen soll. Nach Europa, nach Deutschland, inSicherheit. Wieso Deutschland? Weil Deutschlanddas sicherste Land ist, sagt Ashraf. Wer Afghanistanmit diesem Ziel verlassen will, muss in allerRegel Schleuser engagieren. Es gibt, wie bei Reisebüros,„gute“ Schleuser und üble Schleuser, zu welcherSorte die gehören, die man beauftragt,erfahren die Flüchtlinge oft erst während derFlucht. Die guten sind die, die einen gesund bis ansvereinbarte Ziel bringen. Die üblen Schleuser lassendie Flüchtlinge oft im Stich, oder verkaufen sie alsArbeitssklaven, oder vergewaltigen sie, oder fordernLösegeld von der Familie und wenn sie esnicht zahlen kann, foltern und töten sie ihre Opfer.Dieses Risiko geht jeder Flüchtling ein, in manchenGegenden und Routen ist die Gefahr größer in anderenkleiner, wirklich berechenbar ist es nie.Ashrafs Vater zahlt den Schleusern 15.000 Dollar.Mitte Februar beginnt die Flucht, mit dem Autofährt Ashraf zusammen mit drei weiteren Flüchtlingenund zwei Schleusern in Richtung Iran. Siefahren zwei Tage. Vorbei an unzähligen Polizeiposten,auch an denen von lokalen Warlords, manchewollen Geld, wer da gerade ihren Checkpoint passiert,ist den meisten egal.IranIm Iran muss Ashraf aussteigen. Der Fahrer kehrtum, Richtung Afghanistan. Ashraf und die anderengehen zwei Wochen zu Fuß durch den Iran. Bisdorthin haben die Schleuser ihr Versprechen gehalten.Er muss sich völlig auf den Mann, der ihn RichtungTürkei führt, verlassen. Nachts ist es in denBergen bitterkalt, manchmal findet die Gruppe eineHütte, in der sie Feuer machen, essen und schlafenkann. Im Freien wird kein Feuer gemacht, iranischeSicherheitskräfte würden den Schein kilometerweitsehen, die Gruppe will kein unnötiges Risiko eingehen.Eines Morgens ist einer aus der Gruppe verschwunden,der Schleuser zuckt gleichgültig mitden Schultern und sagt: „Inschallah“ – „So Gottwill“. Ashraf sieht seinen Schicksalsgenossen niewieder. Nach zwei Wochen erreichen sie die Türkei.Ashraf ist glücklich, manche Flüchtlinge sind einJahr lang nach Europa unterwegs, müssen auf demWeg dorthin immer wieder arbeiten, um dienächste Teilroute bezahlen zu können.TürkeiIn der Türkei geht es mit dem Lastwagen weiter,Ashraf sitzt mit einem Dutzend weiterer Flüchtlingeauf der Ladefläche zwischen Kisten voll verdorbenemObst und chinesischem Kinderspielzeugund fährt durch Anatolien Richtung Griechenland.Der Weg führt über die Ägäis. Nachts wartet er mitzehn anderen Flüchtlingen an irgendeinem leerenStrand an der türkischen Küste, alle sind still, siewarten zwei Stunden, dann hören sie das Röhreneines Bordmotors, in der Ferne blinken zwei Positionslichterauf. Der Schleuser, der die Gruppe begleitet,lässt zweimal kurz seine Taschenlampeaufleuchten, dann nähert sich das Boot demStrand. Es ist ein einfaches Schlauchboot, Rettungswestengibt es selbstredend nicht. Ashraf zögert,er kann nicht schwimmen, der Schleusermahnt zur Eile, er steigt ein. Dichtgedrängt sitzendie Flüchtlinge im Schlauchboot, das von einemnervösen Mittfünfziger mit Kapitänsmütze gelenktwird. Es ist nicht unüblich, dass SchleuserSchlauchboote benutzen, sie sind billig und auf denRadarschirmen schlecht zu erkennen, was freilichtragische Folgen haben kann, wenn das Boot inSeenot gerät, weil es Luft verliert, oder einfach mitzu vielen Menschen beladen ist, oder unwissentlichvon einem Passagierschiff gerammt wird und untergeht.Auch Ashrafs Gefährt verliert Luft, es sammeltsich Wasser zwischen den Füßen derMenschen. Der Kapitän, er nennt sich Mahmoud,fordert die Insassen auf, das Wasser aus dem Bootzu schöpfen. Mit Bechern und Schüsseln kämpfenAshraf und die anderen gegen das eindringendeWasser an, bis zur Erschöpfung, die ganze Nachthindurch. Kapitän Mahmoud ist zufrieden. Irgendwannruft er laut „Greece!“ und zeigt auf einenKüstenstreifen, der sich in der Ferne abzeichnet.BalkanAshraf hat Europa erreicht. Damit liegt der gefährlichsteTeil seiner Flucht hinter ihm. Jetzt geht esdarum, nach Deutschland zu kommen. Nicht inGriechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn oderÖsterreich in einem Flüchtlingslager zu landen.Dabei kommt ihm zugute, dass vor allem die Balkanstaatenkein gesteigertes Interesse daranhaben, Flüchtlinge aufzuhalten, die in den NordenEuropas wollen. Oft wird der Bus oder das Auto, indem Ashraf mit weiteren Flüchtlingen unterwegsist, von der Polizei einfach ignoriert, Grenzübergängemeiden sie trotzdem, stattdessen passierensie die grüne Grenze zu Fuß, gehen durch Wälderund Wiesen, bis sie an vereinbarten Treffpunktenvon Schleusern aufgelesen und weitertransportiertwerden.BayernIrgendwann gelangen sie mit dem Auto über dieösterreichische Grenze und sind in Bayern. WiederBerge, wie so oft auf ihrer Flucht, aber diesmal ineinem sicheren Land. Sie kommen in München an.Der Schleuser lässt sie am Stadtrand aus dem Autosteigen, zeigt ihnen den Weg zum Hauptbahnhof,dort melden sie sich bei der Polizei. Ashraf ist minderjährig,das heißt, dass er nicht wie erwachseneFlüchtlinge in einer normalen Sammelunterkunftuntergebracht wird, sondern im Evangelischen Kinder-und Jugendhilfezentrum in <strong>Augsburg</strong>.<strong>Augsburg</strong>Das erste Mal seit seiner Flucht steht Ashraf nunMenschen gegenüber, denen er trauen kann. ZumBeispiel Mike Wilson,dem Gruppenleiterder Einrichtung. Andersals es die Expertenvom Bundesamtzur Anerkennungausländischer Flüchtlingebald tun, unterziehter Ashrafkeiner detailliertenBefragung, die dasZiel hat, herauszufinden,ob er in seinemHeimatland wirklich um sein Leben fürchten muss.Das erste Mal seit mehr als einem Monat kann erin einem warmen Bett schlafen ohne den nächstenTag oder den nächsten Augenblick fürchten zumüssen. Stattdessen lernt er jetzt Deutsch und willstudieren. In einem halben Jahr, wenn er 18 Jahrealt ist, muss er einen Asylantrag stellen. Dann wirdsich entscheiden, ob die Flucht von Ashraf wirklichzu Ende ist.

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