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Frankfurter Allgemeine Zeitung/ - Politik, Qui, 12 de Abril de 2012<br />
CLIPPING INTERNACIONAL (Europäischen Gerichtshof )<br />
Geschwister ohne Liebe<br />
Das deutsche Inzestverbot ist rechtens. Der<br />
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht im<br />
Verbot der Geschwisterliebe keinen Verstoß gegen die<br />
Menschenrechtskonvention.<br />
Von Reinhard Müller<br />
Inzest bleibt strafbar. Der Europäische Gerichtshof für<br />
Menschenrechte sieht im deutschen Verbot der Verbot<br />
der Geschwisterliebe keinen Verstoß gegen die<br />
Menschenrechtskonvention. Die Straßburger Richter<br />
billigen den Staaten einen weiten<br />
Beurteilungsspielraum zu - schließlich gebe es unter<br />
den 47 Staaten des Europarats keinen Konsens über<br />
die Strafbarkeit des Inzests. Und: Die deutsche<br />
Gerichte hätten sorgfältig abgewogen. In der Tat hatte<br />
sich auch das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall<br />
befasst - und hatte eine eindeutige, wenn auch nicht<br />
einstimmige Entscheidung getroffen.<br />
Nicht zuletzt im Blick auf den konkreten Fall: Nach der<br />
Scheidung der Eltern war der 1976 geborene Patrick<br />
S. von einer Pflegefamilie adoptiert worden. Seine acht<br />
Jahre jüngere Schwester, die in Leipzig aufwuchs, traf<br />
er zum ersten Mal im Jahr 2000. Nach dem Tod der<br />
Mutter begannen die Geschwister eine sexuelle<br />
Beziehung. Die Schwester ist geistig leicht behindert.<br />
2001, 2003, 2004 und 2005 brachte sie vier Kinder zur<br />
Welt, deren Vater ihr Bruder ist. Zwei der Kinder sind<br />
behindert. Als der Inzest bekannt wurde, musste sich<br />
der Vater mehrfach Strafprozessen stellen. Im vierten<br />
wurde er zu einer Freiheitsstrafe von insgesamt<br />
zweieinhalb Jahren verurteilt. Mittlerweile haben sich<br />
die beiden getrennt.<br />
Verbot schon im preußischen Strafgesetzbuch<br />
Es ist eine alte Norm, die den Beischlaf zwischen<br />
Geschwistern unter Strafe stellt. Das Verbot findet sich<br />
schon im preußischen Strafgesetzbuch von 1851 und<br />
dann auch im Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das im<br />
Wesentlichen heute noch gilt. Damals sprach man<br />
noch von „Blutschande“. Schon zu Beginn des 20.<br />
Jahrhunderts gab es Bestrebungen, die Norm zu<br />
streichen, da sie lediglich unmoralisches Handeln<br />
bestrafe. Doch die Vorschrift des Paragraphen 173<br />
überdauerte eine Vielzahl von Reformen. Inzest stelle,<br />
so die Begründung, eine Gefahr für das sittliche<br />
Wesen der Familie und vor allem für die<br />
Nachkommenschaft dar. Die Natio<strong>na</strong>lsozialisten<br />
entschärften die Vorschrift sogar: Sie sahen ihren<br />
Zweck vor allem in der Abwehr von „Erbgefahren“,<br />
erkannten aber darüber hi<strong>na</strong>us kein „völkisches<br />
Schutzbedürfnis“.<br />
Wie jetzt auch der Europäische Gerichtshof für<br />
Menschenrechte war schon das<br />
Bundesverfassungsgericht rechtsvergleichend tätig. Es<br />
holte ein Gutachten beim Max-Planck-Institut für<br />
ausländisches und inter<strong>na</strong>tio<strong>na</strong>les Strafrecht in<br />
Freiburg ein. Dem<strong>na</strong>ch ist Inzest in 13 von 20<br />
untersuchten Staaten verschiedener Rechtskreise<br />
strafbar, nicht aber etwa in Russland, Chi<strong>na</strong>,<br />
Frankreich und den Niederlanden.<br />
Sorgfältiges Abwägen des<br />
Bundesverfassungsgerichts<br />
Die Straßburger Richter kamen jetzt zu dem Schluss,<br />
dass in der Mehrheit der Staaten des Europarats<br />
sexuelle Beziehung zwischen Geschwistern strafbar<br />
sind; alle untersuchten Länder verbieten allerdings die<br />
Ehe zwischen Geschwistern. Folglich gebe es einen<br />
breiten Konsens, dass sexuelle Beziehungen zwischen<br />
Geschwistern weder in der Rechtsordnung noch in der<br />
Gesellschaft anerkannt seien. Die Richter sehen auch<br />
keinen Trend für die Entkrimi<strong>na</strong>lisierung solcher<br />
Beziehungen. Das Bundesverfassungsgericht hat aus<br />
Sicht der Straßburger Richter sorgfältig abgewogen,<br />
was sich auch in der „ausführlichen abweichenden<br />
Meinung eines Richters“ zeige.<br />
Hier handelte es sich um den Strafrechtslehrer<br />
Winfried Hassemer, der kurz vor seinem Ausscheiden<br />
aus dem Gericht gegen die Strafbarkeit des Inzest zu<br />
Felde zog: Es gebe mildere und besser geeignete<br />
Instrumente, die Ziele des Gesetzgebers zu erreichen.<br />
Wer eine „so verunglückte“ Strafdrohung passieren<br />
lasse, „segnet schwere Fehler und Versäumnisse des<br />
Gesetzgebers verfassungsrechtlich ab“, meinte<br />
Hassemer.<br />
Abschreckende Wirkung des Inzestverbots<br />
Die Se<strong>na</strong>tsmehrheit dagegen sprach von<br />
<strong>na</strong>chvollziehbaren Strafzwecken „vor dem Hintergrund<br />
einer kulturhistorisch begründeten, <strong>na</strong>ch wie vor<br />
wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der<br />
Strafwürdigkeit des Inzests, wie sie auch im<br />
inter<strong>na</strong>tio<strong>na</strong>len Recht festzustellen ist“. Hassemer hielt<br />
das für nebulös. Ganz offenbar habe die Vorschrift nur<br />
überkommene oder vermutete Moralvorstellungen,<br />
nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge. Die große<br />
Mehrheit der Richter des Zweiten Se<strong>na</strong>ts meinte<br />
dagegen trotz der nicht ganz klaren Begründung für<br />
die Inzeststrafbarkeit, dass es dem Gesetzgeber<br />
erlaubt sei, den Inzest in dieser Form unter Strafe zu<br />
stellen<br />
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