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Frankfurter Allgemeine Zeitung/ - Politik, Ter, 17 de Abril de 2012<br />
CLIPPING INTERNACIONAL (Verfassungsgericht)<br />
Rederecht im Bundestag Schwache Chefs<br />
Wer das Rederecht von „Abweichlern“ einschränkt,<br />
sägt am Ast, auf dem er sitzt. Die<br />
Fraktionsvorsitzenden stärken damit nicht die<br />
Fraktionsdisziplin, sondern erweisen der<br />
repräsentativen Demokratie einen Bärendienst. Was<br />
würde Herbert Wehner dazu sagen? Wie schlecht<br />
muss es um die Fraktionsdisziplin im Bundestag<br />
bestellt sein, dass das Rederecht soge<strong>na</strong>nnter<br />
Abweichler neu geregelt werden soll? Wie schwach<br />
muss die Autorität der Fraktionsvorsitzenden sein,<br />
dass sie sich eine Wahrung dieser Disziplin offenbar<br />
anders nicht mehr vorstellen können? Wie schwach,<br />
dass sie um jede Sekunde eines Debattenbeitrags<br />
feilschen müssen, der ihren Fraktionsfrieden stören<br />
könnte? Wie selbstherrlich müssen sie gleichzeitig<br />
sein, dass sie deshalb den Bundestagspräsidenten an<br />
die Leine legen wollen? Die beabsichtigte Änderung<br />
der Geschäftsordnung des Bundestags ist nicht nur ein<br />
Machtkampf, der sich im Parlament abspielt. Schon die<br />
von Bundestagspräsident Lammert eigenmächtig<br />
ermöglichten Reden zweier Abgeordneter der<br />
Regierungsfraktionen, die der Euro-Politik von<br />
Regierung und Opposition nicht zustimmen wollten<br />
und nicht mit der üblichen Protokoll-Erklärung<br />
abgespeist werden sollten, fanden nicht im luftleeren<br />
Raum des Bundestags statt. Der Gegenstand selbst<br />
war Thema einer Mitwirkungs- und Demokratiedebatte,<br />
die bis vor das Bundesverfassungsgericht getragen<br />
wurde. Diese Debatte wiederum war vor dem<br />
Hintergrund von „Stuttgart 21“ Teil einer<br />
Ausei<strong>na</strong>ndersetzung darüber, ob direkte<br />
Bürgerbeteiligung nicht besser sei als Repräsentation<br />
und Parlamentarismus. Der „Lammert-Kontroverse“<br />
ge<strong>na</strong>nnte Streit über Rederecht und Redezeit gibt<br />
solchen Zweifeln wie auch Kritik an den nicht immer<br />
einfachen Regeln der repräsentativen Demokratie<br />
neue Nahrung. Die Fraktionsführungen, die so tun, als<br />
gehe es um eine Aufweichung der Fraktionsdisziplin,<br />
sowie der nicht an Selbstunterschätzung leidende<br />
Bundestagspräsident sind in Wahrheit Getriebene<br />
einer Entwicklung, in der aus immer mehr Richtungen<br />
immer umfassendere Beteiligungsrechte gefordert<br />
werden, ohne dass die Möglichkeiten zur Bündelung,<br />
zur Integration, zum Kompromiss und zur<br />
Entscheidungsfindung verbessert würden. Wer nur das<br />
eine sieht, gefährdet angeblich den Parlamentarismus,<br />
wer nur das andere, verpasst Abgeordneten angeblich<br />
einen „Maulkorb“, unterdrückt Minderheiten oder gleich<br />
die ganze Volkssouveränität. Unterstützt wird die<br />
Polarisierung durch den Niedergang alter und die<br />
Entstehung neuer Parteien, dazu durch die<br />
Bekräftigung alter Illusionen und Widersprüche - alles<br />
soll schneller gehen, aber jeder Bürger zu Wort<br />
kommen. Weitere Artikel Reform des Rederechts im<br />
Bundestag: Auch Abweichler dürfen lange reden „Kein<br />
Maulkorb für Abgeordnete“ Debatten im Bundestag:<br />
Widerrede erwünscht Abstimmung im Bundestag:<br />
Mehr als eine Mehrheit Das Parlament sollte der Ort<br />
sein, an dem solche Entwicklungen nicht nur<br />
tatsächlich repräsentiert werden. Die Kontroversen<br />
sollten auch ausgetragen, anschließend aber auch<br />
Entscheidungen getroffen werden. Deutschland hat in<br />
der Weimarer Zeit Erfahrungen mit einem Parlament<br />
gemacht, das erst zersplittert und<br />
entscheidungsschwach war, dann lächerlich gemacht<br />
und ausgehöhlt, schließlich von einer militanten<br />
„Volksbewegung“ entmachtet wurde. Derzeit ist der<br />
Bundestag noch nicht zersplittert, nicht<br />
entscheidungsschwach, schon gar nicht entmachtet.<br />
Aber es gehört im Bürgertum vom Schlage der<br />
Stuttgarter Selbstermächtiger, im Milieu der Linkspartei<br />
und in den Blogs der Piraten schon wieder zum guten<br />
Ton, das Parlament auszuhöhlen und lächerlich zu<br />
machen. Doch es wäre absurd, sollten die<br />
Fraktionsvorsitzenden der „Altparteien“ CDU/CSU,<br />
SPD und FDP deshalb fürchten, die<br />
Funktionstüchtigkeit des Parlaments sei gefährdet.<br />
Ihre Durchsetzungsfähigkeit und somit die Effektivität<br />
des Parlaments sinken nicht dadurch, dass sich<br />
einzelne Abgeordnete aus<strong>na</strong>hmsweise gegen den<br />
Willen der Fraktionsmehrheit im Plenum zu Wort<br />
melden dürfen. Denn auch die Durchsetzungsfähigkeit<br />
des Abgeordneten und die Freiheit des Mandats<br />
nehmen nicht dadurch zu, dass sich ein Mandatsträger<br />
neben, ja gegen seine Fraktion stellt. Die Fraktionen<br />
sind nicht Knebelungsinstrumente für Parteizwecke,<br />
sondern stärken den einzelnen Abgeordneten, indem<br />
sie ihn und das Parlament überhaupt erst<br />
handlungsfähig machen. In Karlsruhe zum Scheitern<br />
verurteilt Je individualistischer, je heterogener die<br />
Gesellschaft, desto wichtiger die Fraktion und die<br />
Fraktionsdisziplin. Nicht umsonst ist der Fall, der jetzt<br />
alles ins Rollen brachte, weniger als ein Präzedenzfall.<br />
Es ist die Aus<strong>na</strong>hme von der Regel, die gestattet sein<br />
muss, um das zulässige Maß an Fraktionsdisziplin<br />
nicht in einen unzulässigen Fraktionszwang zu<br />
verwandeln. Alles andere wäre nicht<br />
verfassungsgemäß: Eine Einschränkung des<br />
Rederechts, neben dem Stimmrecht so etwas wie das<br />
Königsrecht des Abgeordneten, wäre in Karlsruhe<br />
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