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Von Helmut Kerscher, Karlsruhe Sex zwischen Bruder<br />
und Schwester ist hierzulande verboten. Das hat das<br />
Bundesverfassungsgericht zuletzt vor vier Jahren<br />
bestätigt und mit seinem Urteil harsche Kritik auf sich<br />
gezogen. Nun muss der Europäische Gerichtshof für<br />
Menschenrechte über die Liebe eines deutschen<br />
Geschwisterpaares entscheiden - und die alte Debatte<br />
könnte wieder aufflammen.<br />
Tabus zu finden, die es noch zu brechen gilt, ist für<br />
Kunst und Medien schwierig geworden. Auf dem dafür<br />
besonders geeigneten Gebiet der Sexualität regiert<br />
längst die Parole "Erlaubt ist, was gefällt"; der Staat<br />
beschränkt seinen Strafanspruch auf das<br />
Notwendigste. Mit einer Aus<strong>na</strong>hme: Auch bei<br />
Einvernehmen ist der Beischlaf zwischen leiblichen,<br />
erwachsenen Geschwistern <strong>na</strong>ch wie vor strafbar.<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat diesen<br />
Paragraphen vor vier Jahren gebilligt. An diesem<br />
Donnerstag wird sich zeigen, was der Europäische<br />
Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg davon<br />
hält.<br />
Vom Straßburger Urteil wird es abhängen, ob die<br />
Diskussion über die Strafwürdigkeit dieser Form des<br />
Inzests wieder aufleben wird. Für den verurteilten,<br />
heute 35-jährigen Patrick S. kommt die Entscheidung<br />
so oder so zu spät: Seine Strafe hat er mehr als drei<br />
Jahre lang im Gefängnis abgesessen, und die<br />
Beziehung zu seiner jüngeren Schwester, mit der er<br />
vier Kinder gezeugt hat, ist im Lauf des Verfahrens in<br />
die Brüche gegangen. Der Inzest-Paragraph habe<br />
"nicht die Familie geschützt, sondern eine Familie<br />
zerstört", sagt der Dresdner Rechtsanwalt Endrik<br />
Wilhelm, der Patrick S. vertritt.<br />
Bruder und Schwester lernten sich erst als<br />
Erwachsene kennen<br />
Wilhelm meint damit nicht die Herkunftsfamilie der<br />
Geschwister, denn die war schon bei der Geburt der<br />
Schwester zerstört. Die Mutter hatte sich von ihrem<br />
Mann, einem Alkoholiker, scheiden lassen. Sohn<br />
Patrick, den der Vater misshandelt hatte, lebte seit<br />
seinem dritten Lebensjahr in Kinderheimen und<br />
Pflegefamilien. Er und seine Schwester lernten sich<br />
Das letzte Tabu<br />
Süddeutsche Zeitung/ - Politik, Qui, 12 de Abril de 2012<br />
CLIPPING INTERNACIONAL (Europäischen Gerichtshof )<br />
erst als Erwachsene kennen.<br />
Nach dem Tod der Mutter entwickelte sich eine<br />
Liebesbeziehung, aus der in den Jahren 2001 bis 2005<br />
vier Kinder hervorgingen; zwei von ihnen sind<br />
behindert. Für die Zerstörung dieser Familie macht der<br />
Anwalt das Strafrecht und die Gerichte verantwortlich.<br />
Denn Vater Patrick wurde gleich mehrmals wegen<br />
"Beischlafs zwischen Verwandten" zu Freiheitsstrafen<br />
verurteilt. Rechtsmittel und Verfassungsbeschwerde<br />
blieben erfolglos.<br />
Heftige Diskussion über Inzestverbot<br />
Das Karlsruher Gericht erklärte den zugrunde<br />
liegenden Paragraphen 2008 für verfassungsgemäß.<br />
Er diene dem Schutz von Ehe und Familie und der<br />
sexuellen Selbstbestimmung, außerdem verringere er<br />
die Gefahr von Erbschäden. Gerechtfertigt sei die<br />
Strafbarkeit auch wegen der in der Gesellschaft "<strong>na</strong>ch<br />
wie vor wirkkräftigen Überzeugung von der<br />
Strafwürdigkeit des Inzests". Im Übrigen würden die<br />
"Möglichkeiten intimer Kommunikation nur punktuell<br />
verkürzt", das soll heißen: Bloß der Vagi<strong>na</strong>lverkehr sei<br />
verboten, alles andere nicht.<br />
Der damalige Gerichtsvizepräsident Winfried<br />
Hassemer stemmte sich mit einem scharfen<br />
Sondervotum gegen die Meinung seiner sieben<br />
Kollegen. Diese hätten eine verunglückte<br />
Strafandrohung aufrechterhalten; die Begründung<br />
dafür laufe darauf hi<strong>na</strong>us, das Lebensrecht behinderter<br />
Kinder zu verhindern.<br />
Nach dem Urteil, das in der Wissenschaft recht<br />
einhellig kritisiert wurde, gab es eine heftige<br />
Diskussion über das Inzestverbot. Damals lobte die<br />
FDP-Abgeordnete Sabine<br />
Leutheusser-Sch<strong>na</strong>rrenberger Hassemer und kündigte<br />
eine "öffentliche Ausei<strong>na</strong>ndersetzung" an. Die Debatte<br />
erinnere sie an jene über die Strafbarkeit von<br />
homosexuellen Handlungen zwischen Männern, und<br />
der entsprechende Paragraph 175 sei auf Betreiben<br />
der FDP aufgehoben worden. An diesem Donnerstag<br />
kann sich Leutheusser-Sch<strong>na</strong>rrenberger erneut zu<br />
einer "Inzestentscheidung" äußern, nun als<br />
Bundesjustizministerin.<br />
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