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Frankfurter Allgemeine Zeitung/ - Politik, Dom, 15 de Abril de 2012<br />
CLIPPING INTERNACIONAL (Europäischen Gerichtshof )<br />
Tabu verträgt keine Begründung<br />
Das Inzest-Urteil des Europäischen Gerichtshofes wirft<br />
mehr Probleme auf, als es zu lösen vorgibt.<br />
Deutschland muss zu einer eigenen Regelung im<br />
Umgang mit einem kaum mehr begründbaren Tabu<br />
finden.<br />
Von Oliver Tolmein<br />
Am leichtesten hatten es die Leser der „Bild“-Zeitung:<br />
In einer Blitzumfrage befanden 87 Prozent der 32.000<br />
Teilnehmer: „Ja, das Urteil ist richtig. Inzest soll tabu<br />
bleiben.“ Dass sie keine Argumente brauchten,<br />
sondern nur ein starkes Gefühl, war dem Thema<br />
angemessen.<br />
Eine der Besonderheiten des Tabus ist ja gerade, dass<br />
es keiner Begründung bedarf; für die, die unter seiner<br />
Herrschaft stehen, verbietet sich der Tabubruch von<br />
selbst. Der Tabubruch bedarf, zumindest ursprünglich,<br />
auch keiner gesellschaftlichen Sanktion, weil sich das<br />
verletzte Tabu selbst rächt. Reden und argumentieren<br />
darf nur, wer das Tabu brechen will.<br />
Wer das Tabu in eine strafrechtliche Vorschrift<br />
überführt, in der ein Verhalten überprüfbar unter<br />
Tatbestandsmerkmale subsumiert werden muss, hat<br />
damit das Seine dazu beigetragen, es zu zerstören und einer Entscheidung den Weg zu ebnen, wie der 4.<br />
Strafse<strong>na</strong>t des Bundesgerichtshofes sie vor anderthalb<br />
Jahren (richtigerweise) getroffen hat, als er einen<br />
Vater vom Vorwurf des Verstoßes gegen Paragraph<br />
173 Strafgesetzbuch freisprach, weil „der Angeklagte<br />
die Geschädigte ausschließlich gezwungen hat, an<br />
ihm Oralverkehr auszuüben; dies genügt für den<br />
Tatbestand des Beischlafs zwischen Verwandten aber<br />
nicht“. Mit einer mehrjährigen Freiheitstrafe bestraft<br />
wurde der Angeklagte damals selbstverständlich<br />
dennoch - aber eben wegen sexuellen Missbrauchs<br />
von Schutzbefohlenen und nicht wegen Verstoßes<br />
gegen das Inzestverbot.<br />
Strasburger Zurückhaltung<br />
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte<br />
konnte es sich in seiner aktuellen Entscheidung in<br />
Sachen „Stübing gegen Deutschland“ nicht so einfach<br />
machen wie der Boulevard und seine Leser. Er musste<br />
Gründe dafür anführen, dass die Verurteilung des<br />
Klägers wegen des Verstoßes gegen Paragraph 173<br />
des deutschen Strafgesetzbuches einer drängenden<br />
gesellschaftlichen Notwendigkeit entsprach und<br />
deswegen keinen Verstoß gegen Artikel 8 der<br />
Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt.<br />
Wie zu erwarten, sind die Straßburger Richter bei<br />
ihrem Versuch gescheitert, eine Vorschrift zu<br />
begründen, die in erster Linie ein gesellschaftliches<br />
Tabu wahren soll. Also haben sie es sich so leicht wie<br />
möglich gemacht, indem sie sich auf die vier Jahre alte<br />
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im<br />
selben Fall gestützt und dessen These übernommen<br />
haben, dass die strafrechtliche Verfolgung des Inzests<br />
aus einer Reihe von Gründen angemessen sei: sie<br />
diene nämlich dem Schutz der Familie, des<br />
Selbstbestimmungsrechts und der öffentlichen<br />
Gesundheit.<br />
Tatsächlich ging es den Straßburger Richtern wohl<br />
auch weniger um die Aufrechterhaltung des Tabus als<br />
darum, sich in einem Konflikt, in dem es auch um<br />
grundlegende moralische und ethische Fragen geht,<br />
zurückzuhalten. In solchen Fällen, so argumentieren<br />
sie überzeugend, könnten <strong>na</strong>tio<strong>na</strong>le Autoritäten<br />
grundsätzlich besser als ein inter<strong>na</strong>tio<strong>na</strong>les Gericht<br />
beurteilen, was die jeweiligen moralischen<br />
Erfordernisse sind. Bemerkenswerterweise haben die<br />
Straßburger Richter sich in ihrer aktuellen<br />
Entscheidung über den deutschen Inzestfall daher<br />
gleich mehrfach auf ihr zehn Jahre zurückliegendes<br />
Urteil in der Sache Diane Pretty bezogen, eine<br />
Engländerin, die in Straßburg ebenfalls erfolglos<br />
gegen das in England geltende Verbot der Beihilfe<br />
zum Suizid stritt.<br />
Ein kaum begründbares Tabu<br />
Damit ist aber auch die Grenze der Straßburger<br />
Entscheidung markiert, die gerade nichts darüber<br />
besagt, ob Paragraph 173 des deutschen<br />
Strafgesetzbuches eine gute oder angemessene<br />
Regelung ist, die bestehen bleiben sollte. Festgestellt<br />
haben die von der Parlamentarischen Versammlung<br />
des Europarates gewählten Richter lediglich, dass die<br />
Regelung nicht gegen die Europäische<br />
Menschenrechtskonvention verstößt.<br />
Dem deutschen Gesetzgeber bleibt es dennoch<br />
unbenommen, wie jetzt der Grünen-Politiker Christian<br />
Ströbele vorgeschlagen hat, dem Beispiel Frankreichs,<br />
der Niederlande, Spaniens, der Türkei, Luxemburgs,<br />
Sloweniens oder der Ukraine zu folgen und das<br />
Inzestverbot aus dem Strafgesetzbuch zu streichen,<br />
da er ratio<strong>na</strong>l so wenig begründbar wie angesichts der<br />
wenigen, zudem fast immer auch durch andere,<br />
erheblich besser zu begründende Vorschriften unter<br />
Strafe gestellten Fälle erforderlich ist: Wieso soll<br />
beispielsweise einem Mann in der Patchwork-Familie<br />
der Beischlaf mit der Stieftochter erlaubt, der Beischlaf<br />
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