<strong>CHAN</strong> <strong>10153</strong> <strong>BOOK</strong>.<strong>qxd</strong> 20/4/07 12:00 pm Page 10Prokofjew: Iwan der Schreckliche / BalladeIwan der Schreckliche, op. 116Prokofjews erste Filmmusik war die für LeutnantKische (1934), doch seine Filmkarriere hätte beinaheschon 1925 begonnen, als er aufgefordert wurde, dieMusik zu Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin zuliefern. Das Vorhaben schlug jedoch fehl, und diebeiden Männer kamen erst 1938 bei denDreharbeiten von Alexander Newski zusammen. Siewaren Seelenverwandte, was ihre Schöpferkraftanging; im Anschluss an diesen Erfolg schmiedetensie Pläne für weitere gemeinsame Filme, doch dieerwiesen sich zunächst als unausführbar. Prokofjew,der im Kaukasus an Semjon Kotko arbeitete, konntesich nicht um die Musik für Fergana-Kanal kümmern,einen Film, dessen Produktion auf halbem Wegeingestellt wurde. Prokofjew setzte seine Arbeit mitder Verlobung im Kloster (1940–41) und Krieg undFrieden (1941–52) fort, während Eisenstein 1940 amBolschoi-Theater Die Walküre inszenierte. Man hoffte,dass er Prokofjews Krieg und Frieden folgen lassenwürde, doch daraus wurde nichts: Eisenstein gingEnde 1941 in die kasachische Hauptstadt Alma-Ata,wohin man die Filmindustrie evakuiert hatte. Dennochwandte er sich, als er seinen (erst als Zwei-, dann alsDreiteiler geplanten) epischen Film über den ZarenIwan Groznyi aus dem 16. Jahrhundert begann, derFilmmusik wegen an Prokofjew.Iwan, der mit drei Jahren den Thron bestiegenhatte, ließ sich 1547 mit sechzehn Jahren zum “Zaraller Reußen” krönen, und führte während seinerbekanntermaßen grausamen Herrschaft ungeheureVeränderungen in seinem Land herbei. Auf territorialeExpansion bedacht, erhöhte er Russlands militärischeSchlagkraft, beschnitt jedoch die Macht der Bojaren(der adligen Großgrundbesitzer) und führte dieOpritschniki ein – eine Polizeitruppe, die für ihreBrutalität berüchtigt war.Stalin war ein Bewunderer Iwans, und es gibtzwischen den beiden Männern Parallelen, doch fürEisenstein bedeutete das Projekt die Chance, auf diemoralische Problematik aufmerksam zu machen, IwansGrausamkeit gegen seine Leistungen abzuwägen undseine Persönlichkeitsentwicklung im Freudschen Sinnedarzustellen. Das entscheidende Element war hier,dass Iwan als Kind miterleben musste, wie Bojarenseine Mutter ermordeten. Die Filmgesellschaft fanddiese Szene zu bedrückend als Einstieg in den Film;sie wurde in den Zweiten Teil verlegt und kommt dortals Rückblende vor.Der erste Teil beginnt mit der Krönung. Die Bojarenhaben angefangen, das Volk gegen Iwanaufzuwiegeln, und während seiner Vermählung mitAnastasia Romanowa stecken die aufständischenMassen Moskau in Brand. Iwan wird von den Tatarenherausgefordert. Er befehligt den erfolgreichen Sturmauf Kasan, doch als er zurückkehrt, wird er krank. ImSchatten des Todes besteht er darauf, dass dieBojaren seinem kleinen Sohn Dimitri Treue schwören.Die Bojaren, angeführt von Iwans intriganter TanteEphrosinia, schlagen den leicht zu beinflussendenToren Wladimir – Ephrosinias Sohn – als Zaren vor,doch Iwan wird wie durch ein Wunder wieder gesundund zwingt ihnen seinen Willen auf. Ephrosiniavergiftet Anastasia. Iwan stellt die Opritschniki auf,zieht sich nach Alexandrow zurück und droht damit,abzudanken. Er sieht ganz richtig voraus, dass dieForderung des Volkes nach seiner Rückkehr seineMacht festigen wird, wenn er es zu seinenBedingungen tut.Im Zweiten Teil sieht sich Iwan den Intrigeneinstiger Freunde ausgesetzt. Er kehrt zurück underreicht erneut, dass die Bojaren klein beigeben. Erkommt dahinter, dass Anastasia keines natürlichenTodes gestorben ist, und schmiedet Rachepläne. Beieinem Bankett (einer in Farbe gedrehten Sequenzvoller schauriger Rottöne) veranlasst er, dass derarglose Wladimir sich betrinkt, ehe er ihn als Zarverkleidet, so dass der Meuchelmörder den falschenMann tötet. Ephrosinia verfällt dem Wahnsinn. In einerabschließenden Farbsequenz gelobt Iwan, gegenüberden Feinden Russlands keine Gnade walten zu lassen.Wenn man bedenkt, wie intensiv sich Prokofjewdamals mit der Operngattung befasste, überrascht esnicht, dass aus Iwan ein stark stilisierter,außerordentlich opernhafter Film wurde, dessen Musikintegraler Bestandteil der Handlung ist. Wie so oft hatProkofjew auch diesmal Musik auf mehrere Projekteverteilt; Anastasias Thema und die Polonaise stammenaus einer nie aufgeführten Inszenierung von PuschkinsBoris Godunow aus dem Jahr 1936, und das Finaletaucht in Krieg und Frieden als Kutusows Arie wiederauf, so dass gewissermaßen Parallelen zwischen dreiVerteidigern Russlands aufgezeigt werden:Iwan–Kutusow–Stalin. Eisenstein arbeitete eng mitProkofjew zusammen; er überließ dem Komponistenanschaulich detaillierte Beschreibungen und Skizzenals Richtlinie oder er drehte oder schnittBildsequenzen auf der Grundlage von Stichpassagen,die Prokofjew bereits komponiert hatte.Der Erste Teil kam 1944 heraus und wurde mitdem Stalin-Preis ausgezeichnet. Im Zweiten Teildagegen ließ Eisenstein Iwan (und damit implizit auchStalin) grausamer und paranoider, seine Maßnahmenweniger gerechtfertigt erscheinen. Als dieFilmindustrie eine Periode wachsender Repressionerlebte, war Iwan 1946 einer von mehreren Filmen,die verboten wurden, und die Arbeit am Dritten Teilwurde ganz eingestellt (Prokofjew hat für die wenigenabgedrehten Filmminuten keine Musik geschrieben).Anfang 1945 musste Prokofjew wegen einerGehirnerschütterung ins Krankenhaus; er komponiertezwar weiter, überarbeitete seine Musik für Iwan jedochnicht, wie er es mit der für Kische und Newskigehalten hatte. Im Jahr 1948 starb Eisenstein undProkofjew beschloss aus der Überzeugung heraus,dass er sich für eine Zusammenarbeit keinen besserenPartner mehr erhoffen könne, seine Kinokarriere zubeenden. Er starb am 5. März 1953 (ironischerweiseam selben Tag wie Stalin). Der zweite Teil des Filmskam schließlich 1958 in die Kinos.Man hat diverse Versuche unternommen, die Musikfür den Konzertsaal aufzubereiten; zu ihnen gehörendie Oratorien von Abram Stasewitsch, dem Dirigentender Filmmusik (1962), und von Michael Lankester. Dasvon Christopher Palmer arrangierte Concert Scenarioist als Aufnahme bei <strong>Chandos</strong> erhältlich (<strong>CHAN</strong> 8977).Die vorliegende Aufnahme enthält die gesamte MusikProkofjews, die im Film zu hören ist, sowie eine Reihe1011
<strong>CHAN</strong> <strong>10153</strong> <strong>BOOK</strong>.<strong>qxd</strong> 20/4/07 12:00 pm Page 12liturgischer Texte, die in altslawischer Kirchensprachegesungen werden.Ballade vom unbekannt gebliebenen Knaben, op. 93Diese Kantate, eines von mehreren patriotischenWerken des Komponisten aus dem Zweiten Weltkrieg,verarbeitet ein Gedicht von Pawel Antokolski(1896–1973), das Prokofjew während seiner Zeit inTiflis in der Zeitschrift Literatur und Kunst entdeckte,aber in Alma-Ata fertigstellte. Es erzählt von einemJungen, dessen Mutter und Schwester von denNationalsozialisten umgebracht werden und der sichdamit rächt, dass er eine Wagenladung deutscherOffiziere in die Luft sprengt. Obwohl seine Identitätein Geheimnis bleibt, dient seine Tat anderen alsInspiration. Es handelt sich um eines von mehrerenWerken Prokofjews, in denen Kinder vorkommen oderdie für Kinder gedacht waren, und könnte dazubeigetragen haben, seine Beziehung zu Eisenstein zustärken, in dessen Filmen Grausamkeit gegenüberKindern ein durchgehendes Thema ist.Die Kriegswerke Prokofjews wurden unterschiedlichaufgenommen, und die Kantate war keines seinerErfolgsstücke; die Uraufführung am 21. Februar 1944war die einzige zu seinen Lebzeiten. Sie wurdesowohl im privaten Bereich als auch öffentlichkritisiert: Mjaskowski fand, dass sie Melodik vermissenließ, und Schostakowitsch war sie zu episodisch (dieIronie daran ist, dass ihr Nazi-Marsch so eintönigklingt wie der in Schostakowitschs Siebter Sinfonie).Dabei waren diese Kritikpunkte das unausweichlicheErgebnis von Prokofjews Herangehen; dieGesangslinie ist eher deklamatorisch als melodisch,und er hat sich mit voller Absicht eng an den Textgehalten, ein Ansatz vergleichbar dem beim Film.Dass er Antokolskis rasantem Text gefolgt ist, hat denAufbau einer übergreifenden Struktur so erschwert,dass eher eine lose Folge bunt bewegter Szenenentstanden ist. Nach der einzigen Aufführung stellteProkofjew fest: “So leid es mir tut: Der Knabe istniedergetrampelt worden.”© 2003 John RileyÜbersetzung Anne Steeb/Bernd Müller1971 kamen einige der begabtesten Studenten desStaatlichen Konservatoriums in Moskau zusammenund gründeten die Staatliche russische Sinfonie-Cappella, die sich bald einen Namen machte. BeimConcorso Polifonico Internazionale “Guido d’Arezzo”in Italien gewann der Chor sowohl Gold als auchBronze, und Waleri Poljanski erhielt eineSonderauszeichnung als bester Chordirigent.Zahlreiche Einladungen ins Ausland folgten, undinzwischen hat die Cappella in Kanada, Europa und imFernen Osten gesungen. Die Kritik hat ihrvielschichtiges Repertoire und ihre makelloseGesangstechnik gewürdigt.Das Staatliche russische Sinfonieorchester wurde1962 gegründet. 1981 übernahm GennadiRoschdestwenski das Amt des Chefdirigenten, undseine Energie und sein Engagement leiteten einewichtige neue Phase der Kreativität und des Erfolgsfür das Orchester ein. Bei weltweiten Tourneen undbei Aufnahmen spielte es ein reichhaltiges Repertoire,darunter alle Sinfonien von Bruckner undSchostakowitsch sowie Musik von Honegger, Schnittkeund Vaughan Williams. 1992 übernahm WaleriPoljanski als Chefdirigent und trug durch einenerfolgreichen Zusammenschluss mit der Staatlichenrussischen Sinfonie-Cappella zur weiteren Entfaltungdes Orchesters bei. Unter seiner Führung hat es sichzu einem der besten russischen Ensembles überhauptentwickelt, wobei die Aufführung sinfonischer Werkesich mit Choraufführungen abwechselt.Nach seinem Abschluss am StaatlichenKonservatorium in Moskau studierte Waleri Poljanskibei Odissey Dimitriada und später bei GennadiRoschdestwenski Oper und sinfonischeOrchesterleitung. Zu Beginn seiner professionellenLaufbahn arbeitete er als Dirigent am Bolschoi-Theater. 1992 wurde er zum Chefdirigenten desStaatlichen russischen Sinfonieorchesters ernannt. Seitmehr als 25 Jahren ist er bereits für die künstlerischeLeitung der Staatlichen russischen Sinfonie-Cappellaverantwortlich, und er hat beide Ensembles beibedeutenden Produktionen in aller Welt geleitet, u.a.in Island, Finnland, der Türkei und im Fernen Osten.Unter seiner Leitung wurde das Repertoire erweitert,so dass es heute Musik der Barockzeit ebensoumfasst wie Werke zeitgenössischer Komponisten derverschiedensten Nationalitäten. Zu seinen zahlreichenkünstlerischen Errungenschaften zählen vielbeachteteAufführungen von Eugen Onegin am MusiktheaterGöteborg und seine Ernennung zum Chefdirigentendes Opera Nights Festivals in Göteborg.1213