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16 Milène Wegmann griff „Neoliberalismus“ jedoch nicht auf Rüstow zurück. Lavergne hatte den Theoriebegriff „néo-libéralisme“ schon ein Vierteljahr vor dem Colloque Walter Lippmann in seiner Monographie Essor et décadence du Capitalisme eingeführt. 13 Der Neoliberalismus entstand aus dem Bewußtsein einer tiefen Krise nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des gesellschaftlichen Lebens und der tradierten bürgerlichen Wertvorstellungen in der Zwischenkriegszeit. Der Neoliberalismus, der sich 1938 in Paris als internationale Forschungsgemeinschaft mit eigenem Institut formierte, ist den liberalen wirtschaftspolitischen Erneuerungsbestrebungen zuzuordnen, die in der Folge der großen Depression von 1872-1890 in den westund mitteleuropäischen Staaten sowie den USA zu beobachten waren. Anlaß zu den wirtschaftspolitischen Erneuerungsbestrebungen seit etwa 1880 war die Ernüchterung über die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Konsequenzen des Wirtschaftsliberalismus. Auf der inhaltlichen Ebene jedoch stellte der Neoliberalismus der Zwischenkriegszeit und der zweiten Nachkriegszeit keine unmittelbare Fortsetzung einer der früheren liberalen Erneuerungsbewegungen dar. Für die Zuordnung zu den Neoliberalen ist in der vorliegenden Arbeit die Selbstbezeichnung der liberalen Wirtschaftswissenschafter, Juristen, Politiker und Philosophen als „Neoliberale“ und ihre gegenseitige Anerkennung der Zugehörigkeit zu diesem Kreis maßgebend. Rueff und Baudin (F), Einaudi (I), de Madariaga (E), Robbins (GB), Condliffe (GB), der Wahlbrite von Hayek, von Mises (A), von Haberler (A bzw. USA), Heilperin (USA), Rappard (CH) und die beiden Deutschen Röpke und Rüstow erfüllen diese Kriterien. Die Anfänge des Neoliberalismus waren polyzentrisch: Seit den frühen 20er Jahren hatten Liberale in verschiedenen Staaten – Großbritannien, Österreich, Italien, Frankreich, Deutschland, USA, Schweiz – ähnliche, ja weitgehend übereinstimmende Ansätze zur Reformierung des Liberalismus entwickelt. Seit 1935 ist ein enges Beziehungsgeflecht der später sogenannten Neoliberalen über die Staatsgrenzen und Kontinente hinweg nachzuweisen. Auf Initiative des Pariser Philosophen Rougier traten die europäischen und US-amerikanischen Neoliberalen in Paris im Sommer 1938 zu ihrem ersten internationalen Kolloquium zusammen und gründeten im Frühjahr 1939 ein eigenes Forschungsinstitut, das Centre international pour la Rénovation du Libéralisme (Paris), dessen Tätigkeiten aber infolge der nationalsozialistischen Besetzung von Paris eingestellt werden mußten. Schon 1944 bereitete von Hayek die Neugründung einer internationalen Vereinigung der 13. In der Neoliberalismus-Literatur wird im allgemeinen das Colloque Lippmann als „Geburtsstundedes griechisch-neulateinischen Theoriebegriffs „Neoliberalismus“ angenommen. G. EISER- MANN, Alexander Rüstow, Persönlichkeit und Werk, in: Wirtschaftsordnung und Menschenbild. Schriftenreihe der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Heft 4, Köln, 1960, S.149; B. LAVERGNE, Essor et décadence du Capitalisme, Paris, 1938, S.172, Anm.1. Das Vorwort des Bandes ist auf den 20. April 1938, also vor dem Colloque Lippmann, datiert. Nach der Eintragung der Druckerei Dardaillon et Dagniaux (St. Denis) ist das Buch im April 1938 gedruckt worden. Lavergnes Monographie war den Kolloquiums-Teilnehmern bekannt. Sie ist im Vorwort der im Juni 1939 gedruckten Akten zitiert, allerdings unter ungenauer Wiedergabe des Titels. L. ROU- GIER, Avant-propos, in: Compte-rendu des séances du Colloque Walter Lippmann, Paris, 1939, S.7, Anm.1.

Neoliberale Europa-Föderationskonzepte 1918-1945 17 Neoliberalen vor. Im April 1947 entstand unter seinem Präsidium die Mont Pèlerin Society als geschlossene Gesellschaft neoliberaler Wirtschaftswissenschafter, Juristen und Philosophen. Alle oben erwähnten Wirtschaftswissenschafter und Philosophen traten dieser Gesellschaft bei. Die Neoliberalen bekannten sich zu einem positiven Konzept für eine freiheitliche und sozial bewußte Wettbewerbswirtschaft als Antwort auf die Krise des laissez faire-Liberalismus. Sie konzentrierten sich darauf, die Prinzipien und Voraussetzungen einer liberalen Gesellschaftsordnung herauszuarbeiten, entwarfen aber kein politisches Programm im eigentlichen Sinne, denn die Gesellschaft entzieht sich nach liberaler Auffassung jedweder Planung. Die Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann und die Hauptexponenten der Mont Pèlerin Society waren von der Überlegenheit einer freien Gesellschaft selbstbestimmter Individuen überzeugt und sahen ihre Aufgabe darin, die freie Gesellschaft gegen Angriffe philosophisch zu verteidigen. In der freien Marktwirtschaft erkannten sie das gegenüber dem Kollektivismus oder einer gemischten Wirtschaft überlegene System. Regierungsinterventionen in den Markt-Preis-Mechanismus wie staatlich festgesetzte Mindestlöhne oder die Subventionierung der Landwirtschaft betrachteten sie als schädlich. Eine stabile monetäre Ordnung, beruhend auf liberalen Prinzipien, wäre die erste Voraussetzung des liberalen internationalen Handels. Unumstritten war die Forderung nach einer liberalen Außenhandelspolitik. Die Neoliberalen – darunter auch die frühen Chicago-Neoliberalen Knight, Simons und Friedman – wußten um die Möglichkeit eines Marktversagens und anerkannten die Notwendigkeit staatlichen Handelns bei öffentlichen Gütern und externen Effekten. Der Gesellschaftsvertrag sollte nach den Vorstellungen des frühen Neoliberalismus (1932-1965) auf folgenden Grundlagen beruhen: Stärkung der Macht des Staates zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung der liberalen Wirtschaftsordnung; Aufbau einer internationalen Rechtsordnung für den internationalen Handel; Stärkung intermediärer Strukturen (Familie, Vereine, Gemeinde) auf sozialem und administrativem Gebiet; Stärkung der individuellen Selbstverantwortung und Konzentration des Staates auf die Fürsorge im eigentlichen Sinne; staatliche Rahmenpolitik und liberaler, d.h. marktkonformer Interventionismus; monetäre Stabilität, restriktive Geldpolitik; offene Märkte; starker Staat in der Rolle des Schiedsrichters über den wirtschaftlichen Interessengruppen; staatliches Handeln bei Marktversagen; Dekonzentration der Wirtschaft, Dekartellierung; Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen mittels Wettbewerbsrecht. Die von den Neoliberalen konzipierte Wirtschaftsordnung zielte nicht auf die Schaffung einer staatsfreien Wirtschaft ab, sondern setzte im Gegenteil den Staat als Schiedsrichter ein, der die rechtliche Rahmenordnung für das Wirtschaften festlegte und die Einhaltung der „Spielregeln“ in der Wirtschaft überwachte. Da sich die Aufgaben des neoliberalen „starken Staates“ nicht in der Schaffung von Rahmenbedingungen der äußeren Sicherheit erschöpften, sondern sich auf die Gestaltung und Durchsetzung der Wirtschaftsordnung sowie auf marktkonforme Interventionen 14 erstreckten, reichten sie über die Aufgaben des „Nachtwächterstaates“ 14. Vgl. die „Maximen rationeller Intervention”: W. RÖPKE, Staatsinterventionismus, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Ergänzungsband zur 4. Auflage, Jena, 1929, S.861-882.

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Milène Wegmann<br />

griff „Neoliberalismus“ jedoch nicht auf Rüstow zurück. Lavergne hatte <strong>de</strong>n Theoriebegriff<br />

„néo-libéralisme“ schon ein Vierteljahr vor <strong>de</strong>m Colloque Walter Lippmann in seiner<br />

Monographie Essor et déca<strong>de</strong>nce du Capitalisme eingeführt. 13<br />

Der Neoliberalismus entstand aus <strong>de</strong>m Bewußtsein einer tiefen Krise nicht nur<br />

<strong>de</strong>s wirtschaftlichen, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens und <strong>de</strong>r tradierten<br />

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<strong>de</strong>r sich 1938 in Paris als internationale Forschungsgemeinschaft mit eigenem<br />

Institut formierte, ist <strong>de</strong>n liberalen wirtschaftspolitischen Erneuerungsbestrebungen<br />

zuzuordnen, die in <strong>de</strong>r Folge <strong>de</strong>r großen Depression von 1872-1890 in <strong>de</strong>n westund<br />

mitteleuropäischen Staaten sowie <strong>de</strong>n USA zu beobachten waren. Anlaß zu<br />

<strong>de</strong>n wirtschaftspolitischen Erneuerungsbestrebungen seit etwa 1880 war die<br />

Ernüchterung über die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Konsequenzen <strong>de</strong>s<br />

Wirtschaftsliberalismus. Auf <strong>de</strong>r inhaltlichen Ebene jedoch stellte <strong>de</strong>r Neoliberalismus<br />

<strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit und <strong>de</strong>r zweiten Nachkriegszeit keine unmittelbare<br />

Fortsetzung einer <strong>de</strong>r früheren liberalen Erneuerungsbewegungen dar. Für die<br />

Zuordnung zu <strong>de</strong>n Neoliberalen ist in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit die Selbstbezeichnung<br />

<strong>de</strong>r liberalen Wirtschaftswissenschafter, Juristen, Politiker und Philosophen<br />

als „Neoliberale“ und ihre gegenseitige Anerkennung <strong>de</strong>r Zugehörigkeit zu diesem<br />

Kreis maßgebend. Rueff und Baudin (F), Einaudi (I), <strong>de</strong> Madariaga (E), Robbins<br />

(GB), Condliffe (GB), <strong>de</strong>r Wahlbrite von Hayek, von Mises (A), von Haberler (A<br />

bzw. USA), Heilperin (USA), Rappard (CH) und die bei<strong>de</strong>n Deutschen Röpke und<br />

Rüstow erfüllen diese Kriterien.<br />

Die Anfänge <strong>de</strong>s Neoliberalismus waren polyzentrisch: Seit <strong>de</strong>n frühen 20er<br />

Jahren hatten Liberale in verschie<strong>de</strong>nen Staaten – Großbritannien, Österreich, Italien,<br />

Frankreich, Deutschland, USA, Schweiz – ähnliche, ja weitgehend übereinstimmen<strong>de</strong><br />

Ansätze zur Reformierung <strong>de</strong>s Liberalismus entwickelt. Seit 1935 ist<br />

ein enges Beziehungsgeflecht <strong>de</strong>r später sogenannten Neoliberalen über die Staatsgrenzen<br />

und Kontinente hinweg nachzuweisen. Auf Initiative <strong>de</strong>s Pariser Philosophen<br />

Rougier traten die europäischen und US-amerikanischen Neoliberalen in<br />

Paris im Sommer 1938 zu ihrem ersten internationalen Kolloquium zusammen und<br />

grün<strong>de</strong>ten im Frühjahr 1939 ein eigenes Forschungsinstitut, das Centre international<br />

pour la Rénovation du Libéralisme (Paris), <strong>de</strong>ssen Tätigkeiten aber infolge <strong>de</strong>r<br />

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1944 bereitete von Hayek die Neugründung einer internationalen Vereinigung <strong>de</strong>r<br />

13. In <strong>de</strong>r Neoliberalismus-Literatur wird im allgemeinen das Colloque Lippmann als „Geburtsstun<strong>de</strong>“<br />

<strong>de</strong>s griechisch-neulateinischen Theoriebegriffs „Neoliberalismus“ angenommen. G. EISER-<br />

MANN, Alexan<strong>de</strong>r Rüstow, Persönlichkeit und Werk, in: Wirtschaftsordnung und Menschenbild.<br />

Schriftenreihe <strong>de</strong>r Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Heft 4, Köln, 1960, S.149; B.<br />

LAVERGNE, Essor et déca<strong>de</strong>nce du Capitalisme, Paris, 1938, S.172, Anm.1. Das Vorwort <strong>de</strong>s<br />

Ban<strong>de</strong>s ist auf <strong>de</strong>n 20. April 1938, also vor <strong>de</strong>m Colloque Lippmann, datiert. Nach <strong>de</strong>r Eintragung<br />

<strong>de</strong>r Druckerei Dardaillon et Dagniaux (St. Denis) ist das Buch im April 1938 gedruckt wor<strong>de</strong>n.<br />

Lavergnes Monographie war <strong>de</strong>n Kolloquiums-Teilnehmern bekannt. Sie ist im Vorwort <strong>de</strong>r im<br />

Juni 1939 gedruckten Akten zitiert, allerdings unter ungenauer Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>s Titels. L. ROU-<br />

GIER, Avant-propos, in: Compte-rendu <strong>de</strong>s séances du Colloque Walter Lippmann, Paris, 1939,<br />

S.7, Anm.1.

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