Vol. XXXVIII / 1 - Studia Moralia

Vol. XXXVIII / 1 - Studia Moralia Vol. XXXVIII / 1 - Studia Moralia

studiamoralia.org
from studiamoralia.org More from this publisher
05.11.2014 Views

276 KARL-WILHELM MERKS Bedeutung nicht gemindert werden. Ich würde höchstens hinzufügen, daß diese Entwicklung nicht ohne Kritik “von außen”, insbesondere die Auseinandersetzung der Aufklärung mit der katholischen Tradition, zustande gekommen ist. Eine solche Umorientierung auf die unabdingbare Verantwortung der Subjekte kann das Traditionsverständnis nicht unberührt lassen. Wir können die Orientierung auf das Subjekt und die personale Verantwortung eben nicht mehr verstehen als ein zufälliges Produkt einer partikularen Tradition. Wie sollen wir uns Traditionen gegenüber verhalten, die diese Gewissensorientierung der Moral, die ja immer eine individuell-personale ist, nicht anerkennen? Sind solche Traditionen dann gleichwohl auch in diesem Punkt als legitim anzusehen? Zweifelsohne gibt es ja Traditionen, in denen die Gemeinschaftsbezogenheit so stark dominant ist, daß die Idee der personal-individuellen Gewissensverpflichtung kaum anerkannt wird. Ist die Tradition dann (vorläufig) immer noch legitim? Von der Tradition selbst her wäre eine solche Frage nach den Vorstellungen von B.J. nicht zu entscheiden, solange nicht innerhalb der Tradition selbst der Zweifel entsteht. Aber diese Frage wird doch nicht erst relevant durch den Zufall und die Faktizität des entstandenen Zweifels, sondern drängt sich auf wegen der moralischen Unhaltbarkeit der Nichtanerkennung der Person - Tradition hin, Tradition her. Genau dies ist ja auch der Grund, weshalb die Verteidiger der Universalität von Menschenrechten bei aller Detaildiskussion letztlich gegenüber den Bestreitern dieser Universalität Recht haben. 8 3. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir uns um die darin zum Ausdruck kommende Veränderung des moralischen Legitimationsmodells herumdrücken und dessen Spannungsverhältnis zum traditionsorientierten Modell durch ein “et...et” abschwächen. Es gibt nicht eine “innere Stimme der Moral” und eine “moralische Stimme der Gemeinschaft” zu 8 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen von U. Eco bezüglich der Grundlagen einer verbindlichen Ethik in allgemein menschlichen Erfahrungen, in: C.M. Martini/U. Eco, Woran glaubt, wer nicht glaubt?, Wien 1998, 82ff.

TRADITION UND MORALISCHE WAHRHEIT 277 gleichen Rechten, wie A. Etzioni vorzuschlagen scheint. 9 Es verwundert mich nicht, daß Etzioni sein für einen Kommunitaristen doch einigermaßen überraschendes Plädoyer für einen Ausgleich zwischen Autonomie des Einzelnen und Werteordnung der Gemeinschaft am Ende doch zugunsten des Individuums zuspitzen muß: “Die Gemeinschaft bietet eine normative Grundlage, einen festen Ausgangspunkt, eine Kultur und Tradition, ein Verbundenheitsgefühl und einen Ort für moralische Dialoge, aber sie ist nicht die letzte Instanz in moralischen Angelegenheiten. Das sind ihre Mitglieder.” 10 So ist es! Meine Folgerungen aus alledem kann ich so zusammenfassen: a) Die Auflösung traditionsorientierter Gesellschaftsformen und im Zuge damit der Individualisierungsprozeß sind ein Faktum der Modernisierung. Dieser Prozeß wird weltweit weiter fortschreiten. b) Das Bewußtwerden der Verantwortung des Menschen auch für die Standards, Werte und Normen der Tradition ist ein moralischer Gewinn. c) Die Berufung auf Traditionen als Quelle (source, nicht criterion!) von Moral gilt nur, wo sie diese personale Verantwortung selbst zu integrieren imstande sind. d) Die moralischen Möglichkeiten personaler Verantwortung werden allerdings nur realisiert werden, wenn es gelingt, Gesellschaften und Traditionen zu schaffen, die eine solche personale Verantwortlichkeit als essentiellen Teil ihrer selbst verstehen und kultivieren. Die Kirche bildet hier keine Ausnahme. Theologische Faculteit Tilburg Academielaan 9 5037 ET Tilburg The Netherlands. KARL-WILHELM MERKS 9 A. Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Darmstadt 1997, 168ff. 10 Ebd. 324f.

276 KARL-WILHELM MERKS<br />

Bedeutung nicht gemindert werden. Ich würde höchstens<br />

hinzufügen, daß diese Entwicklung nicht ohne Kritik “von<br />

außen”, insbesondere die Auseinandersetzung der Aufklärung<br />

mit der katholischen Tradition, zustande gekommen ist. Eine<br />

solche Umorientierung auf die unabdingbare Verantwortung der<br />

Subjekte kann das Traditionsverständnis nicht unberührt lassen.<br />

Wir können die Orientierung auf das Subjekt und die personale<br />

Verantwortung eben nicht mehr verstehen als ein zufälliges<br />

Produkt einer partikularen Tradition. Wie sollen wir uns<br />

Traditionen gegenüber verhalten, die diese Gewissensorientierung<br />

der Moral, die ja immer eine individuell-personale ist, nicht<br />

anerkennen? Sind solche Traditionen dann gleichwohl auch in<br />

diesem Punkt als legitim anzusehen? Zweifelsohne gibt es ja Traditionen,<br />

in denen die Gemeinschaftsbezogenheit so stark<br />

dominant ist, daß die Idee der personal-individuellen Gewissensverpflichtung<br />

kaum anerkannt wird. Ist die Tradition dann<br />

(vorläufig) immer noch legitim? Von der Tradition selbst her<br />

wäre eine solche Frage nach den Vorstellungen von B.J. nicht zu<br />

entscheiden, solange nicht innerhalb der Tradition selbst der<br />

Zweifel entsteht. Aber diese Frage wird doch nicht erst relevant<br />

durch den Zufall und die Faktizität des entstandenen Zweifels,<br />

sondern drängt sich auf wegen der moralischen Unhaltbarkeit<br />

der Nichtanerkennung der Person - Tradition hin, Tradition her.<br />

Genau dies ist ja auch der Grund, weshalb die Verteidiger<br />

der Universalität von Menschenrechten bei aller<br />

Detaildiskussion letztlich gegenüber den Bestreitern dieser<br />

Universalität Recht haben. 8<br />

3. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir uns um die darin zum<br />

Ausdruck kommende Veränderung des moralischen<br />

Legitimationsmodells herumdrücken und dessen<br />

Spannungsverhältnis zum traditionsorientierten Modell durch<br />

ein “et...et” abschwächen. Es gibt nicht eine “innere Stimme der<br />

Moral” und eine “moralische Stimme der Gemeinschaft” zu<br />

8<br />

Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen von U. Eco<br />

bezüglich der Grundlagen einer verbindlichen Ethik in allgemein<br />

menschlichen Erfahrungen, in: C.M. Martini/U. Eco, Woran glaubt, wer<br />

nicht glaubt?, Wien 1998, 82ff.

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!