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Reduction and Elimination in Philosophy and the Sciences

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„Die E<strong>in</strong>heit hören“ – E<strong>in</strong>ige Überlegungen zu Ludwig Wittgenste<strong>in</strong> und Anton Bruckner — Johannes Leopold Mayer<br />

Bruckners Symphonien verlangen aber e<strong>in</strong> <strong>and</strong>eres<br />

Hören: nämlich e<strong>in</strong> solches <strong>in</strong> Gesam<strong>the</strong>iten, die akustisch<br />

e<strong>in</strong>en ganzen Organismus darstellen.<br />

„Ich könnte von e<strong>in</strong>em Bild von Picasso sagen, ich<br />

sehe es nicht als Menschen. Das ist doch ähnlich dem: ich<br />

war lange nicht Imst<strong>and</strong>e dies als E<strong>in</strong>heit zu hören, jetzt<br />

aber höre ich’s so. Früher schien es mir wie lauter kurze<br />

Stücke, die immer wieder abreißen, — jetzt hör ich’s als<br />

Organismus. (Bruckner).“ (Wittgenste<strong>in</strong> 7/1989, § 677,<br />

S 436).<br />

In der Tat: jetzt ist etwas als Gesam<strong>the</strong>it e<strong>in</strong>es<br />

großen Organismus zu hören, dann nämlich, wenn<br />

Bruckner das Material e<strong>in</strong>es Schlußssatzes kunstvoll so<br />

strukturiert, dass darauf die Wiederh<strong>in</strong>wendung zum<br />

Anfang erfolgen kann. Wie wird aber dieser <strong>in</strong> das Ende<br />

den Anfang e<strong>in</strong>beziehende Letztzust<strong>and</strong> des Werkes<br />

erreicht? Kann vielleicht davon gesprochen werden, dass<br />

der Rekurs auf den Anfang als Zusammenfassung<br />

verst<strong>and</strong>en werden soll, als Zusammenfassung nämlich<br />

von strukturellen E<strong>in</strong>zelersche<strong>in</strong>ungen, die als jeweils<br />

unterscheidbarer symphonischer Satz <strong>in</strong>nerhalb des<br />

Gesamtzyklus, respective als e<strong>in</strong>zelne melodisch<strong>the</strong>matische<br />

Gebilde <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es solchen Satzes<br />

hörend wahrgenommen werden können? Durchaus<br />

verständnisfördernd ist hier folgende Bemerkung<br />

Wittgenste<strong>in</strong>s: „Von e<strong>in</strong>er Brucknerschen Symphonie kann<br />

man sagen, sie habe zwei Anfänge: den Anfang des<br />

ersten & den Anfang des zweiten Gedankens. Diese<br />

beiden Gedanken verhalten sich nicht wie Blutsverw<strong>and</strong>te<br />

zu e<strong>in</strong><strong>and</strong>er, sondern wie Mann & Weib.“ (Wittgenste<strong>in</strong><br />

2000, S 110).<br />

Es ist tatsächlich so, dass Bruckner die<br />

Expositionen se<strong>in</strong>er Themen als e<strong>in</strong>zelne Ereignisse<br />

gestaltet. In den frühen Symphonien trennt er sie abrupt<br />

durch Pausen, später scheidet er sie durch deutlich als<br />

solche hörbare und auf etwas nun folgendes Anderes<br />

verweisende Übergänge. Das heißt, dass zuerst e<strong>in</strong>mal<br />

musikalische E<strong>in</strong>zeltatsachen, nämlich <strong>in</strong>dividuelle<br />

<strong>the</strong>matisch-melodische Gebilde zur Darstellung kommen.<br />

Diese kommen als solche E<strong>in</strong>zelgebilde sche<strong>in</strong>bar vorerst<br />

so zu ihrer ersten Darstellung, als würde tatsächlich mit<br />

ihnen das Werk erst beg<strong>in</strong>nen. Durch Wittgenste<strong>in</strong>s<br />

Aussage kann man auf eigentümliche Art auf e<strong>in</strong>en<br />

fundamentalen Unterschied zwischen der Exposition<br />

<strong>the</strong>matischen Materials bei Bruckner und <strong>in</strong> den<br />

Symphonien e<strong>in</strong>es wiener Klassikers wie etwa Joseph<br />

Haydn h<strong>in</strong>gewiesen werden. Bei Letzterem entwickelt sich<br />

die Darstellung e<strong>in</strong>es Themas nämlich gewissermaßen auf<br />

e<strong>in</strong> zweites, zu jenem im Kontrast stehendes Thema h<strong>in</strong>.<br />

Diesen Pr<strong>in</strong>zipien der E<strong>in</strong>führung des Materials folgen im<br />

Wesentlichen auch Mozart und Beethoven.<br />

Was hat es nun mit der von Wittgenste<strong>in</strong><br />

konstatierten, zum Charakter der Beziehungen des<br />

angew<strong>and</strong>ten <strong>the</strong>matischen Materials bei den wiener<br />

Klassikern im Gegensatz stehenden „Nicht-<br />

Blutsverw<strong>and</strong>tschaft“ bruckner’scher Themen auf sich?<br />

Auch hier hilft e<strong>in</strong> Rekurs auf Haydn: bei ihm ist es oft der<br />

Fall, dass e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Haupttonart des Werkes exponiertes<br />

Thema sich so entwickelt, dass <strong>in</strong> der Folge – und zwar<br />

tonal kontrastreich auf der Dom<strong>in</strong>ante – dasselbe Thema<br />

nochmals ersche<strong>in</strong>t. Tonale Unterscheidung und<br />

melodische Gleichheit fallen bei solchen Gegebenheiten<br />

s<strong>in</strong>nfällig zusammen.<br />

Dergleichen gibt es bei Bruckner nicht. Im<br />

Gegenteil: der Komponist wendet die höchste Kunst an,<br />

um se<strong>in</strong>e <strong>the</strong>matischen Gebilde <strong>in</strong> erkennbar<br />

unterschiedener Weise ersche<strong>in</strong>en zu lassen, etwa auch<br />

durch die Wahl der klanglichen und satztechnischen Mittel.<br />

Es lassen sich aber darüberh<strong>in</strong>aus grundsätzliche<br />

melodische Übere<strong>in</strong>stimmungen zwischen den exponierten<br />

Themen feststellen. Dies trübt die Unterscheidbarkeit<br />

dank der angew<strong>and</strong>ten Unterscheidungsmittel<br />

ke<strong>in</strong>eswegs, lässt aber für aufmerksam Zuhörende e<strong>in</strong>e<br />

besondere Art von Zusammengehörigkeit evident werden.<br />

Diese Tatsache und die Art und Weise, wie der Komponist<br />

im Laufe des symphonischen Geschehens die Themen bis<br />

h<strong>in</strong> zur Gleichzeitigkeit ihres Auftretens – wie etwa am<br />

Schluss der f-moll Messe oder der 8. Symphonie – zusammenführt,<br />

all dies lässt den plastischen wittgenste<strong>in</strong>’schen<br />

Vergleich von „Mann & Weib“ als gerechtfertigt<br />

ersche<strong>in</strong>en. E<strong>in</strong>zel<strong>in</strong>dividuen, die zuerst auch e<strong>in</strong>zeln<br />

ersche<strong>in</strong>en, werden im Laufe von Geschehen gleichsam<br />

wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ehelichen Geme<strong>in</strong>schaft so zusammengeführt,<br />

dass sie als Gesam<strong>the</strong>it angesprochen werden können,<br />

ohne dabei ihre erkennbare – soll also im konkreten Falle<br />

heißen: hörbare – Individualität am Ende verloren zu<br />

haben. Denn gerade auf der Bewahrung der<br />

Individualitäten und deren Erkennbarkeit beruht ja<br />

Bruckners Kunst der Zusammenführung se<strong>in</strong>er<br />

musikalischen Strukturgebilde. Die „Gesamttatsache“<br />

Messe oder Symphonie verweist daher speziell <strong>in</strong> ihrer<br />

durch den Rekurs auf den Anfang erreichten<br />

Zusammengefass<strong>the</strong>it nachhaltig und endgültig auf die am<br />

Ende zusammengefassten „E<strong>in</strong>zeltatsachen“ der zuerst<br />

unabhängig exponierten <strong>the</strong>matischen Gebilde. Diese<br />

„Gesamttatsache“ ist ja nur hörbar durch die Wahrnehmung<br />

der „E<strong>in</strong>zeltatsachen“, durch welche sie zu<br />

dieser endgültigen „Gesamttatsache“ wird. Es ist dann<br />

doch so, dass nicht nur Wittgenste<strong>in</strong> im Laufe e<strong>in</strong>er langen<br />

bruckner’schen Symphonie „lange nicht Imst<strong>and</strong>e ist, dies<br />

als E<strong>in</strong>heit zu hören, jetzt aber“. Erst da, wo Bruckner es<br />

unternimmt, die E<strong>in</strong>zelelemente durch deren, aufgrund von<br />

Rekursen auf Zuvorgehendes erreichtes, gleichzeitiges<br />

Auftreten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>samkeit ersche<strong>in</strong>en zu lassen<br />

„höre ich es so. Früher schien es mir wie lauter kurze<br />

Stücke, die immer wieder abreißen, - jetzt hör ich’s als<br />

Organismus.“<br />

Es kann e<strong>in</strong> höchstrangiges Erlebnis se<strong>in</strong>, hörend<br />

an e<strong>in</strong>em solcherart zust<strong>and</strong>ekommenden Ereignis der<br />

Werdung e<strong>in</strong>er symphonischen Gesamttatsache teilzunehmen.<br />

Dergleichen ist nämlich ke<strong>in</strong>eswegs das von<br />

Haus aus zu Erwartende. Bruckner lässt sich mit se<strong>in</strong>en<br />

Lösungen Zeit und stellt im Laufe des Geschehens<br />

mehrere Möglichkeiten solcher Lösungen zur Diskussion,<br />

<strong>in</strong>dem er zuerst die Verschiedenartigkeit der e<strong>in</strong>zelnen<br />

Elemente <strong>in</strong> den Vordergrund stellt. Aber er kommt damit<br />

absichtsvoll nicht ans Ende.<br />

„Ich glaube, das gute Österreichische ist besonders<br />

schwer zu verstehen. Es ist <strong>in</strong> gewissem S<strong>in</strong>ne subtiler,<br />

und se<strong>in</strong>e Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit.“<br />

(Wittgenste<strong>in</strong> 8/1989, S 454). Das „gute Österreichische“<br />

wird <strong>in</strong> dieser Aussage Wittgenste<strong>in</strong>s u.a.<br />

durch Grillparzer und Bruckner repraesentiert.<br />

Dass die Wahrheit hier nie auf Seiten der<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit ist – dies mag auch noch durch etwas<br />

deutlich werden, worauf Wittgenste<strong>in</strong> im Zusammenhang<br />

mit dem Streichquartett d-moll von Franz Schubert aufmerksam<br />

macht, <strong>in</strong> dessen zweitem Satz der Komponist<br />

se<strong>in</strong> eigenes Lied „Der Tod und das Mädchen“ variiert.<br />

„Die letzten beiden Takte des ‚Tod und Mädchen’<br />

Themas“, so Wittgenste<strong>in</strong>, „das ~; man kann zuerst<br />

verstehen, daß diese Figur konventionell, gewöhnlich ist,<br />

bis man ihren tieferen Ausdruck versteht. D.h., bis man<br />

versteht, daß hier das Gewöhnliche s<strong>in</strong>nerfüllt ist.“

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