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HANS-PETER MICHAEL<br />

IM FADENKREUZ<br />

DER GIER<br />

oder<br />

VERLANGEN NACH GERECHTIGKEIT<br />

R O M A N<br />

2


Prolog<br />

oder<br />

Die Nähe zu Montezuma<br />

Noch vor Morgengrauen war er vom Wäldchen, indem er sich mit dem Auto und seinem Gast<br />

versteckt hatte, abgefahren. Bei Tagesanbruch hatte er bereits Heredia 1 passiert und zur<br />

Linken den Vulkan Poas 2 hinter sich gelassen. Den direkten Weg mit der Fähre über<br />

Puntarenas 3 hatte er wegen seines Passagiers nicht nehmen können, der hinter den Rücksitzen,<br />

sorgfältig verpackt, unter einer alten Decke lag. Die Wartezeit an der Fähre und die Überfahrt<br />

hätten ungefähr zwei oder mehr Stunden gedauert und er wäre vielen neugierigen Blicken<br />

ausgesetzt. Das Risiko, als Kidnapper ertappt zu werden, war zu groß. Um nach Montezuma 4<br />

zu kommen, musste er zwangsläufig einen Umweg von ungefähr zweihundert Kilometer<br />

fahren, in nordwestlicher Richtung, bis der Golf von Nicoya zu Ende war. In Puerto Monero<br />

gab es die erste Möglichkeit, auf die Halbinsel Nicoya zu kommen, jedenfalls war es der<br />

Karte zu entnehmen. Die Karte sagte nichts darüber aus, ob es sich um eine Brücke oder<br />

Fährverbindung handelte. Auch dieser Weg war zu gefährlich. Vor einigen Jahren war er von<br />

San José 6 aus nach Playa Tamarindo 7 gefahren. Er konnte sich noch daran erinnern, als sie<br />

damals eine abenteuerliche Abkürzung durch einen Nationalpark genommen hatten, aber er<br />

erinnerte sich nicht mehr an die Stelle, wo sie von der Panamericana 8 abgebogen waren. Nach<br />

über acht Stunden Fahrt verließ er die Straße und er hatte nach seinem Passagier geschaut.<br />

Dieser war inzwischen erwacht, die Wirkung der Spritze hatte nachgelassen. Mit weit<br />

aufgerissenen Augen schaute er seinen Chauffeur an und stieß hinter dem mit einem<br />

Klebestreifen verschlossenen Mund, unverständliche Laute hervor. Er hatte ihn den<br />

Klebestreifen abgenommen und gefragt, ob er einmal müsse. Sein Passagier hatte nur mit dem<br />

Kopf geschüttelt und stammelnd gefragt, wo er ihn hinbringen würde. Dieser bekam darauf<br />

jedoch keine Antwort, sondern eine weitere Spritze. Nachdem diese zu wirken begann, setzte<br />

er seine Fahrt fort.<br />

Als er zum Abzweig zur Fähre, hatte er noch zwei Stunden Fahrt vor sich. Bis zum Strand<br />

würde er noch bei Licht kommen und die Möglichkeit haben, sich weit genug von der Straße<br />

ein Nachtquartier zu suchen. Die Strecke war zu dieser Tageszeit schwach befahren, aber in<br />

einem miserablen Zustand, wodurch er Zeit verlor und ihn die einsetzende Dunkelheit bereits<br />

vorher dazu zwang, die Straße zu verlassen. Nach links konnte er nicht abbiegen, dort lag die<br />

bei Touristen beliebte Playa Tambor 9 . Bis hierhin kam auch die Polizei auf ihren<br />

Kontrollfahrten, um bei den ahnungslosen Touristen abzukassieren. Nach wenigen<br />

Kilometern sah er im letzten Moment eine unscheinbare Abzweigung, die durch ein<br />

primitives Absperrgitter nach fünfzehn Metern bereits ihr Ende fand. Er stieg aus und schob<br />

das Gitter beiseite, fuhr den Wagen ein paar Meter weiter und stellte das Licht und den Motor<br />

ab. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ging er den Weg entlang.<br />

Ein sternklarer Nachthimmel und der Halbmond boten ihm genug Licht, den Weg noch zu<br />

erkennen. Nach ungefähr hundert Schritten machte der Weg einen Knick nach rechts und<br />

endete in einer im Berghang geschlagenen Schneise, aus dem offensichtlich Sand gefördert<br />

wurde. In der Mitte einer Sandkuhle stand nur ein verlassener gelber Bagger, der ihm<br />

signalisierte, dass dieser Sandtagebau noch in Betrieb war und das möglicherweise bereits<br />

kurz nach Sonnenaufgang hier die Arbeit wieder aufgenommen werden würde. Bis dahin<br />

hatte er noch über neun Stunden Zeit.<br />

Bereits eine Stunde vor Sonnenaufgang verließ er den Platz. Am Abend hatte er seinem<br />

Passagier, der sich im halb schlafenden Zustand befand, an den Füßen und Armen neue<br />

Kabelschlaufen angelegt, die nicht zu straff waren, nachdem er ihn aus dem Wagen gezogen<br />

und auf die am Boden ausgebreitete Decke gelegt hatte. Auf eine weitere Spritze hatte er<br />

3


verzichtet, obwohl er die Mundverklebung entfernt und ihm ein wenig Wasser eingeträufelt<br />

hatte. Diesmal nahm sein Passagier die Chance wahr, seine Blase zu erleichtern. Er hatte ihm<br />

einfach die Hose, zusammen mit der Unterhose, heruntergezogen, ihn von der Decke in den<br />

Sand gerollt. Dort hatte er eine halbe Stunde gelegen. Als er ihm wieder die Hosen<br />

hochgezogen und auf die Decke zurück gerollt hatte, war im Licht der Sterne im hellen Sand<br />

ein dunkler Fleck zu sehen. Eigentlich war es ihm egal, ob sein Passagier sich in die Hosen<br />

machen würde, er wollte nur den Uringestank nicht ertragen, ihm reichte bereits der<br />

undefinierbare Geruch aus Todesangst und Schweiß, den sein Passagier penetrant ausströmte.<br />

Wenige Kilometer vor seinem Ziel endete die zweispurige Straße. Diese ging, als eine für den<br />

öffentlichen Verkehr gesperrte einspurige Straße, bis zum Nationalpark Cabo Blanco 10 weiter.<br />

Die Straße wurde nur von den Parkrangern und den sie begleitenden Touristen, die dazu eine<br />

Extragenehmigung bedurften, genutzt. Er hatte an so einer genehmigten Führung vor Jahren<br />

einmal teilgenommen und wusste daher, dass noch vor der Absperrung ein schwer<br />

passierbarer Feldweg zur Küste führte. Dieser Weg war nur mit einem Auto mit Allradantrieb<br />

zu befahren. Dieser Weg war zehn bis fünfzehn Kilometer lang und endete an einer Bucht,<br />

welche durch zwei in das Meer ragende Klippen, zu beiden Seiten vom Umland abgegrenzt<br />

wurde. Die Sonne stand am Zenit, als er mit seinem Geländewagen in den Feldweg einbog.<br />

Die Vegetation hatte sich seit der letzten Bereinigungsaktion bereits schon wieder ihr Terrain<br />

zurückerobert. Mehrmals musste er aussteigen, um abgebrochene, größere Äste und Steine<br />

aus dem Wege zu räumen, einige Mal musste er die Machete nutzen, um stärkere Lianen zu<br />

kappen. Nach zwei Stunden wurde der Weg breiter, die Bäume und Pflanzen traten ein wenig<br />

zurück und machten einem wunderschönen Anblick Platz. Unter ihm lag eine Bucht mit<br />

schneeweißem Sand, an der sich ein Pärchen die Zeit, sichtlich mit großem Vergnügen,<br />

vertrieb. Wie kommen die denn hierher?, dachte er. Seine Frage wurde beantwortet. Nicht<br />

weit von ihnen war ein Schlauchboot, mit Außenbordmotor, an Land gezogen worden. Die<br />

zwei jungen Leute hatten im Eifer des Gefechtes den Motor seines Wagens überhört. Schnell<br />

entschloss er sich, ging zum Wagen und fuhr ungefähr zwanzig Meter in den Wald zurück.<br />

Hier ließ er im Leerlauf den Motor laut aufbrüllen und hupte mehrmals. Unter der Decke<br />

hörte er die fragenden und ängstlichen Grunzlaute seines Passagiers. Als er langsam, unter<br />

Aufheulen seines Motors, aus dem Wald fuhr und sich die Bucht wiederum vor ihm<br />

ausbreitete, konnte er gerade noch rechtzeitig das Schlauchboot hinter der nördlichen Klippe<br />

verschwinden sehen. Der Strand war bis auf ein paar leere Flaschen, die das Pärchen in ihrer<br />

überstürzten Eile zurückgelassen hatte, menschenleer. Günstig für das Finale.<br />

In Richtung Strand öffnete sich der Weg ein wenig und führte auf eine kleine Lichtung. Falls<br />

noch weitere ungebetene Gäste kommen sollten, was äußerst unwahrscheinlich war, war der<br />

Wagen unter den tief herabhängenden Lianen nicht sofort zu entdecken. In der direkten<br />

Uferzone lag angetriebenes Holz. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass sein<br />

Passagier noch am Leben war, ging er zum Ufer und sammelte einen vollen Arm trockenes<br />

Holz ein. Nach drei Gängen war der Holzstapel groß genug für seine Zwecke. Unter dem<br />

Stapel hatte er am Rand Papier zusammengeknüllt und eine mitgebrachte Talgkerze darüber<br />

zerbrochen. Damit konnte er später den Holzstapel in Brand setzen. Nachdem er alle ihm<br />

notwendig erscheinenden Vorbereitungen beendet hatte, ging er zum Wagen zurück. Sein<br />

Gast fing unruhig an zu zappeln, als er die Wagentür öffnete. Er packte seinen Passagier an<br />

den Füßen und zog seine Beine aus dem Wagen, sodass nur der Oberkörper noch im Wagen<br />

lag. Die Beine knickten am Knie ein und lagen mit den Füßen auf dem Waldboden. Sein<br />

Passagier hatte das Aufschnappen seines Messers erkannt und zuckte zusammen. Unter<br />

seinem Mundpflaster kam ein gurgelndes Geräusch hervor. Bevor er die Fußfesseln<br />

durchschnitt, verband er mit einem Streifen Klebeband die Augen seines Passagiers. Dann<br />

schnitt er die Fußfesseln durch und zog den vor Angst gelähmten Mann aus dem Auto.<br />

4


Unsicher stand der Mann vor dem Auto, die Hände auf dem Rücken gefesselt, mit<br />

verbundenen Augen. Er packte ihn fest am Arm und zog den Widersträubenden in Richtung<br />

Ufer. Zweimal stolperte der Gefesselte und fiel hin, er zog ihn am Arm gepackt wieder nach<br />

oben. Einen Meter vor dem Holzstapel stieß er den Mann unsanft in den Sand, bückte sich<br />

und fesselte mit einer Kabelschelle wieder die Beine überhalb der Knöchel. Danach riss er<br />

unsanft die Klebestreifen vor den Augen und den Mund weg. Dieser blinzelte in die grelle<br />

Sonne und versuchte sich zu orientieren. Das Brechen der Wellen hatte der Mann bereits im<br />

Wagen wahrgenommen, als er sich umsah, wurde seine akustische durch die sichtbare<br />

Wahrnehmung ergänzt. Der Gefesselte fand sich an einem Strand, vor einen großen Stapel<br />

Holz, im Sand liegend, wieder. Vor ihm stand halb herabgebeugt sein Todfeind, der ihn<br />

beobachtete.<br />

„Willkommen in der Hölle, du Scheißkerl!“, sprach dieser ihn an.<br />

Mit weit aufgerissenen Augen schaute er seinen Peiniger an. „Was ... was ... hast du<br />

mit mir vor?<br />

Dieser antwortete nicht. Der gefesselte Mann sah, wie er zum Waldrand ging, hinter<br />

den Bäumen verschwand und nach einigen Minuten mit einem Metallkoffer in der Hand<br />

wieder erschien und zum Holzstapel zurück kam. Langsam, den liegenden Mann im Auge<br />

behaltend, stellte er den Koffer im Sand ab und ließ die Verschlüsse aufschnappen. Danach<br />

öffnete er den Koffer und schaute den Inhalt prüfend an. Der im Sand liegende Mann konnte<br />

von dieser Position nicht den Inhalt erkennen. Um besser sehen zu können, hob er den Kopf<br />

an. Sein Peiniger stellte den Fuß auf seine Brust und drückte ihn wieder zu Boden.<br />

„Rühre dich nicht du Arsch, sonst mache ich gleich kurzen Prozess mit dir!“, herrschte<br />

er ihn an, der nun, flach wie eine Flunder gepresst, im Sand lag.<br />

Aus dem Augenwinkel sah der Mann, wie sein Peiniger mit einer Schere auf ihn<br />

zukam, und spürte den kalten Stahl oberhalb seiner Knöchel. Mit einigen Schnitten war das<br />

linke Hosenbein seiner Jeans vollständig bis zum Gürtel aufgetrennt. Das gleiche Schicksal<br />

erfuhr das rechte Hosenbein, seine Unterhose und sein T-Shirt. Mit einem Ruck zog er den<br />

Gürtel aus den Schlaufen, riss die Reste der Hosen und das Oberteil vom blassen Körper<br />

seines Opfers. Dieses lag vollständig nackt, gekrümmt, wie ein Embryo im Mutterleib, im<br />

Sand und konnte sehen, wie sein Peiniger den Stapel Holz anzündete. Nachdem der<br />

Holzstapel hell in Flammen stand warf er die Sachen ins Feuer, die mit viel Qualm, anfingen<br />

zu verbrennen.<br />

Danach griff er wieder in den Koffer und holte einen im roten Umschlag gehaltenen<br />

Reisepass heraus und schlug ihn vor den Augen seines Opfers auf, der erkannte, dass es sein<br />

Pass war.<br />

„Ich übergebe diesen Reisepass den Flammen, denn du brauchst ihn nicht mehr.“ Mit<br />

diesen pathetischen Worten schmiss er den Pass in die Flammen.<br />

Er griff immer wieder in den Koffer und holte noch eine Reihe Papiere hervor, die er<br />

stets dem am Boden liegenden Mann vorher zeigte, bevor es diese ebenfalls in die Flammen<br />

schmiss. Der am Boden liegende Mann sah seine costa-ricanische Aufenthaltsgenehmigung,<br />

seinen deutschen Personalausweis, seine Krankenkarte, alle seine Papiere, die ihn als Michael<br />

Schulz aus Ulm in Deutschland auswiesen, im Feuer verbrennen.<br />

Schweigend beobachtete der Mann die Arbeit der Flammen. Im Augenwinkel sah er sein<br />

entsetztes, wie gelähmt erscheinendes Opfer, der seine Vergangenheit, sein Leben in den<br />

Flammen verschwinden sah. Ruhig wandte der Mann sich seinem, vor sich hinwimmerndem<br />

Opfer zu.<br />

„Höre jetzt ganz genau zu Schulz,“ begann er, „ich erzähle es dir nur ein einziges Mal.<br />

Du glaubst, ich will dich hier und jetzt umbringen. Das will ich nicht! Ich bin nicht so ein<br />

Schwein wie du. Du wolltest mich und Pauline umbringen lassen, du hast mir meine Firma<br />

gestohlen und hast mich ins Elend gestürzt. Ich hätte jeden erdenklichen Grund, jetzt mit dir<br />

Schluss zu machen, aber ich bin kein Mörder, so wie du.“<br />

5


„Was ... was hast du denn mit mir vor Holt?“, flüsterte Schulz heiser.<br />

Holt schaute das Bündel Elend mit Ekel im Gesicht an und antwortete: „Ich gebe dir<br />

die allerletzte Chance. Was du daraus machst, ist allein deine Sache, du hast es in der Hand,<br />

ob du am Leben bleibst oder elendig krepierst. Als wir zusammen in Bello Horizonte<br />

wohnten, hattest du uns erzählt, was das Schlimmste war, was dir einmal widerfahren ist und<br />

was du nie wieder erleben möchtest. Kannst du dich noch daran erinnern? Ich ja, ich habe es<br />

nicht vergessen.“<br />

Schulz presste die Lippen aufeinander und schwieg.<br />

„Du hast uns erzählt, dass Schlimmste wäre, morgens, ohne auch nur einen Pfennig,<br />

ohne Sachen, geplagt vom Drogenentzug, am Strand von Montezuma aufwachen zu müssen.<br />

Ich werde deinen Albtraum, deine Befürchtung wahr werden lassen. Dies ist zwar nicht der<br />

Strand von Montezuma, der liegt zwanzig Kilometer weiter dahinten.“ Holt zeigte mit der<br />

Hand in eine bestimmte Richtung. „Dort konnte ich dich nicht hinbringen, da sind zu viele<br />

Touristen. Hier ist nur der nahe gelegene Strand von Cabo Blanco. Und nun kommt das Beste,<br />

eine Extraüberraschung, nur für dich!“<br />

Holt holte aus dem Koffer ein paar Klinikhandschuhe und zog sie sich langsam über<br />

die Hände. Dann griff er in den Koffer und holte einen Mundschutz heraus, den er sich sofort<br />

umband. Danach richtete er Schulz auf und schob diesem mit dem Fuß losen Sand hinter den<br />

Rücken, damit er aufrecht sitzen konnte. Dieser sah, wie Holt in den Koffer griff und eine<br />

Schachtel aufriss. Aus der aufgerissenen Schachtel entnahm er eine Glasampulle, welche mit<br />

einer roten Banderole mit einem schwarzen Totenkopf umgeben war. Holt brach die Spitze<br />

der Glasampulle ab und zog mit einer Spritze den Inhalt heraus.<br />

6


Der Umbruch<br />

Es war bereits seit zwei Stunden dunkel. Die Dichte der Hauptverkehrszeit hatte<br />

nachgelassen. Nur noch wenige Autos fuhren in Richtung des westlich gelegenen Stadtteils,<br />

in dem Holt wohnte. Die Straße war gespenstisch leer, als er in die Autoeinfahrt zur<br />

Tiefgarage seines Hauses einfuhr. Iris, seine Frau, warf aus der Küche nur einen kurzen Blick<br />

auf den eintretenden, mit Akten beladenen Ehemann, ohne auf sein Hallo auch nur die<br />

Andeutung einer Erwiderung erkennen zu lassen. Holt hatte bereits mit einem Blick den<br />

Unwillen und die Ärgerlichkeit in ihrem Gesicht erkannt.<br />

„Willst du nicht gleich dein ganzes Büro nach Hause verlegen?“, giftete sie, indem sie<br />

auf seine, auf der Garderobe abgelegten Akten mit ihrem spitzen Kinn wies, welches Holt nun<br />

noch spitzer erschein, als üblich.<br />

Holt schien es überflüssig zu sein, darauf eine Antwort geben zu müssen. Er wollte<br />

jedoch die Situation entspannen und trat auf sie zu, um ihr einen Begrüßungskuss auf die<br />

Wange zu geben. Sie drehte jedoch den Kopf weg und schob sich an Holt vorbei in das zweite<br />

Zimmer, welches sie in der letzten Zeit, mehr als üblich, frequentierte.<br />

„In der freien Wirtschaft gibt es leider keine geregelte Arbeitszeit wie im öffentlichen<br />

Dienst“, spielte er auf ihre Tätigkeit an der TU an.<br />

„Wenn ich in der Firma Chef der Rechtsabteilung werden will, muss ich so lange<br />

arbeiten, bis alles erledigt ist. Es spielt doch keine Rolle, ob ich noch allein im Büro sitze oder<br />

hier zu Hause etwas mache.“<br />

„Etwas mache“, antwortete Sie, wobei sie das Wort etwas besonders stark betonte.<br />

„Du schleppst doch bereits über die Hälfte deines Krams mit nach Hause, und wieso willst du<br />

Chef der Abteilung werden, du bist es doch bereits.“<br />

„Nein, seit dem Unfall vom Abteilungsleiter bin ich nur als vorläufiger Chef<br />

eingesetzt worden. Möller hat mir gesagt, dass er den Entscheidungen der anderen<br />

Gesellschafter nicht vorgreifen will. Also nur bis zur nächsten Gesellschafterversammlung,<br />

aber meiner endgültigen Berufung stünde nichts im Wege.“<br />

„Doch, du stehst dir selbst im Wege, weil du deine Arbeit in der normalen Bürozeit<br />

nicht schaffst!“, konterte sie.<br />

Holt wurde sich immer mehr der unangenehmen Situation seiner verkorksten Ehe<br />

bewusst. Dieses sture und giftige Stück, ihr ist wahrscheinlich schon wieder eine Laus über<br />

die Leber gelaufen und ich muss es ausbaden, dachte er.<br />

„Du vergisst, dass ich neben den Aufgaben des Abteilungsleiters auch noch meine<br />

ursprünglichen Aufgaben zu erledigen habe. Ich bin nicht entlastet worden, sondern erledige<br />

noch alle Miet- und Vertragssachen“, antwortete er ärgerlich, als er seine Akten nahm und<br />

sich ins Wohnzimmer zurückzog. Iris schwieg und knallte die Tür des zweiten Zimmers laut<br />

zu.<br />

Nach dem Abendessen, welches er sich schnell selbst zubereitet hatte, blieb Holt am<br />

Esstisch sitzen und fing an, die bereits im Büro schnell durchgelesenen neuen Verträge noch<br />

einmal auf Haken und Ösen zu prüfen. Der Entwurf für einen Vertrag mit dem Senat von<br />

Berlin war von Möller in Stichpunkten entworfen worden. Nach dem<br />

Berlinförderungsgesetz 11 wollte die Firma in der Bleibtreustraße ein großes Mietshaus<br />

vollständig modernisieren und in Eigentumswohnungen umwandeln und mit exorbitanten<br />

Gewinnen veräußern. Zusätzlich wollte Möller für die Erhaltung und der teilweisen<br />

Wiederherstellung der ursprünglichen Fassade aus der Gründerzeit einen staatlichen Zuschuss<br />

abgreifen. Es war zu prüfen, ob die während des Zweiten Weltkrieges durch sowjetischen<br />

Artilleriebeschuss teilweise zerstörte Fassade aus den Mitteln des Landeskonservators<br />

bezuschusst werden konnte, da ja bereits in den 50er Jahren öffentliche Zuschüsse von der<br />

Stadt Berlin bewilligt worden waren. Es schien möglich zu sein, stellte Holt nach Durchsicht<br />

7


der ihm vorliegenden Bezuschussungsrichtlinien fest. Das Ergebnis seiner Überprüfung<br />

schrieb er kurz nieder.<br />

Entgegen seinen sonst üblichen Geflogenheiten lief im Hintergrund der Fernseher. Holt griff<br />

zu der auf dem Tisch liegenden Fernbedienung und stellte den Ton lauter.<br />

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen<br />

...Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse ... beantragt werden. Die Genehmigungen<br />

werden kurzfristig erteilt. … Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der<br />

DDR zur BRD erfolgen,“ hörte Holt.<br />

Er schaute auf und sah das Erste Programm des DDR-Fernsehens, die allabendliche<br />

Pressekonferenz der neuen DDR-Regierung. Günter Schabowski 12 saß mit zwei weiteren<br />

Mitarbeitern an einem langen Tisch des Pressezentrums im Gebäude des ZK der SED, dem<br />

ehemaligen Gebäude der Deutschen Reichsbank, vor laufenden Kameras und einer<br />

unübersichtlichen Anzahl Mikrofonen.<br />

RIAS-TV und die Berliner Abendschau berichteten schon seit Wochen über ständig<br />

wachsende Unruhen auf dem gesamten Gebiet der DDR. Seit dem DDR-Staatsfeiertag, am 7.<br />

Oktober, hatte sich einiges ereignet, mit dem Holt in dieser Schnelligkeit nicht gerechnet<br />

hatte, obwohl er es sich immer gewünscht hatte. Gorbatschow hatte den verkalkten Honecker<br />

vor laufender Kamera sprichwörtlich in den Hintern getreten, als er sagte, Wer zu spät kommt,<br />

den bestraft das Leben. Seitdem hatten sich die Ereignisse überschlagen.<br />

Jetzt müsste ich drüben sein. Die geschwätzigen Leute vom Neuen Forum am Runden<br />

Tisch 13 bringen es nicht, sie glauben noch immer an einen Sozialismus mit menschlichem<br />

Antlitz, dachte er, als er sich der vielen Berichte über die ständig wachsende<br />

Bürgerrechtsbewegung in Ostberlin und Leipzig erinnerte.<br />

Am 18. Oktober 1989 waren Honecker 14 und ein paar alte Hardliner vom Politbüro des<br />

ZK der SED zurückgetreten, gemäßigtere und jüngere Funktionäre hatten die Macht, sofern<br />

sie noch welche hatten, übernommen. In Leipzig wäre beinahe auf die über hunderttausend<br />

Teilnehmer der Montagsdemonstration 15 geschossen worden. Das mutige Eingreifen von Kurt<br />

Masur, dem Dirigenten des Gewandhausorchesters, und einem örtlichen SED-Chef, hatte ein<br />

Massaker, die von Honecker bevorzugte chinesische Lösung 16 , verhindert. Berichten aus der<br />

DDR zur Folge, waren einige „alte Kämpfer“ aus den Reihen der Kampfgruppen 17 bereit<br />

gewesen, auf die „Konterrevolutionäre“, wie sie die Demonstranten nannten, zu schießen. Aus<br />

den Reihen der Polizei und der Volksarmee waren Meldungen gekommen, sich solchen<br />

Befehlen zu widersetzen. Die Stasi hatte zu alledem geschwiegen. Was war zu glauben, was<br />

ist wahr und was ist nur Wunschdenken?<br />

Die Pressekonferenz lief noch. Die Fragen der Journalisten beantwortete Schabowski<br />

spontan, ohne auf irgendwelche Zettel schauen zu müssen. Es war erstaunlich, einen DDR-<br />

Funktionär frei sprechen zu sehen. Jetzt jedoch schien Günter Schabowski in der<br />

Pressekonferenz in Verlegenheit zu geraten. Auf die Frage eines Journalisten hin, ab wann<br />

denn das neue Reisegesetz gilt, schien er keine Antwort zu haben. Holt konnte sehen, wie er<br />

verlegen in seinen Unterlagen blätterte.<br />

„Das tritt nach meiner Kenntnis… „ nach einigem Suchen in seinen Unterlagen, „ ...<br />

ist das sofort, unverzüglich.“<br />

Holt nahm sich vor, sich am nächsten Tag das Neue Deutschland 18 zu besorgen. Er<br />

war sich sicher, dass der beabsichtigte Gesetzestext dort abgedruckt sein würde. Er kannte die<br />

Spielregeln der neuen DDR-Gesetzgebung. Zuerst kam ein ziemlich weit gehender Entwurf<br />

von Gesetzen, der dann später noch weiter zerpflückt und zum Nachteil der DDR-Bürger<br />

verändert wurde. Nach dem Motto, zuerst die Leute beruhigen und dann zur Tat schreiten,<br />

waren in der letzten Zeit einige Änderungen eingetreten. Holt schaltete zur Abendschau über,<br />

die Auszüge aus der eben gesehenen Pressekonferenz brachte. Nachdem er die übrigen<br />

8


Verträge überarbeitet hatte, kam gerade noch ein spannender Film, bei dem Holt hängen<br />

blieb. Danach ging er müde ins Bett, ohne sich noch die Spätnachrichten anzuschauen.<br />

*<br />

Die gleiche Pressekonferenz hatte am Grenzübergang Bornholmer Straße der dort Dienst<br />

tuende Offizier, Werner Bachmann, ein Oberstleutnant der Grenztruppen der DDR und<br />

Angehöriger der PKE 19 , Staatssicherheit, Abteilung VI, in seinem Dienstzimmer verfolgt. Das<br />

beabsichtigte neue Gesetz regte ihn nicht weiter auf. Er schaute aus seinem Fenster in die<br />

Dunkelheit in Richtung Schönhauser Allee. Die Bornholmer Straße lag wie verwaist da, nur<br />

einige Autos wendeten fünfzig Meter vor dem Grenzgebiet, um zurück in Richtung Ostberlin<br />

zu fahren. Die Scheinwerfer der Autos erleuchteten in unregelmäßigen Intervallen, gleich<br />

Feuer eines Leuchtturmes, die geschlossenen Stahlgitter zum Grenzübergang. In westlicher<br />

Richtung sah Bachmann die hell erleuchteten Straßenzüge vom Wedding herüber scheinen.<br />

Es war gerade 19:05 Uhr, ein Abend wie viele andere trostlose Abende an der Staatsgrenze<br />

der DDR, am antifaschistischen Schutzwall.<br />

*<br />

Holt verschlief den Startschuss für ein, diese Epoche veränderndes, Ereignis. Iris, die<br />

meistens vor Holt aufstand, rüttelte diesen unsanft an der Schulter und erzählte ihm zuerst<br />

Unverständliches.<br />

„Deine Leute haben Westberlin überrannt!“<br />

Was für „Deine Leute“, wer hat Westberlin überrannt?, ging es ihm schlaftrunken<br />

durch den Kopf. Eine ähnliche Situation kam ihn spontan in Erinnerung. In den<br />

Morgenstunden des 21. August 1968 hatten ihn seine tschechischen Freunde auch mit<br />

ähnlichen Worten in Prag wach gerüttelt. Michail, es ist Krieg, deutsche und sowjetische<br />

Soldaten haben über Nacht unser Land besetzt. Gott sei Dank, hatte es sich später<br />

herausgestellt, dass die NVA beim Einmarsch nicht beteiligt war.<br />

Iris saß vor dem laufenden Fernseher und schaute sich eine als „Sondermeldung“<br />

bezeichnete Sendung an. Über ihre Schulter konnte Holt auf dem Bildschirm eine riesige<br />

Menschenmenge sehen, die sich an irgendeinem hochgeschobenen Schlagbaum vorbei<br />

drängte. Andere Menschen hingen wie Trauben an einem Gebilde, das wie die Berliner Mauer<br />

aussah, sie tanzten auf der Mauer und schwangen schwarz-rot-goldene Fahnen. Einige<br />

schlugen mit schweren Gegenständen auf den Beton, um Steinbrocken abzuschlagen. Ein<br />

anderes Bild zeigte Trabbis hinter Trabbis, die sich ihren Weg durch ein Spalier von<br />

Menschen bahnten, die wie verrückt auf die Plastikdächer hieben. Es war wie in einem<br />

Irrenhaus, schien es Holt. Lief hier eine Fiktion über den Zusammenbruch des DDR-<br />

Grenzregimes oder war es Wirklichkeit? Wieder erschien der Schlagbaum im Bild. Eine<br />

Laufzeile unterhalb des Bildes bezeichnete den Ort als Grenzübergang Bornholmer Straße.<br />

Langsam wurde es Holt klar: Das war real, hier ereignete sich schier Unglaubliches<br />

und er war nicht dabei!<br />

Als Holt in Richtung Arbeitsstelle fuhr, nahm er einen zuerst leichten, dann immer<br />

beißenderen Geruch von Auspuffgasen der Zweitaktmotoren wahr. Die anfänglich klare<br />

Morgenluft wurde zur Stadtmitte hin immer bläulicher. Danach sah er die ersten Trabbis. Der<br />

Kurfürstendamm war verstopft, tausende Menschen eilten freudetrunken hin und her. Vor den<br />

Banken, die bereits geöffnet schienen, standen lange Schlangen von Menschen. Die alte Welt<br />

von Westberlin schien aus den Fugen geraten zu sein. Es war am Morgen des 10. November<br />

1989, im noch geteilten Berlin.<br />

9


Im Büro herrschte ungewohnte Aufregung. Nicht die Tatsache, dass es nun endlich<br />

Veränderungen in Deutschland geben würde, sondern, dass einige Mitarbeiter wegen der<br />

vielen Trabbis keinen Parkplatz in der Nähe zum Büro gefunden hatten, war Grund einer<br />

allgemeinen Missstimmung.<br />

Möller konferierte hinter verschlossener Bürotür telefonisch mit seinen<br />

Geschäftspartnern in Düsseldorf, die sicherlich bereits am frühen Morgen wissen wollten, was<br />

in Berlin los sei. Holt hatte keine Gelegenheit, die überarbeiteten Verträge Möller persönlich<br />

vorzulegen. Nachdem er die Unterlagen der Sekretärin gegeben hatte, teilte er dieser mit, dass<br />

er sich noch einmal ein Umbauvorhaben ansehen wolle. Dazu benötigte er aber die<br />

hochwertige Firmenkamera, welche sie auch bereitwillig an Holt rausrückte.<br />

Holt verzichtete wegen des Chaos auf den Straßen der Innenstadt, auf die Nutzung<br />

seines Autos. Ein Parkplatz war mit Sicherheit nicht zu finden und sein Ziel war auch nicht,<br />

wie angekündigt, das Bauvorhaben, sondern die Friedrichstraße. Der S-Bahnhof<br />

Friedrichstraße, der größte Grenzübergang zu Ostberlin, war mit der Stadtbahn oder U-Bahn<br />

auch für Westberliner, ohne Passkontrolle durch die DDR-Grenzer, zu erreichen. Holt<br />

entschloss sich, von der nahe gelegenen Bahnstation direkt zur Friedrichstraße zu fahren. In<br />

diesem Moment war ihm seine Tätigkeit bei Möller egal. Er wollte das, was er am späten<br />

Abend versäumt hatte, jetzt und sofort nachholen, er wollte selbst sehen, wie die Ostberliner<br />

durch die nun offensichtlich offenen Grenzübergangsstellen kamen.<br />

Als Holt die Eingangshalle des S-Bahnhofes betrat, musste er sich wegen der vielen<br />

Menschen, die den S-Bahnhof verlassen wollten, dicht an die Wand pressen, um nicht<br />

umgerissen zu werden. Die ausgelassenen, freudetrunkenen Menschen strömten alle in die<br />

City von Westberlin. An den Kauf einer Fahrkarte war nicht zu denken, es war auch<br />

überflüssig geworden. Der Senat hatte Kostenfreiheit angeordnet. Es war ein einmaliger<br />

Vorgang in der Geschichte Westberlins.<br />

Der Bahnsteig war voller Menschen. Vereinzelt fielen sich völlig Unbekannte in die<br />

Arme. Viele Menschen hatten Tränen in den Augen und stammelten immer wieder die Worte<br />

Wahnsinn, es ist Wahnsinn. Holt erschien die Situation irrational, wie in einem plastischen<br />

Traum, auch er wurde von der überschäumenden Freude der Menschen angesteckt. Selbst in<br />

Hochstimmung bestieg er eine bereits total überfüllte S-Bahn. Wie durch Watte hörte er die<br />

Begrüßung durch den Lautsprecher auf dem Bahnsteig.<br />

„Wir begrüßen alle Besucher, unsere Schwestern und Brüder aus dem Ostteil unserer<br />

Stadt und aus der DDR, im Namen des Senats von Berlin. Wir wünschen Ihnen einen schönen<br />

Aufenthalt. Sollten Sie Fragen oder Probleme haben, wenden Sie sich bitte an unser Personal,<br />

an die Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes, der anderen Wohlfahrtsverbände oder an<br />

unsere Polizei, welche darauf wartet, Ihnen behilflich zu sein.“<br />

Holt glaubte immer noch zu träumen, als die S-Bahn in das Chaos auf dem Bahnhof<br />

Friedrichstraße hineinfuhr. Aus dem Eingang zum Tränenpalast 20 , in Richtung<br />

Westbahnsteige, kamen die Menschen in Trauben herausgepresst. Die an die Wände<br />

gedrängten Offiziere der Grenztruppen waren der Lage nicht mehr Herr. Die<br />

Hineinströmenden hielten über ihre Köpfe aufgeklappte DDR-Ausweise, es hätten auch<br />

Mitgliedsausweise der Kleingärtnervereine oder die der Briefmarkensammler sein können.<br />

Nachdem er einige Aufnahmen geschossen und sich diesen historischen Augenblick<br />

verinnerlicht hatte, fuhr er mit der unterirdischen Linie der S-Bahn in Richtung Süd und stieg,<br />

nach dem Passieren von drei toten Geisterbahnhöfen, gleich hinter der Sektorengrenze wieder<br />

aus. Zu Fuß erreichte er den südlichen Teil der Friedrichstraße, in Westberlin. Am<br />

Grenzübergang Check-Point-Charly 21 , der beinahe 1962 Ausgangspunkt einer militärischen<br />

Konfrontation geworden wäre und die Initialzündung zum Dritten Weltkrieg hätte sein<br />

können, herrschte jetzt relative Ruhe. Nur einige einzelne Autos passierten in Richtung Ost<br />

den Checkpoint.<br />

10


Als Holt am späten Nachmittag wieder im Büro eintraf, fand er einen Zettel auf seinem<br />

Schreibtisch, auf dem stand, dass Möller ihn zu sprechen wünsche, sobald er eingetroffen sei.<br />

Möller saß noch immer in seinem Büro, er hatte es wohl inzwischen nicht verlassen.<br />

Auf dem Schreibtisch befanden sich noch die Reste einer Pizza. Ohne irgendwelche Worte<br />

der Begrüßung zu machen, bellte er los.<br />

„Holt, was läuft da draußen ab? Sind die Ossis alle verrückt geworden?“<br />

„Nein Chef, sie nutzen die einzigartige Situation, einmal in den Westen zu kommen.<br />

Alle haben Angst, dass es Morgen schon wieder vorbei sein könnte. Sie trauen ihren<br />

Behörden nicht und nutzen nur die Gunst der Stunde“, antwortete Holt.<br />

„Scheiße, die Leute wollen doch nur das Begrüßungsgeld abgreifen.“<br />

„Ist ihnen das zu verdenken, dafür können sie sich endlich einmal Bananen oder<br />

andere Dinge kaufen, die für uns ganz selbstverständlich sind.“<br />

„Ja, Bananen, benehmen sich auch wie die Affen. Wollte schnell rüber zur Bank, aber<br />

da war kein Durchkommen. So eine lange Schlange habe ich noch nie gesehen. Aber die<br />

Leute sind ja an Schlange stehen gewöhnt.“<br />

So ein arroganter hanseatischer Pfeffersack, sensibel wie ein Holzhammer. So wie er<br />

sich hier in der Firma verhält, so würde er auch die Ossis behandeln, wenn er es könnte, ging<br />

es Holt durch den Kopf.<br />

Möller hatte die Veränderung in Holts Gesicht wahrgenommen, er wusste von Holts<br />

Ostvergangenheit. Trotzt aller Überheblichkeit konnte er in den Gesichtern der Menschen<br />

lesen und blitzartig Rückschlüsse daraus ableiten. Schnell wechselte er das Thema. Als<br />

Westdeutscher hatte er kein Verständnis für die Empfindlichkeiten der Ostdeutschen, er<br />

empfand diese nur als Bedrohung. Er kannte die Ostdeutschen nur in Uniform, als Grenzer,<br />

Zöllner und Volkspolizisten und dieses Kennenlernen war zu oft nicht immer gut verlaufen.<br />

„Wie schätzen Sie die Lage ein, hat sie negativen Einfluss auf unsere Tätigkeit?“,<br />

wollte Möller wissen.<br />

„Nein, das glaube ich nicht. Sicherlich wird sich jetzt die Lage in der DDR ein wenig<br />

verbessern, es kann eventuell etwas liberaler und offener zugehen, aber prinzipiell schnelle<br />

und gründliche Änderungen sind unmittelbar nicht zu erwarten.“<br />

„Wie kommen Sie darauf?“<br />

„Noch haben die Kommunisten das Sagen. Sie werden nicht sofort ihr ganzes System<br />

über Bord werfen. Aber ich kann mir vorstellen, dass sie nun eventuell den Eigentümern der<br />

heruntergekommenen Häuser in Ostberlin gestatten werden, unter gewissen Voraussetzungen,<br />

im Westen Kredit aufzunehmen. Selbst der Magistrat kann seine Altbau-Wohnungssubstanz<br />

nicht mehr retten, ohne Millionenkredite. Und woher könnten die kommen? Doch nur aus<br />

dem Westen. Es kann sogar sein, das man im Wege von Joint Venture westdeutsches Kapital<br />

beteiligt.“<br />

Möller hatte sofort etwas Wichtiges erkannt: „Kann man sich daran beteiligen, springt<br />

für uns was ab, wenn wir da mitmachen?“<br />

„Es hängt davon ab, wie sich die Lage weiterentwickelt. Heute noch nicht, aber mit<br />

Bestimmtheit in der Zukunft. Die DDR ist pleite, sie muss, ob sie will oder nicht, ihre<br />

gesamte Wirtschaft auf westliches Niveau umstellen.“<br />

„Das werden die Kommunisten nicht machen“, ergänzte Möller.<br />

„Nein, die jetzige Riege noch nicht, aber drüben ist alles im Fluss. Die Kommunisten<br />

verlieren an Boden. Ihre Nachfolger werden sich sicherlich nicht den Kapitalisten an die Brust<br />

werfen, aber Sie wissen ja, Geld stinkt nicht.“<br />

Möller grinste, dachte ein wenig nach und äußerte sich dazu. „Holt, sie kennen doch<br />

den Laden da drüben sehr gut, ich meine die Strukturen und so. Können Sie mir bis<br />

übermorgen nicht eine Aufstellung machen.“ Nach einer kleinen Pause. „Besser noch, Sie<br />

11


halten einen Vortrag vor den Gesellschaftern, dabei kann ich Sie auch als den neuen Leiter<br />

der Rechtsabteilung präsentieren.“<br />

So ein Halunke, er hat Blut geleckt und will sich jetzt nichts verbauen, was ihn aus<br />

dem Osten Geld einbringen könnte. Gleichzeitig hat er mich geködert. Mit dem<br />

Berlinförderungsgesetz wird jedoch zurzeit im Osten nichts zu machen sein, dachte Holt.<br />

„Eine Übertragung des Berlinförderungsgesetzes wird wahrscheinlich nicht möglich<br />

sein, aber der Bund wird schnell reagieren und neue Förderungsmöglichkeiten für den Osten<br />

verabschieden. Sie werden sehen, in einem Jahr sieht alles ganz anders aus.“<br />

„Na gut, dann machen Sie sich Gedanken über den Vortrag übermorgen. Wir fangen<br />

um neun an und es sollte bis mittags über die Bühne gegangen sein. Überzeugen Sie die Jungs<br />

aus Düsseldorf, mich haben Sie ja auch überzeugt, dass wir da nach Gold graben sollten.“<br />

Zwei Tage später. Die zwei Gesellschafter waren mit der Morgenmaschine aus Düsseldorf<br />

gekommen. Holt kannte sie aus vorherigen Besprechungen, er konnte beide nicht leiden. Für<br />

ihn waren sie nur zwei aufgeblasene Neureiche aus dem Ruhrpott, die aufdringlich nach<br />

Rasierwasser rochen. Er bemühte sich, seine Antipathie zu verbergen, als er sie im<br />

Konferenzraum begrüßte. Nach ein paar einführenden Worten über die jetzige Situation kam<br />

er aber schnell zum Thema.<br />

„Ich will nicht mit den Grundlagen der kommunistischen Weltanschauung beginnen,<br />

sondern mich gleich auf das Wesentliche beschränken, was für die Aktivitäten unserer<br />

Firmengruppe von Bedeutung sein könnte“, sprach er, wobei er die Worte unserer<br />

Firmengruppe besonders betonte.<br />

Holt sah, wie alle drei Zuhörer gespannt auf wichtige Erkenntnisse warteten. In kurzen<br />

Worten schilderte er den verfassungsgemäßen Aufbau der DDR und erläuterte, wer die<br />

tatsächliche Macht in der DDR ausübte. Als er seinen Zuhörern erklärte, dass es für jede<br />

staatliche Dienststelle ein Pendant in der Partei gäbe, welches die Entscheidungen der<br />

staatlichen Organe zu kontrollieren und gegebenenfalls abzuändern hatten, erhöhten sie<br />

ersichtlich ihre Konzentration, indem sie sich gespannt halb aufrichteten.<br />

Der Jüngere der beiden Gesellschafter und Wortführer hob die Hand, um anzudeuten, etwas<br />

fragen zu wollen.<br />

„Sie meinen also, dass zum Beispiel das Ministerium für Bauwesen, oder wie es sonst<br />

in der Zone heißt, wird durch die Kommission Bauwesen in der Partei kontrolliert. Dann<br />

müssten wir uns doch gleich an die Partei wenden, oder nicht?“<br />

„Nein“, entgegnete Holt, „so einfach ist das nicht. Formell ist in Fragen Bauwesen das<br />

Ministerium oder die zuständige Abteilung für Bauwesen in den Bezirken und Kreisen dafür<br />

verantwortlich. Einen Antrag stellt man beim Staat, aber den Kontakt zur zuständigen<br />

Parteistelle sollte man nicht unterschätzen. Um keine überstürzten Entscheidungen treffen zu<br />

müssen oder in unsicheren Fällen nutzen beide Stellen sich gegenseitig als Ausrede um Zeit<br />

zu gewinnen oder auch um etwas ablehnen zu können. Wichtige Entscheidungen werden<br />

gemeinsam ausgekungelt, wobei die Partei jedoch das letzte Wort behält.“<br />

„Aha!“ war die zunächst kurze Antwort des Jüngeren, dann: „Also können wir in der<br />

jetzigen Situation die Leute von der Partei außen vor lassen?“<br />

„Das würde ich nicht raten. Die Partei ist zwar geschwächt und hat mit dem Überleben<br />

zu kämpfen, aber sie ist zurzeit immer noch an wichtigen Entscheidungen beteiligt. Sehen Sie<br />

sich die Diskussionen und Verhandlungen am Runden Tisch an. Verhandlungspartner auf der<br />

Seite des Staates ist immer noch die Partei. Außerdem gibt es noch eine Besonderheit in der<br />

DDR. Neben der jeweiligen Kontrollinstitution gibt es noch eine weitere wichtige<br />

Einrichtung, die zwar eine staatliche ist, aber immer mit hundertfünfzigprozentigen Genossen<br />

besetzt wird.“<br />

„Und die wäre?“<br />

12


„Das ist die Staatliche Plankommission. Diese ist genauso gegliedert wie der übrige<br />

Staatsaufbau. Obere, mittlere und untere Ebene. Von der zentralen Plankommission der DDR<br />

geht es hinunter bis zur Plankommission des Kreises oder sogar der kleinsten Kommunen.<br />

Wenn ich ein Anliegen hätte, würde ich mich zuerst an die zuständige Plankommission<br />

wenden.“<br />

„Also Holt, dann gehen Sie als Repräsentant unserer Firmengruppe zur zuständigen<br />

Plankommission in Ostberlin und fragen nach, ob wir ins Geschäft kommen können.“<br />

„Da muss ich Sie enttäuschen“, antwortete Holt. „Seit 1975 bin ich in der DDR eine<br />

sogenannte unerwünschte Person und habe eine Einreisesperre. Jedes Jahr stelle ich pro forma<br />

einen Einreiseantrag beim Besucherbüro, welcher stets abgelehnt wird.“<br />

„Haben Sie denn für dieses Jahr einen Antrag gestellt?“, wollte der Ältere wissen.<br />

„Nein, noch nicht.“<br />

„Dann stellen Sie ihn jetzt, vielleicht können Sie in Anbetracht der Situation nun doch<br />

einreisen. Und wenn Sie die Erlaubnis haben, sollten Sie den zuständigen Chef der ominösen<br />

Plan- oder Planungskommission aufsuchen und ihm von uns die wärmsten Grüße bestellen.“<br />

Alle drei Zuhörer lachten über die wärmsten Grüße. Holt war sich schlagartig im<br />

Klaren, das dies kein so dahin gesprochener Vorschlag, sondern ein bereits festgelegter Plan<br />

der Drei war.<br />

„An wen würden Sie sich denn wenden, wenn Sie zum Beispiel Fragen zur<br />

Finanzierung von Sanierungsvorhaben in Ostberlin hätten?“<br />

Holt dachte ein wenig nach und rief sich das Organisationsschema Ostberlins in<br />

Erinnerung. „An den Leiter der staatlichen Plankommission beim Magistrat von Groß-<br />

Berlin.“<br />

„Dann machen Sie es doch, wenn Sie Ihre Papiere bekommen haben. Wir werden<br />

Ihnen noch rechtzeitig mitteilen, um was es konkret gehen soll.“<br />

Seine Arbeit ließ Holt wenig Zeit, die fasst täglich spürbaren Veränderungen in Ostberlin,<br />

intensiv zu verfolgen. Einige Tage nach der Besprechung hatte er im zuständigen<br />

Besucherbüro seinen jährlichen Antrag gestellt. Die im Büro tätigen Mitarbeiter waren alle<br />

zuvorkommend und ungewöhnlich freundlich. Sie trugen immer noch die Uniformen der<br />

Deutschen Post der DDR, aber nicht ihre richtigen Dienstuniformen, die Uniformen des<br />

Ministeriums für Staatssicherheit. 22 Die meisten der Besucher, welche das Büro aufsuchten,<br />

wussten oder ahnten, wer diese Postbeamten wirklich waren.<br />

Bereits nach zehn Tagen erhielt Holt Post aus Ostberlin, vom Präsidium der Deutschen<br />

Volkspolizei. Im Brief lag, zum ersten Mal nach über vierzehn Jahren, eine gültige<br />

Mehrfachberechtigung zum Betreten von Ostberlin.<br />

Aus Düsseldorf hatten die Gesellschafter für Holt eine Repräsentationsvollmacht und einen<br />

Katalog von Fragen geschickt. Möller bot Holt seinen großen Daimler an, den er anlässlich<br />

seines Besuches in Ostberlin nutzen sollte, um Eindruck zu schinden. Holt konnte dieses<br />

Angebot mit gutem Gewissen ablehnen. Die Einreisegenehmigung lief für sein Auto, dessen<br />

amtliches Kennzeichen bereits auf der Besuchsgenehmigung stand.<br />

Holt überquerte die Sektorengrenze. Das Passieren war nur eine Formsache. Der Grenzer<br />

nahm seinen Personalausweis und die Besuchserlaubnis entgegen und knallte einen Stempel<br />

auf die Mehrfachberechtigung. Das war’s. In entgegengesetzter Richtung bewegte sich eine<br />

lange Schlange Autos der Marken Trabant und Wartburg, die im Schritttempo die Grenze in<br />

Richtung West passierten. Auch viele Fußgänger schoben sich durch die Sperranlagen.<br />

Nach ungefähr hundert Metern kam er an dem links liegenden Naturkundemuseum vorbei.<br />

Hier war er vor über fünfzehn Jahren manchmal mit seinen Kindern gewesen. Er konnte sich<br />

13


noch genau daran erinnern, wie sie während eines Besuches in der Eingangshalle des<br />

Naturkundemuseums, das dort aufgestellte achtzehn Meter hohe Saurierskelett bestaunten. Es<br />

war doch erst gerade gestern. Wie schnell war die Zeit vergangen?, dachte Holt. Kati hatte<br />

zaghaft einen der riesengroßen Fußknochen berührt und gefragt, ob diese Sauriecher auch<br />

Menschen fräßen, worauf Holt lachend geantwortet hatte, dass es Saurier und nicht<br />

Sauriecher wären und dass zur Lebzeit dieser Ungetüme noch keine Menschen auf der Erde<br />

gelebt hätten. In Erinnerung daran zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen und er dachte an<br />

seine Kinder, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.<br />

Nicht weit von hier hatte er als Student gewohnt, direkt im Vorderhaus des Studentenklubs<br />

der Humboldtuniversität, welcher die gesamte vierstöckige Hinterhausbebauung belegt hatte.<br />

Manchmal war er abends in die Bärenschenke eingekehrt, die er gerade passierte. Die damals<br />

bei den Ostberlinern beliebte Kneipe schien es noch zu geben, jedenfalls gab es noch eine<br />

rostige Neonreklame, an der die Farbe abgeblättert war. Nun nahm Holt auch das<br />

vorherrschende Grau und den Zerfall wahr. Er war sichtlich erschrocken. Ganze Straßenzüge<br />

schienen ausgestorben und dem Verfall preisgegeben zu sein.<br />

Am Geländer der Brücke, welche die Spree überquerte, prangte immer noch der Preußische<br />

Adler. Seine Adlerschwingen waren rostig und unansehnlich. Wolf Biermann 23 hatte in einer<br />

Ballade Preußischer Ikarus, 1978, über ihn gesungen. Am S-Bahnhof Friedrichstraße waren<br />

zum ersten Mal seit Grenzübertritt eine größere Zahl von Passanten sichtbar. Viele eilten zum<br />

Eingang des Tränenpalastes, um von dort nach Westberlin zu kommen.<br />

Danach bog er links in Richtung Alexanderplatz ab. Rechter Hand lag das geschlossene<br />

Brandenburger Tor. Unter den Linden gab es endlich ein wenig Autoverkehr. An der<br />

Staatsbibliothek vorbei erreichte er die Reiterstatue vom Alten Fritz. Nachdem die SED,<br />

berechnend an die fortschrittlichen Traditionen des untergegangenen Preußentums<br />

anknüpfend, den Alten Fritz aus dem Schlosspark von Sanssouci zum Boulevard verpflanzt<br />

hatte, dichteten die spöttischen Berliner einen Spottvers, der so lautete: Du lieber Fritz steig<br />

hernieder und regiere deine Preußen wieder!<br />

Der Eingang zur Humboldtuniversität schien geschlossen, Studenten waren nicht zu sehen.<br />

Hier hatte Holt studiert. Er schaute zum rechten Flügel des riesigen Gebäudes, zu den großen<br />

Fenstern des Vorlesungsraumes, in dem er oft in der letzten Bankreihe sitzend, aus dem<br />

hinteren Fenster die Wachablösung am Mahnmal, der ehemaligen Neuen Wache verfolgt<br />

hatte. Durch die geschlossenen Fenster hatte er den Stechschritt der Soldaten auf dem Pflaster<br />

und die kurz gebellten Befehle des Unteroffiziers bei der Wachablösung hören können.<br />

Ständig stand bei der halbstündigen Wachablösung eine Traube von Touristen mit klickenden<br />

Fotoapparaten vor der Neuen Wache. Jeden Mittwoch um zehn Uhr war die Große<br />

Wachablösung, da schien Preußen wieder, wie Phönix aus der Asche gleich, auferstanden zu<br />

sein. Unter Aufmarsch des Wachbataillons mit Musikkorps wurde eine alte preußische<br />

Militärtradition initiiert. Heute standen nur zwei Soldaten mit geschultertem Gewehr,<br />

Zinnsoldaten gleich, auf den zwei kleinen Podesten vor dem Mahnmal.<br />

Eine andere Geschichte, die er damals dort oben im Hörsaal erlebte, schoss Holt durch den<br />

Kopf. Dabei musste er lächeln, als er an das damals gar nicht so lächerliche Ereignis aus dem<br />

Jahr 1970 dachte.<br />

Zur Zeit des Höhepunktes im Vietnamkrieg gab es in der DDR keine Versammlung, die nicht<br />

mit einer sogenannten Solidaritätsadresse mit Geldsammlung zugunsten der Vietcong endete.<br />

*<br />

14


Die monatliche Vollversammlung des Studienjahres 1969 der Sektion Rechtswissenschaft<br />

stand vor ihrem Ende. Während die zur Geldsammlung beauftragten Studenten die Reihen<br />

abgrasten, wurden die nächsten Termine verkündet. Holt der neben Andi, seinem besten<br />

Studienfreund, in der letzten Reihe des Saales saß, sah aus dem Augenwinkel wie dieser nach<br />

Kleingeld suchte und im Ergebnis dieser Suche halblaut vor sich hin fluchte. „Scheiße, das<br />

Geld brauch ich für `ne Dampfwurst.“<br />

„Was ist los, was moserst du?“<br />

„Ich hab nur noch neunundsiebzig Pfennig und fünfundsechzig brauch ich für die<br />

Wurst nachher in der Markthalle, mein Abendbrot.“<br />

„Dann gebe denen doch, was übrig bleibt, du Dödel“, frotzelte Holt.<br />

„Mach ich, sind vierzehn Pfennig und ein Hosenknopf“, dabei zeigte er Holt in der<br />

halb offenen Hand das Kleingeld.<br />

Inmitten der paar Aluminiummünzen lag ein Knopf, in dem noch die Reste des Zwirns<br />

hingen. Nachdem Holt seinen Zwangsobolus an die Sammler entrichtet hatte, schmiss Andi<br />

die Münzen und den Knopf in die Sammelkiste.<br />

Oben auf der Tribüne addierten die drei Funktionäre von Partei, FDJ und Studienjahr das<br />

eingesammelte Geld. Mit einem Mal stockte die Prozedur. Braune, der Parteisekretär zeigte<br />

seinen zwei Mitrechnern etwas, was er in seiner fleischigen Hand hielt. Die zwei anderen<br />

Funktionäre steckten die Köpfe über die Hand des Parteisekretärs, indem etwas lag, was in<br />

den Gesichtern der Funktionäre schieres Entsetzen ausgelöst hatte. Braune stampfte zum<br />

Mikrofon, klopfte dran und hub an, eine Rede zu halten.<br />

„Die heutige solidarische Sammlung für das um seine Freiheit vom amerikanischen<br />

Imperialismus kämpfende vietnamesische Brudervolk hat einen Betrag von<br />

dreihundertdreizehn Mark und fünfunddreißig Pfennig“, er machte eine Kunstpause, „und<br />

einem Hosenknopf eingebracht.“<br />

In den vorderen Reihen fingen ein paar Studenten an zu lachen. Mit hochrotem Kopf<br />

schrie Braune diese an. „Das ist nicht zum Lachen, das ist eine bodenlose Schweinerei!“<br />

Die betroffenen Studenten zogen ihre Köpfe ein und machten bedrippelte Gesichter.<br />

Noch mit hochrotem Gesicht schaute Braune in die wegen der Heftigkeit der Worte erstarrte<br />

Menge.<br />

„Wer diese Untat begangen hat, soll sich sofort melden. Er soll sich in Grund und<br />

Boden schämen. Während unser Brudervolk im Ringen mit dem Weltfeind der Arbeiterklasse<br />

liegt, macht sich hier ein ideologisch unsicherer Kantonist darüber lustig, indem er einen<br />

lausigen Hosenknopf spendet. Mehr ist ihm diese internationale und solidarische Sache nicht<br />

wert. Das ist nicht lustig Genossen, das ist ausgesprochen reaktionär.“<br />

Andi war mit einem Mal grau im Gesicht geworden. Mit zitternden Händen fummelte<br />

er an seinem ausgebeulten Jackett an der Knopfleiste herum, wo nur ein paar Fäden hingen.<br />

„Wenn die jetzt am Ausgang eine Knopfkontrolle machen, bin ich aufgeschmissen.<br />

Die exen 24 mich und dich auch, nur weil du mit mir befreundet bist und tatenlos<br />

danebengesessen hast. So eine Scheiße!“<br />

Holt war es klar, Andi hatte für diese Sammlungen nichts übrig, weil er vom ganzen<br />

Herzen Pazifist war und wusste, dass für das Geld aus der DDR Waffen für den Vietcong<br />

gekauft wurden. Holt war dagegen, weil das Geld die falsche Seite unterstützte, aber das<br />

konnte er niemandem sagen, auch Andi nicht. Gott sei Dank gab es keine Kontrolle am<br />

Ausgang. Der dicke Braune musste wohl die Lächerlichkeit seines Gebrülls erkannt und auf<br />

drastische Maßnahmen verzichtet haben. Am Abend hatten sich Holt und Andi einen auf die<br />

Lampe gegossen, weil der Kelch der drohenden Exmatrikulation mal wieder ganz dicht an<br />

ihnen vorbei gegangen war.<br />

*<br />

15


Vorbei am Zeughaus und dem Berliner Dom kam Holt an den Palast der Republik, von den<br />

Berlinern, wegen der vielen Lampen im Eingangssaal, auch Erichs Lampenladen genannt,<br />

vorbei. Er verband das Gebäude auch stets mit dem Namen Jörn Marxmann. Dieser war 1973<br />

im Strafvollzug Cottbus sein Mitgefangener. Marxmann hatte während seiner Dienstzeit als<br />

Grenzer versucht, an der Ostsee, im Bereich der Kieler Bucht, mit einem Schlauchboot in den<br />

Westen zu fliehen. Die Stasi hatte Marxmann, anlässlich der Beerdigung seines Vaters, eines<br />

bekannten SED-Bonzen aus Ostberlin, Hafturlaub gewährt, was sonnst gänzlich unüblich war.<br />

Nach der Beerdigung nahmen sie Marxmann beiseite und transportierten ihn nicht sofort<br />

zurück in die Haft, sondern zeigten den Gefangenen das damals noch im Bau befindliche<br />

Gebäude. Bei dieser Besichtigung wurde dem Betonfacharbeiter Marxmann in Aussicht<br />

gestellt, dass dieser noch vor der Beendigung des Bauvorhabens hier wieder als<br />

Betonfacharbeiter tätig sein könnte, wenn er aus der Haft einige wichtige Informationen über<br />

seine Haftkameraden sammeln würde. Marxmann hat gesammelt und Holt hatte ihn dabei<br />

erwischt.<br />

Holt suchte sich einen Parkplatz unter den S-Bahn-Bögen. Im schräg gegenüber liegendem<br />

Haus hatte er mit zwei weiteren Kommilitonen, unter anderem auch Andi, in Untermiete<br />

gewohnt. Die Gegend war ihm nach so vielen Jahren immer noch vertraut. Die Zeit schien<br />

hier stehen geblieben zu sein. Sein Ziel waren die Verwaltungsgebäude des Magistrats von<br />

Groß-Berlin am Alexanderplatz. Zu Fuß machte er sich auf den Weg.<br />

Gegenüber dem Springbrunnen und der Weltzeituhr lag das Berolinahaus. 25 Es roch nach<br />

Bohnerwachs und Lysol, als er an der verlassenen Eingangswache vorbeiging. Er suchte die<br />

Räume der staatlichen Plankommission, von der er wusste, dass sie in diesem Gebäude sein<br />

mussten. Nach mehreren Fragen bei den wenigen Menschen, die ihm begegneten, wurde er in<br />

der dritten Etage fündig. Holt hielt es nicht für ratsam, sich zuerst im Sekretariat anzumelden,<br />

da er befürchtete, abgewimmelt zu werden. Er entschloss sich, direkt und ohne Anmeldung<br />

zum Leiter der Plankommission zu gehen. Nach kurzem, energischem Klopfen trat er<br />

unaufgefordert ein. Ein älterer Mann, der hinter seinem Schreibtisch saß und das Neue<br />

Deutschland las, schreckte hoch und ließ die Zeitung fallen als Holt eintrat.<br />

Der Bonze äugte erschrocken zur Tür, als erwarte er das Eintreten von mehreren Personen, als<br />

nur Holt allein. Diese Reaktion war Holt verständlich, da er gelesen hatte, dass in den letzten<br />

Wochen die stark gewordene und organisierte Bürgerrechtsbewegung mit Volkspolizisten und<br />

Staatsanwälten im Schlepptau, einige Funktionäre von ihren Schreibtischen weg verhafteten.<br />

Forsch fragte Holt, „Sind Sie der Genosse Roth?“<br />

„Ich ... äh, ... ich bin Roth,“ stotterte dieser und schien beinahe hinter seinem<br />

Schreibtisch zu versinken.<br />

Holt schien es ratsam, seinem Gegenüber die Angst zu nehmen. Er setzte sich dem blassen<br />

Mann gegenüber auf den Besucherstuhl und schlug die Beine übereinander.<br />

„Herr Roth, Sie brauchen nichts zu befürchten, jedenfalls nicht von mir. Ich komme<br />

aus Westberlin und habe nur einige Fragen.“<br />

Die verkrampfte Haltung seines Gegenübers entspannte sich leicht. Farbe kam ins<br />

Gesicht zurück. Nachdem er sich mit einem Taschentuch den Angstschweiß von der Stirn<br />

gewischt hatte und sich seine zitternden Hände auf dem Schoß liegend beruhigten, antwortete<br />

er erleichtert. „Aus Westberlin kommen Sie? Was wollen Sie fragen?“<br />

„Uns geht es um die Eigentumsverhältnisse bezüglich einiger Grundstücke von<br />

Personen, die wir rechtlich vertreten. Die Grundstücke liegen hier in Berlin-Mitte.“<br />

„Sind Sie Rechtsanwalt?“<br />

„So etwas Ähnliches, ich bin der Leiter einer Rechtsabteilung und arbeite für ein<br />

großes Architekturbüro in Wilmersdorf.“<br />

16


„Ach so,“ antwortete er erleichtert, „ aber was erwarten Sie von mir? Ich habe hier<br />

nichts mehr zu sagen, ich sitze hier nur so rum, weil ich mein Geld vom Magistrat bekomme.<br />

Wenn ich nicht zur Arbeit erscheine, werde ich gefeuert und was soll ich dann machen?“<br />

Holt schaute sich den alten Mann näher an. Dieser schien, hinsichtlich der letzten Zeit,<br />

allerhand durchgemacht zu haben. Sein ehemals blauer, im Lauf der Zeit leicht gebleichter<br />

Present-20-Anzug wies am linken Kragenrevers einen ovalen dunklen Fleck auf. Dort hatte<br />

vormals das Parteiabzeichen gesessen. Der Anzugträger musste es vor nicht allzu langer Zeit<br />

verloren haben.<br />

Spöttisch spiele Holt auf den Fleck an. „Sie sollten sich über diese Stelle dort ...“ und<br />

er wies mit dem Zeigefinger auf dessen Revers, „... ein Berliner Bärchen anstecken.“<br />

„Ja!“, sagte dieser, „es war wirklich ratsam das Pfauenauge abzumachen. Aber Die“,<br />

und er wies mit dem Kopf nach außerhalb der Fenster, „die wissen, wer ich bin. Es nutzt<br />

nichts, sie werden mich früher oder später aufsuchen. Ich hab mir nichts zuschulden kommen<br />

lassen, ich habe niemanden denunziert und in den Knast gebracht. Meine Meldungen waren<br />

immer fachbezogener Natur.“<br />

Holt zweifelte diese Aussage an. Er wusste, dass hunderttausend Informanten für die<br />

Stasi gearbeitet hatten, viele unter Druck, aber die meisten aus freien Stücken, um in der<br />

DDR-Karriere machen zu können. Dabei war es vielen dieser gewissenlosen Lumpen egal,<br />

wer durch ihre Spitzeltätigkeit auf der Strecke blieb. Obwohl es Holt anekelte, sich mit<br />

solchen Leuten unterhalten zu müssen, siegte der klar und logisch denkende Ermittler in ihm.<br />

Egal, wie viel Dreck Roth am Stecken hatte, er war jetzt hier, um eine Quelle anzuzapfen.<br />

Diese Situation musste genutzt werden.<br />

„Also, ich will Ihnen keine Falle stellen. Hier ist meine Vollmacht“, und er reichte<br />

seine Repräsentationsvollmacht hinüber. „Uns geht es eigentlich nur um Grundbuchauszüge,<br />

damit wir wissen, wer jetzt als Eigentümer der Grundstücke eingetragen ist und wie viele<br />

Belastungen in der Abteilung 3 eingetragen sind.“<br />

„Grundbuchauszüge habe ich nicht hier. Das ist auch nicht mein Bereich. Wenn ich<br />

solche Auszüge gebraucht habe, und das war nicht so oft, dann habe ich diese beim zentralen<br />

Grundbuchamt, in der Katasterabteilung beim Genossen ... „, er verbesserte sich schnell, „...<br />

bei Herrn Schmierling angefordert.“<br />

„Ich möchte nicht bei allen Dienststellen in Ostberlin in Erscheinung treten“,<br />

antwortete Holt. „Können Sie nicht die Ausstellung von Auszügen veranlassen?“<br />

„Was glauben Sie, der Schmierling weiß doch, dass ich nichts mehr zu sagen und<br />

damit auch keinen Bedarf an Grundbuchauszügen habe.“<br />

„Na ja,“ entgegnete Holt und machte die bekannte Reibebewegung von Daumen und<br />

Zeigefinger seiner linken Hand, „damit könnte doch etwas gemacht werden.“<br />

Roth hatte blitzartig verstanden. Das war noch eine Chance, zu Geld zu kommen in<br />

Anbetracht der düsteren Aussichten.<br />

„Gegen ordentliche Gebühren in Westmark ist sicherlich etwas zu machen. Der<br />

Schmierling rückt auch nicht umsonnst mit den Auszügen raus. Ich kann ja mal mit ihm<br />

sprechen.“ Er schaute Holt fragend an. „Was ist denn Ihrer Gesellschaft oder Ihren<br />

Mandanten die problemlose Erteilung von Grundbuchauszügen wert?“<br />

„Für Grundbuchauszüge müssen wir auch in Westberlin eine Menge Geld hinblättern,<br />

zwar nicht exorbitant viel, jedoch einiges. Ich kann mir vorstellen, dass meiner Gesellschaft<br />

normale Grundbuchauszüge, je Auszug hundert und interessante Auszüge tausend Westmark<br />

wert sind“, köderte Holt.<br />

Roths Augen leuchteten sprichwörtlich auf, er beugte sich über den Schreibtisch und<br />

schob Holts Vollmacht zurück. Flüsternd antwortete er. „Ich werde mit Schmierling reden, es<br />

wird zu machen sein. Er ist in der gleichen Lage wie ich. Schon nächsten Monat kann er auf<br />

der Straße oder im Knast sitzen. Wir müssen schnell sein, aber ich will einen Vorschuss von<br />

tausend Bunte haben.“<br />

17


Holt wusste, mit Bunte oder Bunte Knete war Westgeld gemeint. „Okay, gegen<br />

Quittung gebe ich Ihnen heute tausend Westmark, den Rest bekommen Sie, entsprechend der<br />

Anzahl und Wertigkeit der Auszüge bei der Übergabe in der kommenden Woche.“<br />

Roth fuhr zurück und richtete sich auf. „Sind Sie verrückt! Gegen Quittung! Da kann<br />

ich ja gleich zum Staatsanwalt gehen. Wenn wir ins Geschäft kommen, dann ohne Belege. Sie<br />

wissen doch ganz genau, dass ich dieses Geld nicht abführen werde.“<br />

„Ja das weiß ich und ich habe es auch nicht anders erwartet“, antwortete er und dachte<br />

an das Risiko tausend Mark in den Sand zu setzen. Aber hinsichtlich des zu erwartenden<br />

Erfolges erschien ihm das Risiko sehr gering, von Roth über den Tisch gezogen zu werden.<br />

Ich muss diesem Mistkerl noch lukrative Nachfolgeaufträge in Aussicht stellen, ging es ihm<br />

durch den Kopf.<br />

„Okay, ohne Quittung, dann aber nur für uns interessante Grundbuchauszüge, keinen<br />

Müll ... und ... wenn Sie Ihre Sache gut machen, bekommen Sie Nachfolgeaufträge, solange<br />

Sie noch an der Quelle sitzen. Vielleicht haben wir wegen Ihrer Insiderkenntnisse später noch<br />

eine andere Verwendung für Sie. Das Leben muss ja auch für Sie weitergehen und für<br />

Fachleute haben wir immer Platz in der Firma.“ Aber sicherlich nicht für dich korruptes<br />

Schwein, dachte Holt.<br />

Der Besuch bei Roth, eine Woche später, sollte sich im Nachhinein als großer Erfolg<br />

darstellen. Roth hatte Wort gehalten. Die Übergabe der Auszüge erfolgte jedoch nicht in den<br />

Räumen der Plankommission, sondern in der Letzten Instanz, einem alten bekannten<br />

Restaurant in Nähe des Obersten Gerichts der DDR.<br />

Als Holt auf Roth wartete, wurde er sich der Absurdität der Ereignisse bewusst. Noch vor<br />

einigen Monaten hätte die Übergabe von Grundbuchauszügen an den kapitalistischen<br />

Klassenfeind den Straftatbestand der Spionage und Landesverrat erfüllt und wäre ein Fall für<br />

das Oberste Gericht gewesen, an dessen Gebäude er gerade vor zehn Minuten vorbei gefahren<br />

war.<br />

Roth erschien mit leichter Verspätung. Als er Holt in der hinteren Ecke sitzen sah, atmete er<br />

erleichtert auf. Nachdem er sich seines Mantels entledigt hatte, stellte er eine prall gefüllte<br />

Aktentasche auf den Tisch und schaute dabei über seine Schulter, ob ihn nicht jemand dabei<br />

beobachtete.<br />

„War gar nicht so leicht, der Schmierling wollte mehr Geld haben“, teilte er dem<br />

wartenden Holt mit. „Er maulte und ich hab ihm gesagt, dass er sich noch mehr Geld<br />

verdienen kann.“<br />

„Wie viel haben Sie Schmierling gegeben?“, wollte Holt wissen.<br />

„Natürlich die Hälfte“, log Roth ohne Rot zu werden.<br />

Holt war es egal, in welcher Höhe die Beiden den Deal teilten, er schaute sich schnell<br />

die Auszüge an, die Roth vor ihm auf den Tisch gepackt hatte. Die Lage der Immobilien war<br />

sehr interessant. Alle lagen in beste Lage, wie er feststellen konnte.<br />

„Der Schmierling hat nur die Liegenschaften herausgesucht, die ehemals im Eigentum<br />

von Ausländern und in Westdeutschland lebenden Personen standen. Sonnst wären es zu viele<br />

geworden.“<br />

„Wie viele sind es?“ wollte Holt wissen, um das Honorar ausrechnen zu können.<br />

„Es sind genau fünfundachtzig komplette Auszüge. Ich bekomme von Ihnen<br />

fünfundachtzigtausend Westmark“, forderte er und schaute Holt forsch an.<br />

„Nun bleiben Sie mal auf dem Teppich. Ich habe Ihnen in der letzten Woche gesagt,<br />

keinen Müll und für interessante Auszüge bekommen Sie einhundert und für äußerst wichtige<br />

Auszüge eintausend Deutsche Mark. Sie bekommen von mir jetzt pauschal für jeden Auszug<br />

einhundert Westmark, das sind nach Adam Riese exakt achttausendfünfhundert Westmark“,<br />

antwortete Holt in der Kenntnis, das er ja nur 10.000 DM bar bei sich hatte.<br />

18


„Das ist viel zu wenig!“, blaffte Roth und griff zu den Auszügen, um diese wieder in<br />

seine Aktentasche zu stopfen.<br />

Holt blieb gelassen, er stoppte das überhastete Einpacken der auf dem Tisch<br />

verstreuten Grundbuchauszüge, indem er seine Hand auf Roths Arm legte und diesen auf den<br />

Tisch presste. Holt wusste, das Roth im Moment keine andere Wahl hatte, als auf sein<br />

Angebot einzusteigen.<br />

„Roth, wir kaufen doch keine Katze im Sack. Sie nehmen das angebotene Geld und<br />

besorgen mir für die nächste Woche noch mehr Auszüge. Wir werden erst einmal diese<br />

Auszüge hinsichtlich ihres Wertgehaltes prüfen. Wir sondern den Müll aus und bewerten, ob<br />

sich unter den Auszügen welche befinden, die uns eben tausend Mark wert sind. Dann<br />

berechnen wir den Gesamtwert aller Auszüge. Liegt er über achttausendfünfhundert Deutsche<br />

Mark, bekommen Sie die Differenz noch zusätzlich. Liegt der Wert jedoch unter dem<br />

gezahlten Betrag, werden wir generös sein und nichts zurück verlangen. Wir erwarten aber<br />

dann nachfolgend gute Zusatzinformationen und neue Auszüge von Lagen, die wir Ihnen<br />

noch mitteilen werden. Einverstanden?“<br />

Roth hatte wohl solche Entwicklung erwartet, er schien erleichtert zu sein und nickte<br />

sofort beflissentlich. „Okay, geht in Ordnung. Wenn Sie es nicht an die große Glocke hängen,<br />

kann ich mit Ihnen im Geschäft bleiben.“<br />

„Na, das hört sich schon viel besser an. Nun lade ich Sie noch zu einem schönen<br />

Abendessen ein und dann sehen wir uns wieder in der nächsten Woche, sagen wir, am<br />

Donnerstag hier um die gleiche Zeit.“<br />

Roth schien es mit einem Mal sehr eilig zu haben und er schlug Holts Einladung aus. Er<br />

wollte das Geld in Sicherheit bringen und befürchtete, dass sich Holt den Deal noch einmal<br />

überlegen könnte. Er hatte nicht einmal das Bier, welches der Kellner auf Bestellung von<br />

Holt, ungefragt vor Roth gestellt hatte, ausgetrunken.<br />

Als Holt sich, nach dem allein eingenommenen Abendessen, auf den Weg machte und den<br />

Grenzübergang in Richtung West passierte, hatte er Informationen bei sich, die in der<br />

Immobilienbranche einen erheblichen Wert darstellten. Der diensthabende Grenzer nahm nur<br />

seine Papiere entgegen, gähnte beim Anschauen der Berechtigung und gab sie Holt zurück.<br />

Zöllner, die einen Blick in den Kofferraum oder seine Aktentasche hätten werfen wollen,<br />

waren weit und breit nicht zu sehen.<br />

Die Auswertung der Grundbuchauszüge löste in der Firma ein Erdbeben in der Größe von<br />

mindestens 6,5 auf der Richterskala aus. Möller verfiel in Euphorie, die Holt an diesem noch<br />

nie entdeckt hatte, er wühlte in den Auszügen rum, schaute sich die Lage an und eilte zum<br />

Stadtplan von Gesamtberlin, welcher an der Wand im Besprechungsraum hing. Immer, wenn<br />

er die angegebene Lage auf dem Stadtplan gefunden hatte, fiel er fasst aus dem Häuschen.<br />

„Mensch, ich werd irre, direkt an der Kreuzung Unter den Linden zur Friedrichstraße,<br />

hier, ... man, das ist ja auf dem Alexanderplatz ... hier, beste Lage, Leipziger Straße ... Mann o<br />

Mann, wenn wir hier zuschlagen könnten, bin ich ein gemachter Mann,“ murmelte er, als er<br />

mit seinem Zeigefinger die Straßenzüge entlang fuhr und von Zeit zu Zeit darauf tippte.<br />

*<br />

Zu Hause in seiner Wannseevilla fand Möller am Abend keine Ruhe. Er hatte sich die von<br />

Holt besorgten Unterlagen mit nach Hause genommen und, nachdem seine Kinder im Bett<br />

waren und seine Frau sich zu einem längeren Telefongespräch mit ihrer besten Freundin<br />

zurückgezogen hatte, diese noch einmal eingehend studiert. Drei Objekte erschienen ihm,<br />

hinsichtlich Lage und Eigentumsverhältnissen besonders interessant zu sein. Bei zwei<br />

19


Immobilien lebten die Eigentümer in Westberlin, so war es jedenfalls aus den<br />

Grundbuchauszügen zu entnehmen, und ein Eigentümer wohnte in Bremen. Mit einem<br />

Taschenrechner berechnete er den möglichst niedrigsten Kaufpreis und den möglichst<br />

höchsten Wiederverkaufspreis. Hinzu addierte er die Einnahmen aus der Umplanung und<br />

Sanierung. Zufrieden legte er die Kalkulation in seinen Terminkalender. Rechnerisch hatte er<br />

sich eine Rendite von über achthundert Prozent ausgerechnet. Nur, er war sich nicht sicher, ob<br />

Holt in der Lage war oder genug Eifer entwickelte, diese Objekte an Land zu ziehen. Wie<br />

kann ich den Rechtsverdreher motivieren?, ging es ihm durch den Kopf. Ich muss ihn<br />

anfüttern, einen Brocken hinwerfen und ihn dann loslaufen lassen. Eine<br />

Vermittlungscourtage, ja das ist es, ich ködere ihn mit einer Courtage. Bis ich die zahlen<br />

muss, wird noch viel Zeit vergehen und es kann zwischendurch ja auch viel passieren.<br />

Er griff zum Telefon, aber die Leitung war besetzt, seine Frau telefonierte noch. Nach zehn<br />

Minuten noch einmal, wieder besetzt. Unwillig ging er in den großen Salon rüber, wo es sich<br />

seine Frau in dem riesigen Sessel bequem gemacht hatte. Mit einer Hand hielt sie ein<br />

Champagnerglas und in der anderen Hand den Hörer, die Beine lagen über die hohe<br />

Sessellehne. Möller deutete mit einer energischen Kopfbewegung an, sie kurz unterbrechen zu<br />

wollen. Sie schaute ihn fragend an.<br />

„Mach es kurz, ich muss noch dringend in Düsseldorf anrufen.“<br />

„Moment Charlotte, mein Mann will was, einen Moment.“ Sie wandte sich Möller zu.<br />

„Hat es nicht bis morgen früh Zeit?“, antwortete sie unwirsch.<br />

„Nein meine Liebe, hat es nicht. Es geht um viel Geld, um viel sage ich, also leg jetzt<br />

auf.“<br />

Nachdem sich seine Frau überhastet von ihrer Freundin verabschiedet und den Hörer<br />

aufgelegt hatte, ging er ins Privatbüro zurück und wählte Düsseldorf an. Nach einigen<br />

Klingelzeichen nahm dort jemand ab.<br />

„Gebe mir mal deinen Vater,“ antwortete er, ohne seinen Namen oder den Grund des<br />

Anrufes mitzuteilen und wartete einen Moment, bis sich eine andere Stimme meldete.<br />

„August entschuldige, dass ich noch so spät anrufe, aber es ist wichtig. Der Holt ist<br />

mit euren Fragen dort drüben bei den roten Säcken einmarschiert und ist fündig geworden. Du<br />

wirst es nicht glauben, wir haben Renditeobjekte in Aussicht, von denen die anderen nur<br />

träumen können. Beste Lage inmitten Ostberlins im Regierungsviertel und im alten Zentrum.<br />

Wir müssen uns so schnell wie möglich die Sachen selbst anschauen, bevor jemand anderes<br />

schneller ist.“<br />

Die Antwort war für Susan Möller nicht zu verstehen, die in der Tür des Büros stehen<br />

geblieben war und neugierig zuhörte. Nach einigen „Ja“, „in Ordnung“ und „mach ich,“<br />

kritzelte Möller in seinem Terminkalender eine Notiz, die er beim Zuhören mit der linken<br />

Hand schrieb. Danach legte er auf. Zu seiner Frau gewandt grinste er.<br />

„Morgen kommen meine Freunde nach Berlin. Am Nachmittag werden wir uns etwas<br />

in Ostberlin umschauen. Dem Holt werde ich noch kräftig einheizen und wenn er nicht spurt,<br />

in den Arsch treten.“<br />

„Was hast du gegen den netten Holt?“, warf Susan Möller ein, die Holt von mehreren<br />

Betriebsfeiern kannte und diesen als angenehmen und freundlichen Gesprächspartner<br />

empfunden hatte. „Er ist doch immer für dich da, du hast ihn doch immer so gelobt?“<br />

„Ich kann jetzt keine netten Mitarbeiter gebrauchen, ich will Bluthunde, die für mich<br />

Beute machen, dafür bekommen sie ja auch ihr Geld, und nicht zu knapp.“<br />

„Aber Walter übertreibe jetzt nicht. Er macht doch seine Arbeit sehr gut. Was willst du<br />

mehr?“<br />

„Ach, das verstehst du nicht. Für normale Geschäftstätigkeit ist er gut, aber ich<br />

bezweifele, ob er über Leichen gehen kann.“<br />

„So wie du Walter?“<br />

20


Am nächsten Morgen ließ Möller durch seine Sekretärin Holt ausrichten, ihn noch vor dem<br />

Mittagessen sprechen zu wollen. Beim Eintreten war Holt bereits informiert und er war noch<br />

nicht ganz an seinem Schreibtisch, als das Haustelefon klingelte. Es war Möller, der Holt bat,<br />

umgehend in seinem Büro zu erscheinen.<br />

Möller saß hinter seinem beladenen Schreibtisch und winkte Holt heran und bot ihm<br />

hindeutend zum Stuhl, Platz an, wobei er weiter etwas in den Tischrechner eingab. Nach<br />

einigen Sekunden wandte er sich freundlich Holt zu.<br />

„Tach Holt, sie haben ihre Arbeit im Osten gut gemacht, ist wirklich gute Arbeit, ich<br />

bin stolz auf Sie.“<br />

So ein Schmierenkomödiant, ging es Holt durch den Kopf, der solch eine übertriebene<br />

Freundlichkeit von Möller nicht kannte. Er nickte anerkennend, abwartend lehnte er sich<br />

zurück und musterte den Papierkram auf Möllers Schreibtisch.<br />

„Ich will ja kein Unmensch sein. Sie reißen sich für mich den Arsch auf und sollten<br />

dafür auch entsprechend honoriert werden. Wie wäre es mit sechs Prozent?“<br />

Holt war sich nicht sicher, was Möller mit sechs Prozent meinte. Sechs Prozent<br />

Beteiligung an der Vertriebsgesellschaft, die Möller mit seinen zwei Düsseldorfer Kumpanen<br />

gerade aus dem Boden gestampft hatte oder sechs Prozent Stammkapital an Möllers<br />

Architekturbüro? Während einer Betriebsfeier hatte Möller Holt einmal in Alkohollaune sechs<br />

Prozent Beteiligung an einem Projekt angeboten, war aber dann nicht mehr auf dieses<br />

Angebot zurückgekommen.<br />

„Wovon sechs Prozent?“<br />

„Sechs Prozent vom Einkaufswert jeder Immobilie, die ich oder unser Firmenverbund<br />

erwirbt. Ob ich das Geld nun einem gierigen Makler hinterher werfe, dann lieber einen guten<br />

und loyalen Mitarbeiter.“<br />

Holt war verblüfft. Er bekam schon für seine Tätigkeit ein relativ gutes Gehalt und<br />

wäre nie auf den Gedanken gekommen, für seine Tätigkeit innerhalb der regulären Arbeitszeit<br />

noch extra eine Vergütung zu verlangen.<br />

„Nun, das ist ja schön, aber Sie bezahlen mir doch schon als Leiter der<br />

Rechtsabteilung ein Gehalt. Rechtlich darf ich auch gar nicht für Tätigkeiten zugunsten<br />

meines Arbeitgebers eine Vermittlungsgebühr nehmen, diese ist durch das Gehalt bereits<br />

abgegolten.“<br />

Möller lehnte sich zufrieden zurück, als er die Antwort Holts hörte. Generös bot er<br />

Holt eine machbare Regelung an. „Okay sagen wir, wir nennen diese Courtagen anders. Es<br />

sind dann Gratifikationen oder Boni des Arbeitgebers für hervorragende Leistungen. Wir<br />

verrechnen Ihr Gehalt mit der Courtage. Was übrig bleibt, ist Ihre Gratifikation. Daran kann<br />

niemand rütteln, es ist im gesetzlichen Rahmen. Sind Sie damit einverstanden Holt? Ich<br />

mache Sie reich!“<br />

Lachend reichte er Holt eine Kalkulation über den Tisch, die sich dieser sofort<br />

interessiert anschaute. Für das erste Objekt in Ostberlin, im Bereich Unter den Linden, würde<br />

er bei einem Einkaufspreis von einer Million DM immerhin sechzigtausend Mark verdienen,<br />

abzüglich seines Gehalts, wären es immer noch über fünfundvierzigtausend Mark. Du<br />

schmeißt doch kein Geld ohne Grund zum Fenster raus!, dachte er, als er die Gedanken in<br />

Möllers Gesicht lesen wollte, der auf eine Antwort wartend, Holt anschaute.<br />

„In Ordnung, so kann es laufen. Ich sehe darin einen ökonomischen Hebel und nehme<br />

Ihr Angebot dankend an. Aber wir sollten diese Vereinbarung schriftlich niederlegen, damit<br />

sie nicht von irgendeiner Partei vergessen wird.“<br />

„Glauben Sie Holt, ich wäre ein Betrüger?“, herrschte Möller Holt an.<br />

„Nein, das habe ich nicht behauptet, aber Sie sind nicht allein in der Firma, Ihre<br />

Mitgesellschafter wollen da sicherlich ein Wort mitreden, und wenn Sie bereits eine<br />

unterzeichnete Vereinbarung vorlegen, können die nicht mauern.“<br />

21


„Sie können meine Geschäftspartner nicht leiden und haben auch kein Vertrauen zu<br />

diesen?“<br />

„Richtig!“, war Holts knappe Antwort, die Möller bereits erahnt hatte.<br />

Während Holt sich um sein aktuelles Projekt kümmerte und zusätzlich den Verbleib der<br />

Eigentümer, die auf den Grundbuchauszügen eingetragen waren, erforschte, fuhr Möller mit<br />

seinen zwei Geschäftspartnern nach Ostberlin. Möller selbst, und seine zwei Mitstreiter,<br />

waren in teurem Zwirn gekleidet. Als der dicke Daimler vor dem großen Geschäfts- und<br />

Wohnhaus aus der Gründerzeit Unter den Linden hielt, erweckten die Drei sofort<br />

Aufmerksamkeit. Im Eingangsbereich standen zwei ältere Frauen, die offenbar im Hause<br />

wohnten. Argwöhnisch beobachteten sie das Verhalten der drei Männer.<br />

Möller machte ein paar Aufnahmen vom Äußeren des Hauses und der jüngere Gesellschafter<br />

ließ eine Videokamera laufen. Am Autokennzeichen aus Westberlin und der auffällig teuren<br />

Kleidung hatten die Frauen sofort erkannt, wer dort vor ihrem Haus stand. Abfällig sprach die<br />

Eine: „Sie sind wie die Ratten, überall wuseln die Wessis jetzt rum und wollen allet wissen.“<br />

„Meinst du, das sind die richtigen Eigentümer?“, fragte die Andere.<br />

„Kann schon sein, aber wenn die wieder das Sagen haben, geht es uns schlecht.“<br />

„Wie meinst du das?, wollte die Andere wissen.<br />

„Na was glaubst du, wer denen den teueren Wagen und die Klamotten bezahlt? Das<br />

sind doch Kapitalisten, die uns bis aufs Blut aussaugen werden. Hast du nicht im Fernsehen<br />

gesehen, dat die jetzt ihre Häuser wieder haben wolln und wat die alles anstellen, um wieder<br />

große Töne zu spucken.“<br />

„Aber Marta,“ sagte die Andere, „du glaubst doch nicht alles, was die von der SED<br />

sagen. Die haben doch auch nichts für uns getan.“<br />

„Was?“, fauchte Marta. „Du hast wohl vergessen, wer es dir erlaubt hatte, jedes Jahr<br />

im FDGB-Ferienheim in Gören Urlaub zu machen und wer deine drei Kinder immer ins<br />

Ferienlager geschickt hat.“<br />

„Das weiß ich wohl, ich hab dafür ja auch fasst dreißig Jahre hart beim Magistrat<br />

gearbeitet ... und ... ich weiß auch, wem ich es zu verdanken habe, dass ich seit<br />

achtundzwanzig Jahren meinen Bruder und seine Familie nicht mehr gesehen habe. Das<br />

waren nicht die drei Wessis dort,“, und sie wies zu den drei Fremden, „das war der Ulbricht<br />

und der Honecker, diese Lumpen,“ entgegnete sie zornig.<br />

Möller hatte gesehen, wie sich zwei Frauen auf der Eingangstreppe unterhielten und<br />

offensichtlich einen Disput dabei hatten. Er trat auf sie zu, die ihr Gespräch unterbrachen und<br />

Möller erwartend anstarten.<br />

„Guten Tag meine Damen,“ sprach er sie freundlich an. „Sie entschuldigen bitte, dass<br />

ich Sie im Gespräch unterbrochen habe. Meinen zwei Freunden und mir ist Ihr<br />

wunderschönes und altes Haus sofort aufgefallen. Bei uns gibt es ja so etwas nicht mehr, bei<br />

uns ist ja fasst alles neu, aus Glas und Beton. Es macht Ihnen doch nichts aus, dass wir ein<br />

paar Aufnahmen machen?“<br />

„Nee,“ antwortete Marta, um dann gleich zu fragen, „Sie sind nicht die Eigentümer<br />

aus`n Westen?“<br />

„Nein meine Dame, wir sind nicht die Eigentümer, aber wir wären sehr stolz, die<br />

Eigentümer eines so schönen Hauses, mit so netten Mietern zu sein.“<br />

Beide Frauen fühlten sich geschmeichelt, sie fanden mit einem Mal die drei Männer nicht<br />

mehr so bedrohlich.<br />

„Wollen Sie nicht hereinkommen und vom Hausflur und vom Hof ein paar<br />

Aufnahmen machen? Wir waren vor ein paar Jahren einmal das schönste Haus im Kiez. Von<br />

der Partei haben wir eine Anerkennung bekommen und standen sogar im ND.“<br />

22


Möller hatte interessiert zugehört und wandte sich an die Frau, welche die Einladung<br />

ausgesprochen hatte. „Dürfen wir das? Es wäre sehr nett. Das Haus ist wirklich noch sehr<br />

schön erhalten und gepflegt, im Gegensatz zu anderen Häusern, die wir bereits gesehen<br />

haben.“<br />

„Ja, dat liegt daran, dat wir hier an die sojenannte Protokollstrecke liejen. Hier ist<br />

unser Jenosse Honecker immer mit seinen Gästen vorbei jefahren und im Haus wohnt auch<br />

der Jenosse Halfricht, der is unser Erster... äh ... Sekretär... bei der Kreisleitung.“<br />

Möller hat wohl die Worte unserer Genosse verstanden. Vor ihm stand offensichtlich<br />

eine stramme Genossin. Er hackte sofort nach. „Ach so, das Haus gehört der Partei?“<br />

„Nee“, entgegnete die Genossin. „die Partei hat nur dat Nutzungsrecht. Eijentümer ist<br />

der Magistrat, oder richtiger, er ist jetzt Eijentümer anstatt des 1960 in den Westen jemachten<br />

von Breuel.“<br />

„Der von Breuel, der in Hamburg das Modemagazin Breuel Moden herausgibt“, warf<br />

der jüngere Gesellschafter fragend ein.<br />

Die Frau dachte kurz nach. „Weeß ich nich. Er hatte damals, als er noch hier wohnte,<br />

wat mit de Klamotten zu tun jehabt und soll diese in den Westen verschoben haben. Da war<br />

ich noch`n junges Mädchen. Hier ...,“ und sie deutete zu den, auf der rechten Seite des<br />

Gebäude liegenden Gewerbeteiles, „... hatte er seinen Klamottenladen jehabt. Hab mir mal<br />

dort `ne Bluse gekooft.“<br />

Möller hatte bei den zwei unbedarften Frauen noch eine Menge Informationen<br />

herausgekitzelt. Sein vorgetäuschter Charme hatte bei den Frauen gewirkt, die bereitwillig<br />

alles berichteten, was Möller hören wollte. Anschließend hatte die Genossin Marta die Drei<br />

sogar zu sich in die Hausmeisterwohnung eingeladen und diese genötigt, einen fasst nicht<br />

genießbaren Kaffee zu trinken, der im Volksmund Ost Erichs Krönung hieß. Möller hätte, für<br />

verwertbare Informationen, auch verdünntes Rattengift getrunken.<br />

Als sie erleichtert Martas Wohnung verließen, hatte er eine Menge Informationen, die er noch<br />

im Hausflur, als sich Martas Wohnungstür hinter ihm geschlossen hatte, sofort in<br />

Stichpunkten in seinen Terminkalender eingetragen. Nach der Besichtigung von noch drei<br />

weiteren Objekten fuhren sie aufgekratzt nach Westberlin zurück.<br />

*<br />

Bereits am Nachmittag hatte sich Holt an das zentrale Einwohnermeldeamt gewandt und die<br />

Anschriften von mehreren, im Westen lebenden Eigentümern in Erfahrung gebracht. Einige<br />

Personen waren mittlerweile verstorben. Durch die letzte Wohnanschrift konnte er in einigen<br />

Fällen Angehörige ermitteln. Mithilfe der Telefonbücher hatte er innerhalb von drei Stunden<br />

sechsundzwanzig Anschriften und die dazu gehörenden Telefonnummern ermittelt. Auf dem<br />

Grundbuchauszug des wohl interessantesten Grundstücks, welches in Ostberlin Unter den<br />

Linden lag, hatte er den Namen von Breuel ermittelt. Nach Auskunft des zentralen<br />

Einwohnermeldeamtes lebten in der Bundesrepublik insgesamt zweiundachtzig Personen mit<br />

diesem Familiennamen. Holt versuchte die Anzahl einzugrenzen, indem er die Liste<br />

abarbeitete. Unter dem Vorwand einer Erbschaftsangelegenheit wollte er anrufen und<br />

sonderte vorher alle von Breuels aus, die nicht in Berlin gelebt hatten. Von den<br />

zweiundvierzig verbliebenen Personen blieben nur zwei übrig, die einmal in Berlin gelebt<br />

hatten. Der in Köln lebende von Breuel teilte Holt auf dessen Fragen mit, dass er bis 1981 in<br />

Schmargendorf gelebt hätte, aber sein Cousin Andreas bis Ende der fünfziger Jahre in Berlin-<br />

Mitte. Dieser sei einer Verhaftung zuvorkommend, in den Westen geflohen und lebe jetzt in<br />

Hamburg. Dort betreiben er und sein Sohn einen Verlag, oder so. Der Kölner von Breuel hatte<br />

seinen Cousin vor einigen Jahren, anlässlich einer Beerdigung eines Familienangehörigen<br />

zum letzten Mal gesehen, seit dem nicht mehr. Weiter teilte er mit, dass er noch seine<br />

23


Anschrift irgendwo habe und wenn er diese gefunden hätte, Holt anrufen würde, um sie<br />

diesem mitzuteilen. Von Breuel Köln hatte Wort gehalten, zwei Stunden später konnte Holt<br />

Telefonnummer und Anschrift in seine Akten eintragen.<br />

Bereits nach dem zweiten Klingelton nahm man in Hamburg ab. „Manga Berndt, Verlag von<br />

Breuel und Sohn, was kann ich für Sie tun?“<br />

„Holt mein Name, Architekturbüro Möller, Westberlin, ich hätte gerne Herrn Andreas<br />

von Breuel gesprochen.“<br />

„Herr von Breuel ist nicht hier, der lebt auf Teneriffa, aber wenn Sie seinen Sohn,<br />

Herrn Welfthausen, sprechen möchten, kann ich Sie verbinden. Darf ich fragen, um was es<br />

geht?“<br />

„Ja, das wäre nett, aber wieso heißt der Sohn von Herrn von Breuel Welfthausen? Ich<br />

arbeite an einer Erbschaftsangelegenheit.“<br />

„Herr Welfthausen ist der Sohn seiner Frau aus erster Ehe und hat den Familiennamen<br />

nicht angenommen. Ich verbinde Sie jetzt,“ teilte sie Holt mit.<br />

Nach einigen Takten eines Musikstückes meldete sich eine tiefe Stimme.<br />

„Welfthausen, was kann ich für Sie tun Herr Rechtsanwalt?“<br />

Nachdem Holt seinem Gesprächspartner die Sachlage, und die Tatsache, dass er nicht als<br />

Rechtsanwalt arbeitete, dargelegt hatte, antwortete dieser, „Ich war in den letzten Jahren<br />

oftmals geschäftlich in Ostberlin und habe mir auch das Haus angesehen, indem mein<br />

Stiefvater bis 1960 gewohnt hatte. Die Kommunisten haben es ihn 1960 weggenommen und<br />

verstaatlicht. Da ist mit Erbschaft nichts zu machen und außerdem legt mein Stiefvater keinen<br />

Wert mehr darauf nach Ostberlin zu kommen und ich eigentlich auch nicht.“<br />

Holt nahm dieses Statement zur Kenntnis. „Mir liegt hier ein Grundbuchauszug vor,<br />

der ist nicht einmal eine Woche alt. Darin ist Ihr Stiefvater Andreas von Breuel, als Erbe des<br />

im Krieg 1944 gefallenen Hans-Albrecht von Breuel, als Alleinerbe eingetragen. Im Jahre<br />

1961, noch vor dem Mauerbau wurde der Magistrat von Großberlin als Verwalter der<br />

Immobilie eingesetzt. Dieser Verwalter hat im Jahre 1963 mit der SED einen langfristigen<br />

Mietvertrag geschlossen, die bis zum heutigen Tage Mieterin des gesamten Hauses ist. Es<br />

beißt aber der Maus keinen Faden ab, Ihr Stiefvater ist nach wie vor noch Eigentümer des<br />

Hauses in der Straße Unter den Linden.“<br />

Holt hörte eine Weile nur Schweigen. „Was meinen Sie, sollte der alte Herr machen?“<br />

„Ihnen eine Vollmacht erteilen, damit Sie unter Umständen das Haus an unser<br />

Unternehmen verkaufen können, denn wir hätten Interesse am Erwerb der Immobilie.“<br />

„Was ist denn das Haus unter Brüdern wert?, fragte Welfthausen zaghaft.<br />

Holt wollte nicht zu viel anbieten, also antwortete er. „Es muss noch viel<br />

hineingesteckt werden, bevor es wieder eine ansehnliche Immobilie wird. Der derzeitige<br />

Zeitwert beträgt in Ostberlin nicht mehr als vierhundertfünfzigtausend Ostmark.“<br />

„Mann, wenn wir das Geld dann in Westmark umtauschen, bleiben uns nicht mehr als<br />

einhunderttausend Deutsche Mark, das ist doch wirklich sehr wenig.“<br />

In Anbetracht seiner vorhergehenden Äußerungen, keinen besonderen Wert mehr auf<br />

die Immobilie zu legen, war dies doch eine vom finanziellen Streben gekennzeichnete<br />

Aussage. Holt legte nach. „Uns ist die Immobilie auch vierhundertfünfzigtausend Mark wert,<br />

aber eins zu eins, wir würden Ihnen vierhundertfünfzigtausend Deutsche Mark bezahlen.“<br />

Welfthausen schwieg einen Augenblick. „Ich muss erst mit meinem Stiefvater darüber<br />

sprechen. Vollmacht habe ich ja bereits schon für alle rechtlichen Angelegenheiten. Wenn Sie<br />

bei Ihrem Angebot bleiben, könnten wir ins Geschäft kommen, aber Sie müssen sich um all<br />

den Schreibkram, der im Osten erforderlich ist, kümmern ... und ...“, nach einer Pause, „das<br />

Geld geht nicht auf ein Sperrkonto, sondern auf unser Konto hier in Hamburg.“<br />

24


Kurz vor Dienstschluss trudelte Möller gut gelaunt noch im Büro ein, er wedelte beim<br />

Eintreten mit seinem Terminkalender vor Holts Nase rum. „Ich hab ihn, den Eigentümer vom<br />

Haus Unter den Linden, er heißt wahrscheinlich von Breuel.“<br />

„Ja,“ entgegnete Holt. „Andreas von Breuel, wohnhaft in Hamburg, vertreten durch<br />

seinen Stiefsohn, einen Herrn Welfthausen, der unter Umständen bereit ist, uns im Auftrage<br />

seines Stiefvaters das Haus ...“, und Holt machte eine Kunstpause, „ ... für<br />

vierhundertfünfzigtausend Deutsche Mark zu verkaufen.“<br />

Möller, der schon theoretisch eine Million Deutsche Mark für den Erwerb eingeplant<br />

hatte, klappte die Mundlade auf und ächzend setzte er sich auf den Stuhl vor Holt. „Mensch<br />

Holt, wie haben Sie das gedeichselt.“<br />

Holt grinste, als er dem total verblüfften Möller einen bereits im Entwurf<br />

vorgefertigten Kaufvertrag über die Immobilie Unter den Linden vorlegte.<br />

Während der am nächsten Tag stattfindenden Besprechung wies Holt Möller auf das Risiko<br />

hin, nur mit Westeigentümern zu verhandeln. Er erklärte Möller, dass die gesellschaftlichen<br />

Strukturen im alten Berlin nur Eigentümer aus wohlhabenden Familien oder aus dem Kreis<br />

der erfolgreichen Kaufleute hervorgebracht hatte und das die Erben im Westen oft den<br />

beruflichen Traditionen ihrer Erblasser gefolgt sein könnten. 26 Die meisten Alteigentümer<br />

hatten kein Auto und kannten nur aus dem Westfernsehen, was Bananen waren. Diesen Kreis<br />

der Eigentümer sollte man ansprechen, ihnen einen Betrag von fünfzigtausend Deutsche Mark<br />

für den Vorvertrag anbieten und dann alles Weitere Schritt für Schritt in Ruhe erledigen. Für<br />

fünfzigtausend Deutsche Mark würden viele verarmte Eigentümer ihre Immobilien, wenn<br />

nicht ihre Seelen verkaufen.<br />

Möller war von dieser Argumentation überzeugt, da er ja selbst aus einer Kaufmannsfamilie<br />

stammte und anstelle der anderen Westeigentümer hätte er sich nicht um einen fairen<br />

Verkaufspreis bringen lassen.<br />

„Holt besorgen Sie sich also auch ein paar Grundbuchauszüge, auf dem die Häuser<br />

noch im privaten Osteigentum stehen. Danach beackern Sie die Leute. Es dürfte Ihnen ja bei<br />

ihrem Organisationstalent nicht schwer fallen, die richtigen Anschriften herauszufinden.<br />

Damit Sie mehr Zeit haben, wird Becker Ihre bisherige Arbeit übernehmen und zu Ende<br />

führen.“<br />

Obwohl Holt das Projekt auch gerne selbst abgeschlossen hätte, war er mit dieser<br />

Entscheidung einverstanden, da ihm eine Tätigkeit dieser Art in Ostberlin besser gefiel und er<br />

ja dadurch ein höheres Einkommen zu erwarten hatte.<br />

Wie verabredet, erschien Roth zur vereinbarten Zeit in der Letzten Instanz. Im Büro in<br />

Westberlin hatte der Buchhalter auf Anweisung Möllers, Holt einen Nachschuss von<br />

zweitausendsiebenhundert Deutsche Mark und als Pauschalbetrag für die neuen Auszüge,<br />

nochmals zehntausend Deutsche Mark übergeben.<br />

Nach der Begrüßung übergab Holt dem erwartungsvollen Roth den überschießenden<br />

Betrag mit den Worten, „Von den Auszügen waren drei von großer Bedeutung für uns.<br />

Abzüglich der jeweils pauschalen einhundert Deutsche Mark stehen Ihnen noch<br />

zweitausendsiebenhundert Deutsche Mark zu, die ich Ihnen hiermit übergebe. Unser Chef<br />

lässt Sie unbekannterweise recht herzlich grüßen und lässt auch nachfragen, ob Sie nicht am<br />

kommenden Freitag in die Schildkröte kommen könnten, zu einem Abendessen und<br />

Umtrunk?“<br />

„Wo und was ist die Schildkröte?, wollte Roth wissen.<br />

Holt erklärte es ihm. Sie könnten mit der S-Bahn bis Zoo fahren und dann umsteigen<br />

bis zur Endstation der U-Bahn-Linie 2, glaube ich jedenfalls. Die Station heißt<br />

Kurfürstendamm und kommt zwei Stationen hinter Bahnhof Zoologischer Garten.“<br />

25


Roth nickte und notierte sich die Stationen auf einem Zettel.<br />

„Was haben Sie mir heute mitgebracht?“, fragte Holt.<br />

„Im Ganzen habe ich diesmal nur achtzehn Grundbuchauszüge. Der Schmierling<br />

wollte nicht mehr rausrücken und die er rausgerückt hat, da stehen fasst nur Osteigentümer<br />

drauf.“<br />

Holt kam diese Entwicklung nicht ungelegen, sie passte in seine Konzeption, die er<br />

Möller am Vortag erklärt hatte. Gegenüber Roth äußerte er jedoch Bedauern, das es nur so<br />

wenige Auszüge gab.<br />

„Schade, Sie müssen mal mit dem Schmierling reden und ihn umstimmen. Sagen Sie<br />

ihm, er bekommt von uns einen Bonus, wenn Wertvolles darunter ist. Sagen Sie mal so um<br />

die fünftausend Mark.“<br />

„Und ich?“, unterbrach Roth aufgeregt.<br />

„Sie bekommen diesen Bonus ebenfalls. Für heute gebe ich Ihnen erst einmal die<br />

pauschalen Eintausendachthundert.“<br />

Die neuen Grundbuchauszüge erwiesen sich für Holt als wertvoll. In den achtzehn neuen<br />

Auszügen waren zwölf Eigentümer verzeichnet, die scheinbar in Ostberlin lebten oder gelebt<br />

hatten. Eine Kuriosität war auch darunter. Ein Haus befand sich noch, jedenfalls so war es<br />

noch im Grundbuch eingetragen, im Eigentum der NSDAP. Da in der Nachkriegszeit das<br />

Eigentum der Nazipartei seinen ursprünglichen Eigentümern zurückgegeben worden oder das<br />

Eigentum an den Staat gefallen war, konnte davon ausgegangen werden, dass dies auch in<br />

diesem Fall geschehen war. Es musste ein neues Grundbuch angelegt worden sein, aber wo<br />

war dieses? Von dieser Tatsache ausgehend, war es auch möglich, dass die anderen, Holt und<br />

Möller vorliegenden, Grundbuchauszüge nicht die Aktuellsten waren. Diese Kenntnis erfüllte<br />

Holt mit starkem Unbehagen. Hatte Schmierling absichtlich alte Auszüge geliefert, oder war<br />

es nur Ausdruck der in der Ostberliner Verwaltung herrschenden Schlamperei?<br />

Der Auszug Bln/M2202/1408 hatte als Grundstücksbezeichnung Galgenhaus und lag in der<br />

Brüderstraße. Aus seiner in Ostberlin erworbenen Stadtkarte, die westlich im grauen<br />

Niemandsland endete und den Eindruck erweckte, dass es kein Westberlin gäbe, fand Holt die<br />

Brüderstraße. Diese lag gegenüber der Friedrichsgracht, nicht weit von der Spree entfernt. Ein<br />

Galgenhaus ist nicht verzeichnet, sollte damit ist das ungefähr zweihundert Meter nördlich<br />

liegende Staatsratgebäude gemeint sein, dann müsste es ja treffender Galgenvögelhaus<br />

heißen, dachte Holt ironisch.<br />

Als Holt vor dem Haus stand, konnte er die international bekannte Denkmalschutzplakette<br />

sehen und das darunter angebrachte Hinweisschild Galgenhaus lesen. Den Ursprung des<br />

Namens konnte Holt nicht entnehmen, lediglich das dieses Gebäude im 13. Jahrhundert erbaut<br />

worden und neben dem Nicolaihaus das einzigst erhaltene barocke Haus war.<br />

Vor der Straße fegte ein betagter Mann den Bürgersteig. Da hinter ihm das große Tor<br />

offen stand, vermutete Holt, dass der besenschwingende Mann hier sein Domizil haben<br />

könnte.<br />

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie störe, ich suche hier einen Herrn Georg Manfred<br />

Decker oder einen Verwandten von Herrn Decker.“<br />

Ein altes, wettergegerbtes Gesicht, umrahmt mit einem grauen Haarkranz, schaute<br />

Holt aus kleinen, hellgrauen Augen prüfend an. „Sie sind doch ein Advokat, oder nicht?“,<br />

antwortete er mit einer jugendlich und fest klingenden Stimme, die im offenen Kontrast zum<br />

Habitus des Sprechers stand.<br />

26


„Nun ja, so etwas Ähnliches. Ich bin Jurist, und arbeite in einem renommierten<br />

Architekturbüro,“ entgegnete Holt, wobei er die Lagebezeichnung westberliner<br />

sicherheitshalber wegließ.<br />

„Was wollen Sie vom Decker?“<br />

Holt war sich im Klaren, dass er nicht jeder Person, die ihm bei seinen Ermittlungen<br />

über den Weg lief, auf die Nase binden musste, was sein Anliegen war. Anderseits durfte er<br />

durch Zurückhaltung oder sogar Abweisung niemanden verprellen, der ihm bei der Suche<br />

nach den Eigentümern behilflich sein könnte. Deshalb entgegnete er, „Wir beschäftigen uns<br />

auch wissenschaftlich und architektonisch in unserer Firma mit alten Gebäuden, mit ihrer<br />

Erhaltung und Zugänglichkeitsmachung für die Öffentlichkeit.“<br />

„Na, da hätten Sie ja mit dieser Bruchbude viel zu tun,“ entgegnete der alte Mann<br />

lachend, indem er mit dem Besen auf das hinter ihm liegende Haus wies. „Ich bin der Decker,<br />

den Sie suchen.“<br />

„Georg Manfred Decker?“<br />

„Ja, das bin ich, junger Mann. Was ist denn nun Ihr wahres Anliegen? Sie können mir<br />

doch nicht erzählen, dass Sie aus purer Menschenfreundlichkeit oder Liebe zur Wissenschaft<br />

an meinem Haus interessiert sind,“ antwortete er verschmitzt lächelnd.<br />

Holt schien es Angesicht dieser Klarheit im Denken des alten Mannes, notwendig zu<br />

sein, mit der Wahrheit herauszukommen. „Sicherlich Herr Decker, unser Handeln ist nicht nur<br />

von der Liebe zur Wissenschaft oder der Erhaltung alter Gebäude geprägt, auch ein Quantum<br />

gesunder Geschäftstüchtigkeit spielt natürlich bei uns eine Rolle.“<br />

„Sag ich doch, junger Mann. Aber kommen Sie erst einmal rein. Hier auf der Straße<br />

sollten wir uns nicht unterhalten.“<br />

Er wandte sich um und ging mit den schlurfenden, unsicheren Schritten eines<br />

gebrechlichen Mannes durch das offenstehende Tor, an dem links liegenden Haupteingang<br />

vorbei in den hinteren Bereich des Hauses. Die Hintertür führte in einen mit Blumen<br />

übersäten Hinterhof, an deren gegenüberliegenden Seite sich eine Art Remise befand. Vor der<br />

Eingangstür stand ein alter, weiß gestrichener Gartentisch mit ausklappbaren eisernen Füßen<br />

und zwei dazu passenden, aber grün gestrichenen Gartenstühlen, die mindestens so alt waren<br />

wie ihr Besitzer.<br />

„Sie haben mich und meine Familie 1945 vorne rausgeschmissen, wir durften dann<br />

nur im Hinterhaus wohnen, wo früher das Personal und die Pferde untergebracht waren,“<br />

erklärte er fasst entschuldigend seine derzeitige Wohnsituation. „Meine beiden Jungs sind im<br />

Krieg gefallen und meine Frau ist schon 1958 verstorben. Seitdem lebe ich hier allein,<br />

manchmal kommt meine in München lebende Tochter mit ihren Kindern. Aber die Besuche<br />

werden auch immer weniger.“ Decker seufzte und schaute trübsinnig in die vor ihm stehende<br />

Kaffeetasse, die er gerade für sich und Holt, zusammen mit einem Aluminiumtopf voller<br />

brauner Brühe mit Kaffeegeruch, Zucker und einem Gläschen Milch auf den Tisch gestellt<br />

hatte.<br />

„Mit sie meinten Sie sicherlich die Kommunisten?“<br />

„Nein, die Russen haben uns damals aus dem Vorderhaus vertrieben, und später haben<br />

die von der Partei dieses Unrecht aufrecht erhalten. In den Jahren 1950 bis 1961 war ich sogar<br />

offiziell Hausmeister, in meinem eigenem Haus. Danach habe ich nur noch sporadisch und<br />

aus freien Stücken vorne ausgeholfen. Ich hatte ja noch meine Arbeit als Buchdrucker und<br />

diese wollte ich auch nicht aufgeben. Seit 1653 gab es in unserer Familie nur Buchdrucker,<br />

jedenfalls immer der älteste Sohn hatte die Kunst des Buchdrucks vom Vater übernommen.<br />

Jakob, mein 1940 gefallener ältester Sohn, sollte in meine Fußstapfen treten. Mit ihm ist die<br />

Linie der Buchdrucker aus dem Hause Decker abgebrochen und wird auch nicht mehr belebt<br />

werden.“<br />

Holt überfiel wegen dieser Worte ebenfalls Traurigkeit. Der alte Mann tat ihm leid und<br />

er konnte sich in die Gefühle des Alten hineinversetzen.<br />

27


„Im Grundbuch stehen Sie noch immer als Eigentümer. Wissen Sie das?“<br />

„Ja, aber wie sehen meine Eigentumsrechte aus. Ich kann aus finanziellen und<br />

rechtlichen Gründen nichts machen.“<br />

„Die rechtlichen Gründe werden sich ändern, Sie werden bald wieder Ihr ganzes<br />

Eigentum nutzen können und über die Finanzen brauchen Sie sich auch keinen Kopf<br />

machen.“<br />

„Na junger Mann, bleiben Sie auf dem Teppich. Für diese Bruchbude gibt mir keine<br />

Bank einen Kredit. Seit 1950 sind insgesamt drei Zwangshypotheken aufgenommen worden,<br />

die stehen an den ersten drei Plätzen mit über dreihunderttausend Mark. Wenn nicht ein<br />

Wunder geschieht, verfällt das Haus.“<br />

„Ich glaube, das Wunder könnte Möller heißen.“<br />

„Und wenn es so ein Wunder namens Möller gibt, was soll ich damit anfangen. Ich bin<br />

dreiundneunzig Jahre alt, stehe doch schon mit einem Bein im Grab.“<br />

„Sie werden jedenfalls Ihre letzten Jahre hier im Gartenhaus in Ruhe verbringen<br />

können, sofern Ihnen der Baulärm der Sanierung im Vorderhaus nichts ausmacht. Ich kann<br />

mir vorstellen, dass Sie ein lebenslanges Niesbrauchrecht eingeräumt bekommen, wenn Sie<br />

im Gegenzug Ihr Eigentum auf Rentenbasis an einen geeigneten Investor übertragen.“<br />

„Und, schmeißen Sie den Kulturverein von der Partei vorne raus?“, wollte der Alte<br />

wissen.<br />

„Die Zeiten sind jetzt anders Herr Decker. Die Partei zieht sich von allen ungesetzlich<br />

genutzten Immobilien zurück, auch der Kulturbund, als Ableger der SED. Sie werden sehen,<br />

die sind bald verschwunden.“<br />

„Sind sie schon, in der letzten Woche sind die letzten Möbel und Akten abtransportiert<br />

worden. Sie haben sogar noch den Rest meiner Möbel gestohlen,“ antwortete zornig der alte<br />

Mann.<br />

„Ich will Ihnen natürlich keine übertriebenen Hoffnungen machen. Da es sich hier<br />

wirklich um ein sehr, sehr altes Haus handelt, sollte der Chef selbst, der ja spezialisierter<br />

Architekt für historische Gebäude ist, sich Ihr Galgenhaus anschauen. Dann könnten Sie sich<br />

mit Herrn Möller darüber einigen, was Sie machen wollen.“<br />

Holt hatte sich noch eine zweite Besichtigung vorgenommen. Ein weiterer Grundbuchauszug<br />

war wegen seiner Lage interessant, nicht einmal fünf Minuten Fußweg entfernt. Im<br />

Grundbuch war bereits 1949 eine Erbengemeinschaft namens Möller, Bonnemann und<br />

Gerber, mit verschiedenen Bruchteilen eingetragen worden. Holt musste beim Gedanken,<br />

dass dieser Möller eventuell mit seinem Chef verwandt sein könnte, lächeln. Aber Möllers<br />

gab es wie Sand am Meer und es war unwahrscheinlich, dass sein Chef mit diesen Möllers<br />

verwandt sein könnte. Vor dem Haus kehrte niemand die verschmutzte Straße. In der ersten<br />

Etage des in der Substanz noch hervorragend erscheinenden viergeschossigen Hauses wurde<br />

er fündig. Ein altes Namensschild aus Kupfer verkündete Walter Möller. Nun war Holt<br />

wirklich erstaunt über die Namensgleichheit und er lachte laut im Hausflur, worauf sich eine<br />

Tür etwas öffnete und eine ältere Frau Holt erschrocken anblickte. Nachdem Holt den Grund<br />

seines Lachanfalls der alten Dame erklärt hatte, musste auch diese lachen. Sie gab Holt<br />

bereitwillig Auskunft. Aus der Erbengemeinschaft von 1949 waren zwischenzeitlich achtzehn<br />

Personen geworden, die theoretisch Erben dieses Hauses sein könnten. In Anbetracht von<br />

achtzehn Erben, die zudem noch überall in Deutschland und in der Welt verstreut waren,<br />

erschien eine schnelle Lösung nicht möglich. Nur wegen der Namensgleichheit wollte er<br />

Möller den Vorgang vorlegen und dessen Entscheidung abwarten. Zufrieden mit dem<br />

Erreichten fuhr er am späten Nachmittag zurück.<br />

Das vereinbarte Abendessen in der Schildkröte verlief in freundlicher und entspannter<br />

Atmosphäre. Möller war mit seiner Frau erschienen, um dem Treffen einen Anstrich privater<br />

28


Natur zu geben. Roth und Holt kamen allein. Holt hatte kurz in Erwägung gezogen, Iris<br />

mitzunehmen, da Möller es freigestellt hatte, mit oder ohne Ehefrau zu erscheinen. Er hatte<br />

sich für ohne entschieden, da er befürchtete, dass Iris während des Abendessens wieder Streit<br />

anfangen und damit das Treffen stören könnte.<br />

Roth hatte diesmal keinen Präsent-20-Anzug an, er war in relativ teurem Tuch gekleidet, der<br />

noch nach Verkaufsraum roch. Seine anfängliche Unsicherheit legte sich rasch, als Möller<br />

sich jovial gab und ihm mehrmals schmeichelte, indem er die excelente Position Roths und<br />

dessen Engagement für Möllers Firma hervor hob. Wie nebenbei richtete Möller zielgerichtet<br />

sein Gespräch auf die Kontakte Roths, wobei er immer wieder fragte, ob er den oder den<br />

Funktionär kannte. Dieser gab freimütig Auskunft, da er nicht die Zielrichtung und die<br />

Motivation der Befragung erahnte.<br />

Sich auch nach Schmierling erkundigen, fragte Möller, „Kennen Sie Herrn<br />

Schmierling schon lange, kann man ihm überhaupt trauen?“<br />

„Ich kenne Schmierling bereits seit 1972,“ antwortete Roth. „Wir waren ein paar<br />

Monate zusammen auf ein Parteilehrjahr in Babelsberg und nachdem er so um 1979 in das<br />

Grundbuchamt von Berlin-Mitte kam, hatte ich öfters Kontakt mit ihm und habe diesen<br />

Kontakt auch privat ein wenig aufrecht erhalten. Sie wissen schon, Vitamin B.“<br />

Möller lachte. „Ja, Vitamin B kenne ich, das ist der Schmierstoff in jeder Gesellschaft.<br />

Wer keine Beziehungen hat, kommt nicht oder ganz schwer weiter. Das gilt nicht nur in der<br />

DDR, sondern auch bei uns im Westen. Also, Sie kennen Schmierling auch privat.“ Es war<br />

mehr eine Feststellung als eine Frage.<br />

„Wie gesagt, ich habe den persönlichen Kontakt nicht abreißen lassen. Ein- oder auch<br />

zweimal im Jahr treffen wir uns auf seiner Datsche in Bohnsdorf zum Grillen. Seitdem er<br />

geschieden ist, ein bisschen weniger.“<br />

„Was ist eine Datsche?“, stellte sich Möller unwissend, obwohl er genau die<br />

Bezeichnung für die ostdeutschen Wochenendgrundstücke kannte.<br />

Roth erläuterte Möller den Begriff und die Herkunft des Wortes von den, wie er sagte,<br />

russischen Brüdern.<br />

„Hat er denn keine richtige Wohnung in Ostberlin?“, hackte Möller nach.<br />

„Doch wohl schon, direkt im Gebäude des Grundbuchamtes hat er seine<br />

Dienstwohnung, aber er hält sich am liebsten in Bohnsdorf auf, sofern es seine Zeit erlaubt.“<br />

Auf diese Auskunft hatte Möller gewartet, er wollte wissen, wo er Schmierling privat<br />

antreffen konnte. Die Absicht, zu diesem persönlichen Kontakt aufzunehmen, hatte er<br />

wohlweislich für sich behalten. Seine Absicht, wenn auch in noch unklarem Umfang, bestand<br />

darin, alle anderen Personen von den Geschäften in Ostberlin auszuschließen, um direkt an<br />

der Quelle schöpfen zu können. Holt und Roth waren ihm daher im Wege.<br />

Nach dem Abendessen entbot Möller sich, zusammen mit seiner Frau, Roth nach Hause<br />

fahren zu wollen. Als dieser jedoch versuchte, das Angebot abzulehnen, entgegnete Möller,<br />

dass er doch gerne einmal das Nachtleben in Ostberlin kennen lernen möchte und das Roth<br />

wohl ein kompetenter Reiseführer wäre. Er willigte ein. Zu dritt fuhren sie in Richtung Ost.<br />

Das Nachleben in Ostberlin sollte sich für Möller mäßig bis nicht vorhanden erweisen.<br />

Roths Bemühungen, Möller etwas Abwechslung anbieten zu können, waren einfach dadurch<br />

verhindert, dass das Nachtleben sich nach dem 9. November in die Westsektoren verlagert<br />

hatte. Die noch vorhandenen Nachtbars in der östlichen Friedrichstraße und Unter den<br />

Linden, waren wie ausgestorben. Nachdem Möller noch einen Drink im leeren Lindenkorso<br />

ausgegeben hatte, brachte er Roth nach Hause, der nicht weit entfernt, in einem Neubau an<br />

der Reinhold-Huhn-Straße, wohnte. Direkt gegenüber lag das Gebäude des Axel-Springer-<br />

Verlages in der Kochstraße, bereits in Westberlin.<br />

„Wer war Reinhold Huhn?“, wollte Möller wissen.<br />

29


„Das war ein Grenzer der DDR,“ antwortete Roth, „der im Dienst für sein<br />

sozialistisches Vaterland ermordet ... äh ... nun ja, erschossen wurde.“<br />

„Wer hat den armen Mann denn erschossen?“, fragte Möller scheinheilig, obwohl er<br />

die Geschichte vom Standpunkt des Westens bereits kannte. Er war nur auf die Antwort<br />

gespannt, und wie Roth das erklären würde.<br />

„Ich weiß es nicht mehr so genau, ich glaube, es war so um 1962 gewesen. Der Huhn,<br />

der hier in der Straße seinen Dienst tat, hatte damals Leute beim Tunnelbau und der<br />

Republikflucht erwischt und diese mit vorgehaltener Kalaschnikow abführen wollen. Einer<br />

der Organisatoren aus dem Westen, welcher ein CIA-Agent gewesen sein soll, hatte eine<br />

Pistole bei sich und der hat dann den Huhn hinterrücks erschossen.“ 27<br />

„Glauben Sie nicht, dass die Leute in der DDR ein Recht darauf gehabt haben, frei und<br />

ohne Zwang ihr Land verlassen zu können?“<br />

„Es kam bis zum 9. November nicht darauf an, was die Leute in der DDR glaubten,<br />

welche Rechte sie hatten, es ging immer nur um das, was die Partei den Leuten für Rechte<br />

zugestand. Ohne den antifaschistischen Schutzwall, äh ... die Mauer, wäre die DDR bereits<br />

1961 personell ausgeblutet.“<br />

„Na Roth, dann wäre damals ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne<br />

Ende gewesen. Ihnen, und vielen anderen Menschen, wäre manches erspart geblieben.“<br />

Roth hob traurig die Schultern und ließ diese dann mit einem Seufzer wieder fallen.<br />

„Es war doch einen Versuch wert, eine Gesellschaft aufzubauen, in denen alle nach ihren<br />

Bedürfnissen und frei von Ausbeutung leben konnten. Auch wenn vieles aus dem Ruder<br />

gelaufen ist, ich war immer für einen menschlichen Sozialismus.“<br />

„Roth, Sie sind ein Träumer, wachen Sie auf und kommen Sie in der freien und<br />

sozialen Marktwirtschaft an, die Ihre Bonzen immer als Kapitalismus denunziert haben.“<br />

Möller setzte einem deprimierten und traurigen Roth vor der Tür ab. Als er die nächste Ecke<br />

passierte und er von Roth nicht mehr gesehen werden konnte, hielt er an. Er stellte den Motor<br />

ab und schaute über die Grenzsperren in Richtung West. Das hell erleuchtete Gebäude des<br />

Springerhauses lag dort wie eine zu Stein und Licht gewordene Provokation, umgeben von<br />

der Dunkelheit des Ostens. Seine Frau hatte beim Gespräch und auch danach geschwiegen.<br />

„Was ist Walter, warum hältst du hier?“, wollte sie wissen.<br />

„Ich hab da eine Idee,“ antwortete er, indem er sich über den Rücksitz beugte und<br />

nach seine, auf dem Rücksitz liegende Aktentasche griff. „Auf den Grundbuchauszügen, die<br />

Holt mir besorgt hat, steht doch auch die Anschrift des Grundbuchamtes und dort im Haus,<br />

wohnt auch der Leiter des Amtes. Den werden wir jetzt einen Besuch abstatten.“<br />

„Bist du wahnsinnig Walter, es ist bereits nach Mitternacht. Du kannst doch nicht jetzt<br />

jemanden aus dem Bett klingeln, den du gar nicht kennst und der auch nicht weiß, wer du<br />

bist.“<br />

„Doch, das kann ich! Ich werd dem mit ein paar Scheinen sofort besänftigen können.<br />

Das hat auch einen Vorteil, es sieht uns niemand - und wer ich bin, das wird der Kerl schon<br />

schnell herausfinden, wenn er so clever ist, wie es der Roth behauptet.“<br />

Am Klingelschild des Einganges standen nur zwei Namen, einmal der nur am Tage<br />

erreichbare Einlassdienst und die Dienstwohnung des Leiters.<br />

Unter dem zweiten Namen Schmierling klingelte Möller Sturm. Nach einer längeren<br />

Zeit antwortete eine wütende Stimme. „Was verdammt noch mal ist los? Ich habe schon<br />

geschlafen.“<br />

„Für diese Störung werden Sie ausreichend entschädigt. Ziehen Sie sich an und öffnen<br />

Sie die verdammte Tür. Ich hab keine Lust, mir hier in der Zugluft eine Lungenentzündung zu<br />

holen,“ blaffte Möller aggressiv in das Haustürmikrofon.<br />

„Wer ..., wer ist denn da?“, wurde kleinlaut geantwortet.<br />

30


„Ich habe mit Ihnen geschäftlich zu reden und es duldet keinen Aufschub. Mein Name<br />

ist Möller,“ stellte er sich vor.<br />

„Möller? Der Architekt Möller aus Westberlin?“, antwortete Schmierling, sich an den<br />

Namen erinnernd, den Roth vor ein paar Tagen am Telefon genannt hatte.<br />

„Ja, der.“<br />

„Hat es denn nicht bis Morgen früh Zeit?“, wollte Schmierling wissen, aber bereits im<br />

Ton Entgegenkommen signalisierend.<br />

„Wenn Sie Ihr Geld erst in den nächsten Tagen haben wollen, dann schon, aber ich<br />

schleppe nicht immer so viel Geld in bar mit mir rum.“<br />

Die Antwort zeigte sofort Wirkung. „Ich komme, ich bin gleich unten!“<br />

Na also!, sagte Möller zu sich und er schaute zu seiner im Auto wartenden Frau rüber,<br />

die Möller an der Tür in die Sprechanlage hatte hineinbrüllen hören. Nun werde ich mal mit<br />

dem korrupten Schwein Tacheles reden und Nägel mit Köpfen machen. Es geht auch ohne<br />

Zwischenmakler. Ich verplempere doch kein Geld für Sachen, die ich selbst erledigen kann,<br />

dachte er.<br />

Mit einem leichten Quietschen öffnete sich die Tür und ein kleiner, korpulenter Mann, dem<br />

die Haare wirr im Gesicht hingen, hielt zaghaft die Tür offen. Dein Name hätte nicht<br />

treffender lauten können, waren die ersten Gedanken bei Möller, als er sich an den im<br />

Schlafanzug mit übergeworfenem Mantel gekleideten Schmierling vorbei in den Hausflur<br />

schob.<br />

Als Möller eine knappe Stunde später aus der Haustür ins Dunkele trat, hatte er einen<br />

beschwingten Schritt und ein triumphierendes Lächeln. Seine Frau hatte leise Musik gehört<br />

und war, tief in den Sitz gesunken, eingeschlafen. Das Öffnen der Fahrertür schreckte sie<br />

hoch. Möller ließ sich in den Sitz fallen und schaute sie an.<br />

„Die heutige Nacht wirst du nicht vergessen. Ich habe soeben den Grundstein für ein<br />

Riesengeschäft gelegt, das mir mehr als einhundert Millionen Mark einbringen kann und es<br />

hat mich nicht mehr als zwölftausenddreihundertfünfundvierzig Mark gekostet, alles Geld,<br />

was ich in bar bei mir hatte.“<br />

„Das ist ja schön für dich,“ antwortete seine Frau gähnend. „Ich habe ja auch noch<br />

Bargeld bei mir, falls wir jetzt in der Nacht noch etwas brauchen sollten.“<br />

„Meine Liebe, es nicht nur schön für mich, sondern auch supersuperwunderschön für<br />

dich. Du bekommst schon im nächsten Monat deinen Reitstall bei Fallingbostel. Ich ziehe<br />

jetzt alles vor.“<br />

Mit aufheulendem Motor schoss der schwere BMW in die Nacht, beobachtet von einem<br />

aufgewühlten und vor Freude trunkenen Mann hinter einer verstaubten Gardine im obersten<br />

Stockwerk des alten Gebäudes, der immer noch einen Batzen Geld verkrampft in seiner Hand<br />

hielt.<br />

Möller konnte lange nicht einschlafen, ihm ging das Gespräch mit Schmierling nicht aus dem<br />

Kopf. Dieser hatte sich nicht nur als korrupter Mensch, sondern zudem auch als ein brillanter<br />

Taktiker entpuppt. Als Möller auf die jetzigen Eigentumsverhältnisse, Rechte der<br />

Alteigentümer und die Frage von Erwerb und möglichen Restitutionsansprüchen zu sprechen<br />

kam, war Schmierling mit einer Idee gekommen, die selbst dem abgebrühten Möller Respekt<br />

abgerungen hatte. In Anlehnung an die Praktiken der Jewish Claim Conference 28 , schlug er<br />

vor, Möller sollte mit seinen Geschäftspartnern, Anwälten und Banken eine Art<br />

Treuhandgesellschaft bilden, die alle Ansprüche von Eigentümern und Alteigentümern der im<br />

Osten gelegenen Grundstücke wahrnehmen sollte. Ausgenommen waren nur die Ansprüche<br />

von Juden, die ja bereits durch die JCC bestens vertreten waren. Einer solchen Gesellschaft,<br />

31


die von der DDR akzeptiert werden musste und von der politischen Elite der BRD unterstützt<br />

würde, könnte er, Schmierling, natürlich nicht der Mitarbeit entsagen.<br />

In Gedanken überschlug Möller die für Holt entstandenen Courtageansprüche, er kam<br />

auf eine Summe von etwa dreihundertfünfzigtausend Mark, die er nicht gewillt war,<br />

auszuzahlen. Holt hatte in der Folgezeit nicht mehr an die Schriftform dieser Abmachung<br />

erinnert, das war für Möller wirklich gut gelaufen. Er würde Holt keinen Pfennig zahlen. Aber<br />

wie schaffe ich es, Holt auszubooten?, grübelte er nach. Noch kurz vorm Einschlafen kam<br />

ihm die Idee. Ich werde Holt eine Falle bauen. Wenn er reinfällt – und das wird er, werde ich<br />

ihn einfach feuern. Er soll mir mal was beweisen, ich sitze am längerem Hebel. Zufrieden mit<br />

sich selbst, schlief er ein.<br />

Holt wurde wieder vom Alltag eines westberliner Architektenbüros eingeholt. Einige Wochen<br />

nach den Exkursen in Ostberlin setzte Möller, für Holt unerwartet, diesen wieder im Projekt<br />

Bleibtreustraße ein, welches kurz vor dem Abschluss stand. In der wöchentlichen<br />

Besprechung Anfang April machte Möller mit einem Mal unerklärlichen Druck auf seine<br />

Mitarbeiter. Innerhalb kurzer Zeit mussten Unterlagen neu erarbeitet, geändert oder erweitert<br />

werden. Diese Arbeitsweise, die für Holt chaotisch erschien, hatte keinen in den normalen<br />

Geschäftsabläufen liegenden Grund. Möller, der in normalen Situationen bereits ein<br />

patriarchalisch auftretender Chef war, wurde wöchentlich unausstehlicher, innerhalb von zwei<br />

Monaten kündigten drei Mitarbeiter.<br />

Die Veränderungen in der DDR gingen mit einer sprichwörtlich brachialen Gewalt weiter. Im<br />

April wurde Lothar de Maiziere der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident sowie eine<br />

blasse und unscheinbare Frau namens Angela Merkel, stellvertretende Regierungssprecherin.<br />

Im Mai wurden die alten Länder wieder hergestellt und eine Währungs-, Wirtschafts- und<br />

Sozialunion mit der Bundesrepublik beschlossen, die zum ersten Juli in Kraft treten sollte.<br />

Zum ersten Juli sollten auch die neuen Daten für das neue Anlegerprospekt<br />

fertiggestellt sein, damit es in Druck gehen konnte. Gegen Ende Juni erschien Möller,<br />

entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, in Holts Büro mit einigen Unterlagen in der Hand.<br />

„In Abänderung zu den ersten Berechnungen sind während der Baudurchführung bei<br />

den Fenstern andere Maße verwendet worden. Überprüfen Sie die angegebenen Daten mit den<br />

tatsächlichen Daten und berechnen Sie diese noch einmal, hinsichtlich der Umlagefähigkeit,“<br />

sagte er, als er den Stapel direkt vor Holts Nase legte. Diese Geste sollte signalisieren: Sofort!<br />

„Der Oberbauleiter hat Ihnen doch bereits in der letzten Woche die aktuellen Maße<br />

gegeben und diese stehen doch auch bereits im Skriptentwurf,“ antwortete Holt verblüfft.<br />

„Ich will sicher gehen, dass wir auch die richtigen Umlagen berechnen. Die Anleger<br />

könnten sich bei falschen Zahlen auf die Prospekthaftung berufen und wir sind dann im<br />

Arsch,“ antwortete er ungehalten und ordinär beim Verlassen des Büros.<br />

Holt war sich im Klaren, dass falsche Zahlen im Prospekt tatsächlich zu<br />

Schadensersatzforderungen der Anleger führen könnten. Er wusste von einigen anderen<br />

Abschreibungsgesellschaften, die es mit der Wahrheit ihrer Angaben, in bunten und auf<br />

Hochglanz polierten Broschüren, nicht so ernst genommen hatten, dass diese<br />

Schadensersatzforderungen in üppiger Höhe bis in die Millionen hinein, rechtlich zu<br />

verkraften hatten.<br />

Die Holt vorliegenden Unterlagen entsprachen tatsächlich nicht mehr den<br />

ursprünglichen Bauunterlagen. In einigen Fällen schienen größere Fenster eingesetzt worden<br />

zu sein. Holt fragte sich, warum man den Aufwand für die notwendige Vergrößerung des<br />

Durchbruchs in den Außenwänden auf sich genommen hatte. Diese Arbeiten waren in der<br />

Regel teurer als die Differenz von kleineren zu größeren Isolierfenstern. Im Projekt waren,<br />

laut von Möller vorgelegten Unterlagen, erhebliche Veränderungen vorgenommen worden.<br />

Diese Änderungen waren vom leitenden Architekten, also Möller und vom Oberbauleiter<br />

abgezeichnet worden, soweit Holt auf der letzten Seite die entsprechenden Vermerke sah.<br />

32


Rein rechnerisch waren zusätzliche Mittel in Höhe von fünfundsechzigtausend Mark verbaut<br />

worden, die eine monatlich höhere Umlage von fasst sechshundert Mark bedeuten. Diese<br />

geänderten Zahlen hätten auf die Laufzeit der Prospekthaftung, von mindestens fünfzehn<br />

Jahren, ungefähr einen Schaden von hundertsiebentausend Mark für die Mieter bedeutet.<br />

Holt benötigte für die Überarbeitung der Umlagezahlen und Korrektur in das Druckskript, den<br />

Rest des Nachmittags und die ersten Abendstunden. Nachdem er die Arbeit erledigt hatte,<br />

legte er die bearbeiteten Unterlagen in den Postausgangskorb im Sekretariat, bevor er das<br />

Büro verließ. Beim Verlassen seiner Arbeitsstätte hatte er noch kurz in Erwägung gezogen,<br />

die von Möller vorgelegten Zahlen mit den Unterlagen des Oberbauleiters zu vergleichen.<br />

Dieser hatte sein Büro eine Etage tiefer, er hatte zu Holt ein freundschaftliches Verhältnis und<br />

hätte ihm sicherlich ohne großem Aufhebens die Unterlagen zur Überprüfung gezeigt.<br />

Hinsichtlich der Holt bekannten Zuverlässigkeit des Oberbauleiters verzichtete er jedoch<br />

darauf, noch während er die Treppe herunterging und an der zweiten Etage vorbei, diesen zu<br />

stören, sofern dieser zu solch später Zeit noch im Büro sein sollte.<br />

Um Iris ein wenig aus dem Alltagstrott zu holen, hatte er sie in seiner Mittagspause in der<br />

Technischen Universität angerufen. Sie hatten sich, da beide Überstunden machen mussten,<br />

um zwanzig Uhr an der Weltzeituhr am Alex verabredet, um in der schräg<br />

gegenüberliegenden Bar mit einem Paar aus Ostberlin die Währungsunion zu feiern, die in der<br />

Nacht in Kraft treten sollte.<br />

In der Bar war bereits die Hölle los. In einer hinteren Ecke fand er noch einen<br />

Sitzplatz, den er für Iris reservierte, die noch nicht erschienen war. Rundherum wurde<br />

gebechert, was der Teufel herhielt. Nicht einfaches Bier, nein der Schampus floss in Strömen.<br />

Holt beobachtete die wilde, freudetrunkene Meute, die mit dem bald verschwundenen Ostgeld<br />

um sich schmiss. Die mit dem Konterfei von Karl Marx und Friedrich Engels versehenen<br />

Banknoten wechselten bei jeder neuen Flasche den Besitzer. Der Kneipier hatte anstelle der<br />

Registrierkasse einen großen Karton hinter der Bar, in dem er das Ostgeld hineinwarf.<br />

Wechselgeld wurde nicht mehr herausgegeben. Holt blieb beim Bier. Als er sich gerade das<br />

zweite Bier genehmigen wollte, erschien Iris, die missbilligend den Trubel zur Kenntnis<br />

nahm.<br />

„Hans, die sind nicht ganz richtig im Kopf,“ sagte sie, nachdem sie Holt entdeckt hatte<br />

und am Ecktisch Platz nahm, „lass und hier wieder verschwinden.“<br />

„Geht nicht, wir müssen doch noch auf die Leute warten. Lass uns noch eine halbe<br />

Stunde bleiben, wenn sie bis dahin nicht gekommen sind, können wir immer noch<br />

verschwinden. Aber hier am Alex ist jede Kneipe voll.“<br />

„Ich habe Hunger,“ maulte Iris. „Ich habe seit Mittag nichts mehr gegessen.“<br />

„Der Wirt wird schon was zu futtern haben. Am Nebentisch verdrückt doch gerade<br />

einer eine Currywurst, wird wohl nicht die letzte Wurst gewesen sein.“<br />

„Ich will keine Currywurst, ich will was Anständiges.“<br />

Holt war schon wieder genervt. Warum kann diese Frau nicht einmal mit dem Leben<br />

zu Frieden sein? Zu Hause macht sie doch auch mal hin und wieder Currywurst und mault<br />

nicht dabei rum.<br />

„Ich nehme eine Boulette mit Zwiebel und Brot,“ antwortete sie und deutete auf das<br />

über der Theke hängende Schild mit den dort verzeichneten Imbissen.<br />

Bei der nächsten Bestellung orderte Holt das Essen und Iris wurde nach dem ersten<br />

Schluck Sekt verträglicher und entspannter, da Bier zwischenzeitlich ausgegangen war. Die<br />

Prenzelberger waren bislang nicht erschienen. Iris unterhielt sich intensiv mit einer zu ihrer<br />

rechten sitzenden Frau, sodass Holt die Gelegenheit hatte, sich mit Atze, einem Bauarbeiter<br />

aus Weißensee, ungestört zu unterhalten, soweit der steigende Geräuschpegel noch ein<br />

vernünftiges Gespräch zuließ. Atze erzählte Holt, dass er sich morgen ein Auto kaufen würde,<br />

einen BMW aus dem Jahre 1980 und nur für achttausend Deutsche Mark. Holt rechnete kurz<br />

33


nach, dieser Preis war einfach unverschämt, aber er wollte, dem vor Vorfreude fasst um den<br />

Verstand gebrachten Atze, nicht aus seinen Träumen holen. Seit Wochen war der<br />

Gebrauchtwagenmarkt in Westberlin wie leer gefegt. Er hatte Tieflader aus Holland gesehen,<br />

die alte Schrottlauben in den Osten karrten. Ab Morgen würden diese ihren Mist an die<br />

sorglosen und Westauto geilen Ossis verscherbeln mit dreihundert Prozent Gewinn.<br />

Als es auf Mitternacht zuging, erschien Holt die Situation wie an einem<br />

Sylvesterabend. Die Leute waren teilweise schon blau, wenn nicht dunkelblau. Kurz vor<br />

Mitternacht war auch der Rotkäppchensekt alle, jedenfalls der, der noch für Ostmark zu<br />

erwerben war. Der Wirt vertröstete seine Gäste, dass sie doch nur noch zwanzig Minuten zu<br />

warten hätten und dann könnte doch jeder für Bunte den Deinhards kaufen. Auf die Frage<br />

eines bereits stark angetrunkenen Gastes, was dieser dann mit dem Ostgeld machen sollte,<br />

antwortete er lachend, „Verbrenne den Scheiß!“ Holt sah mit Unglauben, wie ringsherum<br />

Karl Marx und Friedrich Engels dem Scheiterhaufen übergeben wurden. Lachend steckten<br />

sich der Erstverbrenner und Atze an einer verglühenden Hundertmarkbanknote der DDR<br />

wohlgefällig ihre braunen schmalen Zigarren an, die alleine in etwa fünfzehn Minuten in ganz<br />

Deutschland drei Deutsche Mark das Stück kosten würden.<br />

Schlagartig um Mitternacht stürzten viele der Gäste zur gegenüber liegenden Filiale<br />

der neu errichteten Deutschen Bank, um sich mit neuem Geld einzudecken. Ein neues, aber<br />

nicht besseres Zeitalter hatte in diesen Sekunden begonnen. Holt hatte einen schalen<br />

Geschmack im Munde, der nicht nur vom lauwarmen Bier und Sekt kam.<br />

Der Montag begann mit einer faustdicken Überraschung. Bereits beim Eintreten in die<br />

Geschäftsräume nahm Holt eine seltsam gespannte Atmosphäre wahr. Die bereits anwesenden<br />

Mitarbeiter starten ihn merkwürdig an. Holt bekam ein beklommenes Gefühl. Was ist los?<br />

Hier stimmt was nicht, die benehmen sich sonderbar, ging es ihm durch den Kopf. In seinem<br />

Büro hatte jemand angefangen, seine persönlichen Sachen in einen großen Karton zu packen,<br />

musste aber in dem Moment, als er das Architekturbüro betrat und sich noch im<br />

Eingangsbereich befand, schnellstens das Weite gesucht haben. Durch die offenstehenden<br />

Bürotüren sah Holt die Chefsekretärin herüber schielen, die ihm andeutete, in ihr Büro zu<br />

kommen. Als Holt eintrat, reichte sie diesem wortlos eine Empfangsbestätigung mit<br />

Geschäftsschreiben herüber, die er quittieren sollte. Als Absender war die Geschäftsführung<br />

der Gesellschaft und nicht Möller angegeben.<br />

„Was soll diese Umstandskrämerei?“, bemerkte er, als er den Umschlag aufriss. Ihm<br />

sprangen sofort die schraffiert und dick aufgetragenen Worte Fristlose Entlassung ins Auge.<br />

Holt war geschockt, so etwas war ihm noch nie während seiner beruflichen Laufbahn<br />

geschehen. Nachdem er sich auf dem Gästestuhl niedergelassen hatte, durchlas er das<br />

Schreiben.<br />

Möller kündigte ihn fristlos wegen schwerster Dienstvergehen und des daraus<br />

erfolgenden irreparablen Vertrauensbruches. Holts Vergehen bestand darin, dass er seine<br />

Aufgaben als Leiter der Rechtsabteilung nicht wahrgenommen habe, indem er ungeprüft<br />

falsche Angaben in das Druckskript der Anlegerbroschüre gemacht habe. Der Firma sei<br />

dadurch vierzehntausend Mark Schaden durch den nun hinfälligen Druck entstanden,<br />

abgesehen vom Vertrauensbruch bei den Anlegern, die bereits ausgelieferte Broschüren<br />

erhalten hatten. Die Kündigung trat mit sofortiger Wirkung in Kraft, für den Rest des Monates<br />

werde er unter Weiterzahlung seiner Bezüge beurlaubt, die Unterlagen der Firma seien<br />

unverzüglich herauszugeben und das Betreten des Büros, sei ihm im Falle der<br />

Zuwiderhandlung unter Androhung einer Anzeige wegen Hausfriedensbruches verboten.<br />

Das war wirklich starker Tobak! Holt überlegte, was er machen sollte. Hinter der<br />

geschlossenen Tür zum Chefzimmer hörte er Möllers Stimme. Dieses feige Schwein ist also<br />

da. Das Entlassungsschreiben noch in der Hand haltend ging er zur Tür. Die sich schnell vor<br />

die Tür stellende Chefsekretärin schob er beiseite und stieß laut die Tür auf, die an die<br />

34


Innenseite der Bürowand krachte. Möller und seine zwei Besucher zuckten erschrocken<br />

zusammen. Möller sprang auf und machte den Eindruck, sich auf Holt stürzen zu wollen.<br />

Holt wandte sich an die Besucher. „Lassen Sie mich bitte einen Moment mit diesem<br />

Herrn allein, Sie können sich dann auch später weiter von ihm betrügen lassen.“<br />

Verunsichert erhoben sie sich und schauten auf Möller, der ihnen mit einem Wink<br />

andeutete, Holts Wunsch nachzukommen. Nachdem beide das Büro verlassen hatten, schloss<br />

Holt die Sperrangel weit aufstehende Tür mit einem lauten Knall. Möller hatte sich<br />

inzwischen wieder gefangen und gesetzt. Höhnisch schaute er Holt an, der sich vor seinem<br />

Schreibtisch aufgebaut hatte.<br />

„Möller, was sind Sie nur für ein skrupelloser Mensch?“, leitete Holt das Gespräch<br />

zornig ein, indem er Möller die Kündigung auf den Tisch schmiss. „Glauben Sie ja nicht, dass<br />

ich diese Scheiße akzeptiere. Das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen, Sie haben mir<br />

selbst die Unterlagen gegeben. Sie wussten, dass sie falsch waren. Sie selbst haben die<br />

Unterlagen frisiert, um einen Grund zu finden, mich feuern zu können.“<br />

„Das müssen Sie erst mal beweisen. Für Ihre Nachlässigkeit wollen Sie mich jetzt<br />

verantwortlich machen?“, entgegnete er kühl.<br />

„Ich werde ein arbeitsgerichtliches Beweissicherungsverfahren beantragen und Sie<br />

zudem zivilrechtlich auf Schadensersatz verklagen.“<br />

„Machen Sie das, wenn Sie so viel Geld und Zeit haben. Ich werde in der<br />

Zwischenzeit in der Brache allen erzählen, die es hören oder auch nicht hören wollen, dass Sie<br />

inkompetent und unfähig sind. Kein Hund wird mehr aus Ihrer Hand fressen. Sie sind<br />

erledigt. Gehen Sie ruhig vor Gericht.“<br />

Holt wurde es schlagartig klar, Möller hatte Recht, es würde viel Zeit und viel Geld<br />

kosten, um rechtlich gegen ihn vorgehen zu können. Es war ein aussichtsloses Unterfangen, in<br />

Anbetracht dieser Situation etwas erreichen zu können. Wie hole ich noch das Möglichste aus<br />

dieser Scheißsituation heraus?, überlegte er fieberhaft.<br />

„Okay, Sie haben bezüglich Zeit und Kosten wohl recht. Aber Ärger werde ich Ihnen<br />

doch machen können und an Ihrer Reputation als Stararchitekt kratzen. Ich vermute, dass der<br />

wahre Grund in den Aktivitäten ihrer Firma in Ostberlin zu suchen ist. Sie müssten mir, nach<br />

dem jetzigen Stand über dreihunderttausend Mark Courtagen zahlen, wenn Sie sich an die<br />

Abmachung halten würden.“<br />

„Haben Sie etwas Schriftliches Holt?“, fragte er süffisant. „Sie selbst haben mir<br />

damals erklärt, dass eine Courtagezahlung arbeitsrechtlich nicht möglich sei, da Sie ja bei mir<br />

angestellt sind. Was wollen Sie überhaupt?“<br />

Holt dachte kurz nach. „Ich bekomme nicht nur für den Juli, sondern auch für die<br />

Monate August und September meine Bezüge weiter. Dazu geben Sie mir ein Arbeitszeugnis,<br />

dessen Text ich noch bei Ihrer Sekretärin abgeben werde. Sollten Sie auch nur eine kleine<br />

Hinterlist in die Beurteilung einbauen und sollte das Geld nicht bis kommenden Donnerstag<br />

auf meinem Konto sein, werde ich Ihnen aus purer Rachsucht das Leben schwer machen,<br />

dann sollte es keine Rolle spielen, wie lange es dauert und was es mich kosten wird. Ich habe<br />

nichts mehr zu verlieren, Sie schon.“<br />

Möller hatte schlagartig erkannt, das Holt bereit war, für seine Interessen Ärger zu<br />

machen und das es der einfachste Weg war, Holt los zu werden, wenn er seinen relativ<br />

bescheidenen Forderungen nachkommen würde. Es war immerhin besser, drei Monate<br />

Bezüge anstatt über dreihunderttausend Mark an Holt zu zahlen. Zufrieden willigte er ein.<br />

„In Ordnung, Sie bekommen Ihre Beurteilung und für drei Monate weiter Bezüge, im<br />

Gegenzug machen Sie mir keinen Ärger.“<br />

„... und Sie mir keinen Ärger, indem Sie meinen Ruf schlecht machen,“ antwortete<br />

Holt.<br />

Immer noch wütend, aber ein wenig beruhigter ging Holt, mit seinem privaten Kram<br />

beladen die Treppe herunter. Beim Verlassen hatte er die zurückgebliebenen und geschockten<br />

35


Mitarbeiter keines Blickes noch Wortes gewürdigt. Ein wenig schadenfroh war er schon, als<br />

er dachte: Ihr Duckmäuser müsst mit dem Mistkerl weiter auskommen, ich nicht!<br />

Vor der Etage der Ingenieure zögerte er einen Augenblick, dann trat er ein. Das Büro<br />

des Oberbauleiters lag gleich links neben dem Eingang. Die Tür stand offen und Holt sah ihn<br />

hinter seinen Schreibtisch, über Akten gebeugt, arbeiten.<br />

„Was führt Sie zu mir?“, fragte dieser freundlich bei Holts eintreten. Er schien die<br />

Ereignisse in der oberen Etage noch nicht mitbekommen zu haben. Daher konnte Holt so tun,<br />

als ob er noch im Auftrag der Firma arbeiten würde.<br />

„Ich brauche noch einmal kurz die Aufstellung der Umlageberechnung der Fenster in<br />

der Bleibtreustraße.“<br />

„Klar,“ antwortete er und griff zu einem auf dem Schreibtisch stehenden Ordner. Nach<br />

einem kurzen Suchen reichte er Holt fünf Blatt Papier herüber. „Hier sind die Unterlagen.“<br />

Holt schaute sich zuerst die letzte Seite an. Beide Unterschriften mit Datum und<br />

Geschäftsstempel versehen prangten auf dem Papier. Die fünf Blätter waren jedoch nicht<br />

zusammen getackert, sondern nur gelocht. Die erste und letzte Seite waren mit den<br />

Unterlagen, die Holt noch am Freitag von Möller bekommen hatte identisch, nur die Seiten<br />

zwei bis vier stimmten nicht überein. Obwohl Holt diese jetzt nicht vergleichen konnte, hatte<br />

er jedoch einige Positionen genau in Erinnerung. Diese stimmten nicht mit den Zahlen vom<br />

Freitag überein.<br />

„Können Sie mir auch einmal die Berechnungen für das letzte Projekt geben?, fragte<br />

er, als ihm eine Idee kam.<br />

„Natürlich, aber da ist doch alles bereits seit drei Monaten erledigt,“ antwortete der<br />

Oberbauleiter, indem er Holt die geforderten Unterlagen übergab. Bereits auf den ersten Blick<br />

bestätigte sich seine Vermutung. Möller hatte Holt für die Berechnung der Umlagen die<br />

Seiten zwei bis vier des alten Vorhabens gegeben und diese mit der Erstseite und der letzten<br />

Seite des neuen Vorhabens gemixt.<br />

„Können Sie mir von beiden Berechnungen jeweils eine Kopie machen?“, fragte er<br />

freundlich.<br />

Der Oberbauleiter nickte und ging mit den Unterlagen zum Kopierer, der im Gang<br />

stand. Noch während des Kopiervorganges klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch des<br />

Oberbauleiters. Dieser unterbrach das Kopieren und nahm den Hörer ab. Holt konnte nicht<br />

verstehen, wer an der anderen Seite am Telefon war und was gesprochen wurde, er konnte nur<br />

sehen, wie der Oberbauleiter blass wurde und zu Holt rüberschaute.<br />

„Ja natürlich, Herr Möller, keine Unterlagen an den Holt rausrücken,“ antwortete er<br />

laut und schaute Holt fragend dabei an. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, teilte er Holt<br />

die Weisungen seines Chefs mit. „Ich kann Ihnen keine Unterlagen und auch keine Kopien<br />

mehr geben. Möller hat es mir eben, unter der Androhung der fristlosen Kündigung,<br />

ausdrücklich verboten.“<br />

„Ist schon in Ordnung. Brauchen Sie auch nicht mehr. Das, was ich sehen wollte, habe<br />

ich gesehen. Möller hat mich beschissen und einen Grund fabriziert, mich feuern zu können.<br />

Passen Sie auf, dass es Ihnen nicht auch passiert. Möller ist zu allem bereit, wenn es in seinen<br />

Kram passt.“ Mit diesen Worten verließ Holt einen schweigenden und nachdenklich<br />

wirkenden Oberbauleiter.<br />

Das zweite unangenehme Ereignis des Tages erlebte Holt am Abend. Als Holt nach dem<br />

Abendessen Iris das Geschehen des Tages mitteilte, lieferte diese eine filmreife Szene, die<br />

Holt befürchtet, aber in dieser Form nicht erwartet hatte.<br />

Mit blassem Gesicht schrie sie Holt an. „Du bist ein Loser, hast keinen Saft und keine<br />

Kraft. Man kann mit dir Waschlappen machen was man will, und du wehrst dich nicht ... du<br />

Versager.“<br />

36


Holt schien es ratsam zu sein, darauf nichts zu antworten. Er kannte Iris und er dachte<br />

an die immer mehr abnehmende Anzahl des Porzellans in den Schränken. Sie flippte wieder<br />

einmal aus und es brachte nichts mehr, darauf noch den Versuch eines vernünftigen<br />

Gespräches zu starten. Resigniert nahm er seine Autoschlüssel vom Telefontischchen im Flur<br />

und verließ die Wohnung. Noch in der Tiefgarage hörte er das Weib zetern. Im Hasenstall<br />

würde er sicherlich Jewgeni, seinen alten Freund treffen und mit dem über alles, bei einem<br />

Drink bequatschen können.<br />

37


Der Aufbruch<br />

Holt hatte ausreichend Zeit sich nach einem neuen Job umzuschauen. Die Ereignisse in<br />

Deutschland lieferten ihm Zuversicht für eine bessere Zukunft.<br />

Am 23. August hatte die Volkskammer beschlossen, dass die DDR mit Wirkung zum<br />

3. Oktober der Bundesrepublik beitreten sollte. 29<br />

Im August las Holt im amtlichen Teil des Tagesspiegels von der Gründung der<br />

Gesamtberliner Vermögens- und Treuhandgesellschaft. Als Geschäftsführer war der<br />

Architekt Walter Möller, als stellvertretende Geschäftsführer August Selbmann, den Holt für<br />

sich selbst immer als den Jüngeren bezeichnet hatte und Günter Schmierling in das<br />

Handelsregister eingetragen. Zweck des Unternehmens war die Wahrnehmung der Interessen<br />

von Eigentümern, Alteigentümern und Restitutionsberechtigten von Immobilien und Rechten<br />

an Immobilien auf dem Gebiet von Berlin.<br />

Die Immobilienseiten der Tageszeitungen in Berlin waren voll von Anfragen zum<br />

Erwerb von Immobilien im Ostteil der Stadt und Angeboten zum Erwerb von<br />

Restitutionsansprüchen auf Ostimmobilien. Es tummelten sich immer mehr Haie im seichten<br />

Gewässer des Ostberliner Marktes. Die Maklerbüros und Hausverwaltungen suchten nach<br />

Fachleuten, die sich mit dem Metier verstanden.<br />

In der Berliner Morgenpost fand Holt in der Rubrik Stellenmarkt ein interessantes<br />

Angebot. Eine Bau- und Immobilienfirma aus Bremen suchte mehrere Fachleute für<br />

Immobilienfragen, die mit der DDR und dem Bauwesen der DDR vertraut waren, für eine<br />

Tätigkeit in Potsdam. Bewerbungen sollten an eine Berliner Anschrift geschickt werden, was<br />

Holt dann auch tat. Eigentlich war es mehr Neugierde, als der Zwang zu einer<br />

Tätigkeitsaufnahme. Bereits nach einer Woche erhielt er Antwort. Zum Vorstellungsgespräch<br />

wurde er direkt in einen Bürokomplex in der Litzenburger Straße gebeten. Ansprechpartnerin<br />

sollte eine Frau Weiss sein, die innerhalb der PAULINA- Gruppe die Firmentochter Warnow-<br />

Spree AG als Personalchefin vertrat.<br />

Holt hatte zur Bewerbung einen tabellarischen Lebenslauf und ein paar Referenzen beigefügt.<br />

Frau Weiss ließ nicht lange auf sich warten, nach drei Minuten Zeit wurde er vorgelassen.<br />

„Schön, dass Sie gekommen sind Herr Holt,“ begrüßte sie Holt mit einem festen<br />

Händedruck. „Sie haben ja eine interessante Laufbahn hinter sich, wie ich Ihren Unterlagen<br />

entnehmen kann.“ Mit einer Handbewegung zum Gästestuhl hin und der Bitte, sich doch zu<br />

setzen, fuhr sie fort. „Was ich aber noch wissen möchte, ist, warum Sie Ihre letzte Tätigkeit<br />

beendet haben. So einen Spezialisten wie Sie lässt man doch nicht so einfach gehen.“<br />

Holt hatte diese Frage erwartet und sich eine Antwort dazu bereitgelegt. Mit der<br />

Wahrheit heraus zu kommen, war nicht ratsam, es hätten falsche Rückschlüsse daraus<br />

gezogen werden können, die nicht unbedingt zum Vorteil waren.<br />

„Ich bin eigentlich eine Art wandernder Handwerksgeselle und verstehe meinen<br />

akademischen Beruf mehr als ein solides Handwerk, im Gegensatz zu anderen Kollegen. Mir<br />

macht meine Arbeit Freude und ich bemühe mich, in regelmäßigen Abständen das<br />

Tätigkeitsfeld ein wenig zu ändern. In den letzten zwei Jahren war ich in einem<br />

Architekturbüro, davor in einer Immobilienverwaltung und davor in der Werbung.“<br />

„Und was war nun der spezielle Grund Ihres Ausscheidens?“, hakte sie nach.<br />

„Das war eigentlich die vertragliche Bindung an reine Rechtsfragen in der<br />

Altbausanierung. Das war mir mit der Zeit zu wenig. Im letzten Herbst und im Frühjahr war<br />

ich für meinen Arbeitgeber auch in Ostberlin tätig und im Glauben, in Anbetracht der sich<br />

abzeichnenden politischen Entwicklung, auch weiter auf diesem Feld tätig sein zu können.<br />

Mein Chef war jedoch anderer Meinung und wollte mich weiter am Schreibtisch in<br />

Westberlin sehen. Ich habe ihn mehrmals um Änderung des Anstellungsvertrages gebeten und<br />

ihn scheinbar mit meiner Penetranz verärgert. Er war oftmals ungehalten und rechthaberisch<br />

38


und hat mich als sturen Hund beschimpft. Er hatte es wohl nicht ehrverletzend gemeint, aber<br />

ich habe dies zum Vorwand genommen, zu kündigen.“<br />

Die Personalchefin lachte über den sturen Hund. „Na, wenn wir Sie einstellen sollten,<br />

dann gibt es in unserer Firma gleich zwei sture Hunde, aber der andere sture Hund soll selbst<br />

entscheiden, ob er einen weiteren in der Firma vertragen kann. Aufgrund Ihrer äußerst<br />

interessanten Unterlagen und selbstsicher Haltung, mit unangenehmen Fragen umzugehen,<br />

schlage ich vor, dass Sie sich mit dem Chef, unserem sturen Hund, treffen sollten.“<br />

Holt amüsierte sich über die lockere Art der Personalchefin. Sein zwangsloses und<br />

unbefangenes Verhalten schien Eindruck gemacht zu haben. Die Darlegung der Gründe des<br />

Wechsels der Arbeitsstelle hatte sie zwar sicherlich nicht ganz überzeugt, aber da sie das<br />

Leben in der Branche kannte, sah sie darin kein Hindernis bei einer Anstellung.<br />

„Herr Holt, können Sie heute Nachmittag noch einmal vorbei kommen?“, fragte sie<br />

beim Blättern im Terminkalender. „Herr Krämer, unser Chef, ist heute in Berlin und er wird<br />

am Nachmittag die wichtigsten Entscheidungen selbst treffen.“<br />

„Kein Problem, sagen wir um sechzehn Uhr,“ entgegnete er, um selbst die Zeit<br />

bestimmen zu können.<br />

„Ja, das ist eine gute Zeit. Also sagen wir sechzehn Uhr hier in diesem Raum.“<br />

Holt war mit der Entwicklung zufrieden, er hatte bereits die Wahl zwischen zwei angebotenen<br />

Stellen. Die Firmen, dessen Geschäftsführer er aus der Vergangenheit kannte, waren bereit,<br />

Holt einzustellen, die Firma MietWert sogar ohne Probezeit. Beide Firmen hatten Holts<br />

Gehaltsvorstellungen akzeptiert. Mit diesem Sicherheitspolster konnte er in die Runde mit<br />

Krämer gehen. Kurz vor sechzehn Uhr betrat er das Büro, dessen Empfang nun verwaist war.<br />

Nur ein Zimmer schien noch besetzt zu sein. Er hatte zwar erwartet, dass die Personalchefin<br />

auch anwesend war, sah sich jedoch in der Erwartung enttäuscht, als er im Zimmer einen<br />

großen und schlanken Mann, mittleren Alters allein sitzen sah, der beim Eintreten Holts<br />

überrascht auf seine Armbanduhr schaute.<br />

„Wenn Sie Herr Holt sind“, sagte er, sich leicht vom Stuhl erhebend und Holt die<br />

Hand zum Gruß entbietend, „dann sind Sie bei mir richtig. Mein Name ist Krämer, ich bin der<br />

Vorstandsvorsitzende der PAULINA- Gruppe.“<br />

Holt hatte Krämer sofort wieder erkannt. „Ich glaube, wir sind uns schon einmal in<br />

Bonn begegnet,“ entgegnete Holt. „Es war 1988 bei einer Anhörung vor einem Ausschuss des<br />

Bundestages.“<br />

„Ja, stimmt, damals ging es um den beinahen Einsturz einer Autobahnbrücke in<br />

Westberlin, an deren Bau unsere Firmengruppe fünfzehn Jahre vorher beteiligt war. Sie hatten<br />

einen Vortrag über die rechtlichen Konsequenzen der beim Beinaheeinsturz auf DDR-Gebiet<br />

liegenden Brückenpfeiler gehalten.“<br />

„Sie können sich also noch erinnern? Es ging nicht um das DDR-Gebiet, sondern um<br />

das Gebiet, auf dem die Deutsche Reichsbahn Betriebsrechte hatte. Die Reichsbahn hatte in<br />

der DDR ihren Verwaltungssitz und stand dadurch in der politischen Verwaltung wie im<br />

Eigentum der DDR,“ stellte Holt richtig. „Die Nutzungsrechte für Immobilien in den<br />

Westsektoren von Berlin hingegen, welche der alten Deutschen Reichsbahn vor 1945<br />

gehörten, wurden bereits 1949 der DDR-Reichsbahn entzogen, ausgenommen die unmittelbar<br />

dem Betrieb dienenden Vermögen und Liegenschaften in Westberlin.“<br />

Krämer, der sich nicht mehr an das Ergebnis dieser Ausschusssitzung erinnerte, hakte<br />

nach. „Wem gehörte denn nun damals das Grundstück, auf dem der marode Brückenpfeiler<br />

stand?“<br />

„Rechtlich der bundesdeutschen Verwaltung des ehemaligen Reichsbahnvermögens.“<br />

„Aber ich kann mich doch noch daran erinnern, dass ich mich mit einem<br />

Reichsbahnamt, das im Osten, am Nordbahnhof lag, herumschlagen musste,“ antwortete<br />

Krämer hinsichtlich des Widerspruchs zu seinen eigenen Wahrnehmungen.<br />

39


„Ja, das kann sein, denn für das Betreiben der Strecken in Westberlin war das Amt am<br />

Nordbahnhof zuständig. Neben dem Brückenpfeiler ging ja noch eine S-Bahnstrecke vorbei,<br />

die nach wie vor betrieben wurde. 30<br />

„Wie ich Ihren Darlegungen entnehme Herr Holt, sind Sie nach wie vor ein Experte in<br />

Sachen DDR.“<br />

Holt schien diese Bezeichnung zu dick aufgetragen, daher versuchte er, ein wenig zu<br />

relativieren. „Meine Kenntnisse sind auch nur begrenzt, alles über die DDR wissen, das kann<br />

man nicht. Auf einigen Feldern habe ich vielleicht mehr Kenntnisse und auf anderen weniger.<br />

Ich selbst würde mich nicht als DDR-Experte bezeichnen.“<br />

„Nun seien Sie mal nicht zu bescheiden. Mir ist klar, dass man nicht alles wissen kann,<br />

aber wie sieht es bei Ihnen aus, mit Kenntnissen über das Grundstücksrecht der DDR?“,<br />

wollte Krämer wissen.<br />

„Im Studium an der Uni hatten wir LPG- und Bodenrecht und später im Westen habe<br />

ich mich während des Referendariats auf der Anwaltsstation, in einer auf Ostrecht<br />

spezialisierten Anwaltskanzlei, ausführlich mit den Eigentumsverhältnissen in der DDR<br />

beschäftigt. Das war eigentlich schon alles, bis auf die Fortbildungsinformationen zur jeweils<br />

aktuellen Entwicklung in der DDR, im Rahmen meiner jahrelangen freiberuflichen<br />

Referententätigkeit am Gesamtdeutschen Institut.“<br />

„Und was haben Sie in den letzten Monaten in Ostberlin gemacht?“, fragte Krämer,<br />

indem er auf die vor ihm liegenden Bewerbungsunterlagen schaute. In diesen hatte Holt nur<br />

angegeben, unter anderem für das Architekturbüro Möller in Ostberlin tätig gewesen zu sein.<br />

Holt umriss seine vorherige Tätigkeit in kurzen Worten. Krämer hörte aufmerksam zu.<br />

Nachdem Holt die Beschreibung beendet hatte, lehnte sich Krämer im Stuhl zurück, wirbelte<br />

einen Bleistift in der linken Hand herum und schaute zu der an der Wand hängenden DDR-<br />

Karte. Er stand von seinem Stuhl etwas schwerfällig auf, wobei Holt bemerkte, das Krämer<br />

sein linkes Bein nachzog. Den am Schreibtisch hängenden Krückstock an sich nehmend und<br />

sich darauf stützend ging er zur Karte. Krämer hatte Holts Blick auf sein behindertes Bein<br />

wahrgenommen und er erklärte ihm die Umstände der Behinderung ungefragt. „Ich bin vom<br />

Gerüst gefallen, kann von Glück sagen, die Radieschen nicht schon von unten sehen zu<br />

müssen. Hab mich hochgearbeitet, vom ungelernten Bauhelfer bis zum Chef einer großen<br />

Baufirma.“<br />

Mit seiner freien Hand wies er auf den Norden der DDR, während die auf den Knauf<br />

des Krückstockes abgestützte Hand durch die aufzubringende Kraftanstrengung, die Balance<br />

zu halten, an den Knöcheln weiß wurde. „Hier, zwischen der Ostsee, der Warnow bei Rostock<br />

und der Spree bei Berlin werde ich aus allen ehemaligen Baukombinaten in der nördlichen<br />

DDR das größte deutsche Bauunternehmen schmieden, die Warnow-Spree-AG. Sie Herr Holt<br />

könnten mir dabei behilflich sein, ich biete Ihnen die Stelle eines Beauftragten für<br />

Immobilienfragen innerhalb der Gesellschaft an, gleichzeitig sind Sie aber damit auch im<br />

Vorstand. Das heißt, einmal im Monat müssten Sie nach Bremen kommen zu den<br />

Vorstandssitzungen.“<br />

Holt schaute auch zur Karte. Er kannte die Nordbezirke der DDR sehr gut, er war<br />

selbst im Bezirk Rostock aufgewachsen, im Bezirk Neubrandenburg als Jurist tätig gewesen<br />

und hatte seine Studienzeit in Ostberlin verbracht. Es war ein interessantes und verlockendes<br />

Angebot, welches seine zwei anderen Angebote weit in den Schatten stellte.<br />

Krämer deutete das Zögern von Holt falsch, um Holt zu überzeugen, legte er nach.<br />

„Sie werden innerhalb der Gesellschaft einen eigenen Bereich mit mehr als fünfzig<br />

Angestellten leiten. Nach dem Geschäftsführer der dortigen Bau-GmbH in Potsdam sind Sie<br />

der zweitwichtigste, wenn nicht für mich sogar der wichtigste Mann dort, Sie würden<br />

zuständig sein für mehr als zehn Baukombinate, nicht für die abzuwickelnden oder<br />

weiterführenden Bauvorhaben, sondern nur für die Liegenschaften und deren Verwertung.<br />

Holt sagen Sie zu, ich brauche Sie.“<br />

40


„Sie müssen für die Baukombinate viel Geld aufgebracht haben, um diese erwerben zu<br />

können.“<br />

„Wo denken Sie hin, soviel war es auch nicht. Ich habe bei der Treuhandgesellschaft<br />

für die Erwerbsoption nur wenige Millionen hingelegt. Die Privatisierung erfolgt im Auftrage<br />

der Treuhandgesellschaft und den Kaufpreis kann ich aus den laufenden Gewinnen der<br />

Baukombinate erbringen. Nicht aus den noch spärlich laufenden Bauvorhaben, sondern aus<br />

der Verwertung der Liegenschaften der Baukombinate. Das wäre Ihre Aufgabe.“<br />

Holt war über diesen Sachverhalt erstaunt. Bei den richtigen Kontakten und einer guten<br />

Konzeption bekommt man von der Treuhandgesellschaft Millionenwerte übertragen. So<br />

einfach ist es!, dachte er erstaunt nach. Aber es konnte auch in die Hose gehen.<br />

„Spielen Sie damit nicht eine Art Russisches Roulette? Ich kann mir einfach nicht<br />

vorstellen, dass Ihnen die Leute von der Treuhand Millionenwerte an die Hand geben, nur<br />

gegen einen schönen Investitionsplan.“<br />

„Nicht so lange, wie ich die Munition in den Revolver lade,“ antwortete Krämer<br />

lachend.<br />

Holt sagte nichts weiter dazu, um wieder auf seine Interessen zurückzukommen. „Was<br />

können Sie mir Materielles anbieten?“<br />

„Was möchten Sie den?“<br />

„Das Doppelte von dem, was Sie gerade gedacht haben!“, antwortete Holt im Scherz.<br />

Krämer lachte wieder. „Solche Mitarbeiter wünsche ich mir. Gut, ich biete Ihnen das<br />

Doppelte an, nicht von dem was ich gerade gedacht habe, ich würde mich ja damit in den<br />

Ruin stürzen, sondern von dem, was Sie zuletzt bekommen haben. Weiter bekommen Sie ein<br />

dreizehntes und vierzehntes Monatsgehalt, einen Dienstwagen der gehobenen Mittelklasse<br />

und einen persönlichen Referenten, neben allen anderen planmäßigen Mitarbeitern. Wie wäre<br />

es?“ Er schaute Holt fragend an, der sich gerade in Gedanken sein neues Einkommen<br />

ausrechnete.<br />

„Wann soll ich anfangen?“<br />

Krämer rieb sich die Hände, nachdem er wieder am Schreibtisch Platz genommen und<br />

den Krückstock an der Schreibtischplatte angehangen hatte. „Am besten gestern, aber wie<br />

wäre es mit dem nächsten Ersten?“<br />

„Das sind ja nur noch zehn Tage, und das wären zwei Tage vor der<br />

Wiedervereinigung.“<br />

„Richtig, Sie würden am Freitag, dem 1. Oktober, noch am letzten Arbeitstag in der<br />

DDR, anfangen. Den Anstellungsvertrag haben Sie in drei Tagen. Frau Weiss wird Ihre<br />

Personalsache allen anderen vorziehen. Wir sehen uns dann spätestens am übernächsten<br />

Freitag in Potsdam. Kommen Sie irgendwann vormittags, nicht zu früh, in die Fritz-Perlitz-<br />

Straße, dort hat auch die Märkische Bau-GmbH ihren Sitz. Wir sind offiziell dort nur Gäste.<br />

Alles Weitere werden wir dann dort besprechen können, Sie brauchen nicht extra nach<br />

Bremen kommen, wo der Hauptsitz der Unternehmensgruppe ist.“<br />

Als Holt in seinem Wagen saß und nach Hause fuhr, ging ihm nochmals das Ergebnis durch<br />

den Kopf. Vom Leiter einer Rechtsabteilung in einer kleinen Firma zum Vorstandsmitglied<br />

einer großen Gesellschaft, das war schon ein bemerkenswerter Schritt. Noch bemerkenswerter<br />

war sein Gehalt und die anderen sozialen Leistungen, die auf ihn warteten. Was er jedoch<br />

nicht wusste, war, dass Krämer den anderen Vorstandsmitgliedern viel, viel mehr zahlen<br />

musste. Holt war ein Billigeinkauf, er sollte es später selbst herausfinden, aber im Moment<br />

war er im Überschwang seiner Gefühle. Das alles sollte ausreichen, Iris versöhnlicher zu<br />

stimmen, aber er war sich nicht ganz sicher. Sicherlich hatte sie wieder was daran<br />

rumzumäkeln. Egal, ich werde mich familiär wohl doch verändern müssen. Lieber ein Ende<br />

mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Diese Frau bringt mich sonst noch um oder treibt<br />

41


mich in den Wahnsinn, waren seine eher skeptischen Gedanken, als er in den Dahlemer Weg<br />

einbog.<br />

Am letzten Arbeitstag der abzuwickelnden DDR nahm Holt in Potsdam seine Tätigkeit auf.<br />

Die Fritz-Perlitz-Straße lag, ein wenig vom Zentrum entfernt, in einem bewaldeten<br />

Neubaugebiet. Das Verwaltungsgebäude der Märkischen Bau-GmbH war ein<br />

dreigeschossiges Bauwerk, in der für die DDR typischen Plattenbauweise. Überall roch es<br />

noch nach frischer Farbe und frischem Mörtel. In der obersten Etage hatten im linken Flügel<br />

die Geschäftsführung und Krämer seine Räume. Im rechten Flügel waren der technische<br />

Direktor und die Abteilung Liegenschaften untergebracht, der mit dem heutigen Tage Holt<br />

vorstand. Der im Eingangsbereich sitzende Sicherheitsdienst hatte eine Mitarbeiterin der Bau-<br />

GmbH heruntergerufen, die Holt in Empfang nahm. Die Frau im mittleren Alter war sichtlich<br />

nervös, als sie Holt die Treppen zur obersten Etage herauf führte. Die letzte Etage, die<br />

Chefetage, war noch einmal durch eine große verglaste Tür von den anderen Etagen getrennt.<br />

Nur durch Betätigung eines Summers und dem Öffnen vom Sekretariat aus konnte man die<br />

heiligen Hallen betreten, sofern man keinen eigenen Schlüssel für diese Tür besaß.<br />

In einem Besprechungszimmer saßen mehrere Personen, unter anderem auch Krämer, der sich<br />

erhob und Holt humpelnd entgegen kam. Ein jüngerer Mann brachte Krämer beflissentlich<br />

den Krückstock nach. Krämer fasste Holt mit der freien Hand an den Arm und drehte sich<br />

halb den anderen Personen zu.<br />

„Meine Dame, meine Herren, darf ich Ihnen den neuen Leiter der<br />

Liegenschaftsverwaltung unserer Unternehmensgruppe vorstellen: Herrn Holt.“<br />

Die anderen Personen erhoben sich bei der Begrüßung durch Handschlag und stellten<br />

sich, mit Nennung ihres Namens und ihrer Stellung im Unternehmen, selbst vor. Anwesend<br />

waren der Geschäftsführer, der technische und der kaufmännische Leiter sowie die Leiterin<br />

der Rechtsabteilung, eine ehemalige Rechtsanwältin aus Westberlin. Die immer noch hinter<br />

Holt stehende Mitarbeiterin, die Holt ins Gebäude geführt hatte, entpuppte sich als die für<br />

Holt zugeteilte Sekretärin, Gertrud Johnson, die wegen ihres neuen Chefs so nervös war.<br />

Der Geschäftsführer der Bau-GmbH war auch der letzte Generaldirektor gewesen, als<br />

die Bau-GmbH noch VEB Wohnungsbaukombinat Potsdam hieß. Die Treuhandgesellschaft<br />

hatte diesen, wie auch die anderen Direktoren in der Führung belassen. Nur der ehemalige<br />

Parteisekretär der SED-Betriebsgruppe und der Leiter der Betriebsgewerkschaftsleitung des<br />

FDGB mussten ihre Hüte nehmen. Alle anderen Positionen blieben, wie sie bereits vor der<br />

Wende besetzt waren. Eine Selbstreinigung gab es jedoch bereits schon vorher in der<br />

Wendezeit, wie es Holt später erfuhr. Der ständige Mitarbeiter für Sicherheit, ein<br />

Stasioffizier, war im Herbst 1989 von den anderen Mitarbeitern aus dem Büro geholt und aus<br />

dem Gebäude geprügelt worden. Er war nie wieder aufgetaucht.<br />

Der rechte Flügel war im hinteren Bereich noch einmal durch eine Trennwand mit<br />

großer Glastür gesichert. An der Tür hing ein großes Hinweisschild: Zutritt nur für<br />

autorisierte Personen! Holt war bereits autorisiert, er hatte vom technischen Leiter bereits im<br />

Besprechungszimmer einen Schlüsselbund in die Hand gedrückt bekommen. Sein Bereich<br />

bestand aus dem Sekretariat der Abteilung, seinem Büro und einem weiteren Büro für den<br />

Assistenten. Alle drei Zimmer lagen auf der linken Seite des Flurs und hatten einen eigenen<br />

Eingang, nur das Sekretariat war mit dem Chefzimmer durch eine Verbindungstür extra<br />

verbunden. Rechts lagen das große Besprechungszimmer der Abteilung und ein separater<br />

Materialraum. Schon beim Eintreten in sein Büro war Holt das neu angebrachte Namensschild<br />

an der Tür aufgefallen, das ihn an das Namensschild von Roth im Berolinahaus erinnerte: H.<br />

Holt – Ltr. Liegensch -. Holt musste grinsen. Fünfundvierzig Jahre Verstümmelung der<br />

deutschen Sprache durch die Funktionäre der DDR hatten ihre Spuren hinterlassen.<br />

Den Rest des Tages verbrachte Holt zusammen mit seiner neuen Sekretärin und dem<br />

kaufmännischen Leiter, die ihm die aktuellen Probleme und Aufgaben der nächsten Zeit<br />

42


unterbreiteten. Frau Johnson arbeitete bereits seit 1980 im Unternehmen. Nach ihrer<br />

Berufsausbildung im Wohnungsbaukombinat zur Facharbeiterin in der Wohnungsverwaltung<br />

war sie übernommen worden und auch geblieben. Ein Vorteil, sie war bis vor kurzem<br />

Chefsekretärin und musste auf Veranlassung Krämers ihren Stuhl mit dem bei Holt tauschen.<br />

Dies war nicht als Strafversetzung zu verstehen, denn Krämer wollte, dass sie ihre internen<br />

Kenntnisse für Holt bereithalten sollte. Tatsächlich kannte sie jeden wichtigen Mitarbeiter im<br />

Unternehmen, seinen Werdegang, die jetzigen Positionen und vieles aus der DDR-<br />

Vergangenheit, welches sie anfänglich vor Holt für sich behielt. Von Krämer hatte sie für ihre<br />

Versetzung zu Holt ein größeres Trostpflaster erhalten und stand sich nun viel besser da, als<br />

vorher.<br />

Fehge, der kaufmännische Leiter, war in dieser Position erst seit wenigen Wochen,<br />

vorher war er im Kombinat Direktor für Einkauf gewesen. Holt wusste von den<br />

Schwierigkeiten in der DDR, Einkaufsdirektor gewesen zu sein. Diese Stellung war früher<br />

nicht zu beneiden. Die Mangelwirtschaft in der DDR hatte von dieser Position Zauberkraft<br />

und Intuition verlangt. Dieser Mann, der in der Lage war, in der DDR einen wichtigen<br />

Bereich eines Betriebes zu führen, war prädestiniert, Größeres auch in der freien<br />

Marktwirtschaft zu leisten. Schnell merkte Holt bei seinen gezielten Fragen und Nachfragen,<br />

dass seine zwei Mitkämpfer, die wohl fähigsten Mitarbeiter im Unternehmen waren, die<br />

Krämer Holt zur Seite gestellt hatte. Während seine Sekretärin in der Abteilung eine feste<br />

Planstelle hatte, war Fehge nur auf Zeit abgestellt worden.<br />

Kurz vor Arbeitsschluss kam Frau Guttreu, die Leiterin der Rechtsabteilung in Holts<br />

Büro. „Heute Vormittag hatten wir ja nicht ausreichend Zeit, uns zu beschnuppern,“ sagte sie<br />

nach dem Eintreten und setzte sich auf Holts Stuhl, der gerade ein paar Akten im Regal neu<br />

geordnet hatte.<br />

„Na, ich muss feststellen, Sie riechen wirklich gut,“ antwortete Holt und grinste die<br />

attraktive Frau an, die einen angenehmen, aber nicht aufdringlichen Parfümgeruch im Büro<br />

verbreitete. Sie nahm Holts Spruch gelassen auf und fuhr fort, Holt die zukünftige Form der<br />

Zusammenarbeit zu erklären.<br />

„Ich mache jetzt Schluss,“ teilte sie Holt am Ende Ihrer Hinweise mit. „Wenn Sie Lust<br />

haben, können wir uns noch einmal auf der Rückfahrt nach Westberlin privat in der<br />

Hackeburg bei einem Bier unterhalten.“<br />

„Laden Sie mich ein?“<br />

„Was sind Sie für ein Gentleman? Ich zeige Ihnen den Weg und fahre voraus. Dafür<br />

zahlen Sie das Bier.“<br />

„In Ordnung, ich lasse mich gerne von schönen Frauen ausplündern.“<br />

„Sie sind ein Macho, packen Sie Ihren Kram zusammen und dann geht’s los. Wir<br />

sehen uns in zehn Minuten auf dem Parkplatz,“ antwortete sie kurz und verschwand.<br />

Die Hackeburg lag auf dem Wege nach Westberlin, in Babelsberg und war bis zur Wende ein<br />

Objekt der SED-Parteischule Potsdam-Babelsberg. 31 Das Gebäude war sehr gut erhalten,<br />

wirkte gepflegt und sauber. Jetzt wurde es als Hotel mit Restaurant betrieben. Schon als Holt<br />

hinter dem blauen BMW auf den Parkplatz fuhr, kam ihm das Gebäude bekannt vor. Hier war<br />

er bereits schon 1972 einmal gewesen, als er zur Jugendweihe 32 des Stiefbruders seiner<br />

damaligen Freundin eingeladen war. Die Mutter des Jugendlichen war damals Dozentin an<br />

der Parteihochschule und konnte die Räumlichkeiten der Hackeburg für private<br />

Veranstaltungen nutzen.<br />

Aus dem Nachmittag wurde ein Abend. Holt fand in der Leiterin der Rechtsabteilung<br />

eine seelenverwandte Natur. Beim Gespräch über den beruflichen Werdegang stellte sich<br />

heraus, dass sie beide bereits vor Jahren einmal aufeinandergetroffen waren. Mitte der 70er<br />

Jahre waren sie zusammen im Seminar für Ostrecht bei Professor Rogge an der Freien<br />

Universität in Westberlin gewesen. Holt konnte sich nicht mehr an sie erinnern, jedoch<br />

43


umgekehrt wusste sie, dass Holt damals einer rothaarigen Kommilitonin den Hof gemacht<br />

hatte, an die er sich selbst noch schwach erinnerte.<br />

Viel wichtiger waren die betriebsinternen Kenntnisse. Als Leiterin der Rechtsabteilung<br />

arbeitete sie bereits seit drei Monaten in der Firma. Nach einer kurzen Tätigkeit bei der<br />

Treuhandgesellschaft, die sie wegen ihrer Ostrechtkenntnisse aufgenommen hatte, wurde sie<br />

von Krämer persönlich abgeworben und für die PAULINA- Gruppe verpflichtet. Wie Holt<br />

feststellte, stimmte das, was Krämer ihm beim Einstellungsgespräch anvertraut hatte. Krämer<br />

wollte tatsächlich aus den im Norden der DDR gelegenen ehemaligen Baukombinaten die<br />

größte Baufirma Deutschlands schmieden. Guttreu, im Zusammenwirken mit Holt, sollten<br />

durch eine sinnvolle Verwertung der nicht mehr nutzbaren Liegenschaften das nötige<br />

Kleingeld für dieses Vorhaben erwirtschaften. Im Ganzen war für die Etablierung des neuen<br />

Mammutkonzerns ein finanzieller Aufwand von zirka drei Milliarden DM nötig.<br />

Ungeachtet, dass sie beide mit dem Wagen unterwegs waren, hatten sie die<br />

Promillegrenze verdrängt und diese bereits erheblich überschritten. Der Alkohol hatte bei<br />

Guttreu, die Holt in Gedanken Treuchen nannte, die Zunge gelöst. Sie war der Überzeugung,<br />

dass, wenn die Treuhandgesellschaft bei der von Krämer geplanten Privatisierung nicht<br />

mitspielen würde, ein immenser Schaden entstehen könnte. Sie war bei mehreren Sitzungen<br />

mit der Treuhand anwesend gewesen und hatte den Eindruck, dass Mitarbeiter der Treuhand<br />

Krämer bei seinen Vorhaben behindern wollten. Einige Mitarbeiter der Treuhand waren in der<br />

Vergangenheit leitende Angestellte verschiedener großer westdeutscher Bauunternehmen<br />

gewesen. Guttreu konnte es sich nicht vorstellen, dass diese bei der Gründung, eines größeren<br />

Konkurrenten ihrer vormaligen Arbeitgeber, tatenlos zuschauen würden. Holt fehlte diese<br />

Vorstellung ebenfalls.<br />

Die Arbeit lief gut an. Holts Mitarbeiter waren wie fleißige Bienchen, bereits nach einer<br />

Woche hatte er alle Liegenschaften, die der Zentrale der Bau-GmbH zugeordnet wurden,<br />

bewertet. Da die Märkische Bau-GmbH jedoch neben dem Hauptsitz in Potsdam, weitere acht<br />

Zweigstellen im Land Brandenburg hatte, stand eine weit größere und schwierigere Arbeit<br />

bevor. Frau Johnson hatte die Angewohnheit aus alter DDR-Zeit beibehalten, stets vor ihrem<br />

Chef im Büro zu sein. Holt fand morgens auf seinem Schreibtisch stets die aktuellsten<br />

Unterlagen. Bereits fünf Minuten, nachdem er am Schreibtisch Platz genommen hatte, stellte<br />

Sie vor ihn eine große Tasse frischen Kaffee hin. Als Sekretärin machte sie eine gute Figur.<br />

Ihr Erscheinungsbild war angenehm. Dunkelblonde, leicht gewellte Haare umschlossen ein<br />

schmales Gesicht mit stets freundlich lächelnden hellblauen Augen. Sie war von mittlerer<br />

Statur und ausgeprägten weiblichen Formen, die sie durch eine modische, aber praktische<br />

Kleidung betonen konnte. Bis auf ein wenig Rouge auf den Lippen benutzte sie während ihrer<br />

Arbeitszeit fasst kein Make-up. Mit Holt sprach sie ein gepflegtes Hochdeutsch, jedoch am<br />

Telefon berlinerte sie, wenn sie mit Kollegen sprach.<br />

Vom Schreibtisch aus konnte Holt durch die meistens offen stehende Verbindungstür,<br />

nur den Besucherstuhl im Sekretariat sehen. Der Schreibtisch, hinter dem seine Sekretärin<br />

saß, lag außerhalb seines Sichtfeldes. Nur an den Geräuschen, die aus dem Sekretariat kamen,<br />

erkannte Holt, dass sie anwesend war.<br />

„Frau Johnson,“ rief er, „sagen Sie mir bitte, woher der Straßenname Fritz Perlitz<br />

kommt. Ich kann den Namen nicht einordnen. Wer war Perlitz?“<br />

Im Sekretariat hörte die Schreibmaschine auf zu klappern und nach wenigen Sekunden<br />

erschien seine Sekretärin. Sie lehnte sich leicht an den Türrahmen, in einer Hand eine Tasse<br />

Kaffee.<br />

„Fitz Perlitz war ein Landarbeiter, der in den zwanziger Jahren für die KPD als<br />

Agitator arbeitete. In den dreißiger Jahren war er im Spanischen Bürgerkrieg und danach bei<br />

den Nazis im KZ. Er hatte sogar einen adligen Freund, dem er nach 1945 das Land<br />

wegnehmen musste.“ 33<br />

44


„Na, Sie wissen aber recht viel über den Mann.“<br />

Sie nahm einen Schluck aus der Tasse. „Ich kannte ihn sogar persönlich.“<br />

Holt schaute sie verblüfft an. Seine Sekretärin machte wirklich nicht den Eindruck, mit<br />

berühmten Kommunisten befreundet gewesen zu sein. Johnson hatte die Verblüffung in<br />

seinem Gesicht gesehen. Sie lachte darüber, und sie erklärte Holt, was dieser bereits aus<br />

eigenen Erfahrungen wusste.<br />

„In der DDR gab man Schulen, Straßen, Kultur- und Sporteinrichtungen die Namen<br />

bekannter Kommunisten. Meine Schule und ein Grenzregiment hießen nach Perlitz.<br />

Anlässlich der Vorbereitungen für die Jugendweihe kamen sogenannte Arbeiterveteranen in<br />

die Schulen und sprachen vor den Jugendlichen. Das war bei uns auch so. Er hatte uns als<br />

Namensgeber der Schule stets einmal im Jahr besucht. Daher kann ich mich noch genau daran<br />

erinnern, er sprach auch vor unserer Klasse. Dabei hatte er erwähnt, dass er als Kommunist<br />

gezwungen war, seinen alten Freund aus dem KZ, den Grafen Hardenberg nach 1945 zu<br />

enteignen. Ich hatte bereits damals als Kind das Gefühl, dass der alte Mann mit seinem Tun<br />

nicht recht glücklich war, wie er auch mit einigen Funktionären Ärger hatte. Aber wie gesagt,<br />

ich hatte das Gefühl. Er hat zu uns Kindern nicht gesagt, dass er am Sieg des Kommunismus<br />

zweifele, wohl aber an den Menschen, die dieses Ziel erreichen sollten.“<br />

„Lebt er noch?“<br />

„Nein, soweit ich mich erinnere, ist er bereits Anfangs der siebziger Jahre gestorben.“<br />

Johnson war eine erfreuliche Ergänzung seiner eigenen Erkenntnisse. Nur zirka zehn Jahre<br />

jünger als er, hatte sie die DDR erlebt. Viele ihrer Eindrücke und Einschätzungen waren mit<br />

denen von Holt identisch. Neben einem guten Allgemeinwissen waren ihre betriebsinternen<br />

Kenntnisse für Holt von außerordentlicher Bedeutung. Ihr Einsatz als Sekretärin war<br />

eigentlich für ihren Wissensstand, ihrer Bildung und ihrer Leistungsbereitschaft eine<br />

Verschwendung menschlicher Ressourcen. Die meiste Zeit ihrer Tätigkeit wurde durch den<br />

organisatorischen Kram eines Sekretariats zerschlissen. Nach einem Gespräch mit dem<br />

Geschäftsführer hatte er die Lösung. Aus dem Pool der unterbeschäftigten Sekretärinnen<br />

konnte er sich eine neue Sekretärin aussuchen und die Johnson auf die Position des<br />

persönlichen Referenten setzen, da diese Planstelle noch frei war und erst nach Holts<br />

Vorschlag oder Auswahl besetzt werden sollte.<br />

Anfänglich zögerte Johnson noch, sodass Holt all seine Überredungskunst aufbringen musste.<br />

In der DDR waren personelle Veränderungen innerhalb eines Betriebes oft viele Jahre nicht<br />

vorgenommen worden. Nachdem Holt es ihr erklärt hatte, dass sie von den Tätigkeiten einer<br />

Sekretärin entbunden wird und sich nun nur den Gebieten zuwenden könnte, die ihr mehr<br />

Spaß machten, willigte sie ein, auch hinsichtlich der zweiten Gehaltssteigerung innerhalb von<br />

zehn Monaten.<br />

Als neue Sekretärin hatte er eine ältere, ruhige Frau ausgesucht, die in einem Hollywoodfilm<br />

auch als Sekretärin durchgegangen wäre. Frau Matura schien bereits am nächsten Tag die<br />

neue Tätigkeit um zehn Jahre verjüngt zu haben. Am zweiten Tag erschien sie wie<br />

ausgetauscht, aus der älteren, mausgrauen Sekretärin mauserte sich eine resolute, mütterliche<br />

Mitarbeiterin. Den gedanklich bereits festgelegten Spitznamen Oma Matura änderte er bereits<br />

nach wenigen Tagen in Mutter Natura.<br />

Die Fahrten zu den Zweigstellen erfolgten im Beisein von Fehge und seiner neuen<br />

persönlichen Assistentin, Frau Johnson. Die Zweigstellenleiter waren sehr beflissentlich, ihm<br />

alle notwendigen Unterlagen vorzulegen, diese zu kopieren und dem Bewertungsteam die<br />

Liegenschaften persönlich zu zeigen. Hinter all diesem entgegenkommenden Verhalten stand<br />

die nackte Angst, den Job zu verlieren. Es hatte sich herumgesprochen, dass im Zuge der<br />

Privatisierung ungefähr zwei Drittel der Verwaltung und ein Drittel der Bauarbeiter ihren Job<br />

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verlieren würden. Keiner wollte zu den Verlierern, auf die Liste der zu entlassenden<br />

Mitarbeiter gesetzt werden. Aus den Mienen, Gesten und den benutzten Worten sah und hörte<br />

Holt jedoch die nackte Wahrheit. Ihm war klar, dass man ihm als Wessi nicht liebte,<br />

höchstenfalls akzeptierte, aber meistens fürchte und gelegentlich hasste. In den einzelnen<br />

Gesprächen mit diesen Mitarbeitern versuchte er, deren Befürchtungen abzubauen und<br />

Vertrauen zu schaffen. Letzteres war unmöglich. In einigen Fällen war es ihm gelungen,<br />

durch die teilweise Enthüllung seiner eigenen Ostvergangenheit eine Art Vertrauen oder<br />

Verbundenheit aufzubauen. In einigen Fällen sollte sich dieses Vertrauen als Täuschung<br />

darstellen. Nicht ehrlich gemeint sondern nur zweckbestimmt. Ein besonderer Fall war der<br />

technische Leiter in der Zentrale, ein Mann vom kaukasischen Habitus, mit großem<br />

schwarzen Schnauzbart, olivefarbener Haut, dunklen Haaren und pechschwarzen Augen. Holt<br />

hatte vorher noch nie eine Person sprechen gehört, mit so einer melodischen und sanften<br />

Stimme. Dieser Mann machte einen sehr angenehmen Eindruck auf Holt, der gewillt war, zu<br />

diesem Mann Vertrauen zu fassen. Zwei Wochen nach Arbeitsbeginn wurde der Kaukasier<br />

wegen Tätigkeit für die Stasi fristlos gefeuert. Fehge war darüber erbost, weil jeder bereits vor<br />

der Wende gewusst hatte, dass dieser Mann mit der Stasi involviert war. Dieser hatte als<br />

damaliger Leiter der Abteilung Spezialbau für die Grenztruppen und dem Ministerium für<br />

Staatssicherheit bauliche Anlagen fertigen lassen, jedoch nach Bekunden Fehges in den<br />

ganzen Jahren keinen einzigen Kollegen geschädigt. Jedenfalls war darüber nichts bekannt.<br />

Die Bewertungen der Liegenschaften der Märkischen Bau-GmbH waren nach einem Monat<br />

beendet, lediglich zwei, bereits vor der Wende begonnene größere Bauvorhaben in den<br />

Städten Brandenburg und Güstrow standen noch aus. Nun standen die Bewertungen für die<br />

anderen ehemaligen Baukombinate an. Zunächst sollten die Liegenschaften der Neuruppiner<br />

Wohnungsbau GmbH, der Wohnungsbau Neubrandenburg GmbH und die in Ostberlin<br />

gelegene Berliner Bau-Union GmbH unter die Lupe genommen werden. Zu diesen<br />

Besichtigungsfahrten kam nur Johnson mit, da Fehge für die anderen Betriebe nicht zuständig<br />

war. Holts neuer Ansprechpartner für diese drei Betriebe war ein Bauingenieur aus Ostberlin,<br />

der vor der Aufspaltung des VEB Wohnungsbaukombinat Nord in drei neue Gesellschaften,<br />

für die Bauabnahmen zuständig war. Paul Machmann, wie er hieß, kannte sich bestens aus, er<br />

erinnerte Holt an Fehge. Machmann trat in den neuen Gesellschaften als ein alter und<br />

befreundeter Mitarbeiter auf, er wurde von den Geschäftsführern akzeptiert und die alten<br />

Bekannten waren bereit, unkompliziert mit Holts Team zusammenzuarbeiten. Das hatte seine<br />

Vor- wie auch Nachteile. Die Nachteile lagen in den oftmals ausufernden<br />

Erinnerungsgesprächen, bei denen Unmengen von Alkohol flossen. Holt hatte es sich zueigen<br />

gemacht, abends zurück nach Berlin zu fahren, was jedoch bei den immer weiter entfernt<br />

liegenden Betrieben nicht mehr möglich war. Eine Lösung war es, die Angebote der<br />

Geschäftsführer anzunehmen, in den betriebseigenen Unterkünften der Gesellschaften zu<br />

übernachten. Diese waren immer noch nach DDR-Muster dreigeteilt, einmal für die einfachen<br />

Arbeiter, für die etwas höher eingestuften Mitarbeiter der Verwaltungen und für die<br />

Mitglieder der Betriebsleitungen. Die Unterkünfte für die Chefs erwiesen sich oftmals als<br />

separat liegende Datschen und bessere Einzelhäuser in oftmals malerischer Umgebung. Das<br />

Gästehaus der NBWG, wie die Neubrandenburger Wohnungsbaugesellschaft im Kürzel<br />

genannt wurde, lag am Templiner See, in bester Lage. Ein Hausverwalterehepaar sorgte für<br />

das Wohl der Gäste. Als Holt, Machmann und Johnson am späten Abend eintrafen, war der<br />

Abendbrottisch bereits üppig gedeckt und die Zimmer hergerichtet. Nach dem Abendessen<br />

wurden die ausgewählten Liegenschaften kurz vorbewertet. Eine letzte Bewertung sollte erst<br />

nach dem Gutachten eines Sachverständigen in Potsdam erfolgen, wobei dieses Gutachten<br />

nicht zwingend Grundlage sein musste.<br />

Nach der provisorischen Vorbewertung wurde zwanglos bei einem Glas Wein geplaudert,<br />

wobei Holt immer mehr über sein Team erfuhr. Johnson lebte seit vier Jahren allein mit ihrer<br />

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vierzehn Jahre alten Tochter in Klein Machnow bei Potsdam, direkt an der ehemaligen<br />

Grenze zu Westberlin. Sie war geschieden und hatte bis kurz vor der Wende einen mehr oder<br />

weniger festen Freund, der noch im Herbst über die Tschechoslowakei nach Bayern geflohen<br />

war und sie allein zurück gelassen hatte.<br />

Machmann war zwölf Jahre bei der DDR-Marine Kampfschwimmer, danach hatte er<br />

Bauwesen in Ilmenau studiert und dort auch seine spätere Frau kennen gelernt. Mit Christel,<br />

seiner Frau hatte er zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn wollte in die<br />

Fußstapfen seines Vaters treten und bei der neuen gesamtdeutschen Bundesmarine<br />

Kampfschwimmer werden, obwohl er es seinem Sohn auszureden versuchte. Christel war in<br />

der ehemaligen DDR, zumindest in Ostberlin und im Bezirk Neubrandenburg eine bekannte<br />

Künstlerin. Sie malte große Landschaftsbilder in Öl nach Musikerlebnissen und Holt sollte<br />

Jahre später eines von ihr als Geschenk erhalten.<br />

Die Tätigkeit, wie auch die Freizeit mit beiden Mitarbeitern machte Holt Spaß. Zum ersten<br />

Mal nach Jahren war er wieder in einem Team, welches nach seinen Vorstellungen arbeitete<br />

und zu dessen Mitgliedern er Vertrauen hatte. Menschliches, wie auch professionelles<br />

Vertrauen.<br />

*<br />

In Bremen war der Hausnotar Ochsiger bei Krämer im Büro eingetroffen. Krämer hatte die<br />

Schallschutztür hinter sich geschlossen, und seine Sekretärin dazu verpflichtet, diese<br />

Besprechung auf keinen Fall durch Besucher oder Telefongespräche stören zu lassen.<br />

Krämer eröffnete das Gespräch. „Wilhelm, ich habe schlechte Nachrichten aus Berlin!<br />

Ich befürchte, wir müssen umdisponieren.“<br />

„Was ist geschehen?“ fragte Ochsiger noch beim Öffnen seines Diplomatenkoffers. Er<br />

legte ein paar Unterlagen auf den Tisch, die Krämer sofort als Überweisungsbelege<br />

identifizierte. Er schaute Krämer aus seinen kleinen, stahlgrauen Augen erwartungsvoll an.<br />

Ihn schien die Eröffnung nicht weiter zu beunruhigen. Lässig schlug er seine Beine<br />

übereinander. Mit der rechten Hand zupfte er ein weißes Kavaliertaschentuch in der<br />

Brusttasche seines graublauen Armanianzuges zurecht. An dem kleinen Finger der rechten<br />

Hand blitzte ein hochkarätiger Ring auf, was Krämer, der selbst keinen Wert auf Schmuck<br />

legte, unangenehm auffiel. Du kleidest dich wie eine Schwuchtel und hängst dich wie ein<br />

Weib mit Schmuck voll, ging es Krämer durch den Kopf, aber wenn du nicht so ein gerissener<br />

Hund und guter Rechtsexperte wärst, hätte ich dich schon längst in die Wüste geschickt,<br />

dachte Krämer.<br />

„Die bei der Treuhand mauern“, entgegnete er. „Heute habe ich von der Guttreu aus<br />

Potsdam eine Mitteilung erhalten. Sie hat in der Treuhand noch Freunde aus der Zeit, als sie<br />

dort tätig war. Diese hatten es ihr gesteckt, dass die Leute von Drunter und Drüber etwas<br />

planen und uns ins Leere laufen lassen wollen.“<br />

„Scheiße!, was läuft dort?“<br />

„Die Guttreu sagt, dass man uns hinhalten will, solange, biss uns die Luft ausgeht und<br />

dann sollen die Betriebe neu ausgeschrieben werden, bzw. man will uns dazu zwingen, neue<br />

Sanierungskonzepte vorzulegen, in denen wir uns verpflichten alle derzeitigen Mitarbeiter<br />

auch nach der Privatisierung, mindestens noch fünf Jahre zu behalten.“<br />

„Sind die wahnsinnig, dass können sie nicht mit uns machen. Wenn wir alle<br />

Mitarbeiter auf fünf Jahre behalten, sind wir spätestens in zwei Jahren kaputt.“<br />

„Du sagst es, wir halten es mit der bestehenden Personaldecke nicht einmal ein Jahr<br />

durch. Es sind ja nicht alleine die Lohnkosten der Beschäftigten, sondern die damit<br />

zusammenhängenden Sozialausgaben. Über dreißig Prozent in der Verwaltung sind Frauen im<br />

47


gebärfähigen Alter. Wenn die alle schwanger werden, können wir dicht machen. Außerdem<br />

kosten uns die verlangten Qualifizierungsmaßnahmen ein Heidengeld. Unsere Mitbewerber<br />

wollen uns über ihre Speichellecker bei der Treuhand auf dieser hinterlistige Art klein<br />

kriegen!“<br />

Krämer schien echt besorgt zu sein. Nervös spielte er mit seinem goldenen<br />

Füllfederhalter, den er zwischen den Fingern wirbelte. Er beobachtete die Reaktion von<br />

Ochsiger, der sichtlich angespannt nachdachte. „Wir sollten ihnen die Suppe versalzen“,<br />

flüsterte dieser mit heiserer und belegter Stimme, „und daraus noch ein Geschäft machen.“<br />

„Wenn das so leicht wäre,“ antwortete Krämer, der Ochsiger erwartend anschaute.<br />

Ochsiger blickte auf die immer noch vor ihm liegenden Überweisungsbelege, tippte<br />

mit dem Finger auf diese und sagte, scheinbar zu sich selbst „Ja so geht es.“<br />

Krämer hob den Kopf an. „Was meinst du mit Ja geht es?“<br />

„Die Warnow-Spree ist doch durch den Vertrag mit der Treuhand berechtigt, die nicht<br />

mehr benötigten Grundstücke und Betriebseinrichtungen zu verscherbeln, um aus dem Erlös<br />

den endgültigen Erwerb zu finanzieren?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.<br />

Ochsiger, der für Krämer alle Verträge mit der Treuhand ausgehandelt und<br />

abgeschlossen hatte, kannte die Bestimmungen im Detail und hatte sie noch gut in<br />

Erinnerung, ohne in diese Verträge sehen zu müssen. Er beugte sich zu Krämer über den<br />

Schreibtisch und schaute schnell über seine Schulter zur geschlossenen Tür, ob da nicht doch<br />

ein nicht erwünschter Besucher zuhören könnte.<br />

„Ich hab da so eine Idee,“ flüsterte er und kritzelte auf ein Blatt Papier das Schema<br />

seiner Geschäftsidee.<br />

Krämer schaute auf den sich ausbreitenden und immer komplexer werdenden Entwurf<br />

einer grandiosen Aktion, warf hin und wieder eine Argumentation auf, die Ochsiger geschickt<br />

als wertvolle Änderungen einbaute. Nach fasst drei Stunden stand der Plan eines rechtlich<br />

schweren Wirtschaftsverbrechen fest, welches auf Anhieb nicht als solches zu erkennen war.<br />

Aus Bremen war die Aufforderung an Holt eingetroffen, die Bewertungen der noch<br />

ausstehenden Grundstücke und der noch zur DDR-Zeit begonnenen Bauvorhaben zu<br />

forcieren. Gleichzeitig wurde er gebeten, sich um den Verkauf der bereits bewerteten<br />

Grundstücke zu bemühen und Kontakt zu Maklern aufzunehmen. Einige Grundstücke waren<br />

bereits verkauft, darunter auch die ersten Grundstücke, welche Holt gleich am Anfang seiner<br />

Tätigkeit bewertet hatte. Die Kopien der Verkaufsunterlagen lagen auf seinem Schreibtisch.<br />

Erstaunt stellte er beim Durchlesen der Protokolle fest, dass in allen Fällen seine<br />

Bewertungszahlen als Verkaufspreise eingesetzt worden waren. Von Gutachten anderer<br />

Bewerter aus dem Kreis der Grundstücksbewertungsgesellschaften, wie durch Krämer<br />

ursprünglich vorgesehen, war nichts zu sehen. Insgesamt waren bereits zweiunddreißig<br />

kleinere Grundstücke, alle in bester Lage und fünf große Grundstücksflächen im Werte von<br />

mehreren Millionen Mark verkauft. An den Kopien der abgeschlossenen Kaufverträge waren<br />

auch die Zahlungseingänge auf das Einnahmekonto der Warnow-Spree ersichtlich.<br />

Holt wunderte sich über die plötzliche Eile, er wusste, dass Krämer erst in mehreren Monaten<br />

die eingegangenen Beträge beim Erwerb der Bauunternehmen verwenden sollte. Was war der<br />

Grund dieser Eile? Bei der letzten Vorstandssitzung in Bremen hatte Krämer noch verlauten<br />

lassen, dass alles im zeitlich festgelegten Rahmen lag und überstürzte Eile sich negativ auf die<br />

Geschäftsentwicklung auswirken könnte. Bestärkt darin wurde er durch den Hausnotar<br />

Ochsiger, der sich lediglich über die notwendigen Grundbucheinträge geäußert hatte, was<br />

Holt für überflüssig hielt, da fasst alle anwesenden Juristen waren oder aus der<br />

Immobilienbranche kamen.<br />

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Zwei Tage, nachdem er die ersten Verkaufsunterlagen erhalten hatte, kam Guttreu in sein<br />

Büro. Sie hatte die Rückabwicklung eines Kaufvertrages bei sich und wollte die Zahlen ihrer<br />

Unterlagen mit den Zahlen der Holt vorliegenden Unterlagen vergleichen.<br />

„Warum wird der Kauf rückgängig gemacht?“, wollte er wissen.<br />

Guttreu blätterte in ihren Unterlagen, bis sie die betreffende Stelle gefunden hatte.<br />

„Die Bank des Käufers hat einen Rückzieher gemacht und einen bereits versprochenen Kredit<br />

nicht gegeben. Der Käufer konnte nicht genug Sicherheit erbringen, weil die Bank den<br />

Finanzierungs- und Geschäftsplan des Erwerbers nach genauer Durchsicht als unzureichend<br />

bewertet hat.“<br />

„Ja“, antwortete Holt, „zuerst versprechen sie alles um den Kunden zu halten, dann<br />

fordern sie dreihundert Prozent Sicherheit und zwingen Kreditnehmer zu unsinnigen<br />

Lebensversicherungen, mit denen sie das Darlehen besichern. Ich kenn das Spielchen.“<br />

„Ich muss die Zahlungen, abzüglich unserer Kosten, zurück überweisen und brauche<br />

daher die Angabe des Betriebskontos, auf dem der Eingang vermerkt ist.“<br />

„Hast du die Angaben zu den Betriebskonten nicht in deinen Unterlagen?“<br />

„Nein, ich habe nur den Zahlungseingang bei unserer Bank, aber nicht den Verbleib<br />

innerhalb der Betriebskonten.“<br />

„Mal sehen, ob sie in meinen Unterlagen sind,“ antwortete er und blätterte sich durch<br />

den Stoß der Unterlagen. „Ja, hier hab ich was. Die Eingangszahlung ist am 04.01. vermerkt.<br />

Am 05.01. ging der Betrag bereits auf das Sonderkonto AN3/002. Du musst also die<br />

Rückübertragung von diesem Konto auf das Ausgangs/Eingangskonto veranlassen.“<br />

„Was ist das für ein Sonderkonto?“, wollte sie wissen. „Es ist doch<br />

betriebswirtschaftlich unüblich, innerhalb der Betriebsfinanzen Konten zu errichten, dessen<br />

Zweckbestimmung nicht erkennbar ist.“<br />

Holt schaute sich die Liste der Zahlungseingänge an. Alle Eingänge waren innerhalb<br />

weniger Tage von Bremen aus, auf dieses Sonderkonto überwiesen worden.<br />

„Ich werde mal mit dem Koofmich reden, ob er mir den Kontostand und den<br />

Verwendungszweck dieses Kontos mitteilen kann. Vielleicht ist es eine alte typische DDR-<br />

Bezeichnung, die sich eingeschlichen hat und sonst ist weiter damit nichts Besonderes los.“<br />

„Na, das will ich nur hoffen,“ entgegnete Guttreu beim Hinausgehen. „Wenn das<br />

Unregelmäßigkeiten sind, dann könnte es Ärger geben.“<br />

Der Finanzbuchhalter wollte zuerst mit den betreffenden Angaben nicht herausrücken, so das<br />

Holt gezwungen war, seine Position als Vorstandsmitglied und Ressortleiter herauszukehren.<br />

Widerwillig kam dieser dann der Anfrage nach. Als Holt sich die Kontoliste durchschaute,<br />

musste er feststellen, alle Beträge waren bereits wieder ausgekehrt. Mehrere Millionen Mark<br />

waren auf das Konto einer neu gebildeten Tochterfirma der Warnow-Spree in<br />

Neubrandenburg geflossen, die mit der Verwertung der Immobilien überhaupt nichts zu tun<br />

hatte. Holt sah auch keinen betrieblichen Grund für diese Überweisungen in der Höhe. Da er<br />

den Geschäftsführer der neuen Tochter aus seinen Besprechungen in Neubrandenburg gut<br />

kannte und sie sich gut verstanden, versuchte er auf Gut Glück mehr zu erfahren. Unter dem<br />

Vorwand, der eigentlich ja auch stimmte, er müsse einen Vertrag wieder rückabwickeln, bat<br />

er telefonisch den ahnungslosen Geschäftsführer, ihm den Verbleib und Verwendungszweck<br />

des Geldes mitzuteilen. Nach wenigen Minuten bekam er Auskunft darüber, was Holt<br />

veranlasste, sich sofort mit der Guttreu in Verbindung zu setzen.<br />

„Das Geld macht hier komische Wege,“ eröffnete Holt das Gespräch, als Guttreu im<br />

geschlossenen Besprechungsraum Platz genommen hatte. „Ich habe festgestellt,“ setzte er<br />

fort, „dass die gesuchten Beträge auf ein Konto der Neubrandenburger Bau-AG überwiesen<br />

wurden. Von dort ging das Geld als Tilgung einer Schuld an eine Tochtergesellschaft, an die<br />

Neustrelitzer Sanierungs- und Werterhaltungs-GmbH und von dort auf ein Notaranderkonto<br />

in Bremen. Empfänger ist der Rechtsanwalt und Notar Ochsiger. Ich war mir über die<br />

49


Rechtmäßigkeit dieser Transaktionen nicht sicher und habe daher noch einmal in den<br />

Hauptvertrag mit der Treuhand geschaut. Dort ist unmissverständlich festgehalten, dass alle<br />

Beträge aus dem Verkauf von Liegenschaften oder anderen Betriebswerten auf das<br />

Verrechnungskonto der Treuhand zu überweisen sind. Überweisungen auf andere Konten, als<br />

vertraglich festgelegt, sind ausdrücklich nicht gestattet.“<br />

Guttreu war bei den Ausführungen Holts blass geworden, Schweiß stand mit einem<br />

Mal auf ihrer Stirn. „Das kann doch nicht wahr sein, ich glaube ich sitze in einem schlechten<br />

Film. Wie hoch ist die Summe aller Beträge, die diesen Weg gegangen sind?“<br />

Holt schaute auf die vor ihm liegende Liste, griff zu einem auf dem Konferenztisch<br />

stehenden Rechner und gab einige Zahlen ein. „Summa summarum sind ungefähr<br />

sechsunddreißig Millionen Mark in unserer Firmengruppe verschwunden,“ antwortete er leise.<br />

„Wir müssen uns über diese seltsame Angelegenheit und die möglichen Konsequenzen<br />

für uns, heute Abend eingehend in der Hackeburg unterhalten. Mach ein paar Kopien davon<br />

und wir werden sehen, was zu veranlassen ist,“ sagte sie, als sie mit weichen Knien das<br />

Besprechungszimmer verließ.<br />

Bevor Holt seine Sachen zusammenpackte, führte er noch ein Telefongespräch mit<br />

Bremen.<br />

Als er in der Hackeburg eintraf, war Guttreu schon da. Er hatte sie aus seinem Bürofenster<br />

nicht abfahren sehen, obwohl er den Betriebsparkplatz im Auge hatte. Sie saß im kleinen<br />

Wintergarten, der hinter dem Restaurant lag und eigentlich nur für geschlossene<br />

Gesellschaften genutzt werden sollte, vor einem Stapel Unterlagen und einem halb<br />

ausgetrunkenen Bier. Als Holt an den Tisch trat, musste er erst ein paar Unterlagen<br />

beiseiteschieben.<br />

Guttreu schaute ihn an, hob die Schultern und wies auf die Papiere. „Hans, wir sitzen<br />

in der Scheiße, und das nicht zu knapp.“<br />

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden,“ antwortete Holt, griff sich eine<br />

Zusammenstellung von Banküberweisungen, „So schlimm wird es wohl doch nicht sein.“<br />

„Jetzt noch nicht, aber wenn wir nicht hellwach bleiben, könnten wir mächtigen Ärger<br />

bekommen.“<br />

„Den hab ich mir, bevor ich abgefahren bin, bereits eingehandelt,“, antwortete er mit<br />

dem Blick auf die Banküberweisungen, die er immer noch in der Hand hielt.<br />

„Was hast du gemacht?“<br />

„Ich war so blöd und habe in Bremen beim Finanzbuchhalter angerufen und ein wenig<br />

mit der Stange im Nebel rumgestochert. Der ist aus der Haut gefahren und hat mir<br />

geantwortet, dass das nicht mein Tätigkeitsbereich sei und mich die Überweisungen innerhalb<br />

des Firmenverbundes einen feuchten Kehricht angingen.“<br />

„Da hat er im Prinzip eigentlich auch recht.“<br />

„Stimmt, wenn ich nur nicht immer auf den Überweisungsbelegen meinen Wilhelm<br />

drunter gemacht hätte. Wegen dieser Tatsache und meinem Wissen über die Bestimmungen<br />

aus dem Generalvertrag, so will ich mal den Vertrag mit der Treuhand nennen, bekommt<br />

mich jeder Staatsanwalt am Arsch, wenn ich vorgebe, nichts gewusst zu haben.“<br />

„Wir könnten Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstatten, bevor jemand etwas<br />

mitbekommt, was da aus dem Ruder läuft.“<br />

„Was glaubst du, was dann passiert?“ Holt gab auch zugleich die Antwort. „Klar, die<br />

werden uns ausquetschen, wie Zitronen und uns als Zeugen im Strafverfahren verwenden,<br />

oder wenn wir Pech haben, uns wegen Beihilfe ranbekommen. Nachdem sie Tabula rasa<br />

gemacht haben, liegen wir auf der Straße und kein Hund, zwischen Warnow und Spree wird<br />

mehr aus unserer Hand fressen. Wir werden als Verräter oder Nestbeschmutzer auf der<br />

Schwarzen Liste der Bau- und Immobilienbranche stehen. Wir werden keinen Job mehr<br />

bekommen. Ist dir das klar?“<br />

50


Es schien der Guttreu klar zu sein, sie nickte nur bestätigend. „Aber was machen wir<br />

nun?“ Auch sie hängte die Antwort selbst an. „Wir müssen uns noch rechtzeitig abseilen.<br />

Jeder von uns muss einen plausiblen Grund finden, um aufzuhören, und wenn es keinen<br />

offensichtlichen Kündigungsgrund gibt, müssen wir einen provozieren oder erfinden.“<br />

Das Klima im Firmenverbund hatte sich langsam, aber merklich verschlechtert. Bei seinen<br />

Fahrten zu den Tochtergesellschaften wehte Holt anfangs nur eine leichte kalte Briese<br />

entgegen, die sich innerhalb weniger Wochen zu einem kalten Wind entwickelte. Er kannte<br />

auch den Grund. Krämer hatte in einer Vorstandssitzung, wenige Tage, nachdem Holt den<br />

Entschluss gefasst hatte, die Firma beim bestmöglichen Anlass zu verlassen, angeordnet, alle<br />

Mitarbeiter zu entlassen, die mit dem SED-Regime zu eng zusammengearbeitet hatten. Dabei<br />

durften die neuen Geschäftsführer willkürlich den Umfang dieser verdächtigen Systemtreue<br />

selbst festlegen. Mit verheerenden Folgen. Die autoritär auftretenden Geschäftsführer, die alle<br />

in der DDR-Zeit ihre Meriten erworben und oftmals Angst vor ihrer eigenen Entlassung<br />

hatten, schafften sich unerwünschte Kritiker und Mitwisser vom Hals, die sich mehr oder<br />

weniger zur DDR-Zeit angepasst hatten, ohne dass ihnen überzogene Systemtreue<br />

vorgeworfen worden konnte. Bereits die bloße Mitgliedschaft in einer der diversen<br />

Massenorganisationen reichte jetzt aus, gefeuert zu werden. Das war absoluter Schwachsinn,<br />

denn fasst alle Mitarbeiter der ehemaligen Baukombinate waren in der Einheitsgewerkschaft<br />

FDGB oder in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft hineingepresst worden,<br />

die lediglich dazu gedient hatten, die knappen Urlaubsplätze der Betriebe zu verteilen und<br />

Geld für die „kommunistische“ Sache abzuverlangen aber im Übrigen ihre Mitglieder in Ruhe<br />

ließen.<br />

Holt kannte einige dieser betroffenen Mitarbeiter. Mehr oder weniger hatten sie Holt<br />

oftmals bei den Gesprächen oder während der am Abend stattfindenden Geschäftsessen ihre<br />

harmlose DDR-Vergangenheit offenbart. Die Gefeuerten waren aber oftmals der Meinung,<br />

dass „die von der Zentrale“, also auch Holt, für ihre Entlassungen verantwortlich waren, weil<br />

diese schlicht und einfach Vertrauensbruch begangen hätten. Dabei kam es ihnen nicht in den<br />

Sinn, dass die Geschäftsführer selbst, ihre eigenen Kollegen aus vergangenen Tagen, für diese<br />

Entlassungen verantwortlich waren. Das böse Wort von den Besserwessis und Jammerossis<br />

kam auf und fand bereitwillig offene Ohren zwischen Rügen und Garmisch Patenkirchen,<br />

besonders stark aber in den Neuen Bundesländern.<br />

Den Absprung vor Augen, forcierte Holt seine geschäftlichen wie privaten Kontakte<br />

zu einigen fähigen Köpfen im Unternehmen und zu einigen freischaffenden Maklern, wie zu<br />

dem westberliner Makler Panzer. Panzer war ihm als sauber und verlässig arbeitender Makler<br />

aufgefallen. Seine Exposés waren einfach aber genau. Auf der Grundlage dieser Exposés hatte<br />

die Unternehmensgruppe einige Grundstücke mit Erfolg verkauft.<br />

Wenige Tage vor Ultimo erschien Fehge in seinem Büro, er machte einen gehetzten<br />

und gestressten Eindruck. „Können Sie mir helfen?“, stellte er ohne weitere Einleitung noch<br />

beim Eintreten die Frage.<br />

Holt war verblüfft, es war ja seine Aufgabe hier zu helfen und er fragte sich, warum er<br />

Fehge nicht helfen sollte. „In wie fern?“<br />

„Ich weiß nicht, was wir mit dem Bauvorhaben in Brandenburg-Görden machen<br />

sollen.“<br />

„Na, ich hatte Ihnen doch bereits vor längerer Zeit gesagt, dass Sie die Umplanung nach der<br />

DIN in Angriff nehmen und dann die Häuser auf den Markt schmeißen sollen, aber zu<br />

anständigen Preisen.“<br />

„Ja, natürlich, wir haben die Häuser nach Weststandard fertig gestellt, mindestens<br />

annähernd, da wir beim Schallschutz nicht mehr viel ändern konnten. Aber was machen wir<br />

jetzt? Wir haben fasst keine Angebote für die Häuser bekommen, und die wir bekommen<br />

haben, liegen unter dem Fertigungspreis.“<br />

51


„Sie haben die Häuser als Ganzes angeboten?“<br />

„Ja.“<br />

„Das ist doch ausgemachter Blödsinn,“ entfuhr es Holt ungewollt der auch wahrnahm,<br />

dass Fehge erschrocken den Kopf einzog, als ob er Schläge erwartete. „Habe ich damals nicht<br />

auch gesagt, dass die Häuser in einzelne Eigentumswohnungen aufgeteilt werden sollten?“<br />

„Ja, aber das haben wir doch getan. Jede Wohnung ist Einzel abschließbar.“<br />

„Fehge, ich habe das nicht baulich sondern rechtlich gemeint. Nach dem<br />

Wohnungseigentumsgesetz, das ja nun auch hier gilt, können die Wohnungen als Einheiten<br />

auch einzeln und gesondert verkauft werden. Vor einem Notar muss jedoch vorher eine<br />

Teilungserklärung abgegeben werden, auf die sich der spätere Eigentümer auch verlassen<br />

kann.“<br />

„Und was muss in dieser Erklärung stehen?“, wollte Fehge zögernd wissen.<br />

Holt setzte an, es Fehge im Einzelnen auseinanderzuklamüsern, besann sich jedoch<br />

eines anderen und überlegte kurz. „Was halten Sie davon, wenn ich die Aufgabe übernehme,<br />

die Häuser zu verkaufen, mit allem drum herum, von den rechtlichen Fragen bis zum<br />

Vertrieb?“<br />

Fehge biss sofort an, weil er dadurch von einer Aufgabe entbunden werden konnte,<br />

von der er keinen blassen Schimmer hatte. „Ich werde mit dem Alten reden, er hört auf mich,<br />

wenn Ihre Abteilung mit dem Verkauf beauftragt werden kann.“<br />

„Nein, nein Fehge, so habe ich das nicht gemeint. Nicht meine Abteilung, sondern ich<br />

verkaufe die Häuser als Wohnungseigentum. Ich höre hier im Unternehmen auf!“<br />

„Was ... Sie ... Sie hören auf?“, stammelte Fehge erschrocken. „Warum denn? Sie<br />

haben sich doch hier wohl gefühlt und auch gutes Geld verdient. Ich kann es nicht glauben.“<br />

„Fehge, der Anlass liegt in Bremen. Ich kann hier nicht länger bleiben. Dafür habe ich<br />

wichtige Gründe.“<br />

Fehge glaubte, den Grund zu kennen. „Nur, weil man Ihnen einen neuen Boss vor die<br />

Nase setzen will?“<br />

Holt merkte sofort, das Fehge mehr wusste als er selbst und hakte sofort nach, um<br />

mehr zu erfahren. Eigentlich wusste er gar nichts. Ihm einen neuen Boss vor die Nase setzen?<br />

Was lief hier ab? Sich aber bereits wissend gebend, antwortete er, „Was wissen Sie bereits?“<br />

„Der Alte hat mir gesagt, dass zum nächsten Ersten aus Hamburg ein Baumensch<br />

kommt, der für die neue Projektentwicklungsgesellschaft vorgesehen ist. Eigentlich sollten<br />

Sie ja Chef werden, aber Krämer hat dem Alten gesagt, dass er sich Sie für die<br />

Geschäftsführung einer neuen Marketinggesellschaft vorbehalten hat.“<br />

„So ein Quatsch!“, entfuhr es Holt. „Davon habe ich doch keinen blassen Schimmer.<br />

Krämer hat mir die Geschäftsführung für die neue Projektentwicklungsgesellschaft<br />

zugesichert.“<br />

„Offensichtlich hat er sich eines anderen besonnen.“<br />

„Ja, offensichtlich. Ich hab da schon was läuten hören, wusste aber noch nichts<br />

Genaues. Sicherheitshalber habe ich mich schon umgeschaut. Wenn der aus Hamburg<br />

tatsächlich den Job bekommt, ist das ein Vertrauensbruch, der mich zur Kündigung heraus<br />

fordert.“<br />

Fehge runzelte die Stirn. „Wollen Sie hinsichtlich dieser Entwicklung wirklich die<br />

Aufgabe des Verkaufs als Einzelperson übernehmen?“, wollte er wissen.<br />

„Ja, ich bleibe dabei, aber ich mache es zusammen mit einem Makler, den ich hier<br />

während meiner Tätigkeit kennen gelernt habe. Es ist ein fähiger Mann.“<br />

Panzer war einverstanden, mehr noch, er war fasst euphorisch, als er Holts Vorschlag am<br />

Telefon hörte und sofort zusagte. Sie wurden sich darüber einig, dass Panzer den Vertrieb und<br />

Holt die baurechtlichen Fragen zu machen hatte. „Na Herr Panzer, dann kommen Sie mal<br />

schon Morgen zu mir ins Büro, damit wir bei der Geschäftsführung einen Alleinmakler- und<br />

52


Vertriebsauftrag an Land ziehen. Sagen wir um fünfzehn Uhr, bis dahin hat Fehge, der<br />

kaufmännische Direktor, den Vertrag fertig. Wir lassen uns das doppelt bezahlen, vom Käufer<br />

und auch vom Auftraggeber, dem Verkäufer.“<br />

„Das geht?“, wollte Panzer wissen.<br />

„Aber ja, der Bau-GmbH steht das Wasser bis zum Hals. Sie selbst kriegen nichts auf<br />

die Reihe und sind auf Gedeih und Verderb auf uns angewiesen, sie können unser Angebot<br />

gar nicht ablehnen ... und ... es gibt nur ein Gedeih!“<br />

Fehge hatte Wort gehalten. Bereits in der Mittagspause teilte er Holt beim Essen in der<br />

Werkskantine mit, dass der Vertrag für Panzer & Partner fertig sei. Der Alte hatte sich ein<br />

wenig daran gestoßen, dass die Bau-GmbH auch eine Courtage zu zahlen habe, aber Fehge<br />

hatte argumentiert, lieber 10 % von 100 zu zahlen, als die herkömmlichen 6 % von Nichts.<br />

Dieses Argument hatte auch den Alten überzeugt.<br />

Am Vortag zum 1. des neuen Monats erschien ein freundlich strahlender Mann im mittleren<br />

Alter, mit grau melierten Haaren, eingekleidet im teuren Zwirn, unaufgefordert in Holts Büro.<br />

„Sie sind Holt?“, herrschte er ihn an.<br />

„Steht auch draußen an der Tür,“ antwortete er mit einem Nicken zur Ausgangstür.<br />

„Und wer sind Sie?“, fragte er, ohne Anstalten zu machen, sich zu erheben oder eine andere<br />

freundliche Geste von sich zu geben, obwohl er ahnte, wer sein Gegenüber war.<br />

„Ich bin Ihr neuer Chef,“ antwortete dieser, als alle Freundlichkeit aus seinem Gesicht<br />

gewichen war. „Mein Name ist Haubart, ich bin der Geschäftsführer der neuen<br />

Projektentwicklungsgesellschaft .... und Sie sind mir unterstellt!“, bellte er den immer noch<br />

sitzen gebliebenen Holt an.<br />

„Mein lieber Herr Haubart“, antwortete Holt ruhig, „das glaube ich nicht!“<br />

Haubart nahm unaufgefordert Platz und stierte Holt an, der fortfuhr. „Es ist hier in der<br />

Firma so üblich, dass jede neue Führungsperson durch den Geschäftsführer den leitenden<br />

Mitarbeitern vorgestellt und gleichzeitig dessen Stellung bekannt gegeben wird. Weiter gibt<br />

es da noch eine andere Sache. Auf der Vorstandsitzung im vorigen Monat wurde mir durch<br />

Krämer zugesichert, dass ich Geschäftsführer der neuen Projektentwicklungsgesellschaft<br />

werde.“<br />

Holt machte eine Pause und schaute den verunsichert wirkenden Haubart<br />

herausfordernd an. „Sind Sie sicher, dass Sie hier in der richtigen Firma sind?“<br />

Ob dieser Frage sprang Haubart auf und brüllte Holt mit hochrotem Kopf an.<br />

„Glauben Sie, ich wäre verrückt? Was erlauben Sie sich, Sie Flegel!“<br />

Holt blieb äußerlich gelassen, obwohl er innerlich unter Spannung stand. „Das kann<br />

ich nicht beurteilen, meine Hochschulausbildung bezieht sich nur auf das Recht, ich bin kein<br />

Psychiater, um Ihnen attestieren zu können, ob Sie verrückt sind oder nicht, aber ich kann<br />

Ihnen als Mensch mit einer normalen Lebenserfahrung bescheinigen, dass Sie offensichtlich<br />

ein arroganter Mensch sind, mit dem ich nicht zusammenarbeiten kann, weder als<br />

Untergebener noch als Leiter einer Abteilung.“<br />

„Sie ... Sie ...“ Haubart rang sichtlich nach Worten, „... sind gefeuert. Ich schmeiße Sie<br />

raus!“, brüllte er und stürzte auf die Tür zu, wo die dort stehende Mutter Matura sich genötigt<br />

sah, aus dem Wege zu spritzen. Holt musste noch einmal zulegen, indem er dem davon<br />

eilenden Haubart hinterher rief, „Sie Blödmann können mich nicht feuern, ich habe soeben<br />

fristlos gekündigt!“<br />

Holt sah die erschrockenen aufgerissenen Augen seiner Sekretärin, er hob wie bedauernd und<br />

entschuldigend die Schultern und klappte die vor ihm liegenden Akten wie endgültig zu.<br />

53


Der Zusammenbruch<br />

Holts Kündigung hatte im Unternehmen wie eine Bombe eingeschlagen. Als Guttreu mit ihrer<br />

Kündigung nachlegte, war das Fass nun endlich übergelaufen. In der Chefetage in Potsdam<br />

stand das Telefon nicht mehr still und es herrschte eine hektische Stimmung. Haubart hatte<br />

sich telefonisch bei Krämer in Bremen bitterlich über Holt beschwert, der sich von der<br />

Hiobsbotschaft noch nicht erholt hatte, als der Geschäftsführer der Bau-GmbH ihm auch noch<br />

den Weggang der Leiterin der Rechtsabteilung mitteilte.<br />

„Was zum Teufel ist bei euch los?“, wollte Krämer wissen. „Was ist da aus dem Ruder<br />

gelaufen? Zwei leitende Angestellte kündigen innerhalb von vierundzwanzig Stunden und<br />

schieben nur persönliche Gründe vor. Das kann ich nicht glauben!“<br />

„Doch,“ antwortete der Geschäftsführer, „mir liegen die Kündigungsschreiben vor.<br />

Der Holt begründet seine Kündigung mit ... ich zitiere wörtlich ... dem Wegfall der<br />

Vertrauensgrundlage im persönlichen Verhältnis zur Geschäftsführung in Bremen. Die<br />

Guttreu begründet ihre Kündigung ebenfalls mit persönlichen Problemen. Sie schreibt, dass<br />

sie durch das Gefühl mangelnder Glaubwürdigkeit und Unterstützung durch den Vorstand zur<br />

Kündigung veranlasst worden ist.“<br />

„Die Beiden sind ja durchgeknallt,“ schnaubte er wütend ins Telefon, um bissig<br />

fortzusetzen, „Reisende soll man aber nicht aufhalten, also machen Sie sich keinen Kopf.<br />

Bleiben Sie ruhig, zahlen Sie generös noch zwei Monate Überbrückung, damit sie nicht auf<br />

die Idee kommen, zum Arbeitsgericht zu rennen. Wir werden in der kommenden Woche im<br />

Detail über die Nachfolge reden.“<br />

Zusammen mit Fehge und Panzer hatte Holt das gerade fertig gestellte Bauvorhaben in<br />

Brandenburg-Görden besichtigt. Die einzelnen Wohnungen waren bereits gesäubert und<br />

standen zur Abnahme bereit. Der gesamte Wohnblock, in Form eines großen „L“, hatte<br />

insgesamt vier Aufgänge mit jeweils zwölf Wohneinheiten, aufgeteilt in vier Etagen. Im<br />

Aufgang D, dem Fußende des „L“, gab es noch ein zusätzliches Penthouse, im aufgesetzten<br />

fünften Stockwerk. Abweichend zur bundesdeutschen Norm, die in Gebäuden mit mehr als<br />

drei Etagen einen Fahrstuhl vorsah, gab es hier wegen der DDR-Bauweise keine Fahrstühle,<br />

was Holt als den einzigst gravierenden Nachteil beim Vertrieb betrachtete. Die Großzügigkeit<br />

des Wohnungsschnittes und der niedrige Kaufpreis glichen diesen Nachteil jedoch wieder aus.<br />

Im Aufgang A befand sich im Erdgeschoss die zukünftige Hausmeisterwohnung, die auf<br />

Vorschlag Panzers als Verkaufs- und Besucherbüro eingerichtet werden und nach dem<br />

Verkauf sofort voll möbliert an den Hausmeister der Gemeinschaft der Eigentümer übertragen<br />

werden sollte. Fehge versprach die sofortige Möblierung.<br />

Die überwiegende Vertriebsarbeit wie Kundenwerbung, Informationserteilung, Übersendung<br />

von Exposés und Kaufverträge erfolgte von Berlin aus. Panzer hatte seine Kontakte zu alten<br />

Kaufinteressenten, überwiegend Anleger, aktiviert und in einigen großen überregionalen<br />

Zeitungen, in den jeweiligen Immobilienteil der klassischen Wochenendbeilagen, Anzeigen<br />

geschaltet. Bei der Durchsicht dieser Beilagen am frühen Morgen des ersten<br />

Erscheinungstages sah Holt, das sie die einzigsten Anbieter waren, die auf dem ehemaligen<br />

Gebiet der DDR die ersten Eigentumswohnungen nach dem bundesdeutschen<br />

Wohnungseigentumsgesetz, zu äußerst günstigen Preisen anboten. Die Holt & Panzer<br />

Projektentwicklungsgesellschaft bürgerlichen Rechts hatte sich in der Woche zuvor,<br />

kurzfristig gegründet und in einem Bürotel in der Schlossstraße in Steglitz ein ausreichend<br />

großes Büro genommen. Die im Büro installierten Telefone und Faxgeräte begannen bereits<br />

eine viertel Stunde nach dem Erscheinen der neuen Mieter im Büro, zum stürmischen Leben<br />

zu erwachen. Erst am Abend nach zweiundzwanzig Uhr wurde es ruhiger. Insgesamt<br />

dreihundertachtundzwanzig Interessenten hatten angerufen, fünfundsiebzig hatten Exposés<br />

54


zugefaxt bekommen und einhundertzwanzig Vertriebsunterlagen waren zum Versenden auf<br />

dem Postweg für den kommenden Montag bereit.<br />

Solch eine Resonanz hatte Holt nicht erwartet, selbst Panzer, der das Wochenendspielchen im<br />

Immobilienbereich kannte, war sichtlich beeindruckt. Die Interessenten hatten überwiegend<br />

von den alten Bundesländern aus angerufen, aus München, Essen, Hannover, Hamburg und<br />

dem alten Westberlin. Eigentümer kleinerer Handwerksbetriebe, Zahnärzte, Ärzte,<br />

Rechtsanwälte und kommerzielle Grundstückshändler.<br />

Einen Block weiter lag die Studentenkneipe Hoppegarten, die bis zwei Uhr nachts geöffnet<br />

hatte. Als Panzer und Holt, ausgehungert, müde und abgearbeitet kurz vor Mitternacht<br />

eintraten, steppte dort der Bär. Im hinteren Raum waren an einem Ecktisch noch zwei Plätze<br />

frei, die Bedienung, die Holt kannte, war noch herum zu bekommen, zwei große Portionen<br />

Bratkartoffel mit Bouletten und Spiegelei zu bringen, obwohl Holt durch die Küchenklappe<br />

bereits den Koch beim Töpfe schruppen gesehen hatte.<br />

Panzer aß nur einen ganz kleinen Teil der Portion und trank ein Glas Milch, was Holt<br />

zur Frage veranlasste, „Schmeckt es Ihnen nicht und mögen Sie kein Bier?“<br />

Panzer kaute langsam weiter, stopfte sich noch einen kleinen Bissen in den Mund und<br />

schob den Teller wie angewidert von sich weg.<br />

„Wenn es am besten schmeckt, sollte man aufhören und ich esse prinzipiell nur kleine<br />

Portionen.“ Mit seinen schlanken Händen zeichnete er in der Luft eine imaginäre, kleine<br />

Portion. „Alkohol trinke ich überhaupt nicht, mir schmeckt es nicht und ich kann es auch<br />

nicht vertragen. Milch und Fruchtsäfte sind gesund,“ sagte er und tippte dabei mit einem<br />

Finger an das vor ihm stehende Milchglas.<br />

Holt war bereits schon bei seinem ersten Treffen mit Panzer, dessen schlanke Figur<br />

aufgefallen. Obwohl schlank, hatte er auf Holt dennoch keinen gesunden Eindruck gemacht.<br />

Panzers Augen lagen tief in den Höhlen und seine Gesichtsfarbe erinnerte Holt an die eines<br />

Gelbsuchtkranken, blass bis leicht ins Gelbliche gehend. Auch das leichte Zittern der Hände<br />

war Holt aufgefallen, welches sich immer dann verstärkte, wenn es ums Geld ging.<br />

Warum zum Teufel, lebst du so wie ein Asket und bist trotzdem nicht gesund?, ging es Holt<br />

durch den Kopf, als er den ihm gegenübersitzenden Panzer prüfend anschaute, der interessiert<br />

zu ein paar jungen Mädchen hinüberschaute, die gleich Hühnern auf der Stange, auf einer<br />

langen Holzbank im angrenzenden Raum saßen und miteinander erzählten und lachten. Na ja,<br />

wenigstens schwul scheinst du nicht zu sein, mein Lieber.<br />

*<br />

Panzer schaute sich in seiner kleinen Wohnung um. Was er sah, konnte sein Herz nicht<br />

erfreuen. Zweiundzwanzig Quadratmeter zur Miete nannte er sein Eigen. Spartanisch<br />

eingerichtet mit Möbeln aus zweiter Hand. Den einzigsten Luxus, den er sich leisten konnte,<br />

war ein alter Computer, den er zwar bedienen konnte, aber dessen Wirkungsweise ihm fremd<br />

war und den er oftmals wegen seiner diversen Macken als einen bösartigen Kobold<br />

betrachtete. Im Unterbewusstsein breitete sich bei ihm das zuerst unterschwellige und dann<br />

immer stärker werdende Gefühl aus, dass dieses hier bald Vergangenheit sein würde. Auf dem<br />

Tisch lag die Liste der Kaufinteressenten, die er noch am Abend vorher aus dem Büro<br />

mitgebracht hatte. In der rechten Hand ein Glas Gemüsesaft haltend, blätterte er die drei<br />

Seiten durch. Sein Augenmerk richtete er auf die mit der Hand geschrieben Beträge der ganz<br />

rechten Seite. Obwohl er die addierte Endsumme bereits vom Abend vorher kannte, rechnete<br />

er sich nochmals seinen Gewinn aus. Seine Hände begannen zu zittern, Aufregung in Form<br />

reinen Adrenalins raste durch seinen Körper: vierhundertsechsundneunzigtausend Mark. Was<br />

konnte er sich alles von dem Geld leisten. Raus aus diesem Loch hier und das Auto, was er<br />

derzeit fuhr, einen alten BMW aus dem Jahre 82 gegen einen neuen der 700er-Reihe<br />

55


austauschen, und ... und ... und. Was hatte den Holt dazu getrieben, so großzügig zu sein? Ihm<br />

wäre es nicht einmal im Traum eingefallen, an irgendeinen Geschäftspartner mehr<br />

auszuzahlen, als notwendig. Für die Vermittlung einer Immobilie stand ihm als Makler eine<br />

sechsprozentige Gebühr zu. Diese zahlte in der Regel stets der Käufer. Eine zusätzliche<br />

Gebühr für eine sogenannte Projektbetreuung gab es im Maklerrecht überhaupt nicht. Was<br />

Holt da mit der Bau-GmbH ausgehandelt hatte, war nicht mehr oder weniger eine zusätzliche<br />

Vermittlungsgebühr vom Verkäufer und diese lag weit über der Norm. Zuerst hatte er<br />

angenommen, das Holt sich die zehn Prozent allein einstreichen würde und er sich mit den<br />

sechs Prozent hätte zufriedengeben müssen. Um so erstaunter war er, als ihm Holt den<br />

Vorschlag unterbreitete, beide Gebühren zusammenzulegen und nach dem Abzug der Kosten<br />

zur Hälfte zu teilen. Dadurch hatte Holt auf zwei Prozent verzichtet, das waren<br />

voraussichtlich ungefähr hundertzwanzigtausend Mark, von diesem Betrag würde er sich den<br />

großen BMW kaufen.<br />

Die letzten Jahre waren für Panzer eine Qual gewesen. Vor der Wiedervereinigung<br />

hatte er als Zeichner in einem Architekturbüro gearbeitet, in dem er rechtlich Teilhaber war,<br />

jedoch nichts zu melden hatte. Seine Geschäftspartner hatten zwar seine Geschäftseinlage<br />

genommen, aber dafür gesorgt, dass er davon nicht profitieren konnte. Sie waren dort alle<br />

Ingenieure und Architekten, er war der einzigste Ungebildete und sie ließen es ihn auch<br />

spüren. Viel Arbeit und wenig Geld, zu wenig, um seine Frau halten zu können. Diese hatte<br />

nach vierjähriger Ehe das Handtuch geschmissen und war nach der Scheidung in Richtung<br />

Bayern verschwunden. Zurückgelassen hatte sie einen frustrierten, ausgeplünderten und bar<br />

jeder Hoffnung lebenden Mann. Zur Krönung allen Übels hatten ihn seine Geschäftspartner<br />

gelinkt, sie hatten für die Firma Konkurs angemeldet und sich als neue Firma konstituiert,<br />

jedoch ohne Panzer, der neben seinem Geld nun auch noch seinen Job verloren hatte. Die<br />

nicht erwartete Wiedervereinigung hatte ihn aus der Bredouille geholfen. Aufgrund seiner<br />

Akribie und Zähigkeit hatte er, zuerst im kleineren und später auch im größeren Umfang,<br />

Grundstücke und Wohnungen vermittelt, was ihm bescheidene Einkünfte zum Überleben<br />

einbrachte. Nicht übermäßig viel, jedoch mehr als er früher im Büro bekommen hatte. Es<br />

blieb jetzt sogar etwas übrig, was er an den Wochenenden in der Kirchengemeinde der<br />

Siebentageadventisten spenden konnte, dort wo er sich geborgen fühlte, wo er Anklang fand<br />

und wo er sogar anderen Menschen Hilfe angedeihen konnte. Seine Kirche!<br />

Holt hatte er kennengelernt, als er auf der Suche nach neuen Maklerobjekten bei der<br />

Bau-GmbH vorstellig wurde. Dieser arbeitete in einem großen und modernen Büro, mit<br />

eigener Sekretärin und einer persönlichen Referentin. Die scheinbar sozial abgesicherte<br />

Stellung, die Machtfülle und Entscheidungskompetenz hatten auf Panzer Eindruck gemacht<br />

und in ihm den Wusch aufkommen lassen, so auch einmal arbeiten zu können. Obwohl Holt<br />

ihm gegenüber freundlich und hilfsbereit war, keimten bereits nach wenigen Treffen<br />

Missgunst und unterschwellig Hass auf. Was ihn eigentlich an Holt störte, konnte er sich<br />

selbst nicht beantworten. War es dessen Erfolg oder Selbstsicherheit des Anderen? Als Holt<br />

ihn dann angerufen hatte und das Angebot einer Zusammenarbeit unterbreitete, war seine<br />

anfängliche Euphorie genau so groß wie sein Misstrauen. Die Euphorie wich einer<br />

aufgeschlossenen Geschäftigkeit, aber das Misstrauen blieb, zwar nicht vordergründig, jedoch<br />

in der Dunkelheit seiner vom Selbstzweifel zerrissenen Seele.<br />

War es sein Glaube, der ihn jeden Sonntag, hier in diese einfache und schlichte Kirche<br />

trieb oder war es etwas anderes? Panzer schaute zu dem links vor ihm sitzenden Mädchen<br />

hinüber. Diese hatte seinen Blick bemerkt, als sie sich mit dem neben ihr sitzenden jungen<br />

Mann, ihrem Bruder, unterhielt. Der heutige Vorbeter, ein einfaches Mitglied der Gemeinde,<br />

hatte noch nicht mit seiner Predigt begonnen. An einer Tafel schrieb er gerade die Stellen im<br />

Gesangbuch an, die während der Sonntagsmesse gesungen werden sollten. Die rechts neben<br />

Panzer sitzende alte, und gebrechlich wirkende Frau, reckte ihren Hals, um besser sehen zu<br />

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können. Die nachlassende Sehkraft verhinderte jedoch das Erkennen des Geschriebenen auf<br />

der Tafel, dessen Umrandung sie gerade noch wahrnehmen konnte.<br />

„Was hat er dort angeschrieben, Helmut?“, wollte sie von Panzer wissen.<br />

Dieser aus seiner Beobachtung des Mädchens herausgerissen, begriff nicht sofort die<br />

Frage. „Was meinst du Mutter Baals?“, antwortete er zerstreut fragend.<br />

„Na, das dort an der Tafel. Ich kann es nicht mehr erkennen. Es wird von Woche zu<br />

Woche schlimmer, ich glaube, ich werde auf meine alten nutzlosen Tage noch blind,“<br />

antworte sie, zerstreut an ihrer um den Hals hängenden, aber nutzlosen Brille fingernd.<br />

„Mutter Baals,“ antwortete Panzer mit leiser und melodisch warmer Stimme, „du<br />

sollst nicht immer sagen, du wärst alt und nutzlos. Gott hat für dich ein langes Leben<br />

vorgesehen und von Nutzen bist du auch, da deine Anwesenheit auf Erden Gott ...“ und mir<br />

auch, dachte er „ ... gefällig ist und du doch für mich wie eine Mutter bist. Ist das nicht Grund<br />

genug?“<br />

„Helmut, Helmut, du bist ein Schmeichler. Du brauchst einer alten Frau nichts<br />

vorzumachen, ich weiß doch, was ich dir Wert bin. Du bist ein guter Junge, genau so wie<br />

mein gefallener Hans, aber das ist schon so lange her,“ seufzte sie schwermütig in Erinnerung<br />

an ihren toten Sohn.<br />

Panzer erinnerte sich der Frage. „Seite achtundsiebzig, Vers neunzehn“, antwortete er<br />

gerade noch rechtzeitig, bevor die laute Lautsprecherstimme des Vorbeters jede weitere<br />

Konversation unmöglich machte.<br />

*<br />

Zur gleichen Zeit saß Holt zu Hause am Frühstückstisch. Iris schien etwas zu bedrücken. In<br />

der letzten Zeit hatte sich das Verhältnis nicht noch weiter verschlechtert, es schien eine stille<br />

Übereinkunft getroffen worden zu sein, sich das Leben nicht noch schlimmer zu machen, als<br />

es der stressige Alttag schon tat. Sie druckste ein wenig herum, bevor sie mit ihrem Problem<br />

herauskam.<br />

„Ich muss mir eine neue Mieterin suchen, die Berger will heiraten und für zwei<br />

Personen ist die Wohnung zu klein.“<br />

„Warum eine Mieterin, ist nicht auch ein Mieter eine Option?“, wollte Holt wissen, da<br />

ihm die Wohnsituation von Panzer einfiel.<br />

„Bist du verrückt, ich vermiete doch mein Eigentum nicht an einen Kerl.“<br />

„Was macht es da einen Unterschied, ob der Mieter ein Mann oder eine Frau ist?“<br />

„Da hast du aber eine Ahnung, die Kerle machen meine Wohnung doch zu einem<br />

Hurenhaus.“<br />

„Bist du dir da so sicher? Und was ist mit den vielen Angeboten im Tagesspiel und in<br />

der Morgenpost, ganze Seiten voll mit Damen vom horizontalen Gewerbe, die ihre Dienste<br />

auch von zu Hause aus anbieten.“<br />

„Aha, du liest die!“, antworte sie sofort spitz.<br />

„Nein, ich lese sie nicht, aber sie liegen direkt vor dem Immobilienteil und sind nicht<br />

zu übersehen,“ war seine ärgerlich klingende Antwort.<br />

Es bahnte sich schon wieder ein unangenehmer Disput an. Das Gespräch schien zu<br />

Ende zu sein, jedenfalls für einen Außenstehenden musste es den Anschein erwecken. Holt<br />

dachte jedoch angestrengt nach. Sie will nur eine Frau, soll sie doch selbst einziehen! Ja!!!<br />

Das war eine Idee, die sich blitzartig in Holts Gedanken verfestigte. Das würde für ihn<br />

bedeuten, sie verschwand aus seinem Leben und für sie, sie würde ihre kleine<br />

Eigentumswohnung selbst nutzen können.<br />

„Sag mal Iris, warum ziehst du nicht selbst in deine Wohnung zurück?“<br />

Holt konnte die Überraschung in ihrem Gesicht ablesen und die Wandlung von der<br />

Überraschung zur Erleichterung. Sie schaute Holt schweigend längere Zeit ins Gesicht, als ob<br />

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sie ablesen wollte, ob sie sich nicht verhört oder ob er nur einen Witz gemacht hatte. „Ja ...<br />

das wäre eine Möglichkeit ... aber die Wohnung müsste renoviert werden ... und meine Möbel<br />

will ich auch wieder haben“, antwortete sie mit einem Blick zu dem in die Ehe eingebrachten<br />

riesigen Wohnzimmerschrank.<br />

Holt fasste diese einmalige Situation sofort beim Schopf. „Natürlich“, sagte er<br />

generös, „ich werde dir die Bude renovieren und den Schrank will ich auch nicht behalten.<br />

Wenn wir dann etwas voneinander getrennt leben, könnten wir noch einmal unsere Ehe<br />

überdenken. Vielleicht finden wir doch wieder zueinander.“<br />

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“, antwortet sie kühl und nach einigen<br />

Augenblicken fuhr sie fort. „Mir liegt nichts mehr an dieser Ehe und dir sicherlich auch nicht.<br />

Machen wir uns nichts vor, wir sollten die Situation dazu nutzen, um reinen Tisch zu machen.<br />

Es wäre schon viel erreicht, wenn wir keine Feinde mehr sind, ohne Freunde zu werden.“<br />

„Iris, du warst nie mein Feind, du warst bloß in der letzten Zeit eine Fremde. Ich<br />

glaube, wir sollten keine Zeit mehr verlieren.“<br />

Während Panzer in der Kirche darüber nachdachte, wie er an das kleine Haus kommen<br />

konnte, in der Mutter Baals zurzeit noch wohnte, plante Holt seine Zeit ein, in der er abends<br />

die Eigentumswohnung seiner Noch-Ehefrau renovieren konnte und wann der Umzug<br />

stattfinden sollte. Seltsamerweise dachten beide Männer gleichzeitig an die Verbesserung<br />

ihrer eigenen Wohnsituation, jeder doch auf eine grundlegend andere Art.<br />

*<br />

Alle Wohnungen, auch das Penthouse, hatten ihren Käufer gefunden, als sich Holt und Fehge<br />

in Potsdam in einem neu eröffneten Restaurant zum Gespräch trafen, ob sie noch andere<br />

Projekte möglicherweise gemeinsam durchführen könnten.<br />

„Wie läuft es in der Firma, seitdem ich nicht mehr da bin?“, wollte Holt wissen.<br />

„Alles beim Alten, der Bruck wird immer zickiger. Ihre ehemalige Referentin ist<br />

wieder Chefsekretärin bei Bruck. Haubart bekommt die neue Gesellschaft nicht hin, er hat<br />

sich mit allen angelegt, er ist eben ein Arschloch. Von einer Bekannten habe ich erfahren,<br />

dass er in Hamburg eine Pleite hingelegt hat, und so einen stellen die aus Bremen für uns als<br />

Geschäftsführer ein.“<br />

„Aha“, antwortete Holt und schaute Fehge weiter an, um noch mehr zu erfahren.<br />

„Holt, übrigens, ihr Wessis macht wirklich aus Kacke Bonbon.“<br />

„Was meinen Sie damit?“<br />

„Na, die Sache mit der Verwaltung der WEG in Brandenburg.“<br />

„Ja, und was ist damit?“<br />

„Stellen Sie sich nicht, als Ahnungslosen hin, Sie haben von der vorgeschlagenen<br />

Verwalterin, der Frau Jaschke, eine Vermittlungsprovision von über zwanzigtausend Mark<br />

genommen.“<br />

„Was? Ich habe von niemandem Geld genommen. Frau Jaschke ist eine alte Bekannte,<br />

der ich einen Gefallen tun wollte. Sie hatte mir in der Vergangenheit mehrmals geholfen,<br />

ohne einen Pfennig dafür zu nehmen. Jetzt war ich mal an der Reihe.“<br />

„Quatsch, sie hat es mir selbst gesagt, dass sie an Panzer Zwanzigtausend gezahlt hat<br />

und der ist doch Ihr Mitgesellschafter?“<br />

„Sie hat Panzer zwanzigtausend Mark gezahlt?“, hackte Holt ungläubig nach. „Davon<br />

hat er mir aber nichts erzählt.“<br />

„Dann hat Sie Ihr Partner eben beschissen.“<br />

Als Holt im Büro in der Schlossstraße erschien, saß Panzer vor einem Stapel Papiere, in<br />

denen er mit einem Farbmarker rumkritzelte. Er blickt Holt erwartungsvoll an.<br />

58


„Wie lief es mit Fehge, hat er neue Projekte für uns?“, wollte er wissen.<br />

Holt nahm erst einmal ruhig Platz und dachte nach, wie er auf das Thema Jaschke zu<br />

sprechen kommen konnte, ohne Panzer direkt des Betruges bezichtigen zu müssen. Ich muss<br />

ihm ein Hintertürchen einbauen, damit er das Gesicht bewahren kann. Vielleicht ist auch<br />

nichts daran und Fehge hat nur auf den Busch geklopft.<br />

„Ja, es kommen noch zwei weitere Vorhaben in Betracht. Wir könnten in der<br />

Waldstadt einen Block mit siebenundzwanzig Wohnungen und einen Wohnblock mit zwei<br />

Gewerbeeinheiten in Oranienburg an Land ziehen, aber wir sollen diesmal bei der Vergabe<br />

der Verwaltung keine Provision nehmen.“<br />

Panzer war sichtlich hinter seinem Schreibtisch zusammengesunken und sein Gesicht<br />

war noch fahler als sonst geworden. „Was meinen Sie mit keine Provision mehr zu nehmen?“,<br />

fragte er zögernd.<br />

„Fehge hat mir erzählt, Frau Jaschke hätte Ihnen zwanzigtausend Mark<br />

Vermittlungsprovision gezahlt, was ich aber nicht glauben kann.“<br />

„Doch, doch“, begann Panzer mit fast tonloser Stimme, „ich habe es nur anklingen<br />

lassen und sie hat mir, ohne das ich es fordern musste, diese direkt aufgedungen.“<br />

Holt tat erstaunt und unwissend. „Sie wollen doch nicht damit sagen, unsere<br />

Gesellschaft hätte zwanzigtausend Mark mehr Geld eingenommen?“<br />

„Ja und nein, sie hat mir das Geld in einem Umschlag, wie bei der Mafia, in die Hand<br />

gedrückt und auch keine Quittung verlangt ... aber ich habe das Geld für einen guten Zweck<br />

ausgegeben, ohne mich selbst zu bereichern.“<br />

„Für einen guten Zweck?“<br />

„Ja, ich habe Ihnen doch von der armen alten Frau erzählt, die in Blankenfelde in einem Haus<br />

wohnt, wo es hinein regnet. Ich habe von dem Geld die Kosten einer neuen Dachdeckung und<br />

neuer Fenster gedeckt. Es hat noch nicht einmal ausgereicht, ich habe noch von meinem Geld<br />

etwas zugelegt. Sie können alle Rechnungen sehen, ich sage die Wahrheit.“<br />

„Panzer, Sie können ja den mildtätigen Spender spielen, aber nur mit Ihrem Geld. Wie<br />

kommen Sie darauf, dass ich Geld für solche Zwecke ausgebe?“<br />

„Aber Sie sind doch selbst ein mildtätiger Mensch Herr Holt, Sie haben mir doch<br />

erzählt, dass Sie oftmals für Amnesty International und Greenpeace Geld gespendet haben<br />

und sogar für eine Kirche auf Rügen.“<br />

„Das ist ja auch was anderes, da war es immer mein Geld, und außerdem war das Geld<br />

für die Kirche und nicht für die Pfaffen sondern für die Restaurierung meiner Taufkirche. Da<br />

war ich wohl ein wenig nostalgisch, als ich an meine sorglose Kindheit auf Rügen dachte.“<br />

„Na ja, ich sehe ein, dass ich da ein wenig zu schnell und unüberlegt gehandelt habe,“<br />

antwortete Panzer verlegen. „Ich werde es wieder gut machen, ich werde Sie bei der<br />

Vermittlung von zwei kleineren Grundstücken in Brandenburg beteiligen. Die Verkäufer sind<br />

in unserem Projekt Käufer, das sind die beiden Frauen aus Brandenburg.“<br />

Holt war es peinlich, Panzer so in die Ecke getrieben zu haben. Um das Thema<br />

abzuschließen, sagte er nur „Beim nächsten Mal sprechen Sie mit mir erst darüber. Für mich<br />

ist die Sache jetzt erledigt.“<br />

Für Panzer jedoch war das Thema wohl doch noch nicht erledigt. Als Holt sich daran<br />

machte, einen älteren Vertrag zu modifizieren, wurde er nochmals von Panzer unterbrochen,<br />

der wissen wollte, auf welchem Wege er denn an das Haus kommen könne. Holt antwortete<br />

ihm kurz, „Sie können sich das Haus schenken lassen, kaufen oder erben.“<br />

*<br />

Holt wollte sich die Gegend selbst anschauen, von der er schon so viel von Panzer gehört<br />

hatte. Blankenfelde lag südlich von Berlin. Es war ein lang gezogener Ort, dessen<br />

überwiegend bäuerlich geprägte Häuser an der Hauptstraße und den wenigen kurzen<br />

59


Querstraßen lagen. Rundherum lagen die mehr oder weniger noch landwirtschaftlich<br />

genutzten Ländereien, unterbrochen von kleinen Wäldern und vereinzelten Seen. Zwei<br />

wichtige Eisenbahnlinien und zwei Bundesstraßen querten die Gemarkung, was aus der Sicht<br />

eines Entwicklers für Wohn- und Gewerbeansiedlungen interessant erscheinen musste. An der<br />

Hauptstraße war Holt bei der Durchfahrt ein kleines Einfamilienhaus aufgefallen, welches<br />

eingerüstet war. An der Rüstung zur Straßenseite prangte ein Schild. Dem interessierten<br />

Betrachter wurde mitgeteilt, hier fördert das Land Brandenburg die Sanierung des Hauses.<br />

Auftraggeberin war Frau Amalie Baals, vertreten durch den Baubeauftragten Helmut Panzer.<br />

Förderungssumme vierundzwanzigtausendfünfhundert Mark für Dachneudeckung und<br />

Austausch der Fenster. So ein Schweinehund, das Geld wurde vom Land wieder erstattet. Mal<br />

sehen, ob er nach der Erstattung mit den zehntausend Mark rüber kommt?, schoss es Holt<br />

durch den Kopf, als er das Bauschild durchgelesen hatte.<br />

*<br />

Die Wochen vergingen mit mühseliger Kleinarbeit bei der Vorbereitung der zwei geplanten<br />

Vorhaben. Durch ihren Erfolg in Brandenburg hatten sich Neider und Nacheiferer gefunden.<br />

Obwohl für das Vorhaben in Oranienburg bereits eine Vertriebszusage vorlag, entschied sich<br />

der dortige Geschäftsführer, den Auftrag an einen einheimischen Makler zu vergeben. Wie<br />

Holt es später heraus bekam, handelte es sich um den Schwager des Geschäftsführers, der<br />

sprichwörtlich von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte. Zwei Jahre später stand die Anlage<br />

immer noch zum Verkauf. Der beauftragte Familienmakler hatte schwer wiegende<br />

handwerkliche Fehler gemacht, so zum Beispiel hatte er versucht, das vollständige Projekt als<br />

Ganzes zu unverschämt hohen „Westpreisen“ zu verkaufen. So etwas konnte nicht gut gehen.<br />

Das Vorhaben in der Waldstadt nahm viel Zeit in Anspruch. Der Sommer war vergangen und<br />

immer noch, lag von der Landesbehörde die Genehmigung nicht vor, auch diesen Wohnblock<br />

nach dem Gesetz in einzelne Eigentumswohnungen zu teilen. Mittlerweile hatten sich in den<br />

Baudezernaten des Bundeslandes Personen breitgemacht, dessen Wissen von keinerlei<br />

Fachkenntnissen getrübt war. Die alten, noch aus DDR-Zeiten stammenden Baufachleute<br />

wurden nach und nach durch die oftmals fachfremden Amateurpolitiker vom Runden Tisch<br />

abgelöst. Der neue Baudezernent von Potsdam war zur DDR-Zeit Kantinenleiter beim Rat des<br />

Kreises, Abteilung Bauwesen. Seine Tätigkeit beim Referat Bauwesen qualifizierte ihn dazu,<br />

in demokratischen Zeiten Baudezernent zu werden. Von der Boulette zum Bagger, welch eine<br />

evolutionäre Weiterentwicklung!<br />

Alles war noch in der Schwebe, als Holt von Panzer erfuhr, dass die alte Frau Baals<br />

ihn als Alleinerben eingesetzt hatte. Panzer teilte ihm mit, dass dies der Herzenswunsch der<br />

alten Dame gewesen sei, was Holt jedoch anzweifelte, er erinnerte sich noch genau der Frage<br />

von Panzer, wie er an das Haus herankommen könnte. Mann o Mann, das ist ja pure<br />

Erbschleicherei, ging es Holt durch den Kopf. Panzer hatte tatsächlich etwas drauf, Leute in<br />

seinem Sinne zu beeinflussen. Diesbezüglich hatte er ihn total unterschätzt, aber es sollte ihm<br />

egal sein, was Panzer außerhalb der gemeinsamen Tätigkeit machte, sofern er nicht wieder<br />

gemeinsam zustehendes Geld für private Zwecke abzweigte. Einige Tage später teilte Panzer<br />

Holt auch mit, er hätte Frau Baals zum Notar gefahren und bei der Beurkundung ihre Hand<br />

geführt, wo sie unterschreiben sollte. Mutter Baals konnte nur noch die Dimension der<br />

vorliegenden hellen Papiere erkennen, die Schrift war zu einer einheitlichen grauen Masse<br />

verschwommen.<br />

*<br />

60


Die Nacht brach zu dieser Jahreszeit früh herein. Aus den Häusern schimmerten die Lampen<br />

kaum wahrnehmbar durch die Fenstergardinen und auf den angrenzenden Stallungen und<br />

Höfen brannten schwache Neonröhren, die ihre Umgebung in bläulichen Schimmer tauchten.<br />

Auf der Blankenfelder Allee, die von Berlin nach Zossen führte, verkehrten immer weniger<br />

Autos, sodass Panzer seinen neu erworbenen 700er BMW, ohne aufzufallen, auf einen kleinen<br />

Parkplatz einer nach der Wende geschlossenen Kneipe, direkt hinter dem Ortseingangsschild,<br />

abstellen konnte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er von niemandem beobachtet<br />

wurde, schloss er das Auto ab und ging, als ob er hinter einen Strauch pinkeln wollte, zum<br />

angrenzenden Wäldchen. Ein schmaler Trampelpfad ging hinter dem Wäldchen in südlicher<br />

Richtung, hinter den Gärten der Häuser, die an der Allee lagen, vorbei. Panzer brauchte keine<br />

Taschenlampe. Das Licht, das von den Straßenlaternen und den Stallleuchten kam, reichte<br />

aus, den Pfad zu erkennen. Nach zweihundert Metern stand er an der hinteren Gartenhecke<br />

des Baalschen Grundstückes. Aus dem Wohnzimmerfenster schimmerte das bläuliche Licht<br />

eines laufenden Fernsehgerätes.<br />

Mutter Baals hörte ein Fernsehprogramm, sehen konnte sie seit mehreren Wochen<br />

nicht mehr. Leise ging Panzer den Gartenweg entlang zur hinteren Front des Hauses. Auf<br />

einem hervorspringenden Balken über der Hintertür lag der Schlüssel, den er schon vor Tagen<br />

dort deponiert hatte. Vorsichtig öffnete er die leicht verzogene und knarrende Tür, schloss sie<br />

hinter sich und ging zur Hauseingangstür, die er mit normaler Lautstärke öffnete und gleich<br />

wieder, etwas lauter als sonst, zufallen ließ.<br />

„Helmut, bist du es?“, hörte er aus dem Wohnzimmer die Stimme einer Frau.<br />

„Ja Mutter Baals, ich bin’s, ich hab eine Überraschung für dich,“ antwortete er schon<br />

beim Eintreten ins Wohnzimmer. Die alte Dame machte Anstalten, aufzustehen, was Panzer<br />

jedoch dadurch verhinderte, dass er sie sanft in den Sessel zurückdrückte.<br />

*<br />

Am nächsten Tag erschien Panzer nicht im Büro. Holt machte sich keine weiteren Gedanken,<br />

da sie wegen der verschiedenen Aufgaben auch verschiedene Zeiten hatten, in denen sie<br />

zusammen im Büro waren. Am Nachmittag, kurz bevor Holt das Büro verlassen wollte,<br />

klingelte das Telefon. Panzer war am anderen Ende und teilte ihm mit schmerzlich erstickter<br />

Stimme mit, dass seine Mutter Baals tot sei, sie sei wahrscheinlich wegen ihrer Blindheit im<br />

Hause gestürzt und habe sich den Halswirbel gebrochen. Holt hatte die alte Dame einmal<br />

gesehen und sie für ziemlich rüstig angesehen. Er war bestürzt über ihren so unerwarteten<br />

Tod.<br />

„Dann kommen Sie wohl nicht die nächsten Tage?“, wollte er von Panzer wissen.<br />

„Ja, ich muss mich nun um alles kümmern, Sie hatte ja niemanden mehr. Ich war ja ihr<br />

einzigster enger Kontakt.“<br />

„Ist in Ordnung, es tut mir leid. Sie war ja so etwas wie eine Mutter für Sie und ich<br />

kann es verstehen. Im Moment gibt es ja nichts Dringendes. Falls was Wichtiges für Sie<br />

anfällt, werde ich die Sache selbst erledigen oder Sie darüber informieren. Sagen wir, wir<br />

sehen uns dann am nächsten Montag hier im Büro, falls Ihnen die Zeit recht ist.“<br />

Panzer tat ihm im ersten Moment wirklich leid. Holt hatte sein Mitgefühl nicht<br />

geheuchelt, es kam von Herzen. Eigentlich ist das doch für einen frisch eingesetzten Erben<br />

ein unverschämtes Glück, bereits sechs Wochen nach dem Testament, die Erbschaft antreten<br />

zu können. Sollte da „Jemand“ nachgeholfen haben? Holt verdrängte diesen Gedanken<br />

jedoch ganz schnell. Wer ist breit, eine alte Dame für ein kleines Haus, was noch nicht einmal<br />

hunderttausend Mark Wert war, zu beseitigen? Fasst schämte er sich für den Gedanken,<br />

Panzer eines schweren Verbrechens verdächtigt zu haben. Es gibt eben Zufälle im Leben und<br />

dies schien so ein verfluchter Zufall zu sein.<br />

61


Bereits vierzehn Tage nach dem Tod der alten Dame musste Panzer zur Testamentseröffnung<br />

nach Zossen. Er glaubte, dass es keine Überraschungen geben konnte, da er ja wusste, Erbe<br />

allen Eigentums geworden zu sein. Dies bezog er in erster Linie auf das Haus und ein paar<br />

unbedeutende Ackerflächen hinter dem Haus. Der amtierende Notar verlas das Testament.<br />

Panzer wurde Eigentümer eines Hauses mit Grundstück an der Blankenfelder Allee und er<br />

erbte insgesamt zweiundsiebzig Flurstücke in der Gemarkung Blankenfelde. Akribisch listete<br />

der Notar die Flurstücke mit monotoner und gleichgültiger Stimme auf.<br />

„Ich frage Sie von Amts wegen, in meiner Stellung als Notar im Bundesland<br />

Brandenburg. Nehmen Sie die Erbschaft an?“<br />

Panzer nickte kurz und antwortete, „Ja, Herr Notar.“<br />

„Gut, dann unterschreiben Sie hier die Erklärung über die Annahme der Erbschaft und<br />

die Hinweise zur Zahlung der fälligen Erbschaftssteuer.“<br />

„Erbschaftssteuer!“, entfuhr es Panzer, „Wie hoch ist die denn?“<br />

„Das kann ich Ihnen im Moment nicht so genau sagen, das muss erst ausgerechnet<br />

werden und richtet sich nach dem Wert der Erbschaft. Aber wie ich es auf die Schnelle<br />

überblicke, es wird nicht so viel sein. Sie sind ja jetzt der größte Landbesitzer südlich von<br />

Berlin, es dürfte ja nicht so schwer sein, einen kleinen Teil zur Tilgung der Erbschaftssteuer<br />

zu verkaufen.“<br />

Am folgenden Tag erschien Panzer mit einem Packen Grundbuchauszüge im Büro und legte<br />

diese Holt vor. „Da sind alle meine Grundstücke, der größte Teil wird von der ehemaligen<br />

LPG landwirtschaftlich genutzt, ein Teil liegt brach und einige Grundstücke sind an einzelne<br />

Personen verpachtet.<br />

„Was mach ich nun damit?“, wollte er wissen.<br />

Holt schaute sich die Unterlagen an und nach einiger Zeit sagte er. „Sie müssen den<br />

Nutzern, Pächtern und anderen Nutznießern dieser Grundstücke mitteilen, dass Sie der neue<br />

Eigentümer sind und das diese ab sofort die anfallenden Pachtzinsen auf Ihr Konto zu<br />

überweisen haben. Sicherheitshalber sollten Sie auch mitteilen, dass alle Verträge bis auf<br />

Weiteres so weiterlaufen und das Sie sich die Freiheit nehmen, die Konditionen zu prüfen und<br />

gegebenenfalls auch Vertragsänderungen vorhaben.“<br />

Panzer schaute Holt entgeistert an. „Wie soll ich das Alles machen?“<br />

„Keine Angst, ich werde Ihnen dabei behilflich sein. Wie ich sehe, haben Sie ein paar<br />

interessante Grundstücke, direkt in Blankenfelde, in Nähe der Straßen- und Bahnanbindung<br />

gelegen. Das sieht nach Bauentwicklungsland, wenn nicht sogar nach Bauland aus. Von<br />

wegen, Sie wären ein Bauer, Sie sind jetzt ein Großgrundbesitzer, Herr von Panzer“, fügte<br />

Holt grinsend zu.<br />

Panzer erfasste sofort die Tragweite dieser Feststellungen. „Sie meinen, mein Land<br />

könnte Bauland sein oder werden?“<br />

„Ja!“ war die Antwort. „Sie müssten aber etwas dafür tun, und wie ich sehe, sind die<br />

einzelnen Flurstücke manchmal durch Flurstücke anderer Eigentümer getrennt. Entweder<br />

müsste da ein Gebietstausch vorgenommen werden oder die anderen Eigentümer sollten uns<br />

den Auftrag geben, das Land verwerten zu können. Herr Panzer, auf uns kommt Arbeit und<br />

Geld zu. Lassen Sie uns Nägel mit Köpfen machen.“<br />

Es war schwerer als gedacht. Die anderen Eigentümer waren in der Vergangenheit in die<br />

Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der DDR hineingepresst worden und<br />

hatten den größten Teil ihres Lebens als Bauern verbracht. Nicht die Art der Bauern, die man<br />

aus dem Westen kannte, sie waren mehr Landarbeiter, die über den Grund und Boden nicht<br />

direkt verfügen konnten. Nach der Wende wurden die Genossenschaften zum größten Teil<br />

aufgelöst oder sie wurden zu landwirtschaftlichen Kooperativen in Form von GmbH<br />

umgewandelt. Der Grund und Boden wurde den alten Eigentümern oder deren Erben<br />

62


zurückgegeben, die oftmals kein Interesse an das bäuerliche Leben hatten und es vorzogen<br />

den LPG-Nachfolgern die Landwirtschaftsflächen, gegen Bares zu überlassen. Einige<br />

Alteigentümer aber hatten eine sprichwörtliche Bauernschläue entwickelt, die nicht rational<br />

war, sondern mehr aus dem Bauch kam.<br />

Im besten Gebiet hatte Panzer zwei voneinander getrennte Flurstücke, die mit neun anderen<br />

Flurstücken dazu prädestiniert waren, Bauflächen zu werden. Panzer kannte die Namen der<br />

Eigentümer und hatte auch versucht, mit einigen ins Gespräch zu kommen. Er war bei den<br />

Angesprochenen abgeblitzt. Die merkwürdige Erbschaft hatte sich herumgesprochen und bei<br />

der einheimischen Bevölkerung für Unmut gesorgt. Ein Ehepaar aus Blankenfelde hatte sich<br />

in den letzten Jahren um die alte Dame gekümmert, die Panzer beerbte. Sie machten sich<br />

bislang Hoffnung, im Falle ihres Todes, bedacht zu werden. Nachdem Panzer sie aus dieser<br />

Stellung verdrängte, war böses Blut geflossen. In Gesprächen mit anderen Einheimischen<br />

bezeichneten sie Panzer als den Erbschleicher aus Westberlin, wohl nicht zu Unrecht. Es war<br />

demnach auch kein Wunder, dass die Eigentümer, die davon auch hörten, auf Panzer nicht gut<br />

zu sprechen waren. Bis auf eine Ausnahme: Frau Brandenburg, eine alleinerziehende Frau,<br />

deren einzigstes Flurstück zwischen zwei Flurstücken Panzers lag. Diese Frau hatte erkannt,<br />

dass sie ohne Panzer nicht viel mit ihrem Grundstück anfangen konnte. Die drei Flurstücke<br />

zusammen waren günstig, sie hätten unter Umständen auch allein zu Bauland umgewandelt<br />

werden können, da diese direkt an der Blankenfelder Allee lagen.<br />

Frau Brandenburg zeigte Bereitschaft, erst einmal zuzuhören, als Panzer sie aufsuchte. Panzer<br />

konnte jedoch keine konkreten Vorschläge machen, wie weiter verfahren werden sollte,<br />

erklärte aber, dass sein Mitgesellschafter, ein Grundstücksanwalt, wie er sagte, sicherlich<br />

einen Weg kenne, die Grundstücke mit Gewinn zu verwerten. Sie hatten einen Termin am<br />

Wochenende vereinbart, an dem Holt teilnehmen sollte.<br />

In Erwartung des Besprechungstermins hatte sich Holt noch einmal Panzers<br />

Grundstücksunterlagen und den Flächennutzungsplan der Gemeinde genau angeschaut. Er<br />

erkannte sofort eine kleine und eine große Lösung. Die kleine Lösung bestand in der<br />

alleinigen baurechtlichen Nutzung der drei Flurstücke, was sicherlich nicht schwer sein<br />

dürfte, aber wenig lukrativ. Die große Lösung aber bestand in der Projektentwicklung aller<br />

zwölf Flurstücke zu einem geschlossenen Baugebiet, mit Aussicht auf großen Gewinn für<br />

Eigentümer und Entwickler. Es hieß also, die übrigen neun Eigentümer dazu zu bewegen,<br />

mitzumachen. Der Schlüssel zum Erfolg konnte nur Frau Brandenburg sein, die alle anderen<br />

Eigentümer persönlich kannte. Zur DDR-Zeit war sie als Mitarbeiterin der staatlichen<br />

Versicherung tätig und hatte im Laufe der Jahre oftmals zu den Eigentümern Kontakt. Nun<br />

stellte sich jedoch für Holt die Frage, wie kann ich die misstrauischen Eigentümer dazu<br />

bewegen mitzumachen? Ein normaler Maklervertrag, auch als Alleinmakler, reichte nicht aus,<br />

um die umfangreichen Maßnahmen, die viel Geld erforderten, durchzuziehen. Das Risiko,<br />

notwendigerweise investiertes Geld zu verlieren, war zu groß. Es müsste daher ein Vertrag<br />

sein, der allen Beteiligten Sicherheit gab, setzte jedoch eine Menge Vertrauensvorschuss<br />

voraus, was für Panzer nicht unbedingt zutraf.<br />

Holt dachte nach, im Kapitel Bodenrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches gab es so<br />

eine simple Möglichkeit nicht, aber er konnte sich daran erinnern, während des Studiums<br />

einmal von einem sogenannten Benennungsvertrag 34 gehört zu haben. Diese Vertragsform<br />

könnte die Lösung sein. Man musste nur die Eigentümer davon überzeugen, dem<br />

zuzustimmen, da der Vertrag mit einer festgelegten Laufzeit und Unkündbarkeit während<br />

dieser Laufzeit gekoppelt war. Weiter war für die Grundstücksentwicklung Geld notwendig,<br />

eine Menge Geld. Dies schien zweitrangig zu sein, da Holt, und sicherlich auch Panzer, bereit<br />

waren, dieses notwendige Geld aufzubringen. Panzer erklärte diese Bereitschaft noch vor dem<br />

Gespräch mit Frau Brandenburg.<br />

63


Frau Brandenburg hatte Holts ausführliche Erläuterung des Vorhabens aufmerksam<br />

verfolgt, sie hatte sich gelegentlich Notizen gemacht, auf die sie später noch einmal<br />

ausführlich zu sprechen kommen wollte.<br />

„Also, noch einmal Herr Rechtsanwalt: Sie haben mir eben erklärt, ich bräuchte für<br />

die sogenannte Projektentwicklung keinen Pfennig aufbringen, und wie ich es verstanden<br />

habe, die anderen Eigentümer auch nicht?“<br />

„Ja, so ist es Frau Brandenburg,“ antwortete Holt. „Alle notwendigen Kosten für die<br />

Grundstücksentwicklung, wie Notarkosten, Grundbuchkosten, Kosten der Raumplanung, der<br />

Infrastruktureinrichtung und so weiter, tragen wir. Diese Kosten werden später vom Käufer<br />

des Baulandes mitbezahlt. Der letztliche Verkaufspreis setzt sich zusammen aus dem<br />

ursprünglichen Grundstückspreis, unseren Aufwendungen und der enormen<br />

Wertsteigerungsrate.“<br />

„Was hätte ich für mein kleines Flurstück zu erwarten?“<br />

Holt hatte auf diese Frage gewartet, er hatte vorsorglich eine vorläufige und<br />

vorsichtige Berechnung durchgeführt, die er aus seiner vor ihm liegenden Akte zog und Frau<br />

Brandenburg hinüber reichte. „Ungefähr 4,1 Millionen Mark!“<br />

Mit einem leichten Aufschrei riss die Frau ihre Augen auf, ihr Gesicht wurde<br />

abwechselnd blass und wieder rot. „Was ... Sie meinen wohl 4,1 Tausend Mark?“<br />

„Nein Frau Brandenburg, ich meine Millionen. Wenn Sie und die anderen Eigentümer<br />

mitmachen, machen wir Sie zu Millionären ... und das ist kein Scherz oder Honig, mit dem<br />

wir Sie auf den Leim führen wollen. In weniger als vier Jahre könnten Sie Millionärin sein!“<br />

„Und Sie und Herr Panzer? Was haben Sie denn davon. Das verauslagte Geld zurück<br />

zu bekommen reicht Ihnen doch sicherlich nicht aus?“<br />

„In der Tat Frau Brandenburg, von jedem Eigentümer bekommen wir beim Verkauf<br />

zehn Prozent der Verkaufsumme und der Käufer hat uns auch etwas zu bezahlen. Das ist<br />

unser Anteil.“<br />

„Dann bekommen Sie ja auch Millionen?“<br />

„Sicherlich, ist es Ihnen nicht Wert?“ wollte Panzer wissen, als dieser die Brandenburg<br />

gespannt anschaute.<br />

„Solange ich mein Geld bekomme, ist es mir egal, was Sie bekommen. Sie sind ja<br />

auch betroffener Eigentümer“, wandte sie sich direkt an Panzer, während Holt zufrieden seine<br />

Papiere in der Aktentasche verschwinden ließ.<br />

*<br />

Das Vorhaben entwickelte ungeahnte Eigendynamik. Bei den Gesprächen mit den<br />

Eigentümern der Grundstücke an der Blankenfelder Chaussee, stellte sich heraus, dass diese<br />

oftmals auch in anderen Gemarkungen rund um Blankenfelde Grund und Boden besaßen. Als<br />

diese erkannten, dass sie Panzer und Holt vertrauen konnten und ihre Zweifel ausgeräumt<br />

waren und die Gemeindeverwaltung dem Vorhaben wohlwollend gegenüberstand, besprachen<br />

sie in einem vor Holt und Panzer geheim gehaltenen Treffen im Hause von Frau Brandenburg<br />

darüber, auch die anderen Grundstücke mit zu verwerten. Während dieser Besprechung wurde<br />

den Anwesenden klar, dass sie so ein Vorhaben alleine nicht durchziehen und es vor Panzer<br />

auch nicht weiter geheim halten konnten, da dieser im Gebiet selbst Grund und Boden besaß.<br />

Also gingen sie in die Offensive. Im Schlepptau mit zwei anderen, Holt noch unbekannten<br />

Grundstückseigentümern, erschien Frau Brandenburg als Vertreterin der nicht erschienenen<br />

Grundeigentümer, unangemeldet im Büro in der Schlossstraße. Sie hatten bereits genaue<br />

Vorstellungen, die sie auch selbstsicher zum Ausdruck brachten. Sie hatten die bereits<br />

vorhandenen Vertragsunterlagen vom Vorhaben Blankenfelder Chaussee auf ihre „neuen“<br />

Projekte zugeschnitten, sie praktisch abgekupfert und als Vorhaben „B“ und „C“ tituliert,<br />

wobei sie das ursprüngliche Ausgangsvorhaben mit „A“ bezeichneten. Holt war hinsichtlich<br />

64


dieser unerwarteten Entwicklung verblüfft, Panzer ebenso, der jedoch bereits selbst darüber<br />

nachgedacht hatte, ohne Holt ein zweites Projekt durchzuziehen, in dem er alleine das Sagen<br />

und den Gewinn hatte. Das Erscheinen der drei Besucher zwang ihn, seinen Plan zu ändern,<br />

Holt auszuschließen, zumal Frau Brandenburg in diesem Gebiet selbst kein Land besaß. Diese<br />

wollte nur als Vermittlerin und Koordinatorin vor Ort mitmischen und noch Geld dazu<br />

verdienen.<br />

Nach einer eingehenden Erläuterung der neuen Situation kam Holt mit Panzer überein,<br />

die Vorhaben „B“ und „C“ in Angriff zu nehmen, so wie von der Initiativgruppe um Frau<br />

Brandenburg vorgeschlagen. Holt fiel zwar die Missstimmung bei Panzer auf, der seit der<br />

unerwarteten Besprechung wie ausgewechselt erschien, schob diese jedoch auf seine<br />

persönliche Situation, der durchblicken gelassen hatte, Probleme mit dem jungen Mädchen<br />

aus dem Kirchenkreis zu haben, für welche er sich interessierte.<br />

Die Probleme bei Panzer waren jedoch gänzlich anderer Art. Bereits zwei Wochen zuvor<br />

hatte sich Panzer dazu entschlossen, seine Grundstücke auf der, von der Brandenburg nun<br />

bezeichneten Fläche „B“, alleine zu Bauland zu entwickeln. Hier lagen vier Flurstücke<br />

zusammen, die sich alle in Panzers Eigentum befanden und alleine schon ausgereicht hätten,<br />

ein lukratives Vorhaben zu entwickeln. Durch das Vorpreschen der Brandenburg war an eine<br />

Geheimhaltung vor Holt nicht mehr zu denken, der ja aufgrund seiner Stellung in der GbR<br />

darauf vertrauen durfte, weitere Vorhaben gemeinsam mit Panzer durchführen zu können.<br />

So ein Mist, diese alte brandenburgische Kuh hat mir mein Vorhaben versaut, ging es<br />

Panzer durch den Kopf, als er spät am Abend zu Hause über seine Papiere gebeugt, die neue<br />

Situation durchdachte. Die Berliner Bank hatte sich bereit erklärt, seine dortigen Grundstücke<br />

zum Wert landwirtschaftlicher Nutzflächen zu beleihen, nachdem der Sachbearbeiter für<br />

Kreditvergabe alle Pläne, die Vertragsentwürfe und die Satzung des örtlichen Nutzungsplanes<br />

gesichtet hatte. Schlagartig hatte er erkannt, dass Panzer dort sprichwörtlich eine „Goldmine“<br />

besaß. Es war für den Sachbearbeiter auch keine Schwierigkeit, den Filialleiter davon zu<br />

überzeugen. Panzer war sich eines größeren Kredites bereits sicher, welchen er für die<br />

aufwendige Planung, der Projektentwicklung ohne Holt und für die Gebühren bei den<br />

Behörden verwenden wollte. Er hatte sich ausgerechnet, dass er bei der Fremdvergabe der<br />

Projektentwicklung an ein anderes Büro, anstatt der Erledigung durch Holt, mehrere<br />

hunderttausend Mark sparen könnte. Anstelle einer fünfzigprozentigen Beteiligung Holts am<br />

Endgewinn aus der gesamten Projektentwicklung hätte er nur einen bescheidenen Betrag an<br />

ein außen stehendes Büro zu zahlen.<br />

Wie kann ich Holt aus dem Vorhaben raushalten, ohne dass er es in der Anfangsphase<br />

mitbekommt? Später, wenn alles in warmen Tüchern ist, kann er ruhig erfahren, was gelaufen<br />

ist, dann kann er auch nichts mehr dagegen unternehmen. Langsam bildete sich in seiner<br />

Gedankenwelt ein durchführbarer und Erfolg versprechender Plan, den es galt in die Tat<br />

umzusetzen. Damit wollte er bereits am nächsten Tag beginnen.<br />

Am nächsten Morgen im Büro legte Panzer Holt den Gemarkungsplan des Vorhabens „B“<br />

vor.<br />

Mit seinen schlangen Fingern auf den Plan deutend, sagte er zu Holt, „Von den<br />

achtzehn Flurstücken besitze ich alleine vier. Bei weiteren sieben Flurstücken haben wir<br />

Eigentümer, die auch im Vorhaben „A“ involviert sind. Diese machen uns keine<br />

Schwierigkeiten, es bleiben jedoch noch weitere sieben Flurstücke, mit dessen Eigentümern<br />

ich in meiner Funktion als Miteigentümer einmal selbst sprechen sollte. Was halten Sie<br />

davon?“<br />

Holt dachte kurz nach. „Ja, das ist eine gute Idee. Frau Brandenburg sollte davon erst<br />

einmal entbunden werden. Als Miteigentümer der Flurstücke sind Sie glaubhafter, weil Sie ja<br />

65


erkennbar selbst Interesse daran haben, das Projekt mit Erfolg zu Ende zu führen. Das wird<br />

selbst den blödesten Bauern überzeugen.“<br />

„Nun es ist ja nicht nur mein Interesse an diesem Gebiet, sondern ich muss ja wegen<br />

der Sache an der Blankenfelder Chaussee ständig zur Gemeindeverwaltung und zum<br />

Baudezernat nach Potsdam. Da macht es mir keine weitere Mühe, die Sachen wegen des<br />

Projektes „B“ möglicherweise beim Projekt „C“ auch gleich mit zu erledigen. Was halten Sie<br />

davon Herr Holt, wenn ich mich vorübergehend alleine auf die neuen Vorhaben konzentriere,<br />

bis Sie später bei der Projektentwicklung tätig werden?“<br />

Holt erschien diese Argumentation glaubwürdig, es schien auf den ersten Blick eine<br />

Art Geschäftsverteilung zu sein, die tatsächlich Zeitersparnis mit sich bringen konnte.<br />

Dadurch konnte er sich mehr auf die Entwicklung und die noch anstehenden baurechtlichen<br />

Fragen beim ersten Projekt konzentrieren. Ihm war aber auch klar, dass Panzer bei den<br />

Vorhaben dreimal verdienen würde, als Grundstückseigentümer, als Projektentwickler und als<br />

Makler, aber es regte sich bei ihm kein Neid, er gönnte es Panzer.<br />

„Ich glaube, es ist eine gute Idee,“ antwortete er, „ Sie sollten in der nächsten Zeit die<br />

Vorbereitung der weiteren Vorhaben vorantreiben, bis meine Mitwirkung erforderlich wird.<br />

In der Zwischenzeit kann ich mich verstärkt auf das Vorhaben „A“ konzentrieren.“<br />

Panzer war mit dieser Entwicklung äußerst zufrieden, Holt hatte seine Absichten nicht<br />

mitbekommen noch die weitere Entwicklungstendenz durchschaut. Dieser Trottel, wann<br />

schaltet der seinen Grips ein?, dachte er zynisch. Weitere Gedanken an Holt zu verschwenden<br />

schienen ihm überflüssig, noch hatte er die Zeit dazu, er musste sich auf das Gespräch bei der<br />

Berliner Bank und auf die Vergabe der Projektentwicklung und Flächenplanung an ein<br />

Architekturbüro konzentrieren.<br />

Die Zeit verging, ohne dass erkennbare Erfolge sichtbar wurden. Holts Scheidung war durch,<br />

bei Panzer schien die persönliche Entwicklung dahin zu gehen, dass sich das Mädchen aus<br />

dem Kirchenkreis für einen anderen Mann entschieden hatte. Panzers ursprünglicher Plan,<br />

zusammen mit dem Mädchen, in das geerbte und nun neu hergerichtete Haus in Blankenfelde<br />

zu ziehen, scheiterte an der Tatsache, dass er nun wieder alleine war. Holt wollte nicht mehr<br />

in seiner alten Eigentumswohnung in Dahlem wohnen und Panzer nicht im Haus in<br />

Blankenfelde. Das Angebot eines bekannten Maklers, ein kombiniertes Wohn- und<br />

Geschäftshaus in Lichterfelde Ost, mit Vorkaufsoption anzumieten, kam gerade zum richtigen<br />

Zeitpunkt. Die zweigeschossige Stadtvilla war geeignet, zwei Mietparteien und ein Büro<br />

aufzunehmen. Die Villa lag in ruhiger und grüner Lage, hatte einen großen und neu<br />

angelegten Garten sowie zwei Stellplätze im Tiefgeschoss. Innerhalb von wenigen Tagen war<br />

der Umzug erledigt und das gemeinsame neue Büro bezogen. Zusätzlich wurden zwei<br />

Bürokräfte eingestellt, da die sonst von Bürotel angeboten Dienste nun selbst erledigt werden<br />

mussten.<br />

Die Umstellung, das Büro im eigenen Haus zu haben, erwies sich anfänglich als<br />

nutzvoll, später, als Panzer sich mehr und mehr aus der gemeinsamen Tätigkeit<br />

verabschiedete, belastend. Aber das konnte Holt beim Einzug noch nicht ahnen.<br />

Das Vorhaben „A“ war kurz vor der Fertigstellung, als Bauland verkauft zu werden, als<br />

Panzer, scheinbar nebenbei Holt eröffnete, dass er aufgrund der derzeitigen Situation auf dem<br />

Immobilienmarkt, beschlossen habe, seine Grundstücke erst in etwa zehn Jahren zu<br />

vermarkten. Damit war das Vorhaben „C“ für Holt zunächst scheinbar geplatzt. Holt konnte<br />

an der Entscheidung Panzers nichts ändern. In Anbetracht der umfangreichen Tätigkeiten<br />

beim Vorhaben „A“ und „B“, bedauerte er jedoch diese Entscheidung, ohne darin, für ihn<br />

selbst, einen größeren Nachteil zu erkennen.<br />

Auf die Anzeigen in der FAZ meldete sich gegen Ende des Jahres der Vertreter eines<br />

großen holländischen Bauunternehmens, der Staranwalt und Notar Leonhardt vom<br />

66


Kurfürstendamm. Dieser bekundete großes Interesse, für eine größere Baufirma aus Holland,<br />

mit Panzer und Holt ins Geschäft zu kommen. Nachdem sie von der Ernsthaftigkeit zum<br />

Erwerb des Projekts „A“ überzeugt waren, ging Holt zur letzten Absprache in die Kanzlei des<br />

Notars. Das Gebäude entpuppte sich als ein Geschäftshaus aus der Gründerzeit, in dem bis<br />

zum Kriegsende ein ausländisches Konsulat residiert hatte. Nach dem Kriege wurden im und<br />

am Haus die Kriegsschäden beseitigt und das riesige glasverdachte Atrium wieder hergestellt,<br />

unter dem der Notar seine Kanzleiräume hatte. Als Holt über die dicken Teppiche schritt und<br />

nach oben zur Glaskuppel schaute, konnte er seine Bewunderung nicht verbergen, was der ihn<br />

begleitende Hausherr mit Befriedigung zur Kenntnis nahm. Er hatte als Tagungsort mit<br />

Bedacht seine Kanzlei gewählt, um seine Gesprächspartner durch die Wucht des<br />

hochherrschaftlichen Gebäudes zu erdrücken.<br />

Eingehend ließ sich der Notar die rechtliche Konstruktion der<br />

Käuferbenennungsverträge erklären. Selbst Jurist, konnte er seine Bewunderung für die<br />

praktikable Form der Vertragsgestaltung durch einen Kollegen, nicht verbergen. Er schien<br />

kein Haar in der Suppe zu finden, nur Holts Forderung, dass der Käufer für die Zeit ab<br />

Vertragsunterzeichnung bis zur Baureife, bei der die Zahlungen fällig werden sollten, eine<br />

Bankbürgschaft von einer deutschen Bank in Höhe der Hauptforderung hinterlegen sollte und<br />

eine Anzahlung von zehn Prozent bei Vertragsschluss fällig werden sollte, schien ihn sichtlich<br />

nicht zu erfreuen. Holt argumentierte, wenn es sich beim Käufer tatsächlich um das<br />

zweitgrößte holländische Bauunternehmen handelte, müsste dieser geringfügige Betrag doch<br />

wohl kein Hindernis sein. Der Notar gab vor, erst mit seiner Mandantin über die zwei Punkte<br />

sprechen zu müssen, bevor er seine Unterschrift unter die Verträge setzen könnte. Sein Plan,<br />

Holt durch die Atmosphäre in der Kanzlei zu verunsichern und unter Druck einen für ihn<br />

nachteiligen Vertrag unterzeichnen zu lassen, ging nicht auf.<br />

Nach drei Tagen kam die Antwort: Die holländische Firma war bereit, den Vertrag zu<br />

den von Holt geforderten Konditionen zu unterzeichnen. Da Holt und Panzer darauf<br />

bestanden, das die Verträge in eigenem Büro in Lichterfelde unterzeichnet werden sollten,<br />

erschien ein recht kleinlauter Notar am nächsten Tag zur Vertragsunterzeichnung. Eine<br />

Woche später war auch die Anzahlung auf das Geschäftskonto Panzers. Nun hieß es warten,<br />

bis der neue Flächennutzungsplan Blankenfeldes in Kraft tat, damit die Früchte der Mühe<br />

eingesammelt werden konnten. Es sollten jedoch noch zwei weitere Jahre vergehen, bis die<br />

Holländer Farbe bekennen mussten.<br />

*<br />

Das Projekt „A“, war abgeschlossen, beim Projekt „C“ gab es für Holt nichts mehr zu tun,<br />

nachdem Panzer ihn von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen hatte. Nur beim Projekt<br />

„B“ sah Holt noch die Möglichkeit, diese Flächen in Bauland umwandeln zu können. Panzer<br />

selbst zeigte kein größeres Interesse mehr daran, dieses Vorhaben voranzubringen, nur Frau<br />

Brandenburg hielt zur Stange, da sie beim Gelingen des Vorhabens eine<br />

„Geschäftsbesorgungsprovision“ erhalten würde. Hinter dem Rücken von Holt hatte Panzer<br />

sein einzigstes auf dem Projektgebiet „B“ liegendes Flurstück mit dem Grundstück eines<br />

Eigentümers vom Projekt „C“ getauscht. Wie er es fertig gebracht hatte das Misstrauen des<br />

Eigentümers zu besänftigen, blieb für Holt ein Rätsel. Nun, da Panzer auf dem Projektgebiet<br />

„B“ kein Land mehr hatte, war Holt sich auch im Klaren, dass Panzer wenig Motivation<br />

zeigte, an diesem Vorhaben noch mitzuwirken. Nur das übersteigerte Gewinnstreben Panzers<br />

stand im Widerspruch zu seinem Verhalten. Holt fragte sich, was der Grund sein konnte. Er<br />

glaubte nicht mehr daran, dass Panzer erst in etwa zehn Jahren das Vorhaben anschieben<br />

wollte. Dazu war dieser zu geldgierig. Über Umwegen erfuhr Holt dann doch die Wahrheit.<br />

Eine ehemalige Kollegin von Frau Brandenburg, dessen Mann bei der Berliner Bank<br />

arbeitete, hatte erfahren, dass Panzer von der Bank mehrere Millionen DM Kredit bekommen<br />

67


hatte. Zur Kreditsicherung hatte er seine Flächen im Projekt „C“ beliehen. Weiter konnte<br />

diese Frau berichten, dass sich Panzer in der Bank mit Vertreter eines großen Planungsbüros<br />

getroffen hatte und das dort einige Verträge über den Tisch gegangen waren.<br />

Diese Entwicklung hatte Holt befürchtet und er wurde in seinen Ahnungen bestätigt,<br />

er hatte Panzer hinsichtlich seiner Skrupellosigkeit und Geldgier total unterschätzt. Nach<br />

einigen schlaflosen Nächten entschied sich Holt, mit Panzer reinen Tisch zu machen, er bat<br />

ihn zu einem dringenden Gespräch im nominell noch gemeinsamen Büro. Panzer sagte<br />

überraschend, ohne Ausflüchte, zu. Er hatte auf diese Reaktion Holts schon lange gewartet.<br />

Panzer erschien pünktlich, machte jedoch einen nervösen und unruhigen Eindruck.<br />

Holt ging sofort auf das Thema ein, ohne um den heißen Brei zu reden.<br />

„Herr Panzer, Sie haben bewusst und vorsätzlich der gemeinsamen<br />

Geschäftsgrundlage den Boden entzogen. Sie haben hinter meinem Rücken das Vorhaben „C“<br />

weiter betrieben und sind klamm und heimlich aus dem Vorhaben „B“ ausgestiegen. Ich<br />

nenne das Vertrauensbruch, so stelle ich mir eine geschäftliche, vertrauensvolle Partnerschaft<br />

nicht vor!“<br />

Panzer wand sich in seinem Sessel unruhig hin und her. Holt konnte aus dessen<br />

Gesicht lesen, wie dieser bemüht war, eine, der mehr feststellenden Frage, gerechte Antwort<br />

zu finden.<br />

„Es tut mir leid, dass Sie diesen Eindruck haben,“ begann er erst zögerlich und leise<br />

um dann mit festerer Stimme fortzufahren. „Ich bin jetzt in der Lage, ohne Sie jedes<br />

Vorhaben durchzuführen. Aufgrund unseres Vertrages in der GbR sind Sie mit fünfzig<br />

Prozent am Gewinn beteiligt, obwohl Sie nur tatsächlich zehn bis zwanzig Prozent der Arbeit<br />

durchführten. Warum sollte ich Sie weiter begünstigen?“<br />

Holt hatte es zuerst die Sprache verschlagen. „Sie machen sich es aber leicht mit Ihrer<br />

Argumentation. Es mag sein, dass mein zeitliches Engagement zehn bis zwanzig Prozent der<br />

gesamt notwendigen Zeit bedeutet, aber in dieser Zeit werden die Weichen gestellt und<br />

wichtige rechtliche Schritte erledigt, die Sie nicht erledigen können und auf die jedes<br />

Vorhaben angewiesen ist.“<br />

„Ich kann nun alles alleine erledigen und wenn ich es selbst nicht tun kann, lasse ich<br />

es von anderen Leuten machen, die ich nur zu moderaten Preisen bezahle. In der<br />

Vergangenheit hatten mich meine Geschäftspartner betrogen, ich habe mir geschworen, dass<br />

dieses niemals wieder geschehen wird.“<br />

„Sie wagen es, mich mit Ihren schäbigen ehemaligen Geschäftspartnern zu<br />

vergleichen Herr Panzer?“, entgegnete Holt zornig auf diese schnoddrige Antwort. „Was<br />

wären Sie ohne mich? Sie würden jetzt noch immer um Potsdam herumrennen und versuchen<br />

Ihren Kunden unbedeutende Grundstücke anzudrehen. Ohne mich wären Sie ein Nichts!<br />

Haben Sie vergessen, dass ich es war, der Sie aus Ihrem unbedeutenden und schäbigen Leben<br />

herausgeholt hat?“<br />

„Wenn Sie mir nicht geholfen hätten, dann hätte es ein Anderer getan. Für Geld bekomme ich<br />

alles!“<br />

„Mit Verlaub gesagt, Sie sind ein verdammter Egoist, Sie sind bereit, für ein wenig<br />

mehr Gewinn über Leichen zu gehen. Ich glaube, wir sollten unsere restliche Zusammenarbeit<br />

einstellen, mit so einem Menschen wie Ihnen möchte ich wirklich keinen Tag mehr<br />

zusammenarbeiten.“<br />

Panzer schien diese Entwicklung des Gesprächs erwartet zu haben. Er erhob sich<br />

langsam, sah Holt mit fasst traurigem Blick an.<br />

„Da gibt es nicht mehr viel zu tun, aber es ist in Ordnung. Ich wiederhole mich, es tut<br />

mir leid, aber im übergeordneten Interesse meiner eigenen Zukunft sollten wir jede weitere<br />

Zusammenarbeit vermeiden.“ Er wandte sich um und ließ einen ratlosen Holt zurück.<br />

68


Die Abwicklung der restlichen Aufgaben, die Holt mit Panzer noch hatte, gingen innerhalb<br />

einer Woche über die Bühne. Ein gemeinsames Vermietungsprojekt im Prenzlauer Berg, war<br />

bereits durch einen Betrugsversuch des eingesetzten Geschäftsführers und dessen Freundin,<br />

die als Sekretärin in der Firma gearbeitet hatte, auf Eis gelegt und bedurfte nur noch einer<br />

Änderung innerhalb der Gesellschaft, was durch eine Mitteilung an das Gewerberegister am<br />

Amtsgericht Berlin Charlottenburg einfach erledigt werden konnte.<br />

Als Holt zwei Tage später wieder in das Büro hinunter ging, hatte Panzer seine Möbel<br />

und seinen Bürokram bereits entfernt. Im Immobilienteil der Berliner Morgenpost hatte<br />

Panzer eine Annonce setzen lassen. Er suchte auch einen Nachmieter für seine Wohnung.<br />

Über ein Jahr schleppte sich das Vorhaben „B“ nun schon hin. Mithilfe Frau Brandenburgs<br />

war es Holt gelungen, die Grundstückseigentümer durch einen Vorvertrag zum<br />

Käuferbenennungsvertrag für ein Jahr zu binden. Diese Frist lief in zwei Monaten aus und es<br />

war zu erwarten, dass die zwei Problemgruppen von Eigentümern danach nicht mehr zur<br />

Verfügung standen und das Vorhaben platzen musste. Zwei Flurstücke standen im Eigentum<br />

von Erbengemeinschaften. Die eine Erbengemeinschaft bestand aus achtzehn Personen, die<br />

verschiede große Bruchteile der Erbmasse hielten. Ausgerechnet der Eigentümer des kleinsten<br />

Bruchteils von einem halben Prozent der gesamten Erbmasse, machte Schwierigkeiten. Nicht<br />

er selbst, sondern sein staatlich bestellter Vormund, der sich weigerte, angeblich im Interesse<br />

seines Mündels, den Vertrag zu unterschreiben. Noch zu DDR-Zeit hatte ein Ehepaar,<br />

welches einen Bruchteil des Erbes besaß, wegen ihrer Kinderlosigkeit ein Kind adoptiert. Der<br />

Mann kam bei einem Verkehrsunfall noch vor der Wende ums Leben. Für das noch<br />

minderjährige Kind wurde nach DDR-Recht ein Vormund eingesetzt, da das Adoptionsrecht<br />

der DDR im Todesfall eines adoptierenden Elternteils dies vorsah. Der Vormund, ein ehemals<br />

„verdienter“ Genosse der SED, sah im Vorhaben „B“ eine Form der Beteiligung an der<br />

kapitalistischen Umgestaltung des Landes Brandenburg. Aus ideologischen Gründen<br />

verweigerte er seinem Mündel die Möglichkeit, einen größeren Geldbetrag zu ererben.<br />

Der zweite Problemfall war noch schlimmer. Die Erbengemeinschaft Hempel bestand<br />

aus insgesamt vierunddreißig Erbberechtigten zu unterschiedlichen Bruchstücken. Die<br />

Teilung war nicht das Problem, sondern die geistigen Fähigkeiten verschiedener Erben, die<br />

amtsbekannt aus inzestuösen Beziehungen innerhalb des Familienclans hervor kamen. Es war<br />

innerhalb dieser Großfamilie keine Ordnung, noch eine einheitliche Haltung hineinzubringen.<br />

Die übrigen Grundstückseigentümer hatten im eigenen Interesse alles versucht, die Hempels<br />

dazu zu bewegen, einmal in ihrem Leben rational zu sein. Ohne Erfolg. Mit dem Ablauf der<br />

Bindungsfrist des Vorvertrages, der keine so hohen rechtlichen Hürden setzte, war auch das<br />

Projekt „B“ gestorben. Noch vier Jahre später, als sich Holt noch einmal mit Frau<br />

Brandenburg traf, erfuhr er, dass aus dem Land inzwischen Brachland geworden war. Die<br />

Erbengemeinschaft Hempel hatte sich inzwischen um weitere sechs Personen vergrößert.<br />

Die freiberuflichen Aufgaben Holts waren zwischenzeitlich, wie sein Kontostand in Richtung<br />

„null“ gewandert. Panzer war aus dem Haus mit Verlust ausgezogen, ein neuer Mieter war<br />

wegen der zu hohen Mieten nicht zu sehen. In einer Wirtschaftssendung im Fernsehen hatte<br />

Holt eines abends mitbekommen, dass gegen den Chef eines Unternehmens aus Bremen und<br />

dessen Notar wegen Unterschlagung und Betrug in Höhe von zirka achtzig Millionen Mark<br />

ermittelt wurde. Der Unternehmer sei jedoch nach Thailand geflohen und dort gestorben. Holt<br />

erkannte die Person auf dem Suchbild der Interpol, es war sein ehemaliger Chef Krämer.<br />

Zwei Jahre später hatte Holt noch einmal ungewollten Kontakt mit Panzer. Der<br />

Flächennutzungsplan für Blankenfelde war rechtskräftig geworden. Die holländische Firma<br />

musste nun laut Vertrag an Holt und Panzer die vereinbarten Beträge von noch über 2,3<br />

Millionen Mark zahlen, was sie jedoch nicht taten.<br />

69


Die Abwendung<br />

Der Hasenstall war am frühen Abend noch spärlich besetzt, als Holt eintrat. Ein paar<br />

Stammgäste saßen an der Bar und unterhielten sich mit Karin, der Bedienung. Am Ecktisch<br />

tuschelte leise ein jüngeres Pärchen. Karin grüßte kurz, indem sie nur mit dem Kopf nickte,<br />

gleichzeitig zapfte sie Bier vor. Sie kannte Holts Trinkgewohnheiten, der oftmals nur auf<br />

zwei, oder auch drei Bier blieb.<br />

„Na Hans, hast du ein gutes Pfingstwochenende gehabt?“, fragte Karin beim Zapfen.<br />

Sie setzte das vorgezapfte Glas unter den Hahn und schaute Holt erwartungsvoll an. „Ein<br />

Veltins?“<br />

Holt nickte. „Für mich war’s ein Wochenende wie jedes andere. Hab mir ein paar<br />

Filme ausgeliehen und eingezogen, sonst ist nichts Bewegendes geschehen.“<br />

„Da hättest du doch auch zu uns kommen können“, antwortet sie und mustert Holt.<br />

Von der geschäftstüchtigen und ihm inquisitorisch vorkommenden Frage unangenehm<br />

berührt antwortet er, „Ihr habt doch sonntags und an Feiertagen immer zu. Habt Ihr etwas<br />

geändert?“<br />

„Nein, das ist wirklich der einzige freie Tag, den ich habe. Aber zwei Tage frei ist<br />

natürlich besser. Da kann man viel mehr machen. Ich war mit meiner Schwester bei Lockies,<br />

da war schwer was los.“<br />

„Mit welcher Schwester?“<br />

„Toni, Claudia hat ja für mich keine Zeit mehr, seitdem sie mit diesem Typen<br />

zusammen ist.“<br />

Holt kannte die drei Schwestern und auch die Mutter. Alle hatten in den letzten Jahren<br />

hier im Hasenstall abwechselnd gearbeitet. Claudia hatte sich vor zwei Jahren selbstständig<br />

gemacht und das „Baloy“ übernommen, aber mit dem Geld von Helga, ihrer Mutter, der auch<br />

der Hasenstall gehörte.<br />

„Aber ich konnte wenigstens am Montag ausschlafen. War ja noch Feiertag. Dann hat<br />

mich Claudia mit ihrem blöden Anruf geweckt. Das morgens um neun.“<br />

„Sei doch froh, dass dich wenigstens einer weckt, und wenn es einer aus der Familie<br />

ist. Um mich kümmert sich kein Aas mehr.“<br />

Es grinste und sang mit tiefer Stimme, die ersten Takte eines Liedes von dem<br />

Comedian Harmonist, „Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich..."<br />

„Dass du alleine bist, hast du dir doch selbst eingebrockt. Du hast hier immer die<br />

falschen Weiber angebaggert. Du hättest auf mich hören sollen.“<br />

„Mensch Karin, wenn es so gelaufen wäre, hätte ich in deine Familie eingeheiratet ...<br />

und ob das gut gegangen wäre, glaube ich nicht.“<br />

„Du spinnst, das damals mit Toni war doch nur Spaß.“<br />

„Quatsch, du wolltest mich mit deiner Schwester verkuppeln.“<br />

Sie zierte sich ein wenig und schaute zu den anderen Gästen rüber, ob diese zuhörten,<br />

dann antwortete sie; „Ja weil du damals Geld hattest und damit nur so rumgeschmissen hast.<br />

Ich brauchte einen reichen Schwager, der sein Geld bei mir am Tresen lässt.“<br />

Über diese klaren Worte war Holt verdutzt, er antwortete nach einer Pause, „Aber ich<br />

lasse doch schon seit über fünfzehn Jahre mein Geld bei dir.“<br />

„Aber nicht genug du Knigger.“<br />

„Denk einmal nach Karin, wenn ich alles Geld damals bei dir gelassen hätte, wäre ich<br />

heute ein Alkoholiker.“<br />

„Warst du doch schon immer.“<br />

„Nein, erzähle keinen Quatsch. Glaubst du, weil ich in der letzten Zeit öfters komme,<br />

wäre ich ein Trinker? Du weißt doch selbst, dass ich nicht mehr als drei Bier trinke und dann<br />

nach Hause gehe. Ich muss mir jetzt das Geld einteilen, es ist nicht mehr so wie damals.<br />

70


Glaubst du, ich würde nicht auch mal wieder einen guten polnischen Wodka trinken. Du bist<br />

mir jetzt zu teuer, ich kann ihn mir nicht mehr leisten.“<br />

„Mir kommen gleich die Tränen. Letztes Mal hast du für die rothaarige Ische mehrere<br />

Schampus spendiert, dort in der Knutschecke. Erinnerst du dich nicht mehr?“<br />

„Natürlich bin doch noch nicht senil. Es war eine Fehlinvestition, sie ließ sich nicht<br />

über die Bettkante ziehen.“<br />

„Alle Männer sind Schweine ...“<br />

„ ... und wollen immer nur das eine! Aber dafür hatte ich für den Rest der Woche kein<br />

Geld mehr.“<br />

„Wovon lebst du überhaupt? Du hast doch deine Firma verloren? Hast du was<br />

beiseitegeschafft?<br />

Holt war es peinlich, mit Karin darüber zu sprechen. Irgendwann muss er mehr gesagt<br />

haben, als ihm lieb war oder Jewgeni hatte wieder mal im Suff mit seinem Insiderwissen<br />

geprahlt und zügellos gequatscht. Wenn man wollte, dass die ganze Stadt etwas erfahren<br />

sollte, musste man der Tratsche bloß, unter dem Mantel der Verschwiegenheit, etwas stecken.<br />

Nach und nach füllte sich die Bar. Holt war froh, dass sich Karin den neuen Gästen zuwandte<br />

und ihn nun in Ruhe ließ, um nicht näher auf unangenehme Themen eingehen zu müssen. Der<br />

Platz rechts von ihm war inzwischen von einer ihm bekannt vorkommenden, leicht<br />

angetrunkenen Frau, eingenommen worden. Diese hatte darauf gewartet, dass Karin von Holt<br />

abließ, um mit ihm ein Gespräch anfangen zu können. Holt bemerkte, wie sie unruhig auf<br />

dem Hocker hin und her rutschte. Lass mich bloß in Ruhe, dachte er und zog in Abwehr die<br />

Schultern ein, stierte verdrießlich in sein Glas. Das schien die Frau jedoch nicht abzuhalten,<br />

Holt mit dem Ellbogen anzustoßen.<br />

„Letztes Mal hast’n Fass aufgemacht. Heut’ bist wohl muffelig?“<br />

„Ich bin nicht muffelig. Wie kommst du darauf?“<br />

„Sags’t nich mal Hallo. Dat letzte Mal warste aber gesprächiger.“<br />

„War nicht meine Absicht, ich habe mich intensiv mit Karin unterhalten und nicht<br />

mitbekommen, wann du gekommen bist.“<br />

Holt begann sich, über diese Tussi zu ärgern. Wie kam diese dazu, irgendwelche<br />

Ansprüche auf eine Unterhaltung abzuleiten, nur weil er irgendwann einmal mit ihr hier<br />

gesprochen hatte. Sie war nicht sein Typ, ständig angetrunken und sprach ein schreckliches<br />

Deutsch. Er schaute sie sich näher an. Ein aufgedunsenes, rötliches Gesicht strahlte ihn an.<br />

Wirr hingen ihre blonden Haare im Gesicht, der Lippenstift war verwischt und der<br />

Lidschatten war auf das Jochbein gewischt. Sie glaubte in seiner Betrachtung Interesse zu<br />

verspüren und zog die Schultern nach hinten, so das ihre Brüste an ihr halb leeres<br />

Cocktailglas stießen, welches bedenklich ins Wackeln geriet. Holt griff zu, bevor das Glas<br />

umkippte. Dabei streifte er ihre Brüste, die sie noch mehr nach vorne schob. Erschrocken zog<br />

er seine Hand vom Glas zurück. Er wurde von einer möglichen Entschuldigung entbunden, als<br />

die Blonde sich nach eintretenden Gästen umdrehte, die in der Tür standen.<br />

Die Ankömmlinge, zwei Frauen, standen im Eingangsbereich und musterten die bereits<br />

Anwesenden. Sie checkten den Raum. Als sich die Blicke der vorderen, hellblonden, sehr<br />

attraktiven Frau mit der von Holt kreuzten, sprach er sie an.<br />

„Hallo Blondy, ich kenne dich doch! Letzte Woche bist du mit einer großen Zigarre<br />

hier reingekommen.“<br />

Was Intelligenteres hätte ihm nicht einfallen können. So etwas Blödes. Schnell setzte<br />

er ein Grinsen auf und wartete auf die Antwort. Die Frau schien sprachlos. Verblüfft schaute<br />

sie ihn an und schien nach einer passenden Antwort zu suchen. Holt kam sich wirklich blöd<br />

vor. Sie hatte sich jedoch nun gefangen.<br />

71


„Wer, ich? Letzte Woche war ich noch gar nicht hier. Und außerdem rauche ich keine<br />

Zigarren.“<br />

Sie lachte und wandte sich ihrer Begleiterin zu, die sie zur rechten Seite der Bar schob.<br />

Beide kicherten. Holt vermeinte, in der Aussprache der blonden Frau einen Akzent gehört zu<br />

haben. Die andere Frau war wesentlich älter und ihm als Stammgast mit Namen Emmi<br />

bekannt. Er hatte mit dieser zwar noch nie gesprochen, aber sie schon öfters hier gesehen. Die<br />

jüngere Frau war ihm noch nie aufgefallen beziehungsweise hatte er sie noch nie hier<br />

gesehen. Von seinem Platz konnte er beide sehen, wobei er an seiner angetrunkenen<br />

Nachbarin vorbei schauen musste. Diese war, Gott sei Dank, nun im Gespräch mit einem<br />

Mann zu ihrer Rechten, worüber Holt erleichtert war.<br />

Karin schien die beiden Frauen gut zu kennen. Sie sprach mit beiden, worüber, konnte<br />

Holt jedoch nicht verstehen, da die Musik alle Gespräche links und rechts übertönte. Die<br />

Blonde schaute mehrmals zu Holt hinüber, sie brauchte nur geradeaus zu schauen. Holt, der<br />

an der längeren Seite der Bar saß, musste sein Gesicht jedoch immer halb nach rechts wenden.<br />

Als ihm das Kopfverdrehen überdrüssig war, setzte er sich rechts herum, indem er seinen<br />

linken Arm auf die Bar und seinen linken Fuß auf die Quersprosse des Barhockers zur<br />

Rechten stützte. Sie schien auf eine Reaktion von Holt zu warten. Als Holt jedoch nicht<br />

reagierte, so wie sie es erwartet hatte, sprach sie mit Karin. Beim Gespräch schaute sie zu<br />

Holt herüber, wobei dieser den Eindruck hatte, sie sprachen nun über ihn. Karin zapfte Bier<br />

und stellte ein volles Glas vor Holt, obwohl sein Glas noch halb gefüllt war.<br />

„Von der Dame da drüben.“<br />

„Waaas? Von der Blonden? Wie kommt die dazu?“<br />

„Trink und halt die Klappe!“ Karin ließ sich auf keinen weiteren Dialog ein.<br />

Holt war mehr als verdutzt. Eine Frau hatte ihm einen Drink spendiert. Das war ihm in<br />

Hasenstall noch nie vorgekommen. Umgekehrt hatte er schon ganze Flaschenbatterien und<br />

Bierfässer an Damen gestiftet, aber selbst hatte er noch nie, soweit er sich erinnern konnte, in<br />

einer Bar von einer Frau einen Drink bekommen. Noch während Holt über die verdrehte Welt<br />

nachdachte, hatte sich die Blonde erhoben und kam in seine Richtung. Verdammt, was mache<br />

ich nun?, dachte er erschrocken. Mit einem verlegenen Grinsen erwartete er ihre ersten<br />

Worte.<br />

„Erst das Gespräch beginnen und dann folgt Nichts. Du bist ein Held, wenn du nicht<br />

zu mir kommst und mit mir sprichst, muss ich zu dir kommen. Ich heiße Pauline.“<br />

Das saß! Seine Gedanken überschlugen sich. Nun keinen Scheiß erzählen, dachte er.<br />

Cool bleiben und die passende Antwort.<br />

„Na, ja, ich wollte dir ein wenig Zeit geben. Ich hasse es, mich auf irgendwelche Leute<br />

zu stürzen und sie vollzulabern.“<br />

„Du machst wohl Witze? Du hast mich doch zuerst angesprochen und jedes anständige<br />

Mädel muss doch auf Fragen antworten, so wie es sie die Mama gelehrt hat.“<br />

Sie lächelte und lachte zu ihrer Freundin herüber, so etwa wie, Siehst du, ich habe<br />

mich gewagt! Dadurch bekam Holt ein wenig Fassung wieder. Er hatte einen starken Akzent<br />

herausgehört, konnte diesen jedoch nicht einordnen.<br />

„Dein Deutsch ist mit einem Akzent, woher kommst du?“<br />

„Ich bin Deutsche, nein dass heißt, ich war Deutsche, jetzt bin ich Amerikanerin, lebe<br />

aber in Costa Rica.“<br />

„Da steig ich nicht ganz durch,“ antwortete Holt. „Du bist also deutschstämmige<br />

Amerikanerin, die in Puerto Rico lebt?“<br />

„Nicht Puerto Rico, Costa Rica, und deutschstämmig bin ich wohl, ich bin in<br />

Deutschland geboren, meine Eltern waren Deutsche. Ich lebe schon über fünfzehn Jahre in<br />

Amerika und war mit einem Amerikaner verheiratet.“<br />

„Du bist also geschieden?“<br />

72


Über dem Gesicht der Frau lief ein Schatten der Trauer. „Nein, ich bin nicht<br />

geschieden, jedenfalls nicht in diesem Fall, ich bin Witwe. Mein Deutsch ist mit Akzent, weil<br />

ich mit der Zeit viele deutsche Worte vergesse, zu Hause spreche ich nur Englisch und mit<br />

dem Personal Spanisch.“<br />

Da Holt in ihrer Richtung schauend, wahrnahm, dass an der Eckseite der Bar zwei<br />

Plätze frei wurden und er befürchtete, dass diese von anderen Gästen sofort wieder belegt<br />

würden, sprach er, „Die Knutschecke ist frei geworden. Komm wir setzen uns rüber, bevor<br />

andere uns den Platz wegnehmen.“<br />

Sie schaute über ihre Schulter zur rechten Seite und fragte, „Was wird deine Freundin<br />

dazu sagen?“<br />

„Sie ist nicht meine Freundin, ich bin allein gekommen und kann auch allein wieder<br />

gehen, wenn ich es will.“<br />

„Na, dann lass uns rüber gehen in die Rutschecke.<br />

„Knutschecke, nicht Rutschecke.“<br />

„Was ist eine Knutschecke?“<br />

„Na warten wir’s ab, du wirst es vielleicht noch erfahren.“<br />

Emmi unterhielt sich mit einem älteren Mann zu ihrer Linken. Soweit Holt verstehen konnte,<br />

versuchte sie diesen dazu zu bewegen, ihr ein Glas Sekt zu spendieren, was dieser jedoch mit<br />

vielen Worten abzuwehren versuchte. Holt war zufrieden, dass sie sich nicht in das Gespräch<br />

mit Pauline einmischte. Diese hatte es sich bequem gemacht und ihre Beine über Holts Schoß<br />

gelegt. Nicht das es ihm unangenehm war, nur ein wenig verwundert war er über ihr saloppes<br />

Verhalten. Das spendierte Bier war ausgetrunken, in der Tasche noch Geld für mindestens<br />

zwei weitere. Rein rechnerisch konnte er damit ungefähr eine Stunde überbrücken, eine<br />

Stunde noch, zusammen mit Pauline. Dann musste er eine Ausrede finden, um sich<br />

abzusetzen.<br />

Es wurde ihm eine weitere halbe Stunde geschenkt. Karin stellte ein frisch gezapftes<br />

Bier vor ihn hin und grinste. „Von deiner Freundin da drüben.“<br />

Karin blickte zur linken Seite, wo die alte Platznachbarin freudestrahlend ihr<br />

Cocktailglas hob und Holt zuprostete. Diese hatte scheinbar einen guten Abend. Sie hatte<br />

ihren rechten Arm um den Hals ihres Nachbarn gelegt und war in Spendierlaune. Holt hatte es<br />

die Sprache verschlagen, er hob das vor ihm abgestellte Glas und prostete hinüber.<br />

Zu Pauline gewand sprach er: „Das ist mir schon richtig unheimlich. Erst spendierst du<br />

mir ein Bier und jetzt die Blonde da drüben. Hab ich ein etwa ein Schild um den Hals, Bin<br />

Bedürftig!„<br />

Pauline lachte laut und lehnte sich aufreizend zurück. „Das ist dir doch nicht etwa<br />

unangenehm. Mann, zerbreche dir doch nicht den Kopf darüber, wir wollen doch nur eine<br />

gute Zeit haben, ein wenig Spaß, mehr nicht. Sie ist doch mit dem Typen beschäftigt und in<br />

guter Stimmung, genau so wie ich, oder wir?“<br />

Sie nahm einen Schluck, sodass der Schaum an ihrer Oberlippe hängen blieb. Holt<br />

musste lachen. Sie ist so aufgekratzt, dass ich ihr die Wahrheit, zumindest einen kleinen Teil,<br />

erzählen kann, dachte er. Aber wo fange ich an? Während er noch nach einer verbalen<br />

Startposition suchte, wurde er dieser Mühe enthoben.<br />

Als ob es von keiner Bedeutung wäre, stellte Pauline fest: „Du bist pleite, Hans? Karin<br />

hat es mir gesagt, dass du aus dem Letzten ... pfeifst. Aber mach dir nichts daraus. Mir ist es<br />

egal, wie viel Geld du hast oder ob du keins hast.“<br />

„Aber mir ist es nicht egal,“ antwortete Holt. „Es ist richtig beschissen, in so einer<br />

Patsche zu sitzen. Ich habe den Hals voller Schulden, alle wollen von mir Geld und ich selbst<br />

könnte jetzt fasst ohne Sorgen sein, wenn die Holländer gezahlt hätten.“<br />

„Welche Holländer?“<br />

73


„Das ist eine Baufirma aus Holland, angeblich die zweitgrößte des Landes. Sie<br />

drücken sich um über zwei Millionen Mark, die sie nicht zahlen wollen, aber rechtlich zahlen<br />

müssten. Eine Schweinebande ist das! Erst nehmen sie den Vertrag an, wir haben alles erfüllt<br />

und dann kommen sie mit einem Winkeladvokaten, der sagt, wir haben überhaupt keinen<br />

Anspruch. Er hat doch selbst den Vertrag mit uns ausgehandelt.“<br />

„Na, was ist gelaufen, erzähl mal.“<br />

Was Holt auch tat. Nach einer langen Geschichte endete er mit den Worten „ .... und<br />

einen Monat später wurde der Hausnotar in Bremen verhaftet, Krämer verschwand auf einer<br />

Ostasienreise, mit ihm etwa fünfundachtzig Millionen Mark. Über Krämers Verbleib wurde<br />

viel spekuliert, er soll in Malaysia oder Thailand verstorben sein, wer wirklich in der Kiste<br />

lag, blieb ein Rätsel. Für umgerechnet fünfhundert Dollar kann man einen Totenschein<br />

kaufen. Krämer hätte sich von den verschwundenen Millionen einen im Goldrahmen<br />

verfassten Totenschein, mit Unterschrift des Militärmachthabers Dukarto, kaufen können.“<br />

Pauline hatte mit erkennbarem Interesse zugehört. Obwohl es kein Thema für eine Bar<br />

war, war Holt bemüht, Pauline die Zusammenhänge für seinen Aufstieg und Fall zu schildern.<br />

„Du glaubst also, dass der Krämer gar nicht tot ist?“<br />

„Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass er mit dem Geld untergetaucht ist und den<br />

Toten spielt. Um vor irgendwelche Strafverfolgung sicher zu sein, muss man auf den Papieren<br />

tot sein. Nach Toten forscht meistens keiner mehr. Der Krämer war sehr clever, ich jedenfalls<br />

glaube, er lebt noch.“<br />

„Und was hast du danach gemacht?“<br />

Pauline hörte weiter aufmerksam zu, sie hatte die schwierige Materie nur teilweise<br />

verstanden. Das Einzigste, was sie einmal mit Grundstücken zu tun gehabt hatte, war, dass sie<br />

vor Jahren einmal ein Haus in Bayern erwarb.<br />

„Ist das denn wahr, was die Holländer sagen?“<br />

„Ja, es stimmt, dass nach dem Gesetz der Verwalter einer Immobilie für die<br />

Vermittlung der Immobilie an Käufer, kein Honorar beanspruchen darf. Die Vermittlung des<br />

Eigentums ist Bestandteil seiner Arbeit, er kann an einer Arbeit nicht zweimal verdienen. So<br />

sieht es jedenfalls der Gesetzgeber.“<br />

„Aber das haben die Holländer doch schon bei Vertragsunterzeichnung gewusst?<br />

Warum haben sie euch ins offene Messer laufen lassen?“<br />

„Dass es im Maklergesetz so etwas gibt, wussten wir auch. Nur wir waren keine<br />

Verwalter, wir waren Projektentwickler. Wir haben nichts verwaltet, wir haben gestaltet, das<br />

heißt, wir haben die Verträge mit allen Bauern gemacht, die Planung beauftragt, alles<br />

überwacht und Käufer gesucht. Für diese Arbeit, die fasst drei Jahre dauerte, haben wir<br />

Hunderte von Stunden Arbeit investiert und sind für über dreihunderttausend Mark in<br />

Vorkasse gegangen. In meinem Büro haben zeitweilig bis zu sechzehn Angestellte<br />

gearbeitet.“<br />

„Und wie ist es ausgegangen?“<br />

„Wir haben die Holländer auf Zahlung verklagt.“<br />

„Wie viel bekommt ihr denn noch von den Holländern?“<br />

„Gleich bei Vertragsschluss hatten sie zehn Prozent angezahlt. Da hatten sie noch<br />

keine Bedenken. Aber als es um den Rest ging, haben sie gekniffen. Wir bekommen noch<br />

über zwei Millionen Mark. Die Hälfte steht mir zu.“<br />

„Wauuuh! Das ist eine Menge Kies!“<br />

„Ja, wenn ich es hätte, würde ich jetzt mit dir Schampus schlürfen, aus einer<br />

Badewanne, in der du liegen könntest. Aber es gibt da noch ein kleines Problem.“<br />

„Du hast keine Badewanne?“<br />

„Wir hatten nicht genug Geld, um den vollen Betrag einzuklagen. Bei zwei Millionen<br />

Mark hätten wir über sechzigtausend Mark Gerichtskosten einzahlen müssen und unser<br />

Anwalt nimmt auch eine Gebühr auf den eingeklagten Betrag. Wir haben nur zehn Prozent<br />

74


eingeklagt.“<br />

„Dann verliert ihr doch neunzig Prozent.“<br />

„Nein, wenn ersichtlich ist, dass wir den Prozess gewinnen könnten, werden wir die<br />

Klage auf den vollen Betrag erweitern.“<br />

„Und woher erfahrt ihr das?“<br />

„Aus den Schriftsätzen des Gerichts oder aus der Antwort der Gegenpartei. Ein guter<br />

Anwalt weiß, wann man den Prozess gewinnt. Dann müssen wir sofort die Klage erweitern.“<br />

„... und die restlichen neunzig Prozent Prozesskosten einzahlen, die ihr nicht habt.“<br />

„Ja, das ist dann nach wie vor mein Problem. Aber wenn wir Aussicht auf Erfolg<br />

haben und hundert Prozent Rendite versprechen, könnte es klappen.“<br />

„Wenn ich das Moos hätte, würde ich dir es geben, aber bis dahin verprassen wir<br />

meine Witwenrente. Komm lass uns das Thema wechseln und auf vernünftige Getränke<br />

übergehen.“<br />

*<br />

Am nächsten Morgen hatte Holt einen gemeinen Kater. Er hatte den vorhergehenden Abend<br />

noch gut in Erinnerung. Er war bei Pauline kleben geblieben, oder sie bei ihm? Sie hatte ihm<br />

erzählt, warum sie nach Deutschland gekommen war. Sie hatte Verwandte im Rheinland<br />

besucht und war dann nach Berlin gekommen, um ihre erwachsenen Kinder zu treffen. Er<br />

konnte heraushören, dass sie bis zum Tode ihres Mannes ein harmonisches Leben geführt<br />

hatte. Ihr verstorbener Mann musste ein guter Kerl gewesen sein. Unter anderem hatte sie<br />

Holt lachend mitgeteilt, das sie es von diesem gewohnt war, morgens frischen Kaffee ans Bett<br />

zu bekommen und danach frische Brötchen zum Frühstück. Holt hatte so getan, als ob er die<br />

Anspielung nicht verstanden hätte.<br />

Langsam registrierte er seine Umgebung, er lag am äußerst rechten Rand seines<br />

Bettes. Pauline hatte sich breitgemacht und lag quer im Bett. Sie hatte eines seiner Hemden<br />

an, sonst nichts. Sie ist braun wie eine Araberin, ging es ihm durch den Kopf. Schlagartig war<br />

er hellwach und es kamen die fehlenden Erinnerungen. Weit nach Mitternacht wollte sich<br />

Pauline bei Emmi erkundigen, wann sie aufbrechen wollten. Emmi war aber bereits gegangen.<br />

Karin sagte nur, sie sei mit dem Mann, der an ihrer Seite gesessen hatte, schon vor über einer<br />

Stunde weggegangen. Pauline war wütend. Emmi hatte ihr keinen Schlüssel gegeben und<br />

wenn die mit einem Mann weg war, war sie sich sicher, sie in den nächsten zwei Tagen nicht<br />

mehr zu sehen.<br />

Holt war sich nicht sicher, ob dies ein Plan der Frauen war, vielleicht sogar von<br />

Pauline ausgeheckt. Emmi hat eine sturmfreie Bude und Pauline würde auch nicht auf einer<br />

Parkbank den Rest der Nacht verbringen müssen. Er dachte nur, was macht das auf sie einen<br />

Eindruck, dass er sie gleich am ersten Abend, ohne sich zu zieren, abschleppte. Aber es waren<br />

ja zwei Seiten einer Medaille, sie hatte sich nicht als fromme Witwe Helene dargestellt, zumal<br />

sie mehrmals betont hatte, dass sie nur Spaß haben wolle. Holt hatte sich dieser Auffassung<br />

nur angeschlossen, was ihm überhaupt nicht schwer fiel. Nachdem er Pauline seine Schlüssel<br />

in die Hand gedrückt hatte, waren sie im nächtlichen Berlin auf dem Kurfürstendamm bis zur<br />

Pariser Straße, wo seine Wohnung lag, gegangen. Pauline hatte nur trocken gesagt, dass er ihr<br />

schon den Weg zeigen müsste und die Sache mit dem Kaffee ans Bett bringen, wäre auch<br />

nicht nur so dahin gesagt.<br />

„Mann, das war eine Nacht, ich habe alles nachgeholt was ich in den letzten Monaten<br />

versäumt habe. Wo ist mein Kaffee?“<br />

Holt hatte vor Schreck die Augen geschlossen und tat so, als ob er noch schliefe.<br />

Pauline fasste an seine Nase und versuchte sie zu drehen. „Du brauchst dich nicht zu<br />

verstellen. Ich weiß, dass du schon lange wach bist. Wie kommst du überhaupt in mein Bett?“<br />

„Das ist nicht dein Bett, das ist mein Bett. Schau dich doch um, wo du bist.“<br />

75


„Uuups, den Karnickelstall kenne ich nicht. Du hast mich hierher verschleppt!’<br />

Holt konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Er stand auf, um in die Küche zu gehen,<br />

um Kaffee aufzusetzen.<br />

„Bleib liegen, ich mache Kaffee und gehe schnell runter zum Bäcker um frische<br />

Brötchen zu holen. Du hast ja gestern Abend laut genug erzählt, dass du ein verwöhntes<br />

Frauenzimmer bist. Ich werde mich hüten, dich zu reizen. Hier den Gang lang und links ist<br />

das Bad. Ich bin in drei Minuten zurück.“<br />

Für Holt war es ein schöner Morgen. Gegen Mittag hatte er einen Termin bei Bert, seinem<br />

Freund und Anwalt. Das würde nicht so erfreulich sein. Er ahnte schon, dass außer schlechten<br />

Nachrichten nicht viel herauskommen würde. Diese Treffen mit Bert waren, trotz der sich<br />

anhäufenden Probleme, privat immer angenehm. Bert war einer seiner Studienfreunde, mit<br />

denen er auch nach dem Studium die Freundschaft erhalten hatte. Lange Jahre ging es Bert<br />

nicht gut. Nach dem Studium hatte er als angestellter Anwalt in einer großen Kanzlei<br />

gearbeitet. Hier kam er mehr schlecht als recht über die Runden. Er bezeichnete sich in der<br />

Zeit, wie sich Holt gut erinnern konnte, als Arbeitssklave der Kanzlei, was wahrscheinlich<br />

nicht aus der Luft gegriffen war. Später war er mehrere Jahre Juniorpartner eines älteren<br />

Notars, der ihm immer eine „Fifty-fifty-Partnerschaft“ versprach, dieses Versprechen jedoch<br />

nicht beabsichtigte einzuhalten. Als Bert diesen leeren Versprechen überdrüssig war und er<br />

mit einem Ultimatum herauskam, wurde er im Kräftemessen nur zweiter Sieger. Der Alte<br />

hatte ihn einfach abblitzen lassen und seine Arbeit rückwirkend als schlecht bezeichnet, die<br />

keine hälftige Partnerschaft rechtfertigen würde. Menschlich enttäuscht vom Seniorpartner<br />

machte er sich danach notgedrungen selbstständig. Als Einzelkämpfer angelte er sich kleinere,<br />

belanglose Rechtssachen, die ihn über Wasser hielten. In dieser Zeit bekam er von Holt einige<br />

kleinere, aber gut bezahlte Aufträge. Als Holt in die Klemme kam, fragte Bert nicht nach dem<br />

Honorar, er übernahm alle anstehenden Sachen, die immer mehr und scheinbar immer<br />

aussichtsloser wurden. In der Angelegenheit mit der holländischen Firma musste Holt jedoch<br />

einen anderen Rechtsanwalt einschalten, mit dem Panzer auch einverstanden war. Panzer<br />

wusste, dass Bert ein Freund von Holt war, und lehnte dessen Vorschlag, Bert mit dieser<br />

Sache zu betrauen, aus Misstrauen ab. Da sich Holt jedoch nicht mit dem neuen Anwalt<br />

herumschlagen wollte, weil er diesen, wie allen anderen Anwälten, außer Bert, misstraute,<br />

beauftragte er Bert als Korrespondenzanwalt. Heute war mal wieder ein Besprechungstermin<br />

über den Stand der Dinge.<br />

Viel lieber wäre Holt mit Pauline zusammengeblieben. Sie hatte ihn merken lassen, dass sie<br />

auch lieber mit Holt, als mit der eigenwilligen Emmi, den Tag in deren kleiner Wohnung im<br />

Tiergarten verbracht hätte.<br />

„Pass auf“, sagte Holt, „ich habe eine Idee. Du nimmst hier den zweiten Schlüsselsatz.<br />

Du kannst kommen und gehen, wann du willst. Du brauchst nur die Straße heraufgehen,<br />

dreihundert Meter weiter ist die U-Bahn-Station Kurfürstendamm, von dort kommst mit der<br />

Linie 3 direkt bis zur Wohnung von Emmi. Ich bin so um siebzehn Uhr wieder zu Hause. Ich<br />

würde mich freuen, wenn du dann wieder hier wärest, wir könnten heute Abend hier im Kiez<br />

am Pariser Platz in eine der vielen Kneipen gehen ... und wenn du nicht möchtest, schmeiße<br />

den Schlüsselbund unten in meinen Briefkasten.“<br />

Wie ganz normal, als ob sie sich schon lange, lange kannten, nahm Pauline den<br />

Schlüsselbund. „Ich bin noch zwei Wochen in Berlin. Kannst du mich denn so lange<br />

ertragen?“<br />

„Wenn ich deiner überdrüssig werde, lasse ich das Schloss umtauschen. Und<br />

außerdem glaube ich nicht, dass du mein Dauergast sein wirst. Du hast doch noch hier in<br />

Berlin einiges zu erledigen. Du hast gesagt, du triffst dich Morgen mit einem von Dingsda.<br />

Was ist das für eine Sache, hast du hier einen weiteren Liebhaber?“<br />

76


„Du wirst nach einer Nacht schon eifersüchtig? Nein, das ist ein Sozialbetreuer, es ist<br />

wegen meines Sohnes.“<br />

Holt wollte nicht tiefer in sie eindringen. Sie würde es ihm schon sagen, was es mit<br />

diesem „von“ auf sich hatte. „Also, ich muss los, schmeiße den Schlüssel in den Briefkasten<br />

oder komme wieder. Ich würde mich sehr freuen. Also, wir sehen uns heute Abend?“<br />

*<br />

Berts Kanzlei lag im Südwesten Berlins, in einer renommierten Steglitzer Wohngegend. Das<br />

Haus stammte aus der Gründerzeit, gutbürgerlich, solide, sauber und teuer. Ein blankes<br />

Messingschild am Hauseingang verwies auf die Kanzlei in der zweiten Etage. Der<br />

Treppenaufgang war mit rotem Kokosläufer ausgelegt, der mit messingfarbenen Haltestangen<br />

in die Treppenstufen eingepasst war. Schwerer Stuck an den Decken und Wänden schufen<br />

den Eindruck großbürgerlichen Ambientes. Erst nach Anfrage über eine<br />

Wechselsprechanlage, öffnete sich die schwere Eichentür, als der Summer die Verriegelung<br />

löste. Im Eingangsbereich der Kanzlei befand sich die Rezeption. Hinter dieser war noch ein<br />

weiterer Tisch mit einem Computer, an dem die Kanzleigehilfin Holt erwartete. Diese kannte<br />

Holt schon, grüßte freundlich und teilte mit, dass „Herr Anwalt Nehs“ ihn bereits im<br />

Anwaltszimmer erwarte und ob er auch ein kleines Frühstück haben möchte. Es würde ihr<br />

nichts ausmachen, ein paar belegte Brötchen mehr zu machen. Kaffee wäre genug da. Holt<br />

lehnte dankend ab, sagte jedoch, dass ein Kaffee jetzt gut wäre.<br />

Bert saß hinter seinem Riesenschreibtisch, der voll mit Akten bedeckt war. Als Holt<br />

eintrat, legte er gerade einen Telefonhörer ab und erhob sich.<br />

„Hallo Hans, schön dich zu sehen. Siehst ein wenig blass um die Nase aus. Hast du<br />

schon gefrühstückt? Sabine macht schnell ein paar belegte Brötchen mehr.“<br />

Holt gab Bert die Hand und dieser teilte ihm mit, dass er seine Gehilfin nur um einen<br />

Kaffee gebeten hätte. Bert setzte sich wieder und griff zu einem Stapel Akten. Holt erkannte<br />

an den Aufschriften, dass es sich hier alles um seine Fälle handelte. Bert zog aus dem Stapel<br />

eine Akte heraus, nahm einen Schluck aus seiner Tasse, biss vom Brötchen ab. Beim Kauen<br />

blätterte er in der Akte, bis er den Schriftsatz fand, über den er mit Holt sprechen wollte.<br />

„Euer Anwalt teilt mir Folgendes mit: Die Holländer haben auf die Erwiderung an das<br />

Gericht, diesem mitgeteilt, sie würden die genannten Fakten im Vortrag mit „Nichtwissen“<br />

bestreiten. So ein Schwachsinn, sie haben diesen Fakten bereits im vorhergehenden<br />

Schriftverkehr nicht widersprochen. Jetzt wo es für sie eng wird, bestreiten sie es mit<br />

Nichtwissen. Sieh hier, im Schreiben vom Februar dieses Jahres wurde bereits festgestellt,<br />

dass der Vertreter ihrer Firma, der damals den Vertrag mit euch aushandelte, der jetzige<br />

Prozessvertreter sei. Er kann also nicht sagen, er weiß nicht, wer den Vertrag von seitens<br />

seiner Firma autorisiert hat, er war es selbst!“<br />

Holt nahm das von Bert gereichte Schreiben, schaute auf die gelb unterstrichene<br />

Passage und las sie. Obwohl er den Inhalt der Erwiderung vom Februar bereits kannte, las er<br />

nochmals die Passage durch, griff in seine Aktentasche und zog aus einem Ordner ein<br />

Schriftstück, welches er mit dem Schreiben Berts verglich.<br />

„Bert, sie widersprechen sich und lügen ohne Hemmung. Halten die das Gericht für<br />

dumm? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie so dreist sind. Was läuft da ab?<br />

„Sie sind dreist und glauben sie kommen damit durch. Der Trick ist, du willst was von<br />

Ihnen. Sie haben vorgetragen, dein Anspruch auf Zahlung des Betrages besteht überhaupt<br />

nicht. Damit das Gericht darüber entscheidet, müsst ihr jetzt die Gerichtskosten einzahlen.<br />

Auf den Streitwert von 2,3 Millionen Mark sind zwei Gerichtsgebühren zirka<br />

fünfunddreißigtausend Mark. Die Gebühren eures Anwaltes und meine Gebühren nicht mal<br />

mitgerechnet.“<br />

77


Holt wurde blass und lehnte sich im Stuhl zurück. Seine Gedanken überschlugen sich.<br />

Fünfunddreißigtausend Mark! Er hatte keinen Pfennig mehr, Panzer hatte Geld, aber ob der so<br />

viel locker machen konnte? Dessen Anteil wäre ungefähr siebzehntausend Mark, die würde er<br />

aufbringen, egal, was da auch komme. Wie er Panzer kannte, wäre er auch großzügig, ihm<br />

einen Kredit für die Gerichtskosten einräumen, im Gegenzuge würde er weitere zwanzig<br />

Prozent vom Anteil Holts verlangen. Für siebzehntausend Mark würde er sich<br />

zweihunderttausend Mark zahlen lassen. Der Mann erstickt noch einmal vor Geldgier. Holt<br />

konnte es nicht verstehen, dass Panzer so schnell vergessen hatte, dass er ihm seinen Aufstieg<br />

zu verdanken hatte.<br />

Bert riss ihn aus seinen Gedanken. „Was ist Hans, siehst du einen Weg an das Geld zu<br />

kommen?“<br />

„Panzer, der Gierpickel hat keine Probleme damit. Er bekommt von seiner Bank das<br />

Geld nachgeschmissen. Mir würde er auch die siebzehntausend Mark leihen, aber zu<br />

dreihundert Prozent Zinsen.“<br />

„Das ist Wucher, das kann er nicht. Er macht sich strafbar.“<br />

„Mensch Bert glaubst du, er lässt sich das schriftlich geben, das er dreihundert Prozent<br />

Zinsen nimmt, er lässt sich gleich den Rückzahlbetrag als Schuldsumme unterzeichnen, ohne<br />

dass ein Wort zu den Zinsen gesagt wird. Wenn ein Dritter den Schriebs liest, glaubt der,<br />

Panzer gibt mir einen zinslosen Kredit über fünfzigtausend Mark.“<br />

„Mann, was ist das für ein Schwein!“<br />

„Du sagst es Bert, er ist ein Schwein. Wenn es um Geld geht, kennt er keine Grenzen.<br />

Ich habe noch nie so einen Menschen kennengelernt. Als wir einmal mit einer englischen<br />

Gesellschaft verhandelten und um ein paar Zahlen gefeilscht wurde, haben seine Hände<br />

gezittert. Immer wenn es um Geld ging, fingen seine Hände an zu zittern, wie bei einem<br />

Parkinsonkranken. Der Mann ist wirklich krank. Seine Krankheit heißt Gier.“<br />

„Aber das bringt uns nicht weiter, beziehungsweise dir, du brauchst die 17.000.“<br />

„Kann man nicht Armenrecht beantragen?“<br />

„Das Gericht lacht sich krank. Ihr seid eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts.<br />

Zumindest ein Gesellschafter ist Millionär. Da spielt es keine Rolle, ob du nichts hast.<br />

Zusammen habt ihr das Geld und das reicht.<br />

Bert schwieg einen Moment, griff in das Regal hinter sich und holte einen Kommentar<br />

zum Gerichts-Kosten-Gesetz heraus. Er blätterte ein wenig rum, stellte das Buch wieder weg<br />

und nahm ein anderes heraus. Holt kannte dieses Buch, er hatte oft selbst darin lesen müssen.<br />

Die Zivilprozessordnung. Erwartungsvoll schaute er Bert an.<br />

„Was ist, hast du einen Weg gefunden, die Kalamität zu umgehen? Wie sieht es mit<br />

einer teilweisen Klageerhebung aus?“<br />

„Eigentlich müssten eure Anwälte auch drauf gekommen sein. Danach habe ich eben<br />

geschaut, ob das möglich ist. Es ist möglich, Ihr könnt auch nur einen Teil einklagen, sagen<br />

wir zehn Prozent von jeder Einzelforderung. Das senkt natürlich enorm die Kosten. Das<br />

Gericht muss über die Sache sowieso entscheiden, über die Höhe ist dann zweitrangig. Aus<br />

dem Prozessstand heraus kann man dann entnehmen, ob ihr in der Sache gewinnen werdet.<br />

Wenn das der Fall ist, müsst ihr noch im letzten Termin auf die volle Summe erhöhen ...“<br />

„... und den vollen Kostensatz bezahlen.“<br />

„Ja, aber dann weißt du, das ihr obsiegt. Dann bekommst du auch eventuell von deiner<br />

Bank das Geld oder von Privatleuten.“<br />

„Dein Wort in Gottes Gehörgang. Von meiner Bank bekomme ich keinen Pfennig<br />

mehr. Aber bis dahin ist ja noch ein wenig Zeit. Und wie sieht es in meinen anderen Fällen<br />

aus?“<br />

Für die Besprechung der anderen Sachen, Abwendung von Vollstreckungen, Abwimmeln von<br />

Gläubigern und ein Streit mit dem Sozialamt, an das sich Holt gewandt hatte, um Hilfe zu<br />

78


ekommen, aber nicht bekam, benötigten sie nochmals zwei Stunden. Alles war mühsam und<br />

depressiv. Als Holt die Kanzlei verlies, fühlte er sich schlecht, müde und allein.<br />

*<br />

Wenigstens können schlechte Nachrichten kein schlechtes Wetter produzieren, dachte Holt,<br />

als er mit seinem kleinen Suzuki auf dem Südwestkorso in Richtung Kurfürstendamm fuhr.<br />

Der Juni war warm und sonnenreich, die Bäume standen im vollen Grün und beschatteten die<br />

Straßen. Sommer in Berlin. Wenn man hier Urlaub machte oder ohne Sorgen war, konnte man<br />

sicherlich gut in Berlin leben. Holt hatte sich schon immer im Südwesten der Stadt wohl<br />

gefühlt. Bis zum Fall der Mauer war dieser Stadtteil einer der schöneren des alten Westteils.<br />

Nicht das der Norden um Reinickendorf nicht schön war. Dort gab es sogar noch den letzten<br />

Bauern auf Stadtgebiet bei Lübars, mehrere Pferdeställe und Reitsportanlagen. Hier verkehrte<br />

die landorientierte Schickimicki, die nicht am Wannsee oder Stölpchensee Platz fand. Als er<br />

1979 durch einen Zufall von Charlottenburg nach Steglitz umzog, hatte er sich dort sofort<br />

heimisch gefühlt. Diese Straßen mit den großen und vollen Kastanienbäumen, die Häuser<br />

nicht höher als drei Stockwerke, Eckkneipen, kleine Tante-Emma-Läden, nicht die Hektik des<br />

Westberliner Stadtzentrums um den Kurfürstendamm. Er war dann immer im Südwesten<br />

geblieben, Steglitz, Lichterfelde Ost, Lichterfelde West und wieder Lichterfelde Ost, bis er<br />

seinen geliebten Kiez aus monetären Sachzwängen verlassen musste. Im Südwesten gab es<br />

keine kleineren Wohnungen unter achthundert Mark, aber in Charlottenburg und<br />

Wilmersdorf, in den alten Bürgerhäusern, in den Hinterhof- und Seitenflügelbebauungen,<br />

welche die Berliner stolz „Gartenhäuser“ nannten, obwohl oftmals weit und breit kein Garten<br />

oder auch nur eine Ansammlung von mehreren Pflanzen zu sehen war. Holt hatte im<br />

Immobilienteil der Berliner Morgenpost ein erschwingliches Wohnungsangebot gelesen. Die<br />

angebotene Wohnung lag in der Pariser Straße und nicht einmal im „Gartenhaus“. Er kannte<br />

die Gegend ein wenig, nachdem er im Stadtplan gesehen hatte, war es ihm klar, dass dieses<br />

Angebot, sofern er es bekam, ein Glücksfall war. Das Haus lag nicht weit entfernt von der<br />

Kreuzung Pariser Straße und Uhlandstraße. Bis zum Ludwigkirchplatz, mit den vielen<br />

Studentenkneipen, waren es weniger als hundert Meter. Der wichtigste Ausschlagspunkt,<br />

gerade diese Wohnung zu mieten, ergab sich aus der simplen Tatsache, dass es bis zum<br />

Hasenstall nur dreihundert Meter waren.<br />

Nun wohnte er schon fasst ein Jahr in dieser Wohnung. Er hatte sich von vielen<br />

Möbeln aus der Stadtvilla trennen müssen, die keinen Platz in der fünfundsechzig<br />

Quadratmeter großen Wohnung fanden, jedoch konnte er seine besten Antiquitäten<br />

unterstellen. Das Wohnzimmer lag nach hinten, war relativ groß, hell und ruhig. Auf dem<br />

Hof, auf dem auch ein mächtiger Kastanienbaum und mehrere Birken standen, hatte er einen<br />

Parkplatz bekommen, sodass er im Gegensatz zu anderen Bewohner dieser Gegend, keine<br />

Parkplatzprobleme kannte. Bis zu den diversen Einkaufsmöglichkeiten, den Kneipen und zu<br />

seinem „Mentalen Asyl“, dem Hasenstall, konnte er immer zu Fuß gehen. Trotzt aller Sorgen<br />

hatte sich Holt in diese Umgebung assimilieren können, er fühlte sich ausgesprochen wohl.<br />

Dieses Wohlsein hatte sich in den letzten Tagen verstärkt, nachdem Pauline in sein Leben<br />

getreten war.<br />

Die Gedanken an Pauline machten ihn froh, jedoch überzog sich wie ein Mehltau über<br />

diese positive Stimmung der Gedanke, dass Pauline bald wieder abreisen würde. Er<br />

verdrängte diese finsteren Gedanken und schloss mit sich selbst eine Wette ab, Ist sie schon<br />

zu Hause oder nicht? Er tendierte dahin, dass sie noch nicht zu Hause sein konnte, da sie ja<br />

mit irgendeinem „von Braunmüller“, oder ähnlich, einen Termin hatte. Es ging wohl um ihren<br />

Sohn, der in ziemlichen Schwierigkeiten stecken musste. Das war wohl auch der Grund, weil<br />

sie sich jetzt in Berlin aufhielt. Sie hatte zwei erwachsene Kinder in dieser Stadt. Die Tochter<br />

hätte mit ihr in den Staaten leben können, aber aus Liebe zu einem jungen Mann, der in<br />

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Deutschland geblieben war, hatte sie eine Einbürgerung abgelehnt. Nachdem sie in die Arme<br />

des jungen Spundes zurückgekehrt war, folgte schnell die Trennung der Beiden. Die heiße<br />

Liebe der Beiden hatte sich über Nacht abgekühlt, sie war dann in Berlin geblieben, wo auch<br />

der Vater lebte. Zwischenzeitlich war sie mit einem netten und fleißigen Mann verheiratet und<br />

hatte selbst eine kleine Tochter.<br />

Warum sie bei dem von Braunmüller war, konnte Holt sich zusammenreimen, er<br />

zählte eins und eins zusammen und es ergab zwei. Der Sohn musste sich in staatlicher<br />

Verwahrung befinden, in einer Entzugs- oder Verwahranstalt. Braunmüller war entweder sein<br />

Anwalt, Bewährungshelfer oder amtlich bestellter Vormund. Pauline hatte nur einmal kurz<br />

durchblicken lassen, dass ihr Sohn „an der Nadel hänge“. Holt kannte aus seiner Zeit als<br />

Anwalt und als Richter diverse Schicksale von Leuten, die „an der Nadel“ gehangen hatten.<br />

Es war ihm klar, dass Pauline hier einen fasst aussichtslosen Kampf für ihren Sohn focht, der<br />

ihr nur Geld, Nerven, Illusionen und Zeit kosten musste. Bedauern und Mitleid durchfluteten<br />

ihn, als er sich vorstellte, welche Empfindungen und Gefühle Pauline bezüglich ihres Sohnes<br />

haben musste. Holt war dem Schicksal dankbar, dass ihn so gravierende Schwierigkeiten bei<br />

seinen drei Kindern, zwei Töchter und einem Sohn, erspart geblieben waren. Zugegeben, er<br />

hatte zu den Mädchen keinen engen Kontakt, sie lebten in Bremen, waren mehr oder weniger<br />

glücklich verheiratet und hatten selbst Kinder, die Holt zum Multi-Großvater machten. Der<br />

Sohn Roger lebte auch in Berlin, er arbeitete als Steueranwalt, war mit einer guten und<br />

sanften Frau verheiratet, die selbst zwei Kinder mit in die Ehe gebracht hatte. Das<br />

gemeinsame Kind, ein Mädchen namens Patty, war Holts einzigstes Enkelkind, zu dem er<br />

näheren Kontakt hatte und diesen auch auskostete. Roger selbst war das Spiegelbild seiner<br />

Mutter, Holts erster Ehefrau. Er war gegenüber seinem Vater oftmals verschlossen und litt<br />

unter einer Spielsucht. Holt konnte damit leben. Seit der Wiedervereinigung hatte er engeren<br />

Kontakt zu Roger, zeitweilig hatte dieser sogar bei ihm in der Stadtvilla gelebt, bis er eine<br />

eigene Wohnung im Stadtbezirk Prenzlauer Berg bekam. Holt hatte diese über seine<br />

Beziehung zum Stadtbezirks-Wohnungsamt bekommen, mithilfe seiner Firma umgebaut und<br />

Roger konnte seine Familie nachholen, die bislang auf der Insel Rügen lebte. Seitdem hatte<br />

sich die Beziehung verstärkt, nicht Vater zum Sohn, mehr älterer Freund zum jüngeren<br />

Freund. Obwohl sich Holt manchmal mehr ein Vater-Sohn-Verhältnis wünschte, war er<br />

jedoch mit dieser Konstellation zufrieden, da sie ihn von übertriebenen väterlichen Pflichten<br />

entband.<br />

Gegen Nachmittag erschien Pauline. Sie war blass und nervös. Holt sah ihre geröteten Augen<br />

und es war ihm klar, dass sie geweint haben musste. Sie unterschied sich gänzlich von der<br />

Frau, die er im Hasenstall kennengelernt hatte. Es machte sie jedoch menschlicher und<br />

nahbarer. Er kümmerte sich um Pauline, sorgte dafür, dass sie sich ein wenig ausspannen<br />

konnte. Das Fenster war weit geöffnet, die noch hoch stehende Nachmittagssonne reflektierte<br />

an der ockerfarben gestrichenen Giebelwand des Nachbarhauses und erfüllte das Zimmer in<br />

einem sanften Farbton. Die in der Kastanie sitzenden Vögel zwitscherten und schnatterten.<br />

Gedämpft hörte man hier im Innenkarree hin und wieder den Verkehrslärm auf der stark<br />

frequentierten Uhlandstraße. Nachdem Pauline sich eine Weile unter einer Decke auf dem<br />

Ledersofa ausruhte, hatte Holt in der Zwischenzeit Kaffee zubereitet und von der Konditorei<br />

frischen Kuchen und sich die Tageszeitung geholt, die er am Morgen vergessen hatte. Als er<br />

ins Wohnzimmer trat, richtete Pauline sich auf. Sie hatte wieder Farbe bekommen und<br />

lächelte. Er setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm, was sie zum Anlass nahm, still zu<br />

weinen.<br />

„Es ist so ein schöner Tag, da muss man nicht so lange Trübsal blasen. Ich weiß, dass<br />

es sehr hart ist, schlechte oder ganz schlechte Nachrichten zu bekommen. Manchmal ist es<br />

wie verhext, nur Stress und Negatives. Ich kenne das. In den letzten Monaten habe ich es fasst<br />

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jeden Tag erlebt und ich hätte mir gewünscht jemanden zu haben, dem ich meine Sorgen<br />

erzählen könnte,“ erzählte Holt mit leiser, ruhiger Stimme.<br />

Er schwieg einen Moment, streichelte ihr Gesicht und schaute in ihre Augen. Sie<br />

versuchte ein wenig zu lächeln, was ihr sicherlich nicht leicht fiel und auch nicht überzeugend<br />

gelang, was Holt veranlasste mit leiser und ruhiger Stimme, auf sie einzusprechen.<br />

„Wenn du möchtest, kannst du mir alles erzählen. Ich werde es für mich behalten und<br />

kann dir vielleicht mit ein paar Ideen oder Ratschlägen behilflich sein. Dein Problem ist doch<br />

dein Sohn? Ist er eingesperrt?“<br />

„Ja, mal wieder. Er ist heroinabhängig und kommt nicht mehr von der Nadel los. Der<br />

Andreas hat mir gesagt, dass es ernst um ihn steht. Noch einmal so ein Trip und er wird<br />

sterben. Welche Mutter hört so etwas gerne.“<br />

Holt war wie versteinert. Diese Dramatik hatte er nicht erwartet. Das waren wirklich<br />

sehr ernsthafte Probleme, die Pauline mit sich herumtrug. „Andreas, ist das der „von<br />

Braunmüller“?<br />

„Ja, das ist sein Betreuer. Ich hatte schon von Costa Rica aus versucht zu erfahren, was<br />

mit meinem Sohn geschehen ist. Ich habe von der Justizverwaltung nur die Auskunft<br />

bekommen, dass er zurzeit in staatlicher Verwahrung ist. Kein Wort darüber welche Art der<br />

Verwahrung, wo er sich befindet und so weiter. Weitere Auskünfte haben sie wegen des<br />

Datenschutzes abgelehnt. Selbst als ich ihnen sagte, ich sei die Mutter, haben sie sich auf den<br />

Datenschutz berufen. Die sind ja unmöglich, wie kann man einer Mutter die Auskunft über<br />

ihren Sohn verweigern.“<br />

„In Deutschland ist alles möglich. Das Vehikel „Datenschutz“ wird von allen<br />

Behörden missbraucht, um unbequeme Fragen abzublocken oder die Faulheit der<br />

Behördenmitarbeiter zu legitimieren. Es ist zum Kotzen, jeder faule Sack in der Verwaltung<br />

beruft sich auf Datenschutz, wenn er unwillig ist. Wie bist du aber an den Andreas<br />

gekommen?“<br />

„Das war der einzigste Name, den ich bekommen habe. Man hatte mir gesagt, dass<br />

Herr von Braunmüller ganz alleine darüber entscheiden kann, ob er sich mit mir über meinen<br />

Sohn unterhalten will oder nicht. Er sei der Betreuer oder Helfer, er sei die Kontaktperson<br />

vom Knast nach draußen. Gleich, nachdem ich angekommen war, habe ich mich mit Andreas<br />

in Verbindung gesetzt. Am Telefon hatte er auch nicht viel gesagt, nur soviel, dass Horst, so<br />

heißt mein Sohn, ein paar Tage nach seiner letzten Entlassung aus Tegel, frei war und dann<br />

wieder eingefahren ist. Man hat ihn voll unter Strom festgenommen, nachdem er in eine<br />

Apotheke eingestiegen war, um sich mit irgendwelchen Rauschmitteln zu versorgen. Er galt<br />

bei seiner Entlassung als „clean“. Vierzehn Tage später war er wieder voll auf dem Trip.<br />

Seine ganzen Haschischbrüder haben bereits auf ihn gewartet, um ihn wieder mit Stoff zu<br />

versorgen. Man könnte sich wünschen, dass die anderen Knackies auch so eine „Connection“<br />

haben, um sich in der Not gegenseitig zu helfen. Dem ist aber nicht so.“<br />

„Und wie hast du es erfahren, dass es sehr ernst um ihn stehen soll?“<br />

„Das hat mir der Andreas telefonisch nur angedeutet und mir heute aber im Detail<br />

erzählt. Horst gehört zu den ganz schweren Fällen. Er wird wohl nicht mehr von der Sucht<br />

loskommen. In den letzten Jahren hat er bereits zweimal einen Entzug mitgemacht und<br />

abgeschlossen und zwei weitere Versuche jedoch abgebrochen. Immer wieder ist er rückfällig<br />

geworden. Heute hat er mir gesagt, dass Horst auf der Kippe steht. Die Sucht hat seinen<br />

Körper zerstört, er wiegt nur noch fünfundvierzig Kilo und hat fasst keinen Zahn mehr im<br />

Mund. Nach medizinischem Ermessen, noch einen solchen Heroinschub und er stirbt.“<br />

„Oh je, Pauline, das ist ja ganz übel. Ist es wirklich so schlimm?“<br />

„Wenn ich dem Andreas Glauben schenken soll, dann ja. Ich glaube nicht, dass er<br />

übertreibt. Er arbeitet ja schon seit vielen Jahren mit Abhängigen und kann sich wirklich ein<br />

Bild über den Zerfallsprozess eines Menschen machen, der stark drogenabhängig ist.“<br />

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Sie schweigt eine Weile und fährt mit bitterer, aber leiser Stimme fort. „Ich glaube, es<br />

wäre besser für ihn, wenn er sich beim nächsten Mal den goldenen Schuss setzt.“<br />

Obwohl Holt auch von Fall zu Fall dieser Meinung war, aussichtslosen Suchtfällen<br />

den selbst gewählten Freitod zu gestatten, war er über diese bittere Rigorosität schockiert, da<br />

sie von einem Menschen kam, der ihm sehr nahe stand und von dem er solche Bitterkeit nicht<br />

hören wollte. Beschwichtigend versuchte er, Pauline Hoffnung zu machen.<br />

„Es gibt auch scheinbar aussichtslose Fälle, die zum Guten ausgingen. Alles spielt sich<br />

im Kopf ab. Suchtkrankheiten sind zu aller erst Krankheiten im Kopf, ich meine psychische<br />

Krankheiten. Wenn es einem Junkie im Kopf klar ist, das er geradezu auf den Abgrund<br />

zusteuert, kann er die Richtung wechseln, also im fast allerletzten Moment von der Sucht<br />

wegkommen. Dazu braucht er Unterstützung, einen eigenen Willen und Abstand vom alten<br />

Suchtleben. Ich glaube, dass dein Sohn Horst vielleicht diese Kraft noch mal aufbringen<br />

kann.“<br />

*<br />

Pauline hatte sich entschieden. Der Weg nach Reinickendorf zu ihrer Freundin war ihr zu<br />

lang. Sie fand die erdrückende Enge in Emmis Wohnung und deren aufkeimenden Neid<br />

unangenehm. Als sie sich bei Emmi meldete, blaffte diese sie am Telefon an und machte ihr<br />

Vorwürfe, dass sie über Nacht bei einem wildfremden Mann geblieben war und sich nun<br />

schon seit mehreren Tagen nicht mehr um sie kümmern würde. Pauline wurde langsam<br />

ärgerlich, da Emmi wirklich die Letzte war, die ihr Vorwürfe machen konnte. Emmi ging<br />

zielgerichtet in den Hasenstall, bestellte sich ein Glas Wein und wartete oft Stunden darauf,<br />

von einem Mann angesprochen und zu einem Drink, oder besser noch, mehreren Getränken<br />

eingeladen zu werden. Am Besten stand ihr dann immer Champagner zu Gesicht, obwohl sie<br />

den nicht ausstehen konnte, aber da er das Teuerste war, was Karin anbot, schlug sie immer<br />

zu, wenn ein Kerl Spendierhosen anhatte. Sie war nicht wählerisch, egal wie der Mann<br />

aussah, je mehr er Emmi abfüllte, desto besser waren seine Chancen, Emmi abzuschleppen.<br />

Pauline konnte es nicht glauben, dass Emmi, mit fasst siebzig Jahren noch so einen starken<br />

Sexualtrieb hatte.<br />

„Emmi, ich bin nicht nach Berlin gekommen, um hier unter deiner Fuchtel zu stehen.<br />

Ich bin erwachsen und brauche niemanden zu fragen, wann und wo ich mich aufhalte. Du hast<br />

nicht den geringsten Grund, dich über meine Unmoral zu beklagen.“<br />

„Ich will mich gar nicht beklagen,“ entgegnete Emmi, „aber ich kenne den Kerl, mit<br />

dem du verschwunden bist. Ich muss dich warnen, der hat mehrere Miezen, ich habe ihn<br />

schon mit den Weibern im Hasenstall gesehen.“<br />

„Bist du neidisch, dass du ihn noch nicht abschleppen konntest?“<br />

„Was ich? Der ist doch zu jung für mich und hat kein Geld mehr. Das ist nichts für<br />

mich und erst recht nicht für dich.“<br />

„Aha, weil er kein Geld hat, ist er uninteressant. Das Alter spielt doch bei dir keine<br />

Rolle, du hast doch selbst gesagt, dass du da schon Kerle abgeschleppt hast, die deine Söhne<br />

hätten sein können.“<br />

Pauline hörte am Telefon, wie Emmi nach Luft schnappte. Es war gut so, mit Emmi<br />

einmal Tacheles zu reden. Nicht, dass sie undankbar war, jedoch die Einladung, bei ihr für<br />

dreihundert Mark wohnen zu können, erwies sich mehr und mehr als eine falsche<br />

Entscheidung. Sie hätte sich auch selbst ein kleines Hotel suchen können, das Geld hatte sie<br />

dazu, aber sie hatte nicht allein in einem Hotelzimmer in dieser großen Stadt wohnen wollen,<br />

in der sie früher immer von vielen Menschen umgeben gewesen war. Emmi war immer und<br />

überall dabei, ließ sich aushalten und nassauerte sich durch. Das Stärkste war, dass sie noch<br />

nicht einmal einen Schlüssel zu Emmis Wohnung hatte. Emmi hatte es gut durchdacht, sie<br />

von ihrer Präsenz abhängig zu machen. Das war ärgerlich.<br />

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Holt hatte ihr am nächsten Morgen, ohne zu zögern, die Zweitschlüssel seiner Wohnung<br />

gegeben. Natürlich war dies auch eine Form der Berechnung, aber keine einseitige<br />

Angelegenheit. Holt lebte offensichtlich, im Gegensatz zu der Behauptung von Emmi, er hätte<br />

mehrere Miezen, allein. Er hatte eine behagliche und saubere Wohnung. Alles war aufgeräumt<br />

und in Ordnung. Der Mann hielt Ordnung, was Pauline bewunderte. In seiner kleinen Küche<br />

hatte sie sich richtig verliebt. Nur zwei Stühle an einem kleinen Küchentisch, mit weiß-blauer<br />

Decke, Blumenvase mit frischen Blumen und rund herum alles sauber. Jetzt war sie schon<br />

drei Tage bei Holt. Jeden Morgen wurde sie durch sein Rumoren in der Küche geweckt, es<br />

duftete immer nach frischem Kaffee und nach warmen Brötchen. Obwohl Holt nicht rauchte,<br />

stand immer ein Aschenbecher auf dem Tisch. Tagsüber war Holt in den letzten Tagen mit<br />

irgendwelchen Geschäften beschäftigt, die ihm offensichtlich viel Kummer machten, erst<br />

nachmittags hatte er Zeit und diese, bis zum Morgen, mit Pauline verbracht.<br />

Pauline war bereits vor zwanzig Jahren aus Berlin weggezogen. Zuerst nach Bayern, dann<br />

nach Luxemburg und später in die USA. Dort hatte sie nach einiger Zeit ihr Glück gefunden,<br />

welches Tom hieß und pensionierter Staffmaster Sergeant der US Air Force war. In ihrer<br />

Berliner Zeit war sie als „Westdeutsche“ ein paar Mal in die „Zone“ gefahren, hatte eine<br />

Cousine im Ostteil Berlins besucht und war einmal zur Messe nach Leipzig gekommen. Das<br />

waren alle ihre Reisen in den Ostteil Deutschlands gewesen.<br />

Holt kam von der Insel Rügen, wo diese Insel lag, wusste sie vage, irgendwo im<br />

Norden am Meer. Weitere Vorstellungen hatte sie nicht von Rügen, nur soviel wusste sie,<br />

dass vor dem Krieg die Berliner Prominenz immer nach Usedom und Rügen zum Baden<br />

gefahren war. Nach dem Krieg und erst recht nach dem Mauerbau, hatte sich der verbliebene<br />

Rest der Berliner Prominenz klammheimlich, nach und nach, in das westliche Bundesgebiet<br />

abgesetzt, und die im Westteil der Stadt geblieben waren, hatten Sylt als ihr Urlaubsdomizil<br />

erkoren. Die Westberliner kannten die Ostseeküste der DDR nur noch aus den Erzählungen<br />

der Älteren, oder durch gelegentliche Familienbesuche, wie Beerdigungen oder Hochzeiten.<br />

Was nördlich von Reinickendorf lag, dort wo irgendwo Oranienburg liegen musste, das<br />

kannte Pauline, wie viele jüngere Westdeutsche nicht. Als „Bundesdeutsche“ konnte sie zwar<br />

mit einem westdeutschen Pass, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten und Schikanen, in die<br />

DDR einreisen. Die Westberliner aber, nach der politischen Diktion der DDR-Machthaber,<br />

waren „Bewohner der besonderen politischen Einheit Westberlin“, die nicht zur<br />

Bundesrepublik Deutschland gehörte. Sie hatten es besonders schwer, in die DDR einreisen<br />

zu können. Lediglich nach Ostberlin konnten sie aufgrund einer Besuchsregelung mit dem<br />

Senat von Westberlin und wegen des sogenannten „Viermächtestatus von Berlin“. Darüber<br />

hinausgehende Reisen in die DDR-Bezirke wurden erschwert und schreckten viele<br />

Westberliner ab, in die DDR zu reisen. Ihre Urlaubsgebiete fingen daher erst hinter<br />

Herleshausen, Ülzen und Helmstedt an. Wer Wochenendurlaub vor der Tür machte, fuhr über<br />

die Transitstrecke in den Harz, in die Lüneburger Heide oder nach Bayreuth. Drei bis fünf<br />

Stunden Autofahrt, auf einer wenig komfortablen Autobahn bei nicht mehr als hundert<br />

Stundenkilometer Geschwindigkeit. Egal, ob man einen alten Opel von 1975 oder einen<br />

fabrikneuen Porsche fuhr.<br />

Während dieser Tage kam das Gespräch öfters auf das Gebiet der ehemaligen DDR. Holt<br />

hatte in den umgebenden Gebieten von Berlin, im Land Brandenburg und in Mecklenburg-<br />

Pommern Bauvorhaben vorbereitet und Pauline darüber berichtet. So sprach er einmal von<br />

den Privatisierungsbemühungen seines ehemaligen Unternehmens in Mecklenburg. Plastisch<br />

beschrieb er die landschaftlichen Schönheiten der Mecklenburgischen Seenplatte, die großen<br />

blauen Seen, die Mischwälder und die sanfte Hügellandschaft der eiszeitlichen Endmoränen.<br />

Pauline hörte aufmerksam zu. Holt hatte den Norden so wunderbar und mit Begeisterung<br />

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eschrieben, das sie spontan den Wunsch verspürte, diese Gegend einmal sehen zu können.<br />

Da es, nach Holts Aussagen, bis zur Seenplatte nur ein wenig mehr als zwei Stunden<br />

Autofahrt bedeutete, verfestigte sich dieser Wunsch noch mehr.<br />

„Wie wäre es, wen wir beide einmal an die Mecklenburgische Seenplatte fahren? Du<br />

hast doch in den nächsten Tagen nichts Besonderes vor und ich war noch nie dort. Was hältst<br />

du davon?“<br />

Holt war nicht abgeneigt, die Stadt auf ein paar Tage zu verlassen. Eigentlich hielt ihn<br />

nur seine prekäre finanzielle Situation davon ab. Während er noch daran dachte, wie er<br />

Pauline das verklickern sollte, hackte sie nach, als ob sie ihm seine Probleme am Gesicht<br />

abgelesen hatte.<br />

„Du brauchst dir wegen des Geldes keine Sorgen machen. Ich habe dafür genug, kann<br />

also Benzin, Kost und Logis bezahlen.“<br />

„Ich mach mir aber trotzdem Sorgen, meinst du, es ist mir angenehm, auf deine<br />

Kosten zu verreisen?“<br />

„Ah bah, du verreist doch nicht auf meine Kosten. Sehe es mal so, du stellst dein Auto<br />

zur Verfügung, fährst mich, bist mein Reiseführer, Bodyguard und nachts mein Liebhaber.<br />

Das ist Arbeit genug.“<br />

Holt grinste, er konnte sich im Zusammenhang zwischen den Begriffen Liebhaber und<br />

Arbeit einen Reim machen, der ihn amüsierte, da er darin ja keinen Zusammenhang sah,<br />

Pauline aber bewusst diesen gewollt hatte.<br />

„Also willst du mich nachts als Lustknabe oder Gigolo? Und das mir auch noch<br />

vergüten? Keine schlechte Idee, ich hätte viel früher damit anfangen sollen.“<br />

„Holt werde nicht größenwahnsinnig. Dies ist ein Angebot im Einzelfall und kein<br />

Mittel zum Erwerb der Lebenshaltungskosten.“<br />

Nachdem Pauline Emmi mitgeteilt hatte, in den nächsten Tagen nicht erreichbar zu sein und<br />

diese sich vom Schock, Pauline nun mehrere Tage nicht unter Kontrolle zu haben, erholt<br />

hatte, war sie sich sicher, erst nach dem Wochenende wieder in Berlin zu sein. Auf der Fahrt<br />

am nächsten Morgen holte sie sich aus Emmis Wohnung noch ein paar Sachen. Emmi hatte<br />

versucht Pauline auszureden, allein zu fahren, sie hatte sich angeboten mitfahren zu wollen.<br />

Pauline hatte Emmi nur ausgelacht und gefragt, ob sie noch mehrere solcher blöden Ideen<br />

hätte. Emmi war daraufhin eingeschnappt, was Pauline jedoch nicht weiter berührte. Während<br />

der Fahrt erzählte sie Holt von Emmis Vorschlag.<br />

„Die alte Schachtel hat wirklich was an der Bimmel. Es ist wirklich sehr merkwürdig,<br />

auf welche Ideen manche Leute kommen, um sich in die Angelegenheiten anderer<br />

einzumischen.“<br />

„Sie ist schon seit Jahren allein. Das Alleinsein macht merkwürdig und ich glaube<br />

Emmi bekommt das gar nicht mit, wie schrullig sie wird.“<br />

„Ist sie geschieden oder hat sie keine Familie mehr?“<br />

„Ich habe Emmi vor Jahren über ihre Tochter in Florida kennen gelernt. Durch Zufall<br />

hatte ich Kontakt zu Deutschen bekommen, die in West Palm Beach lebten. Bei diesen Leuten<br />

arbeitete Sieglinde, Emmis Tochter, schwarz als Putze. Zu dieser Zeit hatte sie noch keine<br />

Greencard und durfte nicht arbeiten. Mit einem Halbjahresvisa ist man nur Tourist, nicht mehr<br />

und die Amis sind da ganz rigide. Später hat sie einen Schwarzen geheiratet, um eine<br />

Aufenthaltsberechtigung zu erhalten.“<br />

„Meinst du einen Schwarzhaarigen oder einen Neger?“<br />

„Einen Neger. Aber so nennt man die Schwarzen in Amerika nicht mehr. Da muss<br />

man ganz vorsichtig sein. Schnell kommt man in Verdacht, ein Rassist zu sein. Neger hört<br />

sich ähnlich an wie Nigger, und das ist für die Schwarzen das schlimmste Schimpfwort<br />

überhaupt.“<br />

84


„Mann, die sind ja noch schärfer als bei uns in Deutschland. Neger ist hier auch nicht<br />

politisch korrekt. Jetzt sind es Afroamerikaner und wenn sie zum Beispiel aus dem Kongo<br />

kommen, sind sie kongolesische Afrikaner. Vor lauter Political Correctness verkrümmen die<br />

sich, dass es schon wieder lächerlich wirkt.<br />

„Und was bist du?“<br />

„Also nach dem korrekten Sprachgebrauch hier, bin ich Europäer, Deutscher, Berliner,<br />

Wilmersdorfer. Keinen Zusatz auf die Hautfarbe bezogen. Das gibt es noch nicht. Ein<br />

Wilmersdorfer könnte theoretisch ein Schwarzer aus Simbabwe sein, der Moslem ist und kein<br />

Wort Deutsch spricht. Man sollte sich aber etwas einfallen lassen, so könnte man diesen<br />

Mann ja auch simbabwendischer Afrogermanen nennen, dann weiß jeder, der Mann kommt<br />

aus Simbabwe, ist Schwarzer und will Deutscher werden oder die Vorteile des Deutschtums<br />

erwerben und nutzen.“<br />

„Im Ernst, es gibt tatsächlich noch einen sehr verbreiteten Rassismus in Amerika.<br />

Dieser Rassismus geht nicht nur allein von den Weißen, sondern mehr und mehr von den<br />

Schwarzen aus. Ganze Stadtteile und Regionen in den Staaten sind nach der Hautfarbe<br />

geordnet. Die Schwarzen, die Latinos, die Asiaten und die Indianer haben eigene<br />

Wohngebiete. Keiner mit einer abweichenden Hautfarbe, als die der Mehrheit in diesen<br />

Gebieten, würde auf die Idee kommen, dahin zu ziehen. Nicht dass dem die Hütte abgefackelt<br />

wird, nein, er würde sich in eine selbst gewählte Isolierung begeben. Du kannst im<br />

öffentlichen Leben Leute anderer Hautfarbe als Kollegen haben oder mit diesen Leuten<br />

dienstlich verkehren. Nach Feierabend geht jeder in sein Getto und bleibt unter<br />

seinesgleichen. Ich habe es oft erlebt. Es kommt vor, dass Weiße freundschaftlichen Kontakt<br />

zu Andersfarbigen haben und diese in Gebieten wohnen, die mehrheitlich der anderen<br />

Hautfarbe angehören. Es ist immer eine Gradwanderung und kann von einem Moment zum<br />

anderen umkippen und negativ werden.<br />

Sieglinde hat den Schwarzen nur geheiratet, um Papiere zu bekommen. Nachdem im<br />

Kreis der Deutschen und der weißen Amis bekannt wurde, dass sie mit einem Schwarzen<br />

verheiratet ist, wurde sie von einem Tag zum anderen als „White Trash“ bezeichnet und von<br />

allen geschnitten. Auch nachdem sie sich Jahre später hat scheiden lassen, ist sie immer mit<br />

dem Makel behaftet geblieben, eine weiße Frau zu sein, die einen Schwarzen geheiratet hat.<br />

Im umgekehrten Falle hätte man kein Aufheben damit gemacht, es steht einem weißen Mann<br />

zu, einmal eine Schwarze zu probieren, Heirat eingeschlossen. Das ist das Privileg des weißen<br />

Mannes, das stammt noch aus der Sklavenhalterzeit.“<br />

Holt war von den authentischen Berichten über die USA fasziniert, teils auch überrascht.<br />

Eigentlich kannte er die USA nur aus den amerikanischen Spielfilmen, die den deutschen<br />

Filmmarkt überschwemmen, den eingeschränkten und selektierten Nachrichten der deutschen<br />

Medien und aus einigen Erzählungen Amerikareisender. Vieles war ihm bekannt, aber Pauline<br />

zeigte ihm auch neue Aspekte der ganzen Facette Amerikas.<br />

Beeindruckt durch die Schönheiten der Natur am Fahrtweg wechselte das Gespräch zu<br />

anderen Themen. Pauline genoss sichtlich die Fahrt. Holt erklärte die Route, sprach über<br />

geschichtliche Ereignisse, die sich hier abgespielt hatten, und wies auf besondere Eindrücke<br />

hin.<br />

Nördlich von Berlin war die Landschaft noch von der Märkischen Heide geprägt.<br />

Kilometerweit Kiefernwälder auf märkischem Sand, durchzogen von kleinen Tälern, an deren<br />

Grund sich kleinere Bäche zogen, die sich in der Landschaft wanden, spalteten, vereinten,<br />

schmal wurden, in kleineren Seen mündeten oder irgendwo in der Landschaft verschwanden.<br />

Je nördlicher man kam, um so mehr änderte sich das Bild. Die Kiefernwälder wechselten mit<br />

Mischwäldern, bestehend aus Kiefern, Birken und Buchen, vereinzelt auch Eichen und<br />

Eschen. Die schmalen Bäche wurden breiter und immer mehr kleinere Seen tauchten auf.<br />

Zwischen den Mischwäldern und Seen lagen die grünen, gelben und blauen Felder mit<br />

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frischem Korn, Raps und Hafer mit Kornblumen. Der Himmel war überwiegend strahlend<br />

Blau, ein schwacher Wind wehte von Ost und trieb hoch oben am Firmament kleine weiße<br />

Schäferwölkchen vor sich her. Von Zeit zurzeit fuhr Holt rechts heran und hielt, er stellte den<br />

Motor ab. Sofort war das Rauschen des nahen Waldes, das Zirpen der Grillen und der Gesang<br />

der Vögel zu hören. Für Städter ein erhabener Eindruck, der Schweigen gebot.<br />

Holt hatte bewusst die Autobahn gemieden. Nach dem Berliner Ring hatte er sofort bei<br />

Oranienburg die Autobahn verlassen und war auf der alten „F96“, der jetzigen B96, weiter<br />

gefahren. Nach der Wiedervereinigung wurden alle alten DDR-Bezeichnungen des<br />

Straßennetzes auf bundesdeutsches Niveau geändert. Aus der „Fernverkehrsstraße 96“ wurde<br />

nun die Bundesstraße 96, die schon vor der Fernstraße einmal sogar Reichsstraße war und<br />

zum Teil zur „Reichsstraße 1“ gehörte, die von der Deutsch-Schweizer-Grenze im Breisgau<br />

bis nach Königsberg in Ostpreußen die Nummer 1 trug und einmal die längste Straße des<br />

Deutschen Reiches war. Mit der Größe des Reiches war auch die Länge seiner Straßen<br />

erheblich gekürzt worden. Welche Polen und Russen interessierte es jetzt, dass er mit seinem<br />

Polski Fiat oder Lada auf einer ehemaligen, deutschen Reichsstraße fuhr, es genügte ihm zu<br />

wissen, dass die Deutschen eine gute Straße gebaut hatten, die noch jetzt 50 Jahre danach gut<br />

befahrbar war. Das reichte, sofern man einen Gedanken an die Deutschen verschwendete.<br />

Irgendwo, bereits in Vorpommern, kurz vor Neustrelitz, bog Holt westlich von der<br />

B96 ab und fuhr in nordwestlicher Richtung weiter. Die Seen wurden häufiger und größer.<br />

Dies war bereits das Vorfeld der Seenplatte, die Landschaft war noch hügelig und zwischen<br />

den Hügeln lagen kleinere Seen. Holt erzählte Pauline, dass diese Landschaft zeitlich gesehen<br />

noch sehr jung war, ungefähr 10.000 Jahre alt, in der letzten Eiszeit gebildet. Pauline wollte<br />

wissen, warum es so viele kleine Seen zwischen den Hügeln gab.<br />

„In der letzten Eiszeit haben sich die Gletscher von Skandinavien aus über die jetzige<br />

Ostsee bis hier nach Mecklenburg und Pommern vorgeschoben. Mit dem Eis wurden<br />

Riesenmengen von skandinavischem Gestein, Geröll und Sand durch die Gletscher vor sich<br />

hergeschoben und im Gletschereis transportiert. Die Gletscher haben die Norddeutsche<br />

Tiefebene abrasiert und alles auf ein Niveau gebracht. Jedoch als nach der Erwärmung die<br />

Gletscher abschmolzen, sich scheinbar zurück zogen, ließen sie ihre Beute frei. Milliarden<br />

Tonnen an Gestein, Geröll und Sand. Nach dem Tauen der am weitesten nach Süden<br />

vorgedrungenen Gletscher bildeten die vor sich hergeschobenen Gesteinsmassen riesige Täler<br />

und Hügel. Die sogenannten Endmoränen füllten sich in ihrer tiefsten Stelle mit Wasser. So<br />

entstanden die Seen. Das ist noch gar nicht so lange her, was sind 10.000 Jahre im Leben der<br />

Erde? Es ist, gemessen am Leben eines Menschen, der Tag davor oder sogar der Morgen des<br />

gleichen Tages.“<br />

„Woher weißt du das alles?“<br />

„Ich habe in der Schule aufgepasst und dann hatten wir einen sehr guten<br />

Heimatkundelehrer, der sich auf die Eiszeit und Entwicklung unserer Gegend nach der Eiszeit<br />

spezialisiert hatte. Der konnte die Schüler so richtig mitreißen. Ich war sein Lieblingsschüler.<br />

Das ging so weit, dass ich in die Kreidefelsen geklettert bin und unter Lebensgefahr<br />

Versteinerungen sammelte.“<br />

„Unter Lebensgefahr, was meinst du damit?“<br />

„Na, ja, ich hatte es damals nicht so dramatisch gesehen. Bis mich die Polizei aus dem<br />

Felsen geholt hat. Passanten hatten mich dort klettern sehen und haben vor Schreck die<br />

Polizei benachrichtigt, weil sie glaubten, ich könnte abstürzen.“<br />

„War es denn so?“<br />

„Jjjein, ich hatte mich an eine Wäscheleine gebunden und diese oben am Kliffrand um<br />

einen Baum gebunden. Da der Felsen nicht gerade runterging, sondern in einer Schräge und<br />

viele Vorsprünge vorhanden waren, konnte ich gut rumklettern und meine Versteinerungen<br />

aus dem Felsen brechen. Ich hatte aber die Gefahr nicht gesehen. Wenn die Leine gerissen<br />

86


wäre, hätte ich zirka fünfzig Meter in die Tiefe stürzen können. Da wäre ich sicherlich ein<br />

wenig zu Schaden gekommen.“<br />

„Was hat die Polizei denn gemacht?“<br />

„Sie haben mir die Wäscheleine abgenommen. Als sie meine erbeuteten<br />

Versteinerungen sahen, staunten sie Bauklötzer. Sie waren echt beeindruckt. Die Folge war,<br />

dass sie an den Direktor der Schule schrieben, der mich dann auch verwarnt hat, nicht mehr in<br />

den Felsen zu klettern. Durch meine Aktion hat sich der Polizeichef „Fietje Bremms“ selbst<br />

an den Betriebsdirektor der Kreidewerke gewandt um für mich eine Erlaubnis zu bekommen,<br />

beim Abraumbagger im Kreidewerk und an der Schlemmanlage nach Versteinerungen zu<br />

suchen. Das war das einzigste Mal in meinem Leben, dass mir die Polizei wirklich geholfen<br />

hat. Später habe ich im Kreidewerk Versteinerungen gefunden, die jetzt im<br />

Heimatkundemuseum meiner ehemaligen Schule immer noch ausgestellt sind.“<br />

„Hast du denn selbst nichts behalten?“<br />

„Doch, einige schöne Versteinerungen habe ich behalten, ein paar Donnerkeile und<br />

versteinerte Seeigel. Es war der schönste Seeigel, den ich je gesehen hatte. Er lag viele Jahre<br />

bei mir in meinem Bücherregal, bis in die Zeit meiner Ehe mit Rosi, als diese mir einmal die<br />

Versteinerung an den Kopf werfen wollte. Sie war sehr jähzornig. Der Wurf ging an meinem<br />

Kopf vorbei, durch die Fensterscheiben des Doppelfensters. Als ich den Seeigel später,<br />

nachdem Rosi sich wieder beruhigt hatte, auf dem Hof suchte, habe ich ihn nie<br />

wiedergefunden. Eigentlich schade, dass diese blöde Ziege keinen Blick für Wertsachen hatte,<br />

sie hätte mir auch eine volle Brieftasche an die Birne geschmissen, sie war immer blind vor<br />

Wut.“<br />

Holt dachte an diese Zeit zurück, die nun schon über vierzig Jahre zurücklag, als er als<br />

Kind in den Kreidefelsen Rügens den Wunsch verspürt hatte, Archäologe zu werden und<br />

damals auf dem besten Weg dazu war. Nur war das Leben anders verlaufen, es hatte nicht die<br />

Wünsche eines Kindes berücksichtigt. Pauline verspürte, dass Holt mit seinen Gedanken in<br />

der Kindheit verweilte, sie dachte an ihre eigene Kindheit zurück. Nein, solche gefährlichen<br />

Dinge hatte sie nicht angestellt. Sie war wohl behütet worden in Bielefeld. Sie konnte sich<br />

auch an kein Ereignis erinnern, das gefährlich gewesen wäre.<br />

Die Landschaft der Mecklenburgischen Seenplatte erinnerte sie ein wenig an die Heimat ihrer<br />

Kindheit. Die Landschaft nordwestlich des Teutoburger Waldes, in der Bielefeld eingebettet<br />

liegt, war auch mit vielen kleinen Seen und Hügeln versehen, so wie hier in Mecklenburg.<br />

Damals, als Kind, hatte sie die Schönheit der Umgebung ihrer Geburtsstadt nicht bewusst<br />

wahrgenommen. Es war eben selbstverständlich, dass es so war, wie es war. Welches Kind<br />

macht sich tief schürfende Gedanken über sein Lebensumfeld? Gerade diese Tatsache, in fasst<br />

vertrauter Umgebung zu fahren, erweckte in ihr ein Gefühl der Sicherheit und Ruhe. Dazu<br />

kam, dass neben ihr Holt saß, der so wunderbar über alles sprechen konnte, nie langweilig<br />

war und in ihr das Gefühl der Verbundenheit verstärkte.<br />

Zwanzig Kilometer vor dem Müritzsee tauchte das erste Hinweisschild auf. „Waren-<br />

Müritz 20 KM“. Holt schaute in einen Autoatlas, verglich die Straßennummer des Schildes<br />

mit dem der Karte. Mit dem Finger fuhr er darüber, murmelte etwas, drehte sich zu Pauline<br />

hin und tippte auf die Karte.<br />

„Hier, etwa fünf Kilometer weiter kommt ein Abzweig, der führt zu einem kleinen<br />

Nebensee der Müritz. An diesem See, hier schau hin, liegt ein schönes Hotel. Das war zur<br />

DDR-Zeit ein Gästehaus des Ministerrates. Nach der Wende ist es privatisiert worden. Vor<br />

zwei Jahren hatte ich dort mal eine Konferenz. War schon beeindruckend. Interhotelstil,<br />

westliches Niveau und sehr gut gelegen. Ich glaube, dort sollten wir hinfahren und uns<br />

umschauen. Vielleicht ist das Restaurant geöffnet, so teuer kann es auch nicht sein.“<br />

„Hans, ich hab doch schon gesagt, Geld spielt keine Rolle. Es kann ja nicht die Welt<br />

kosten. Was meinst du, wie teuer ist denn ein Zimmer pro Nacht?“<br />

87


„Ich glaube, damals kostete die Übernachtung so zwischen hundertachtzig bis<br />

zweihundert Mark.“<br />

„Das sind umgerechnet so zwischen neunzig bis hundert Dollar. Das ist doch noch<br />

billig. Ist da Frühstück mit drin?“<br />

„Ja, in deutschen Hotels ist immer Frühstück im Hotelpreis mit drin. Aber hundert<br />

Dollar sind für mich nicht billig.“<br />

Pauline wollte sich auf eine Diskussion über die Preise nicht einlassen. Sie dachte, mal<br />

sehen, wenn er das Restaurant gut findet, kann ich ja mal, wenn er noch am Tisch sitzt, zur<br />

Rezeption gehen und nachfragen und sogar buchen. Dann ist es für ihn nicht so komisch.<br />

In den letzten zwei Jahren hatte sich das Hotel im Äußeren noch verbessert. Die<br />

Parkplätze waren sauber und die Stellplätze mit weißen Linien versehen. Überall standen<br />

große Blumentöpfe, Papierkörbe und Hinweißschilder. Der Parkplatz war nur spärlich<br />

benutzt, ein Hinweiß für Pauline, das noch viele Zimmer frei sein mussten. Sie behielt diese<br />

Wahrnehmung für sich, ohne Holt darauf aufmerksam zu machen. Die Lobby war kühl und<br />

die Tür zum Restaurant war geöffnet. Das Menü hing in einer Schautafel rechts des<br />

Einganges. Das Angebot war gut, die Preise vertretbar, sodass beide in das Restaurant<br />

eintraten. Von der Fensterreihe konnte man den Vorgarten und die Uferbepflanzung des<br />

Hotels sehen. Es war wirklich beeindruckend. Die Anlage war gepflegt, großzügig und<br />

sauber, bis hin zum Anlegesteg. Neben dem Anlegesteg stand ein weiteres Ufergebäude. Es<br />

stand zur Hälfte auf Stelzen im See, ein weiteres Restaurant oder ein Café.<br />

Das Essen war gut. Es gab frischen Süßwasserfisch mit Gemüse und<br />

Kartoffelkroketten. Holt war erstaunt, dass der Koch tatsächlich ein kleines Kunstwerk<br />

verrichtet hatte. Pauline liebte Fisch in allen Variationen. Nach dem Essen hatte Holt eine<br />

Flasche „Rosenthaler Kaderka“ bestellt, die er auf der Karte gefunden hatte. Dieser Kaderka<br />

war eine Erbschaft der alten DDR. Zu DDR-Zeiten gab es immer den Erlauer Stierblut,<br />

Lindenblättriger, Tokajer Formint, manchmal auch Tokajer Azu, aber stets den Rosenthaler<br />

Kaderka. Holt hatte von diesen Weinen stets eine Reserve zu Hause gehabt. Man konnte ja nie<br />

wissen, wann der Korken flog. Nach seiner Übersiedlung in den Westen hatte er diesen<br />

Kaderka auch bei Aldi entdeckt und war seiner Tradition treu geblieben, stets Kaderka im<br />

Hause zu haben. Obwohl ein wenig süß, war dieser Wein süffig und ein guter Bretterknaller<br />

für taktische Spielchen mit den Damen. Pauline trank alles, was Alkohol in sich hatte und süß<br />

war. Das kam Holt gerade recht, denn der Wein war preiswert und schmeckte ihm auch, und,<br />

was nicht unwichtig war, es gab ihm Erinnerungen zurück, die sein etwas lädiertes<br />

Selbstbewusstsein stabilisierten. Als er mal kurz zur Toilette musste und zurück kam, war<br />

Pauline nicht zu sehen. Er nahm an, dass sie auch zur Toilette gegangen wäre. Nach einiger<br />

Zeit tauchte sie jedoch von der Lobby kommend auf, grinste Holt provozierend an und<br />

wedelte mit einem Hotelschlüssel unter Holts Nase rum.<br />

„Na also, es waren doch noch Zimmer frei. Ich habe eines für uns gebucht. Nur mit<br />

meiner Visa Card konnten sie anfänglich nichts anfangen. Sie hatten noch nie etwas von First<br />

Union gehört und haben sich die Karte von allen Seiten angeschaut. Ich habe ihnen gesagt,<br />

das ist meine Kreditkarte aus den Staaten, dass ich Amerikanerin sei und sehr glücklich, hier<br />

Quartier zu machen. Der Chefrezeptzionist hat mir dann darauf zwanzig Prozent Discount<br />

gegeben. Ist das nicht herrlich?“<br />

Holt war über Paulines Unkonventionalität immer wieder erstaunt. Die Frau macht<br />

wirklich alles, was sie sich in den Kopf setzt, ging es ihm durch den Kopf. Zuerst hatte er ihre<br />

Bemerkungen, dass Geld keine Rolle spielt, nicht ganz ernst genommen. Nun gewann er nach<br />

und nach den Eindruck, dass Pauline über Geld verfügte, dieses aber lieber unter die Leute<br />

brachte als damit zu knausern oder etwas zurück zu legen.<br />

Das Zimmer war sauber und geräumig, hatte allen Komfort eines guten<br />

Mittelklassehotels. In der Hausbar fand Holt sogar Becherovka, einen Kräuterlikör aus der<br />

Tschechei. Nachdem sie sich frisch gemacht hatten, gingen sie zur Bar am Seeufer. Die<br />

88


Dunkelheit brach herein. Auf den Tischen brannten kleine Teelämpchen in roten Gläsern,<br />

welche flackerten, wenn eine leichte Briese vom See wehte. Aus dem Lautsprecher kam leise<br />

Klaviermusik, Richard Kleidermanns „Ballade pour Madeleine“. Pauline hatte sich ihr<br />

„kleines Schwarzes“ angezogen, was ihr trefflich stand. Holt konnte beobachten, dass sich ein<br />

paar alleinstehende Herren an der Bar ihre Köpfe verrenkten, um Pauline besser sehen zu<br />

können. Das amüsierte ihn und machte ihn ein wenig stolz, in Begleitung einer Frau zu sein,<br />

die von anderen Männern bewundert wurde. Auf einer kleinen Tanzfläche tanzten drei oder<br />

vier Pärchen nach der Schmusemusik, was Holt ermunterte, Pauline zum Tanz zu bitten. Das<br />

war der erste Tanz mit Pauline, sie ließ sich leicht führen und genoss es, mit Holt zu tanzen.<br />

Sie hatte ihre Arme um Holts Hals gelegt und schaute ihn lächelnd an.<br />

Am nächsten Tag, nach einem ausgiebigen Frühstück, ging es weiter nach Waren. Holt, selbst<br />

im Osten aufgewachsen, kannte zwar die Gegend um Neustrelitz und Neubrandenburg, war<br />

bislang jedoch noch nie am Müritzsee gewesen. Er war von dessen Größe erstaunt. Viele<br />

kleinere Ortschaften mit kleinen Seglerhäfen lagen um den See. Überall gab es Restaurants<br />

und Andenkengeschäfte, die von den Touristen gut besucht waren. Auf der Fahrt kam ihm die<br />

Idee, die Landstraße zu verlassen und über kleine Verbindungswege kurz vor Waren wieder<br />

auf die normale Bundesstraße zu fahren. In seinem Autoatlas fand er so eine Verbindung, die<br />

auf der Karte nur grau gestrichelt war. Dieser Weg führte an einem Nebensee oder einer<br />

Ausbuchtung der Müritz vorbei und stieß zirka zwanzig Kilometer weiter wieder auf die<br />

ursprüngliche Route. Nach einigen Fahrminuten kam er auf eine schmale asphaltierte Straße,<br />

in die er einbog. Nach ungefähr zwei Kilometern hörte der Straßenbelag auf und wurde durch<br />

Schotter ersetzt. Da die Staubfahne hinter dem Suzuki aufstieg, störte es die Beiden wenig.<br />

Nur einmal beim Gegenverkehr durch einen Traktor, der einen großen Heuwagen hinter sich<br />

herzog, wurde die Sicht sekundenlang durch den aufgewirbelten Staub erheblich<br />

eingeschränkt.<br />

Als sich der Staub gelegt hatte, sahen sie vor sich am Ufer einen Reiterhof mit Restaurant, auf<br />

dessen anliegendem Pferdefrech einige Pferde weideten. Mitten auf dem Platz vor dem<br />

Restaurant lag ein riesiger Hund, der scheinbar schlief, jedoch mit einem Auge eine<br />

Entenfamilie im Ufergewässer beobachtete. Eine Entenmutter, mit neun Entenküken,<br />

nachfolgend in Kiellinie, kam auf das Ufer zugeschwommen. Dort hatte die Uferkante eine<br />

Höhe von ungefähr sechs bis acht Zentimeter, bevor sie in die anliegende Wiese überging.<br />

Mama Duck watschelte durch den Uferschlick, hob ein Bein über die Kante und stieg auf die<br />

Wiese. Die Küken folgten ihr, jedoch nicht Bein für Bein, sondern mit einem zweibeinigen<br />

Satz sprangen sie eins nach dem anderen über die Kante, bis auf das letzte Küken. Dieses war<br />

wohl als Nachzügler auch das Sorgenküken der Entenmutter. Diese stand auf der Wiese und<br />

zählte scheinbar ihren Nachwuchs durch. Die Nummer Neun war noch nicht da, sie äugte zur<br />

Kante und sah, wie ihr Jüngstes sich vergeblich mühte, um über die verflixte Kante zu<br />

kommen. Ihre Kraft reichte nicht aus, sie in einem Sprung auf die Wiese zu heben. Immer<br />

wieder fiel sie mit ihrer Brust auf den glitschigen Kantenabbruch und rutschte wieder nach<br />

unten. Mama Duck war es zu viel. Um sie herum hatten sich die anderen acht Küken geschart,<br />

die mit der Mutter zusammen der Erfolglosigkeit von Nummer neun zusahen. Holt vermeinte<br />

zu erkennen, wie die Geschwister über den kleinen Versager lästerten. „Schon wieder die<br />

Neun, sie kann auch gar nichts, immer ist sie die Letzte.“ Mama Duck stieg wieder zurück,<br />

setzte ihren Schnabel unter Neuntes Hintern und beförderte sie auf die Wiese. Durch den<br />

Schwung fiel diese wieder auf den Bauch, sie schüttelte sich und lief hinter ihrer Familie<br />

hinterher, die sich in Richtung Pferdestall bewegte.<br />

Pauline und Holt hatten vor Lachen Tränen in den Augen. So etwas hatten sie bislang<br />

nur in Tierfilmen gesehen, es war wirklich beeindruckend, selbst der große Hund schien sich<br />

amüsiert zu haben. Dieser schüttelte seinen riesigen Kopf, als ob er sagen wollte, „Nein, was<br />

es nicht gibt, das Entenbaby ist wirklich komisch.“ Neben den Enten, Pferden, und dem Hund<br />

89


efanden sich noch andere Tiere auf dem Anwesen. Hinter der Pferdescheune standen<br />

mehrere braun gescheckte Kühe, in einem Stall saßen einige Perlhühner und eine Katze<br />

streuselte in Richtung Restaurantküche. Dies war hier wirklich ein Tierparadies. Nur ein<br />

garstiger Truthahn fehlte noch, sonnst hätte Holt dieses malerische Landleben an seine<br />

Kindheit auf Rügen erinnert. Dort gab es damals, zu seinem Leidwesen, neben all diesen<br />

Tieren, auch einen Truthahn, der nicht sein Freund war und ihm das Leben recht sauer<br />

gemacht hatte, bis Oma ihn schlachtete.<br />

Nach einer ausgiebigen Pause ging die Fahrt weiter. Irgendwann an einer Kreuzung war Holt<br />

von der unbefestigten Straße abgekommen und hatte einen Forstweg genommen, der immer<br />

weniger Schotter und immer mehr Sand hatte. Teilweise war der Wegverlauf nur noch zu<br />

erahnen, da eine Schneise in der Bewaldung den Verlauf kennzeichnete. Das Auto, ein kleiner<br />

japanischer Suzuki Samurai, hatte einen zuschaltbaren Geländegang, den Holt nun zum ersten<br />

Mal zu benötigen schien. Er hielt und schaute sich die Geländegangschaltung an. Dort gab es<br />

noch zusätzliche vier Gänge. Er legte die normale Schaltung auf Leerlauf und schaltete den<br />

Geländegang auf Vorwärts 1. Nichts, der Wagen rührte sich nicht. Pauline lachte, was Holt<br />

fuchtig machte und er sich in seiner Ehre als „Herr Autofahrer“ gekränkt sah. Weitere<br />

Versuche schlugen fehl, er konnte nur den Normalgang nutzen, so wie vorher. Er grübelte,<br />

und da fiel ihm ein, dass im Handschuhfach irgendeine Beschreibung über die Zuschaltung<br />

lag. Bislang hatte er es ja nie nutzen können, in Berlin gab es bislang keine Gelegenheit, den<br />

Geländegang einzulegen. Bereits mit Blick auf das Schaltschema sah er, dass die Zuschaltung<br />

von draußen an den Rädern selbst erfolgte. Jedes Rad musste im Stand einzeln entriegelt und<br />

auf den Geländegang zugeschaltet werden. Danach war alles ganz einfach, die einzelnen<br />

Geländegänge konnten dann wie die normale Gangschaltung unter Verwendung der<br />

Kupplung geschaltet werden. Der Wagen war vor einer kleinen Anhöhe stehen geblieben. Als<br />

Holt langsam mit dem Geländegang anfuhr zog sich der Wagen ohne Probleme dem Abhang<br />

hoch. Es machte richtig Spaß, so kreuz und quer durch die hügelige Landschaft zu fahren.<br />

Unter einer großen Eiche hielt Holt an.<br />

„Willst du auch mal fahren?“, fragte er Pauline.<br />

„Klar, runter vom Bock, ich hobele den Wald ab!“, antwortete diese.<br />

Pauline setzte sich ans Steuer, zog den Sitz mit einem Griff unter diesem nach vorne,<br />

rückte den Rückspiegel zurecht, haute den ersten Geländegang rein, schaltete nach wenigen<br />

Sekunden auf den zweiten und dann sofort auf den dritten Gang. Der Wagen preschte durch<br />

das Gelände, dass Holt sich willkürlich mit beiden Händen an den Haltegriffen fest hielt. Sie<br />

fährt wie ein Henker und nicht das erste Mal einen Geländewagen, ging es ihm durch den<br />

Kopf.<br />

„Du hast schon mal einen Geländewagen gefahren, stimmt es?“<br />

„Ja, Tom hatte mal einen Jeep Wrangler, den hab ich öfters durchs Gelände<br />

gescheucht. Nur brauchte ich nicht unter das Auto kriechen, um irgendeinen Gang einlegen zu<br />

können. Der Wrangler war komfortabler.“<br />

„Ich bin nicht unter den Wagen gekrochen, sondern habe nur die Radnabenschlösser<br />

eingeriegelt. Das konnte ich bequem in der Hocke machen.“<br />

„Na, dann bist du etwas zu kurz geraten. Von hier oben sah es so aus, als ob du unter<br />

den Wagen gekrochen bist.“<br />

Pauline ließ sich nicht beirren, sie hatte ihren Spaß, Holt ein wenig necken zu können,<br />

was dieser auch nicht übel nahm. Später sollte er feststellen, dass Pauline eine geübte und<br />

sichere Autofahrerin war und nicht in das Klischee einer verunsicherten Frau hinter dem<br />

Steuer passte. Nach einiger Zeit endete der Feldweg an einer asphaltierten Straße, dem Weg<br />

nach Waren. Pauline hielt rechts an und Holt ‚kroch“ wieder unter das Auto um den<br />

Normalbetrieb einzustellen.<br />

90


Waren war eine malerisch schöne Stadt. Die Häuser alle sehr alt, teils mit Fachwerk und<br />

überall mit roten Ziegeln versehen. Vor den Häusern befanden sich fasst überall kleine<br />

begrünte, mit vielen Blumen versehene, Vorgärten. An den Straßenrändern und auf allen<br />

Plätzen standen uralte und riesige Linden, die für Schatten sorgten. Die leichte Briese vom<br />

See ließ die Blätter der Linden leicht hin und her schwingen und ein sanftes Rauschen war zu<br />

vernehmen. Auf einem Parkplatz stellten sie im Schatten den Wagen ab und sahen sich die<br />

Altstadt genauer an. Ein kleiner Platz hatte in der Mitte einen alten verzierten Brunnen. Im<br />

Hintergrund war eine Art Tor zu sehen, das entweder zu einem Patrizierhof oder einer kleinen<br />

Gasse führte. Willkürlich ging Holt das alte Volkslied Am Brunnen vor dem Tore durch den<br />

Kopf, sodass sich die Melodie wie automatisch einstellte. Leise begann er den Text, dieser<br />

bekannten Volksweise zu singen. Pauline fiel in das Lied mit ein, nach einigen Sekunden<br />

unterbrachen sie das Volkslied und lachten. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und lehnte<br />

sich an Holt.<br />

„Egal, wo ich in Amerika war, die Amerikaner kannten fasst immer zwei deutsche<br />

Lieder, „Muss i denn, muss i denn“ und „Am Brunnen vor dem Tore“. Nicht immer den Text<br />

aber die Melodie. Beide Lieder wurden auch von Elvis gesungen.“<br />

„Ja, Elvis hatte an deutscher Volksmusik Gefallen gefunden, und einiges in seiner Zeit<br />

beim Militär hier in Deutschland und danach auch gesungen. Er hat hier ja seine Frau<br />

kennengelernt. Sie war die Tochter eines amerikanischen Offiziers, die auch deutsche<br />

Volksmusik mochte.“<br />

„Eigentlich gibt es viele deutsche Elemente in Amerika. Sie sind nicht immer auf dem<br />

ersten Blick erkennbar, aber vorhanden. Zum Teil sind es auch nur europäische Elemente, die<br />

in Deutschland auch ihren Ursprung oder ihre Wurzeln hatten.“<br />

„Deutschland hat Europa mitgeprägt. Positiv wie Negativ. Leider erinnern sich einige<br />

über dem großen Teich nur an das Negative. Ich kann’s zwar verstehen, aber manches finde<br />

ich nicht gut.“<br />

Pauline hatte zwischenzeitlich mitbekommen, dass Holt ein sehr politisch und kritisch<br />

denkender Mann war, dass ihm das Ergebnis von nur zwölf Jahren Tyrannei in Deutschland<br />

und die Folgen auf die Welt sehr belastete, er es für äußerst ungerecht empfand, dass alles im<br />

jetzigen Deutschland immer an diesen zwölf Jahren gemessen wurde. Sie hatte es selbst<br />

erfahren, unbedarfte Amerikaner betitelten einen Deutschen, wenn sie anderer Meinung<br />

waren oder sich aus irgendeinem Grund über diesen ärgerten, einfach mit „Nazi“. Dann waren<br />

alle Argumente verschossen und seitens der Amerikaner war kein Bedarf zu erkennen, zu<br />

differenzieren. Es war eben einfach, eine große Keule zu nehmen, die auch noch politisch<br />

korrekt aussah. Sie hätte auch etwas dazu sagen können, wollte sich aber die schöne<br />

Stimmung nicht durch Politik verderben lassen.<br />

Hinter einer alten Stadtmauer lag ein kleines Restaurant. Unter einer Linde nahmen sie auf<br />

klappbaren Gartenstühlen Platz. Holt kannte diese Art der Klappstühle, diese waren<br />

mindestens so alt wie das Haus, aus Metall und grün gestrichen. Nur die eingesetzten<br />

Holzleisten mussten in den letzten Jahrzehnten ausgewechselt worden sein. Das war für ihn<br />

Nostalgie pur. Zu diesen Stühlen gab es passende Tische. Er konnte sich daran erinnern, dass<br />

auf dem Bauernhof seiner Großmutter ebenfalls sich so ein Tisch mit Stühlen befunden hatte,<br />

auch in Berlin, in jedem Biergarten hatte er so etwas gesehen. Es war ihm jetzt erst bewusst,<br />

dass er diese in den letzten Jahren immer weniger wahrgenommen hatte. Die Nostalgie wurde<br />

überall abgelöst durch weiße, nichtssagende Plastikgartenmöbel, die leichter zu transportieren<br />

aber auch viel leichter unansehnlich wurden und kaputt gingen. Aber sie waren schnell zu<br />

ersetzen, so schnell, wie Menschen ersetzt werden konnten.<br />

91


Der Tag neigte sich dem Abend. Holt erklärte Pauline, von hier aus weiter westlich auf die<br />

Autobahn zu fahren. In zwei Stunden würden sie dann zu Hause, in Berlin sein. Pauline war<br />

erstaunt, der Weg von Berlin nach Waren war ihr sehr lang erschienen, mit mehreren Stunden<br />

Autofahrt, worauf Holt ihr erklärte, dass man ja kleine Wege gefahren sei und sich Zeit<br />

gelassen hatte. Eigentlich war es nicht weit bis nach Berlin. Von der nahen Autobahn war<br />

man in eineinhalb Stunden auf dem Berliner Ring und dann noch eine halbe Stunde über die<br />

Stadtautobahn bis zum Breitenbachplatz in Wilmersdorf. Abends könnten sie schon im<br />

Hasenstall den Ausklang dieser schönen Fahrt genießen. Da es Sonnabend war, war dieser ja<br />

auch geöffnet.<br />

*<br />

Eine Woche hatte Holt noch, bis Pauline wieder nach Mittelamerika zurück musste. Die Tage<br />

mit ihr waren wie im Fluge vergangen. Den Gedanken, dass sie ja wieder einmal abfahren<br />

musste, hatte er verdrängt. Nach ihrer Fahrt an die Seenplatte war sie ganz zu Holt gezogen.<br />

Sie hatte Emmi angerufen und dann ihre restlichen Sachen abgeholt. Emmi hatte natürlich<br />

gezetert, aber Pauline hatte sich darum nicht geschert. Fasst jeden Tag hatten sie gemeinsam<br />

etwas unternommen. Holt hatte viel Zeit, seine Rechtssachen waren am kochen, er hatte alles<br />

erledigt, was zu erledigen war. Seine Firma gab es nicht mehr und die vielen Schulden liefen<br />

nicht davon, auch wenn er einen Tag Mal nicht in den Briefkasten schaute um wieder einen<br />

Zahlungsbefehl, eine Mahnung oder eine andere unangenehme Sache zu finden.<br />

Morgens ließen sie sich gemeinsam viel Zeit, frühstückten, lasen Zeitung und freuten sich des<br />

Lebens. Danach gingen sie einkaufen und ein wenig durch die Kaufhäuser, was mehr Paulines<br />

Idee war, denn Holt fand, es gab etwas Schöneres, als durch Kaufhäuser zu laufen. Pauline<br />

zuliebe ließ er sich jedoch seine Abneigung für ausgiebige, all zu ausgiebige, Schaufensteroder<br />

Kaufhausbummel nicht anmerken. Das schien ihm aber nicht besonders gelungen zu<br />

sein, denn Pauline reduzierte ihre diesbezüglichen Aktivitäten und wenn sie es trotzdem nicht<br />

lassen konnte, drapierte sie Holt geschickt in einem angrenzenden Café oder ließ ihn in der<br />

Buch- oder Computerabteilung zurück, wo sie ihn unbesorgt und nicht gelangweilt nach<br />

längerer Zeit wieder abholen konnte.<br />

Am Abend vorher war Jewgeni hereingeschneit, ohne sich vorher anzumelden. Es klingelte,<br />

und er stand vor der Tür. Jewgeni mimte den Überraschten, bei Holt eine Frau anzutreffen. Er<br />

hatte in den letzten Tagen mehrmals versucht, Holt anzurufen. Bis auf den<br />

Antwortbeantworter meldete sich niemand. Da es nicht die Art Holts war, längere Zeit nichts<br />

von sich hören zu lassen, bekam Jewgeni tatsächlich so etwas wie Sorgen, dass etwas mit<br />

Holt geschehen sein könnte. Diese Sorgen waren tatsächlich begründet, denn Holt hatte sich<br />

während seines Umzuges aus Lichterfelde in die Pariser Straße körperlich, wie auch<br />

finanziell, etwas übernommen. Der Traum in der ersten Nacht im neuen Zuhause sollte nach<br />

abergläubischer Volksmeinung wahr werden. Holt war nicht abergläubisch, oder fasst nicht<br />

abergläubisch. Die erste Nacht in der Pariser Straße war ein Horror. Holt konnte schlecht<br />

einschlafen und als er nach einiger Zeit vom Wachsein förmlich weggesackt war, schreckte er<br />

hoch, sein Herz raste und ihm überkam das Gefühl des nahen Todes. Schweißgebadet und mit<br />

letzter Kraft zog er sich Hemd, Hose und Schuhe an. Er glaubte keine Zeit mehr zu haben, zu<br />

telefonieren, um seinen Sohn anzurufen. In der Wohnung wollte er nicht umfallen und<br />

sterben, dort wo ihn keiner finden würde.<br />

Auf der Straße, wo Leute gingen, da war es ihm zwar nicht egal, jedoch hier hoffte er<br />

auf Hilfe, falls das Schlimmste eintreten sollte. Schräg gegenüber seiner Wohnung war ein<br />

Taxistand. Dort stand auch ein Taxi, in das Holt einstieg und dem Fahrer erklärte, er solle ihn<br />

zur nächsten Notaufnahme fahren. Der Fahrer bekam wohl einen Schreck, als er Holts<br />

92


kalkweißes Gesicht sah und dessen offensichtliches Unwohlsein. Holt, der nicht wusste, wie<br />

lange er noch bei Bewusstsein sein würde, drückte dem Fahrer einen 20-Mark-Schein in die<br />

Hand und sagte diesem, er solle das Geld schon jetzt nehmen, falls er wegkippen würde. Holt<br />

bekam im Unterbewusstsein noch mit, wie der Fahrer wirklich schnell zur nächsten<br />

Notaufnahme fuhr. Alles andere erlebte Holt wie durch einen Geräusch- und Sichtfilter. Er<br />

wurde von einer Krankenschwester oder Ärztin befragt, die etwas auf eine Kartei schrieb. Er<br />

bekam noch mit, dass sie ihm mitteilte, ein Notarzt würde sich demnächst um ihn kümmern,<br />

bis dahin solle er in einem Behandlungsraum auf einer Liege Platz nehmen. Nebenan, nur<br />

durch einen Vorhang getrennt, war der Notarzt damit beschäftigt, einem Patienten Glassplitter<br />

aus dem Gesicht zu ziehen. Das bekam er mit, weil der Arzt unaufhörlich auf seinen Patienten<br />

einsprach, ihm mitteilte, welchen Splitter, in welcher Größe, aus welchem Teil des Gesichtes<br />

er gerade entfernte. Holt nahm alles wahr und hatte seltsamerweise die Gabe, sich die<br />

Prozedur nebenan genau vorzustellen.<br />

Er war von sich so abgelenkt und nun, im Krankenhaus, fühlte er sich sicher. Auf<br />

einem Schlag wurde ihm bewusst, das dieses starke Herzklopfen und die fürchterliche Angst,<br />

zu sterben, wie weggeblasen waren. Nach über einer Stunde kam der Arzt zu ihm. Dieser<br />

fühlte seinen Puls, hörte mit seinem Stethoskop das Herz ab und fragte, wie er sich fühle,<br />

dabei schaute er auf das Aufnahmeformular auf einer Blechklemmtafel. Holt war es peinlich,<br />

sagen zu müssen, dass es ihm nun gut gehe, beziehungsweise, dass er sich wesentlich wohler<br />

fühle. Der Arzt zog sein Augenlid herunter und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in<br />

das Auge. Er kritzelte etwas auf das Formular. Dann schaute er Holt an.<br />

„Ich kann nichts Auffälliges oder Akutes entdecken. Sie machen zwar einen<br />

überanstrengten, aber keinen kranken Eindruck. Der Puls ist ein wenig zu schnell und den<br />

Blutdruck werden wir jetzt im Zuge des EKGs messen. Aber das macht eine Schwester.“<br />

Der Notarzt stand auf und war im Begriff, sich anderen Notfallpatienten zuzuwenden,<br />

als Holt sich genötigt sah, die Kompetenz dieses Arztes anzuzweifeln.<br />

„Das kann doch nicht wahr sein, vor einer Stunde war es mir, als ob ich den Löffel<br />

abgeben würde und Sie können nichts finden?“<br />

Der Arzt merkte, wie Holt an seiner Kompetenz zweifelte, und sah sich genötigt, mehr<br />

zu erklären, als er es vorgehabt hatte. Er glaubte auch den Beruf auf dem<br />

Einweisungsformular hinter Holts Namen gelesen zu haben und hielt es für möglich, einen<br />

Kollegen vor sich zu haben.<br />

„Was für ein Arzt sind Sie?“<br />

„Ich bin Jurist und habe mit Medizin nur mit der Pathologie zu tun gehabt,“ erklärte<br />

Holt.<br />

Erleichtert, keinen querulanten Kollegen vor sich zu haben erklärte er Holt: „Auch<br />

wenn sie sich jetzt wohl fühlen beziehungsweise keine Beschwerden haben, kann es so sein,<br />

dass sie noch vor einer Stunde glaubten, sterben zu müssen. Viele psychische Belastungen<br />

wirken sich physisch aus, das heißt, durch hohen und andauernden Stress treten Symptome<br />

auf, die wie organische Beschwerden erscheinen.“ Er tippte auf seine Stirn und fuhr fort: „Es<br />

ist oftmals alles nur hier im Kopf, also in der Psyche. Sie glauben sie stehen vor einem<br />

Herzinfarkt, aber es ist nicht so. Ihr Herz ist das eines Ochsen, damit können sie hundert Jahre<br />

alt werden.“<br />

„Bei so einem Elend noch fünfundvierzig Jahre leben zu müssen, halte ich wohl nicht<br />

aus,“ erwiderte Holt.<br />

„Sehen Sie, das ist ihr Problem, sie glauben sich elend fühlen zu müssen und wenn das<br />

auf längere Zeit geht, wird das eingebildete Elendsgefühl wirklich wahr. Dann ist es<br />

organisch.“<br />

„Können sie mir nicht etwas zur Beruhigung geben?“<br />

„Nein, das ist überhaupt nicht notwendig. Aber wenn es sie beruhigt, gehen sie in eine<br />

Kneipe und trinken sie ein Bier. Das ist ausreichend genug.“<br />

93


Holt war erstaunt, ein Arzt gab ihm die Empfehlung, Bier zu trinken. Schnell kam ihn<br />

die Einsicht, dass dies wirklich ein guter ärztlicher Ratschlag sein musste. Um sicher zu<br />

gehen, konnte er sich nicht verkneifen, dem Arzt beim Hinausgehen noch zu fragen, ob es<br />

auch zwei oder drei Bier sein könnten. Der lachte nur und sagte, „Ja, aber nicht mehr!“<br />

Vier Wochen später begann das ganze Theater von Neuem. Diesmal saß er in einer Kneipe<br />

beim, vom Arzt verschriebenen, Biertrinken. Er hatte seine drei Nervenberuhiger schon hinter<br />

sich, als es ihm mit einem Mal wieder so elend wurde, das Herz zu rasen anfing und Gevatter<br />

Tod sich scheinbar ankündigte. Diesmal war ein anderer Gast bereit, Holt in die gleiche<br />

Klinik zu fahren. Wieder war in der Klinik alles verflogen, als er im Behandlungszimmer auf<br />

der Liege lag. Gott sei Dank kam ein anderer Notarzt, der jedoch auch die alten Unterlagen<br />

bei sich hatte. Diesmal war es Holt wirklich peinlich, was er auch dem Arzt sagte.<br />

„Mir geht es immer so mies, weil ich glaube, den Löffel abgeben zu müssen. Kaum<br />

bin ich hier, ist alles wie weggeblasen. Ich komme mir wie ein Hypochonder vor, ich habe<br />

wirklich etwas am Kopf.“<br />

Die Notärztin hatte alle Mühe, Holt davon zu überzeugen, dass er kein Hypochonder<br />

sei, forderte ihn aber auf, einen Kardiologen zu konsultieren. Es könnte sein, dass da doch<br />

etwas sei, was man hier bei einer oberflächlichen Begutachtung nicht entdecken könne.<br />

Diese beiden Geschichten hatte Holt Jewgeni erzählt, der aber der Meinung war, dass die<br />

Ärzte nur nichts entdeckt hätten. Also glaubte er nicht, dass Holt ohne Grund in Panik geriet.<br />

Aus Jewgenis Sicht war es ganz wahrscheinlich, dass Holt wieder einmal sein Herzflattern<br />

hatte, so wie Jewgeni sich ausdrückte. Dazu kam noch, dass Karin im Hasenstall Jewgeni<br />

brühwarm mitteilte, Holt habe eine Blondine aus Amerika angebaggert, diese abgeschleppt<br />

und sei schon dreimal mit ihr wieder zurückgekommen. Diese Mitteilung ließ in Jewgeni die<br />

Neugierde und die Befürchtung wachsen, dass Holt sich beim Sex überanstrengt haben könnte<br />

und seiner freundschaftlichen Hilfe bedürfe.<br />

Mit großen Augen starrte er Holt an, schaute über seine Schulter, um im Hintergrund<br />

etwas erkennen zu können.<br />

„Mensch Hans, du machst mir Sorgen, meldest dich nicht seit einer Woche. Hätte mir<br />

Karin nicht gestern Abend gesagt, dass du jetzt Minnedienst leistest, hätte ich darauf geachtet,<br />

ob nicht schon Maden durch das Schlüsselloch kriechen. Du hast mir mit deinem<br />

Herzklabastern ganz schöne Angst gemacht. In deinem Alter kann doch schnell was<br />

passieren. Du bist doch schon ein alter Mann.“<br />

„Halt die Klappe Jewgeni, du bist doch nur zwei Jahre jünger. Wer ist hier ein alter<br />

Mann?“ Komm rein und überzeuge dich davon, dass hier alles solide zugeht. Ich hätte dich<br />

sowieso morgen angerufen.“<br />

Der Abend war gelaufen. Jewgeni hatte sich festgesessen und Pauline begutachtet. Er<br />

schien von Pauline positiv beeindruckt zu sein, was er sie auch spüren ließ. Pauline mochte<br />

Jewgeni offensichtlich auch, der ihr gegenüber sehr höflich und zuvorkommend war. Holt fiel<br />

ein Stein vom Herzen, denn Jewgeni hatte schon zu oft einige seiner zeitweiligen<br />

Freundinnen, in deren Gegenwart, ohne sich zu genieren oder ein Blatt von dem Mund zu<br />

nehmen, madig gemacht, beziehungsweise sich unmöglich und offen ablehnend verhalten.<br />

Aus irgendeinem, für Holt unerklärbaren Grund, fand Jewgeni Pauline gut, da er ja dessen<br />

destruktive Neigung kannte. Nachdem der restliche Whisky von Jewgeni ausgetrunken, Holt<br />

dreimal den Aschenbecher voller Kippen geleert hatte, war Jewgeni, mit den Worten, noch ins<br />

Baloy zu fahren, aufgebrochen. Er hatte sie vorher jedoch aufzufordern, mitzukommen, was<br />

Holt jedoch dankend mit dem Hinweis, morgen früh mit Pauline nach Polen fahren zu wollen,<br />

ablehnte.<br />

94


Der Tag fing sehr gut an. Die Morgensonne schien ins große Wohnzimmer, in der Linde auf<br />

dem Hof zwitscherte eine Schar Vögel laut und freudig. Holt hatte Pauline länger schlafen<br />

lassen. Der Frühstückstisch in der kleinen Küche war bereits gedeckt. Um elf Uhr wollten sie<br />

zur polnischen Ostseeküste aufbrechen. Die Fahrt sollte über Stettin bis Kolberg gehen, dafür<br />

war eine Zeit von sechs Stunden eingeplant. Am Abend wollten sie im Hotel „New Skanpol“<br />

in Kolberg Quartier nehmen und bereits entspannt am Hafen den Sonnenuntergang<br />

bewundern.<br />

Bis um zwölf Uhr hatte der kleine Zeitungsladen, gegenüber der Straße, geöffnet. Holt<br />

beabsichtigte, noch das Wochenendlotto zu spielen. Direkt auf der Straßenmitte auf dem<br />

Zebrastreifen ereilte ihn das Schicksal. Als er, um die grüne Ampelphase noch zu erreichen,<br />

ein wenig schneller auf den Zebrastreifen lief, fuhr ihm ein stechender Schmerz durch die<br />

Wade, der ihn auf der Stelle lähmte. Er war nicht in der Lage, die Straße allein zu überqueren.<br />

Der von der Ampel freigegebene Autoverkehr kam durch Holt fasst zum Erliegen. Ein<br />

Autofahrer hielt zwangsläufig vor Holt, als er dessen schmerzverzehrtes Gesicht und dessen<br />

Unmöglichkeit, allein von der Straße zu kommen, bemerkte. Er stieg aus und half Holt auf<br />

den Bürgersteig. Holt hielt sich an einer Straßenlaterne fest und ließ den Autofahrer von<br />

weiteren Hilfsleistungen frei, der sich schnell verdrückte. Bis zum ungefähr zwanzig Meter<br />

entfernt liegenden Zeitungsladen brauchte er fasst fünf Minuten. Die drei Stufen<br />

hochzukommen, waren eine Tortour, was ihm jedoch mit viel Mühe gelang. Die Verkäuferin<br />

schaute Holt entsetzt an, als dieser um ein Glas Wasser bat, und um sich irgendwo setzen zu<br />

können. Ein weiterer Kunde half Holt, im Hinterzimmer Platz zu nehmen. Auf seine Bitte hin<br />

rief die Verkäuferin Pauline an, sie möchte doch bitte in den Zeitungsladen kommen und nicht<br />

vergessen, die Schlüssel abzuziehen. Holt war eingefallen, dass er keinen Schlüssel mithatte.<br />

Nach wenigen Minuten erschien Pauline, mit etwas bestürztem Gesichtsausdruck. Holt spielte<br />

schnell den Vorfall herunter und erklärte ihr, in wenigen Minuten wieder fitt zu sein. Er selbst<br />

glaubte nicht so sehr daran, es war ihm schon klar, dass in der Wade ein Muskelfaser gerissen<br />

sein musste. Mithilfe Paulines gelang es ihm, aus dem Zeitungsladen bis vor die Haustür zu<br />

kommen. Dort setzte er sich auf die Stufe und bat Pauline, Jewgeni anzurufen, der ihn in eine<br />

Klinik fahren sollte. Bereits nach zwanzig Minuten erschien Jewgeni mit seinem Wagen, lud<br />

Pauline und Holt ein und brauste zur Unfallklinik nach Steglitz. Die Erste Hilfe in der<br />

Benjamin Franklin Klinik verwies Jewgeni an eine Zweigstelle am Ostpreußendamm. Nach<br />

kurzer Zeit kam ein Arzt, der Holt nach den Umständen und der Art der Schmerzen befragte.<br />

Eine Röntgenaufnahme sorgte für Klarheit, es war nur ein Muskelfaserriss, wie Holt es auch<br />

angenommen hatte. Auf seine Frage, wann operiert werden sollte, lachte der Arzt und teilte<br />

dem erstaunten Holt mit, dass bis auf eine schützende Binde, die nur ein wenig Halt geben<br />

sollte, sowie einer schmerzlindernden Salbe, nichts Weiteres zu veranlassen war. Nach drei<br />

bis vier Wochen wäre wieder alles in Ordnung. Bis dahin würde er nur eine Stütze oder auch<br />

zwei Krücken benötigen. Diese bekam Holt gegen eine Kaution gleich mit. Als er aus dem<br />

Behandlungszimmer gehumpelt kam, musste er wohl einen so unglücklichen Eindruck<br />

gemacht haben, dass Jewgeni und Pauline laut lachten, sodass Holt aus Galgenhumor<br />

widerwillig einstimmen musste.<br />

Jewgeni, der ja wusste, dass Holt und Pauline nach Polen fahren wollten, bot sich als<br />

Chauffeur an und überzeugte beide, den Plan nicht fallen zu lassen, sondern nur um einen Tag<br />

zu verschieben. Am nächsten Morgen würde er sie nach Polen bringen. Er wolle ja sowieso<br />

wieder dort hin, um Zigaretten und Kraftstoff zu kaufen, was dort wesentlich billiger war.<br />

*<br />

Die Fahrt nach Polen am nächsten Tag verlief sehr gut. An der Grenze gab es keinen Stau und<br />

nach einem kurzen Halt hinter Stettin, den Erwin nutzte, seine Zigaretteneinkäufe zu<br />

95


erledigen, ging es weiter. Das Wetter spielte mit. Sonntags war auf den Straßen sowieso kein<br />

starker Verkehr. Der Geschäftsführer des Hotels, Kowalski, den Holt aus seiner beruflichen<br />

Tätigkeit in Polen schon längere Zeit kannte, hatte selbstverständlich umgebucht und für<br />

Jewgeni auch ein Zimmer reserviert. Das war zur Sommerzeit nicht so leicht, da im Juni in<br />

Polen gerade Hauptsaison war und alle Hotels und Pensionen oftmals ausgebucht waren.<br />

Pauline war von der Schönheit der Landschaft beeindruckt. Die Landschaft ähnelte der<br />

Mecklenburgs. Hügel und Seen, ausgedehnte Wälder, große Feldflächen und auf<br />

Telegrafenstangen, Schornsteinen und Häusergiebeln Störche, Störche und nochmals Störche.<br />

So viele Störche hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen. Oftmals waren bloß die<br />

Köpfe zu sehen, manchmal schauten über den Rand der riesigen Nester zwei oder drei<br />

Jungvögel hervor.<br />

Jewgeni schwelgte in Erinnerungen, er erzählte Pauline eine Reihe von<br />

Begebenheiten, die sich innerhalb der über zwanzig Jahre dauernden Freundschaft mit Holt,<br />

ereignet hatten. Überwiegend waren es Erlebnisse mit Frauen, die er Pauline jedoch so<br />

erzählte, als ob sie wie durch einen Zeitraffer manipuliert, erst gestern geschehen waren. Das<br />

wollte Jewgeni auch so. Holt wusste, dass er von diesen Erlebnissen zehrte und sie überall,<br />

passend und unpassend, zum Besten gab. Seine Zuhörer sollten den Eindruck vermittelt<br />

bekommen, dass er und Holt ganz verwegene und abenteuerlustige Frauenhelden seien. Es<br />

war Holt ein wenig peinlich, da Jewgeni es immer so hinstellte, dass er ja die Freiheit dazu<br />

gehabt, beziehungsweise sich diese genommen hatte, aber Holt oftmals gebunden war, was<br />

hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes stark verzerrt war und nicht immer den Tatsachen<br />

entsprach. Holt kannte diese Darstellungen aus Jewgenis Mund schon bis zum Erbrechen, gab<br />

es aber auf, im Detail immer darauf hinzuweisen, dass sich diese Erinnerungen auf einen<br />

Zeitraum, von fasst fünfundzwanzig Jahre erstreckten und die Essenz des halben Lebens eines<br />

Mannes darstellten. Holt musste zugeben, dass Jewgeni ein begnadeter Erzähler war, dass die<br />

Geschichten sich tatsächlich schlüssig und spannend oder lustig anhörten. An Jewgeni war ein<br />

Märchenonkel oder Schwadroneur verloren gegangen.<br />

Auf Kowalski konnte man sich verlassen. Die Zimmer waren reserviert, an der Rezeption<br />

kannte man Holt noch aus seiner Tätigkeit im Jahr vorher. Die Angestellte in der Rezeption<br />

war freundlich und richtete einen Gruß von Kowalski aus, der sich entschuldigen ließ, nicht<br />

beim Eintreffen der Gruppe anwesend sein zu können, er wolle aber noch am Abend mal kurz<br />

mit Holt reden. Nachdem man sich frisch gemacht hatte, schlug Holt vor, zum Hafen zu<br />

gehen und sich dort in eine der neu eröffneten Bars zu setzen. Jewgeni argumentierte, man<br />

könne nicht zu Fuß angelatscht kommen wie billige Touristen, man müsse mit seinem<br />

Daimler vorfahren. Holt war es egal, gab aber Jewgeni recht, die Polen achteten sehr genau<br />

darauf, wer zu Gast kam und vor allem, wie er ankam. Da die Möglichkeit bestand, dass die<br />

Bars voll waren, konnte man jedoch bei einem geschäftstüchtigen Barkeeper immer noch gute<br />

Plätze bekommen, denn der versprach sich von einem Daimlerfahrer mehr Trinkgeld.<br />

Jewgenis Befürchtungen waren aber unbegründet, die Bars am Hafen waren zwar gut besucht,<br />

aber nicht brechend voll. Die Preise im Vergleich zu Deutschland waren moderat und oftmals<br />

sehr günstig. Pauline verglich diese mit den Preisen in den USA und stellte lakonisch fest,<br />

dass sie sich für die Preise in West Palm oder Miami, hier viermal hätte betrinken können.<br />

Jewgeni gab an wie eine Tüte Mücken, er schob dem Bartender gleich zum Anfang<br />

einen 20-DM-Schein rüber und fragte, ob er Ballantines hätte, was der Bartender bejahte und<br />

mit einer Hand unter dem Tresen mit dem Whisky hervor kam. Jewgeni drehte den Daumen<br />

nach unten und der Bartender goss ein und schielte auf Jewgenis Daumen, bis dieser ihn beim<br />

Dreistöckigen nach oben drehte. Was für ein Angeber!, ging es durch Holts Kopf. Immer<br />

musste Jewgeni den Lebemann rauskehren, auch wenn er sein Geld vom Sozialamt bekam<br />

und durch Schwarzarbeit mit Restbeständen seiner ehemaligen Firma aufbesserte.<br />

96


„Was möchtest du trinken?“, wandte sich Holt an Pauline. „Ich schlage vor, du<br />

versuchst es einmal mit einem Orgasmus.“<br />

Pauline schaute Holt mit großen Augen an und vermeinte, sich verhört zu haben. „Du<br />

hast es aber sehr eilig, muss es denn hier sein, vor so vielen Leuten?“<br />

„Das ist ja gerade der Reiz an der Sache, je mehr Leute anwesend sind, desto mehr<br />

Freude macht es. Übrigens ist es nicht das, was du denkst, sondern ein geschichteter Drink<br />

mit drei Likörarten. Den kannst du getrost trinken. Er heißt Orgasmus, weil der Erfinder, beim<br />

Versuch diesen Drink zu kreieren, einen solchen bekommen haben soll.<br />

Holt bestellte für Pauline einen Orgasmus, dessen Begriff der Bartender kannte und<br />

ohne die Miene zu verziehen, auf den Tresen stellte. Für sich bestellte Holt ein Bier, aber<br />

gezapft nach deutscher Art. Dieser Hinweis war nötig, denn die Bars in Kolberg bedienten<br />

auch viele Engländer und Skandinavier, welche das Bier, wie die Amerikaner, furchtbar kalt<br />

und ohne Schaum verlangten. Holt sah in so einer Art gezapftes Bier eine Kulturbarbarei, dass<br />

es ihm immer schauderte, wenn er Engländer diese „Plörre“ trinken sah. Mit Getränken<br />

versorgt, schauten sie den ein- und auslaufenden Schiffen zu.<br />

Der Hafen war nicht sehr groß und ging zum Lande hin zu in einem Fluss über. Die<br />

Deutschen hatten im vorletzten Jahrhundert einen großzügigen Hafen angelegt. Die<br />

Hafenbefestigungen hatten den Krieg überlebt, sie stammten noch aus der Zeit der<br />

Napoleonischen Kriege. Der damalige deutsche Bürgermeister Nettelbeck hatte Kolberg zur<br />

Festung ausgebaut und Napoleon hatte sich die Zähne daran ausgebissen, bis die Festung<br />

letztlich wegen Mangel an Munition, Wasser und Verpflegung vier Monate später<br />

kapitulierte. Die Nazis glaubten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ebenfalls, die<br />

anstürmende Rote Armee aufhalten zu können. Der deutsche Kampfkommandant hatte zwar<br />

nachhaltigen Widerstand geleistet, aber solange, bis alle Zivilisten über den Seeweg Kolberg<br />

verlassen hatten. Der Unterschied war nur, dass Nettelbeck von Napoleon als mutiger Mann<br />

bezeichnet wurde und als freier Mann die Stadt verlassen konnte, der deutsche<br />

Kampfkommandant, ein Hauptmann, an dessen Namen Holt sich nicht mehr erinnern konnte,<br />

wurde nicht so ritterlich behandelt. Nach der Kapitulation der verbliebenen Handvoll<br />

deutscher Soldaten wurde der Hauptmann von den Sowjets als Nazi bezeichnet und<br />

dementsprechend schlecht behandelt. Er hat die Kriegsgefangenschaft zwar überlebt, kam<br />

aber erst als gebrochener und hinfälliger Mann als einer der Letzten 1955 aus der<br />

sowjetischen Kriegsgefangenschaft. Die Sowjets hatten es ihm übel genommen, dass er als<br />

guter Soldat die Zivilisten hatte entkommen lassen.<br />

Der Aufenthalt in der Bar machte allen Spaß. Ein paar Deutsche, Engländer und ein paar<br />

Polen unterhielten sich freundlich, tranken miteinander und machten Witze. Die jüngeren<br />

Polen sprachen fasst alle Deutsch oder Englisch. Es war keine Schwierigkeit mit<br />

Einheimischen in Kontakt zu kommen. Anfangs, während seiner Tätigkeit in der<br />

Nachbarortschaft Ustroni Morski, was in Deutsch übersetzt so viel wie Verstecktes Meer<br />

hieß, hatte Holt versucht, seine verbliebenen Russischkenntnisse anzuwenden und hatte auf<br />

Granit gebissen. Obwohl die Polen, fasst alle Russisch verstanden, hatten sie einfach nicht<br />

reagiert. Russisch war seit Mitte der 80er Jahre out, seit die unabhängige Gewerkschaft<br />

Solinarnozs Polen umgekrempelt und in die westliche Wertegemeinschaft eingeführt hatten.<br />

Wenn jetzt Ukrainer oder Russen aus Mangel, andere Sprachen sprechen zu können, Russisch<br />

sprachen, antworteten die Polen dennoch, weil sie wussten, dass die Osteuropäer noch<br />

schlechter dran waren als sie selbst. Obwohl nicht beliebt, wurden sie toleriert aber nicht<br />

selten, auch angefeindet.<br />

Das gleiche Phänomen hatte Holt im Verhältnis der Polen zu Deutschen beobachtet. Es waren<br />

keine, oder zumindest selten nur unterschwellige Ressentiments sichtbar. Sein ehemaliger<br />

97


Dolmetscher Marek hatte ihm einmal erzählt, dass die Deutschen auf die jetzt in den<br />

ehemaligen deutschen Ostgebieten lebenden Polen nicht böse sein sollten. Diese Polen waren<br />

selbst Vertriebene, sie kamen fasst alle aus dem ehemaligen polnischen Ostteil, der alten<br />

polnischen Ukraine. Mareks Eltern waren auch aus der Ukraine umgesiedelt. Von einem alten<br />

polnischen Haus westlich von Kiew in ein neueres und größeres deutsches Haus in Kolberg.<br />

In diesem Haus war alles noch vorhanden, Möbel, Hausrat, Gartengeräte und persönliche<br />

Gegenstände der ehemaligen deutschen Besitzer. Jahre nach der Inbesitznahme hatten seine<br />

Eltern beim Graben im Garten einen kleinen Tontopf mit Schmuck gefunden. Nicht sehr<br />

wertvoll, mehr persönliche Erinnerungsstücke. Mareks Vater hat diese Gegenstände bis 1982<br />

aufbewahrt, als eines Tages der uralte Vorbesitzer erschien und darum bat, nach fasst dreißig<br />

Jahren, noch einmal in sein altes Haus eintreten zu dürfen. Mareks Vater, der auch den<br />

Wunsch verspürte, noch einmal, bevor er starb, sein Haus bei Kiew betreten zu können, war<br />

gerührt und ließ den Deutschen ins Haus. Er hat diese Geste nie bereut, denn Krüger, so hieß<br />

der Vorbesitzer, hatte Mareks Eltern, bis er 1991 starb, zweimal nach Hamburg eingeladen<br />

und die Polen, wie alte Freunde oder Verwandte behandelt. Als Krüger nun bei Mareks Eltern<br />

in der Wohnstube saß, fiel dem Vater ein, dass er noch irgendwo den „Schatz“ aufbewahrte.<br />

Als er ihn Krüger übergab, war dieser vor Unglauben und Überraschung emotionell tief<br />

berührt, sodass dieser zu weinen begann, wobei Mareks Eltern ebenfalls weinen mussten.<br />

Krüger hatte nie geglaubt, diese Erinnerungsstücke an seine Eltern jemals im Leben wieder zu<br />

sehen. Er konnte sich auch nicht mehr erinnern, wer die Stücke im Garten vergraben hatte, es<br />

musste wohl seine bereits kurz nach dem Krieg verstorbene Schwester gewesen sein. Mit<br />

zittrigen Händen breitete er die Stücke vor Mareks Eltern aus und erklärte, wem diese einmal<br />

gehörten, wer sie getragen hatte und zu welchem Anlass sie in der Familie von der älteren<br />

Generation auf die jüngere Generation übergeben wurden. Er erklärte, dass er die<br />

Schmuckstücke seinem in Hannover lebenden Enkelsohn, dem jüngsten Mitglied seiner<br />

Familie, zu übergeben gedenke. Diese Geschichte war nachhaltig in Mareks Erinnerung<br />

geblieben, sodass er sie Jahre später, wie gestern erlebt, Holt erzählte.<br />

98


Zur Neuen Welt<br />

Paulines Zeitlimit war begrenzt; sie hatte nur noch eine Woche. Holt merkte an ihrer Unruhe,<br />

dass sie den Gedanken an die Abreise verdrängte, aber nicht in der Lage war dieses<br />

Unbehagen vor Holt zu verbergen. Er wusste, sie würde am Montag abfliegen, nur nicht<br />

genau, wohin, sie hatten darüber noch nicht gesprochen. Holt war bislang der Meinung<br />

gewesen, dass Pauline direkt nach Costa Rica fliegen würde. Am Abend zuvor teilte sie dem<br />

überraschten Holt mit, zuerst ihre Verwandten in Düsseldorf besuchen zu wollen, bevor sie<br />

über den Teich weiterflog. Sie hatte Holt diese Tatsache verschwiegen, damit er sich nicht<br />

zurückgesetzt fühlen sollte. Pauline wollte nicht, dass Holt glaube, ihre Verwandten wären ihr<br />

wichtiger. Holt hatte unaufgeregt reagiert.<br />

„Mach dir keine unnötigen Gedanken darüber. Ich verstehe es. Als du den Besuch<br />

zugesichert hattest, wusstest du doch noch gar nicht, dass du in Berlin den Mann deines<br />

Lebens kennen lernen würdest,“ meinte Holt ein wenig spöttisch, um ihr das Gefühl zu<br />

nehmen, ihm gegenüber schlecht zu handeln.<br />

„Woher weißt du, dass du der Mann meines Lebens bist, Großkotz Holt?“, fragte sie.<br />

„Nun ja, ich hab da so einfach das Gefühl, außerdem weiß ich ja auch, dass ich<br />

unwiderstehlich bin,“ antwortete er lachend, als er sie in den Arm nahm.<br />

Zusammen mit Jewgeni, brachte Holt Pauline zum Flughafen. Jewgeni, der keine<br />

Abschiedszeremonien mochte, setzte beide am Flugterminal ab und gab vor, einen Parkplatz<br />

suchen zu wollen, ließ sich aber nicht mehr an der Abfertigung sehen. Holt entdeckte ihn nach<br />

Paulines Einchecken am Tresen der kleinen Flughafenbar, beim Anbaggern einer südländisch<br />

ausschauenden jungen Frau.<br />

Noch vor dem Einstieg in die Maschine erschien Pauline noch einmal am<br />

Absperrgitter, mit Tränen in den Augen. Mit der rechten Hand stütze sie sich an der<br />

Plexiglasscheibe ab. „Hans, Danke schön für die schönen Tage. Ich werde sie nie vergessen.“<br />

Holt hatte einen Kloß im Hals und konnte nicht gleich antworten. Er schaute sie an<br />

und legte seine Handfläche auch an das Plexiglas, welches seine Hand nur drei Millimeter von<br />

Paulines trennte. „Ich auch Pauli! Ich werde die schönen Tage mit dir auch nicht vergessen.<br />

Costa Rica ist ja doch nicht so weit. Ich glaube, wir werden uns bald wieder sehen. Ich<br />

verspreche es dir.“<br />

Innerlich war er nicht davon überzeugt. Wann, oder besser, mit welchen Mitteln sollte<br />

er den Flug und die Übernachtungen aufbringen? Die Möglichkeiten Pauline besuchen zu<br />

können, waren so weit weg wie der Mond. Er sah sie an der Abfertigung vorbei gehend, im<br />

Tunnel verschwinden. Ein letzter Blick über die Schulter suchte Holt, der noch immer hinter<br />

der Absperrwand stand.<br />

Als Holt in der Pariser Straße ankam und seine Wohnung betrat, schien diese mit einem Mal<br />

leer zu sein. Leicht lag noch der Geruch von Paulines Parfum in der Luft, als ob sie noch<br />

anwesend sei, er glaubte in der Küche, ein Geschirrklappern gehört zu haben. Obwohl er<br />

wusste, dass dies nicht möglich sein konnte, schaute er dennoch in die Küche, in der gänzlich<br />

unwahrscheinlichen Hoffnung, Pauline dort anzufinden. Als Holt sich schlafen legte, war die<br />

Flasche Wodka bis zur Neige leer, so leer, wie er sich selbst empfand.<br />

Bereits am nächsten Vormittag klingelte das Telefon. Es war Paulines Stimme. „Hast du Lust,<br />

nach Düsseldorf zu kommen?“, wollte sie wissen.<br />

Holt hatte Lust, aber wie sollte er nach Düsseldorf kommen? Jewgeni! Der war sofort Feuer<br />

und Flamme, als er hörte, dass ihm die Reisekosten erstattet werden sollten und er sich ein<br />

ganzes verlängertes Wochenende schadlos halte konnte. Die Fahrt, über die A2 in Richtung<br />

99


Düsseldorf war, problemlos. Nur am ehemaligen Grenzübergang Helmstedt wurde noch<br />

gebaut und der Verkehr war zäh fließend. Dort „arbeitete“ man die Vergangenheit auf, indem<br />

zu den vielen überflüssigen Denkmälern ein neues hinzukommen sollte, das „Denkmal<br />

deutsche Teilung“.<br />

Paulines Verwandte wohnten in einem dreigeschossigen Reihenhaus am Rande der Stadt. Es<br />

waren freundliche Leute, die sich darüber freuten, dass Pauline wieder Anschluss am Leben<br />

gefunden hatte. Reinhard, der Cousin Paulines, war mit Lucy, einer Holländerin, verheiratet.<br />

Holt hatte bereits bei der herzlichen Begrüßung am Akzent erkannt, das Lucy aus Holland<br />

kommen musste. Der gemeinsame Sohn war bereits vor einigen Jahren flügge geworden und<br />

ausgezogen. Pauline und Holt wurden in dessen Zimmer, unter dem Dach einquartiert,<br />

Jewgeni hatte im Gästezimmer Platz gefunden. Der erste Abend endete mit einem fröhlichen<br />

Umtrunk.<br />

Jewgeni und Reinhard langten kräftig zu, was bei Lucy Missbilligung hervorrief.<br />

„Reinhard, schluck nicht so, denk an deine Gesundheit,“ forderte sie ihren Mann auf, sich<br />

etwas zu mäßigen.<br />

„Mach ich mein Liebchen, nur noch ein ganz kleines Schnäpperchen auf dein Wohl,<br />

ein Schnäpperchen auf Paulines Wohl, ein Schnäpperchen auf das Wohl von Hans ... und<br />

dann noch einen ... upps ... auf .....“<br />

„Reinhard, ich nehme euch die Buddel weg. Du hast morgen ein Turnier. Willst du<br />

vom Pferd fallen?“<br />

„Liebchen, kann nicht vom Pferd fallen,“ lallte er und fuchtelte mit seinen Händen vor<br />

Lucys Gesicht herum, „Ik sitz doch auf’n Bock, hast du das vergessen? Auf’n Bock von<br />

unserem Landauer.“<br />

Von Pauline erfuhr Holt, dass Reinhard schwer krank war und das beim Fortführen<br />

seines bisherigen Lebenswandel die Lebenserwartung auf null zuging. Auch Reinhard wusste<br />

dies, war jedoch der Meinung, dass ein Leben ohne Freude, und dazu zählte, er eben ein<br />

wenig „Danziger Goldwasser“, mit dem er ein Eisbein herunter spülen konnte, kein<br />

lebenswertes Leben mehr sei. Nur um Lucy nicht traurig zu stimmen, hielt er sich ein wenig<br />

zurück, um es bei passender Gelegenheit wieder nachzuholen. Heute war so eine Gelegenheit.<br />

Der nächste Morgen war klar und kalt. Das Turnier fand nicht weit vom Haus entfernt statt.<br />

Pauline und Holt, mit Jewgeni im Schlepptau, gingen nach einem reichhaltigen Frühstück,<br />

den Weg zu Fuß. Reinhard war schon vorher aufgebrochen, um in den Stallungen für<br />

Ordnung zu sorgen und sein Pferd vor den Landauer zu spannen. Er war zünftig angezogen,<br />

sah aus, wie ein ostpreußischer Gutsherr. Über einer Lodenjacke trug er eine Weste aus<br />

Brokat, welche mit vielen silbernen Spangen versehen war. Die schwarze Reithose steckte in<br />

schwarzen Juchtenlederstiefeln mit breitem, braunem Rand. Auf dem Kopf trug er einen Hut<br />

mit seitlich angesetzter Hahnenfeder, in der rechten Hand hielt er eine Reitpeitsche, als er auf<br />

die Neuankömmlinge zutrat.<br />

„Na Ihr Langschläfer, seit ihr nun endlich aus den Federn gekommen?“, frotzelte er<br />

und zeigte keine Spur des vorabendlichen Gelages. Im Gegenteil, er machte einen sehr guten<br />

Eindruck mit rosigem Gesicht.<br />

Das Turnier fand jährlich im Juli statt, zur besten Sommerzeit. Aber heute war es<br />

außergewöhnlich frisch. Ein Tag, der besser in den Oktober gepasst hätte. Reinhard war als<br />

Vorstandsmitglied des örtlichen Reitervereins Mitorganisator des Turniers. Er wandte sich<br />

wieder seinen Pflichten zu, sodass Pauline, Jewgeni und Holt Gelegenheit hatten, sich die<br />

Teilnehmer der Veranstaltung und das angebotene Programm genauer anzuschauen.<br />

Zwischenzeitlich war es wärmer geworden, die Sonne wärmte nun so richtig durch und<br />

verscheuchte bei Pauline und Holt die Müdigkeit. Sie waren erst spät, weit nach Mitternacht,<br />

zum Schlafen gekommen.<br />

100


Die auf dem Festplatz aufgestellte Gulaschkanone erweckte bei Jewgeni Neugierde.<br />

Zuerst hatte er sie für ein Dekorationsstück gehalten, als er jedoch Qualm aus dem Ofenrohr<br />

aufsteigen sah und der Geruch einer Erbsensuppe sich auf dem Platz ausbreitete, zog es ihn<br />

magisch zur Kanone hin. Daneben wurden alkoholische Getränke ausgeschenkt. Pauline und<br />

Holt nutzten die Gelegenheit, an einem nahen Waldrand, an dem ein Flüsschen vorbei<br />

plätscherte, spazieren zu gehen.<br />

Nachdem sie schon eine Weile Hand in Hand gegangen waren, eröffnete Pauline das<br />

Gespräch, auf das sie sich vorbereitet hatte. „Du Hans, ich habe über uns nachgedacht. Du<br />

hier in Deutschland und ich in Mittelamerika, das ist doch nichts.“ Sie machte eine Pause und<br />

schaute dabei Holt an, der schweigend weiter ging. „Du hast mir erzählt, dass du ja mit dem<br />

ersten Beruf Handwerker bist und auch in diesem Beruf arbeiten kannst ... und Erfahrungen<br />

hast. Bei mir im Ressort .... „, sie machte eine Pause,“ ... gibt es eigentlich viel zu tun. Seit<br />

Jahren hat der Eigentümer nichts machen lassen.“ Nach einer weiteren kleineren Pause, „Ich<br />

könnte dich brauchen!“<br />

Das war es also, was Pauline so in den letzten Stunden bewegt hatte. Natürlich schön<br />

praktisch, dachte er, einen Handwerker auf dem Hof und einen Mann im Bett! Warum<br />

eigentlich nicht?, dachte Holt.<br />

„Meinst du das im Ernst?“, wollte er wissen. „Was sagt der Eigentümer dazu, wenn du<br />

mit einem Deutschen ankommst?“<br />

„Ich glaube, das ist ihm egal. Nach dem Managervertrag kann ich einstellen, wen ich<br />

will, sofern Personal notwendig sein sollte.“<br />

„Und du glaubst, ich kann unter deiner Fuchtel arbeiten?“<br />

„Was heißt hier Fuchtel, du willst bloß keine Frau zur Chefin haben, weil du ein verkappter<br />

Macho bist.“<br />

„Pauline bleibe auf dem Teppich. Ich habe hier mein Leben. Wenn ich die Zelte<br />

abbreche, muss ich noch viel erledigen.“<br />

„Wenn du mich liebst, erledige das, breche die Scheißzelte einfach ab.“<br />

Holt war von dem Angebot überrascht. Sie ist nur aus Liebe blind und weiß nicht, wie<br />

schwer es ist, sein Leben so gravierend zu ändern, dachte er. „Ich werde einmal darüber<br />

nachdenken, es ist keine schlechte Idee, aber vielleicht wird es hier in Deutschland wieder<br />

besser.“<br />

„Mag sein, dass es hier wieder besser wird, aber an der Tatsache, dass jeder von uns<br />

auf einem anderen Kontinent lebt, daran wird sich nichts ändern. Du hast hier nichts mehr zu<br />

verlieren, komm zu mir nach Costa Rica.“<br />

Die Trennung von Pauline war schwer. Jewgeni versuchte auf der Rückfahrt Holt durch blöde<br />

Witze ein wenig aufzumuntern, was nur teilweise gelang. Holt dachte an die<br />

Flaggenzeremonie in Reinhards Garten zurück. Am Anreisetag hing am Flaggenmast die<br />

Berliner Fahne, am zweiten Tag, in den USA war Unabhängigkeitstag, hingen Sterne und<br />

Streifen am Mast, am Abreisetag die Fahne Costa Ricas. Zwischendurch hatte Reinhard auch<br />

einmal die alte DDR-Fahne gehisst, die jedoch von Lucy mit den Worten, das man keine<br />

Toten beflaggt, wieder eingezogen wurde. Die Nachbarn rundherum holten dann immer bei<br />

Lucy die Erkundigungen ein, welche Premierminister oder Präsidenten sich den gerade bei<br />

Reinhard und Lucy zu Gast aufhielten, und aus welchem Land diese denn kämen.<br />

Zurück in Berlin nahm die Tristesse ihren Fortgang. Pauline war gut auf der anderen Seite des<br />

großen Teiches angekommen und nach kurzem Aufenthalt bei Freunden in Florida nach Costa<br />

Rica zurück gekehrt. Mehrmals in der Woche rief sie immer zur gleichen späten Abendzeit<br />

an. Um zweiundzwanzig Uhr herum klingelte immer das Telefon. Holt saß meistens noch vor<br />

dem Fernseher und sah sich die letzten Minuten eines oftmals spannenden Filmes an. Durch<br />

die willkommene Unterbrechung ging ihm jedoch stets das Ende des Filmes durch die<br />

101


Lappen, er erfuhr nie, ob sie den Mörder schnappten oder ob die Liebenden zueinander<br />

gefunden hatten. Nachdem er bereits bei mehreren Filmen das Ende verpasst hatte, rang er<br />

sich durch, Pauline zu bitten, immer eine halbe Stunde später anzurufen.<br />

„Na klar Hans, es macht mir nichts aus, dreißig Minuten später mit dir zu sprechen,<br />

aber kannst du mir sagen warum?“, wollte sie wissen.<br />

Wie blöd, dachte Holt. Was soll ich ihr darauf antworten. Ich kann doch nicht sagen,<br />

dass sie gefälligst bis zum Ende des Films warten solle. Er entschloss sich zu einer kleinen<br />

Notlüge.<br />

„Hier läuft am späten Abend auf dem Dritten immer eine politische Quizsendung. Für<br />

die Antworten werden Punkte vergeben. Ich mache da manchmal mit und die Auswertung<br />

erfolgt immer am Ende. Dann erfährt man, ob man mit den Antworten richtig gelegen hat.“<br />

„Und, hast du richtig geantwortet?, wollte Pauline wissen.<br />

„Pauline, das kann ich dir nicht sagen, du hast dann immer gerade angerufen.“<br />

„Du willst damit sagen, meine Anrufe haben dich um das Vergnügen gebracht, zu<br />

erfahren, ob du ein Genie bist?“<br />

„Ja so ist es Pauli.“<br />

„Na, dann werde ich in Zukunft eben eine halbe Stunde früher anrufen. Komme ich<br />

damit deinen politischen Intentionen nach?“, wollte sie spitz wissen.<br />

„Nicht früher Pauli, später bitte.“<br />

„Geht in Ordnung, wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann.“<br />

Fortan konnte Holt seine Filme, auch die blödesten, bis zum Ende ungestört anschauen, bis<br />

Pauline anrief, wobei sie sich jedes Mal erkundigte, wie viele Punkte er denn diesmal im Quiz<br />

bekommen habe. Holt ärgerte sich ständig darüber, dass er seine kleine Notlüge weiter<br />

aufrecht erhalten musste, bis ihm seine eigene Flunkerei zu viel wurde und er Pauline reinen<br />

Wein einschenkte. Diese nahm es ganz gelassen und erklärte ihm, dass sie das deutsche<br />

Fernsehprogramm noch gut in Erinnerung habe, es gäbe um zweiundzwanzig Uhr auf dem<br />

Dritten gar keine Quizsendungen sondern nur Filme, er brauche also nicht weiter schwindeln.<br />

Sie vergab ihm für die Story zehn Punkte.<br />

Irgendwann im Spätsommer platzte Holt der Kragen. Am Morgen eines Montages hatte er nur<br />

Mahnschreiben im Briefkasten, mittags klingelte das Telefon. Es war ein Gerichtsvollzieher,<br />

der sich anmeldete. Als Holt noch am Nachmittag ein Fax bekam, indem ein Gerichtstermin<br />

zu seinen Gunsten platzte, war das Maß voll. Soll ich das alles noch weiter ertragen? Was<br />

soll ich hier noch? Er erinnerte sich an die Einladung Paulines, nach Costa Rica zu kommen<br />

und entschloss sich in einer Art explosiver Spontaneität, dieser Einladung nachzukommen.<br />

Bis zum späten Abend hatte Holt alle Versicherungen, seine Wohnung und alle noch<br />

laufenden Verträge unwiderruflich gekündigt. Die Kündigungsschreiben lagen im<br />

Postbriefkasten, es gab kein Zurück mehr.<br />

Diesmal wollte er anrufen. In Costa Rica klingelte das Telefon, als Holt Paulines Stimme<br />

vernahm, hatte er Sprachschwierigkeiten.<br />

„Hallo, wer ist da?“, hörte er in englischer Sprache. „Hallo?“<br />

Holt hatte die Sprache wiedergefunden. „Ich bin’s, Hans.“<br />

„Hans ist etwas Schlimmes passiert?“, wollte Pauline ängstlich wissen.<br />

„Nein, mir ist nichts passiert, du kannst beruhigt sein. Nur ... ich habe jetzt die<br />

Schnauze voll, ich nehme deine Einladung an, ich komme zu dir nach Costa Rica.“ Holt hörte<br />

auf der anderen Seite ihren Freudenschrei.<br />

„Ist das dein Ernst?“<br />

„Ganz ernst, ich habe alles zum 30. September gekündigt, zu deinem Geburtstag<br />

werde ich bei dir sein. Meine Maschine geht am 1. Oktober.“<br />

102


*<br />

Die Auflösung eines Hausstandes ist nicht leicht. Nicht das Einordnen in Kategorien, wie<br />

„Wegwerfen“, „Aufbewahren“, „Verschenken“ oder „Verkaufen“, sondern die Kraft eine<br />

Entscheidung zu fällen, was nun in diese Kategorien eingeordnet werden sollte. Holt fand,<br />

dass die scheinbar einfachsten Entscheidungen, oftmals die schwersten waren. Die kleinsten<br />

Dinge, die er aussortierten wollte, sei es alte Geldscheine aus der Inflationszeit, alte<br />

Erinnerungsfotos, tausendmal gelesene, schon unansehnliche Bücher, machten die<br />

Entscheidung unendlich schwer. Er konnte sich oftmals nicht von den mit Erinnerungen<br />

behafteten Stücken trennen, sodass der Stapel „Aufbewahren“ immer größer wurde.<br />

Mitnehmen konnte er jedoch auch wieder nicht seine gesamte Vergangenheit. Er stand vor<br />

einem Dilemma. Also fing er von vorne an. Der Stapel „Aufbewahren“ war riesengroß, also<br />

sortierte er nach „Gute Erinnerungen“ und „Schlechte Erinnerungen“. Am Schluss dieser<br />

Aktion war der neue Stapel immer noch so groß wie vorher der alte, denn er hatte an all<br />

diesem Kram „nur“ gute Erinnerungen. Oder trübte ihn da die Erinnerung? Also anders an die<br />

Sache heran: Welche Gegenstände erinnern dich an eine bestimmte Zeit? Waren mehrere<br />

Erinnerungsstücke einer bestimmten Periode zuzuordnen, so sollten die nicht ganz so<br />

wertvollen Stücke aussortiert werden, bis von jeder Erinnerungszeit nur noch ein Stück übrig<br />

blieb. Also, nochmals von vorne anfangen! Am Ende dieser Aktion war der Stapel nur<br />

unwesentlich kleiner. Holt hatte seine Erinnerungen in genau so viele Etappen aufgeteilt, wie<br />

er Erinnerungsstücke hatte. Nur ein Buch, was er einmal zu Weihnachten doppelt geschenkt<br />

bekommen und vergessen hatte, umzutauschen, landete auf einem anderen Stapel. Holt gab es<br />

auf, nachdem ihm sein Sohn versichert hatte, dass sein Keller groß genug für sein Gerümpel<br />

sei und er selbst feststellte, auch genug Umzugskartons, zum Einlagern seiner Vergangenheit,<br />

zu haben.<br />

Möbel sollte man nicht mit über den großen Teich nehmen, es sei denn, sie hätten so einen<br />

Wert, dass sich die Museen danach reißen würden. Also, welches Museum auf der anderen<br />

Seite des Ozeans würde ganz theoretisch sich für welches Möbelstück interessieren? Nach<br />

einigen Überlegungen entschied Holt, „keines“, obwohl einige Möbel alt und wertvoll waren.<br />

Holt hatte sie im Laufe der Jahre als unansehnlich und ramponierte Altmöbel aus Großmutters<br />

Zeiten erworben und selbst fachgerecht restauriert. Danach waren sie wieder ansehnlich und<br />

hatten bei manchem Besucher Begehrlichkeiten geweckt, was jedoch nicht hieß, dass diese<br />

Möbel auch im Schloss Charlottenburg hätten stehen können. Also, alles an einen<br />

Antiquitätenhändler verkaufen und einiges an die Sippschaft verschenken.<br />

In der Nähe seiner Wohnung hatten sich mehrere Antiquitätenhändler oder Händler, die sich<br />

dafür hielten, etabliert. Diese besuchte Holt und bot seine Möbel en bloc an. Einige Händler,<br />

die sich spezialisiert hatten, winkten von vorneherein ab, andere boten unverschämt niedrige<br />

Preise, dass der Verkauf der Möbel als Brennholz lukrativer gewesen wäre. Bei einem<br />

Händler, mehr Trödler, wurde sein Angebot akzeptiert. Dieser kam auch zwei Tage später in<br />

Holts Wohnung zur Besichtigung. Holt, der wusste, dass die Möbel unter Freunden einen<br />

Wert von ungefähr hunderttausend Mark hatten, wäre schon mit fünfzigtausend Mark heilfroh<br />

gewesen. Als der Trödler ihm für Alles nur achtzehntausendfünfhundert Mark anbot, war er<br />

sichtlich enttäuscht und bat diesem um eine Entscheidungszeit, in der er sich noch<br />

herumhören wollte um andere Angebote abzuwarten. Nach einer Woche des Herumlaufens,<br />

von einem Händler zum anderen, schien ihm das Angebot von achtzehntausendfünfhundert<br />

Mark als das beste. Notgedrungen willigte er ein und vereinbarte die Abholung der Möbel<br />

zum 25. September.<br />

103


Am 22. September rief Karin vom Hasenstall an und fragte nach, ob Holt am Abend vorbei<br />

kommen würde. Er verneinte und antwortete, dass er an sich einen Termin mit seinem Sohn<br />

hätte.<br />

„Hans komme doch bitte vorbei,“ bat sie, sie wusste, dass Holt am 1. Oktober<br />

Deutschland verlassen wollte. „Einige Stammgäste wollen sich von dir verabschieden und ich<br />

habe denen mitgeteilt, dass du sicherlich kommen würdest.“<br />

„Na ja, das mit meinem Sohn kann ich ja auch verschieben. Ich werde so gegen Sieben<br />

da sein.“<br />

Karin schien zufrieden. „Okay Hans, wir sehen uns dann heute Abend.“<br />

Als Holt die Passage zum Hasenstall betrat, glaubte er eine Frau in der Eingangstür zum<br />

Hasenstall verschwinden zu sehen, die entfernt Ähnlichkeit mit Pauline hatte. Aber es war nur<br />

ein flüchtiger Eindruck. In der Bar waren tatsächlich einige Stammgäste und Jewgeni, der<br />

Holt, wie alle anderen, erwartungsvoll anschaute.<br />

„Der Auswanderer, der Auswanderer!“ schlug es ihm vielstimmig entgegen.<br />

„Einen roten Teppich hättet ihr ja auch ausrollen können,“ sagte er und ließ sich auf<br />

einem Barhocker, den Rücken zum Raum hin, nieder. Ein Glas Bier mit einer roten Schleife<br />

stand schon bereit. Als Holt sich das Bier greifen wollte, glaubte er ein Parfum zu riechen,<br />

welches er in der Erinnerung mit Pauline verband. Zwei Hände legten sich von hinten vor<br />

seine Augen und eine bekannte und vertraute Stimme hinter ihm fragte,<br />

„Rate mal, wer ich bin?“<br />

Holt schwang herum und schaute in das strahlende Gesicht Paulines, er umarmte und<br />

küsste sie. Erst als das Klatschen der Gäste zu laut wurde, ließ er von Pauline ab, die nach<br />

Luft rang.<br />

„Das ist natürlich eine gelungene Überraschung,“ sprach er in die lachende Meute<br />

hinein, immer noch Pauline fest an sich gedrückt im Arm haltend.<br />

Es gab aber noch einige unangenehme Überraschungen. Einen Tag vor der versprochenen<br />

Abholung der Möbel rief der Trödler an. Er teilte mit, dass er die Möbel nicht für die<br />

vereinbarte Summe kaufen könne, er habe sich im Markt umgehört, die Preise seinen im<br />

Keller und er könne nur fünftausend Mark dafür zahlen. Holt war wütend, er antwortete, dass<br />

er die Möbel eher zerhauen und verfeuern würde, als diese an ihn für diesen Preis praktisch zu<br />

verkaufen.<br />

Pauline zeigte sich als echte Verkäuferin, innerhalb von zwei Tagen waren alle Möbel<br />

noch für neunundzwanzigtausendsiebenhundertfünfzig Mark verkauft. Der restliche Hausrat<br />

war verteilt. Am Nachmittag des 28. September war die Wohnung besenrein, die Schlüssel<br />

bei der Hausverwaltung abgegeben und der Rest war in zwei riesigen Überseekoffern<br />

verstaut.<br />

Am Sonntag erfolgte für Holt die letzte staatsbürgerliche Handlung. Er ging zur<br />

Bundestagswahl, konnte die Abwahl des Dicken aus Oggersheim jedoch nicht mehr<br />

verhindern. Ein Mann, nur ein halbes Jahr älter, mit ähnlichem Werdegang und ähnlicher<br />

Vergangenheit wollte neuer Bundeskanzler werden: Gerhard Schröder. Dieser bekam aber<br />

nicht Holts Stimme.<br />

104


Erste Eindrücke in der Neuen Welt<br />

Die Düsen der Boing setzten mit einem Mal ihren Betrieb mit einem dumpferen Laut fort.<br />

Holt schreckte von seinem Halbschlaf hoch und griff an Pauline vorbei zum Fensterrollo und<br />

ließ es hochschnellen. Außer dem am Ende der Flügel blinkenden Positionslampe und<br />

Nebelfetzen, die durch den Flügel zerrissen wurden, war nichts zu sehen. Das Flugzeug<br />

befand sich fühlbar im Landeanflug, ging tiefer und tiefer. Das klappende Geräusch beim<br />

Ausfahren des Fahrwerks weckte auch Pauline auf, sie schaute ebenfalls hinaus.<br />

„Es ist nur eine graue Waschküche“, murmelte Holt, „es ist nichts zu erkennen.“<br />

„Warte noch ein wenig“, antwortete Pauline leise, „wir sind noch über dem Gebirge,<br />

wenn wir ins Tal kommen, wirst du die Häuser und wenn es noch dunkler wird, ein riesiges<br />

Lichtermeer sehen.“<br />

Sie waren vor über drei Stunden im hellen Sonnenschein von Miami abgeflogen, der<br />

Küstenstraße A1A in südlicher Richtung bis zu den Florida Keys folgend. Auf der<br />

Floridastraße waren vereinzelt Frachter und Segler zu sehen gewesen, die durch die leicht<br />

schäumenden Wellen ihre Bahnen zogen. Schon nach wenigen Minuten waren sie über Kuba.<br />

Dort lag das Land, wo der grau gewordene Maximo Lider in seiner olivefarbenen Uniform<br />

über das Schicksal seines Volkes bestimmte. Holt hatte ihn lange nach dem<br />

Schweinebuchtdesaster und der Kubakrise, in Ostberlin während der Feiern zum zwanzigsten<br />

Jahrestag der DDR gesehen. Er stand von ihm, nur fünf Meter entfernt, am Ehrenmahl Unter<br />

den Linden: Fidel Castro. Hatte er damals auch Che Guevara gesehen? Er war sich nicht<br />

sicher, ob das Idol seiner Jugend damals noch lebte und er auch in Ostberlin war. Es war<br />

schon so viele Zeit vergangen, die Bilder in seiner Erinnerung waren nur noch schemenhaft<br />

und unvollständig. Dort lag Kuba, das Land, was ihn schon immer fasziniert hatte. Nun flog<br />

er darüber hinweg.<br />

Der Flieger machte eine leichte Linkskurve und kippte schräg nach unten ab. Plötzlich<br />

zerrissen die Wolkenfetzen und es tauchten im Grau der Abenddämmerung viele kleine<br />

leuchtende Perlenketten auf, die beleuchteten Straßenzüge von San José, der Hauptstadt von<br />

Costa Rica. Das gesamte Tal leuchtete und schimmerte in einer Kaskade von abertausenden<br />

Lichtpunkten, bis an die Gebirgshänge hoch, wo die Lichterketten spärlicher wurden und sich<br />

in der Dunkelheit verloren. Holt war beeindruckt von dieser grandiosen Aussicht. Pauline<br />

zeigte auf einen besonders großen Lichtpunkt.<br />

„Dort ist das Hotel Marriott. Bis zur Villa Belén sind es dann noch fünf Minuten mit<br />

dem Auto. Ty und Ed werden sicherlich schon am Flughafen warten.“<br />

Hinsichtlich der großen Gepäckstücke besorgt, machte Holt sich Gedanken, wie er diese wohl<br />

transportieren, und vor allen Dingen, wie er diese durch den Zoll bekommen würde. Pauline<br />

hatte auch wirklich alles Brauchbare, was noch in die Koffer hineinging, in Berlin eingepackt.<br />

Der amerikanische Zoll hatte Pauline passieren lassen, als sie ihre Militär-ID von der Air<br />

Force vorzeigte und sie erklärt hatte, dass alles nur Umzugsgut sei. Würde sich der costaricanische<br />

Zoll auch durch dieser ID beeindrucken lassen? Er verdrängte seine Zweifel, er<br />

hatte bereits mitbekommen, dass Pauline ein unwahrscheinliches Organisations- und<br />

Mitteilungstalent hatte, was ihr Tür und Tor in kompliziertesten Situationen öffnete, wie zum<br />

Beispiel das Tor der Andrews Air Force Base bei Melbourne/Florida, durch das er, Holt,<br />

mithilfe Paulines, wie der Hauptmann von Köpenick gefahren war, ohne behelligt zu werden.<br />

Wider Erwarten interessiert sich der Zoll nicht für das Gepäck. Pauline brauchte weder ID<br />

noch Zollformulare vorzeigen. Bereits in Miami hatte Holt gesehen, wie einige Fluggäste der<br />

Fluglinie mit riesigem und sperrigem Gepäck angereist waren und dieses ohne Probleme und<br />

Nachzahlungen am Flugschalter abgegeben hatten. Pauline meinte, es sei immer so. Die Costa<br />

105


Ricaner würden mit fast leeren Koffern nach Florida reisen und überladen wieder zurück<br />

kommen, ohne dass jemand Anstoß daran nehmen würde. Dementsprechend war auch der<br />

Trubel an der Gepäckausgabe. Eine Menschentraube stand dicht gedrängt am Fließband, ließ<br />

niemanden näher heran. Erst nach über einer Stunde hatten Holt und Pauline die vier<br />

Gepäckstücke zusammengesammelt. Was ihn dann am Ausgang erwartete, raubte ihm die<br />

Sprache. Ein tobender und schreiender Pulk von Menschen drängte sich vor dem Ausgang.<br />

Alle wollten nur zwischen den drei Metern am Ausgang Platz nehmen, ein anderer Platz kam<br />

offensichtlich nicht in Frage.<br />

Holt hatte die schweren Gepäckstücke auf einen Wagen geladen, dessen Räder sich<br />

bedenklich nach außen neigten und furchtbar quietschten, dass dieses Quietschen sogar das<br />

Schreien der wie wild gewordenen Menschen übertönte. Pauline hatte hinter dem Pulk Ed und<br />

Ty entdeckt, die dort warteten, und gab diesen irgendwelche Zeichen. Nachdem Pauline sich<br />

durch die Menschenmassen gekämpft und Holt den Weg für den Wagen freigemacht hatte,<br />

trafen sie auf zwei, nicht unterschiedlicher sein könnende Männer: Ty und Ed. Ty war ein<br />

großer, hagerer und sehr elegant wirkender Mann mit weißen Haaren und einem markanten<br />

wettergegerbten Gesicht mit blauen Augen und einer schmalen, fasst adlig zu bezeichnenden<br />

Nase. Er hatte viele Jahre in Hollywood gelebt, war in einigen Wildwest- und Kriegsfilmen<br />

Partner von Ronald Reagan gewesen, bis er sich in Costa Rica niedergelassen hatte. Ed war<br />

das Gegenteil, auch groß, aber schwerfällig und behäbig, der Prototyp eines als gutmütig zu<br />

bezeichnenden menschlichen Teddybären. Dunkelbraune Haare, rundes offenes Gesicht und<br />

überall behaart wie ein Affe. Ed war Inhaber dreier Pässe. Er hatte einen Englischen, einen<br />

Spanischen und einen aus Belize, was daher kam, dass seine Mutter Spanierin, sein Vater<br />

Engländer und er in Belize geboren war. Irgendwann einmal hatte er Ty in San José im<br />

Spielkasino kennengelernt und sich dann in dessen Schlepptau begeben, weil er vom<br />

angeblichen Reichtum Tys zu partizipieren gedachte. Es hatte aber nicht so hingehauen, weil<br />

Ty „teid“ war, wie geizig im Englischen bezeichnet wurde, aber sie fanden sich gegenseitig<br />

sympathisch und waren Freunde geworden, beinahe Dick und Doof in Costa Rica, nur das Ty<br />

alles andere als doof war.<br />

Mitten auf der Auffahrt zum Ankunftsbereich stand ein großer, zerbeulter Van, der den<br />

weiteren Verkehr zum Erliegen brachte. Ed hatte sich, ohne um das Geschrei der Taxifahrer<br />

und Zubringer zu kümmern, diesen Platz ausgewählt. Er hatte in aller Seelenruhe, den Motor<br />

ausgestellt, die Türen verschlossen und die schreienden und hupenden Taxifahrer keines<br />

weiteren Blickes gewürdigt. Nachdem er und Ty Pauline umarmt und Holt mit festem<br />

Handschlag begrüßt hatte, zog Ed mit einer Hand, ohne erkennbare Mühe, den quietschenden<br />

Gepäckwagen in Richtung Van. Mit einer Hand hob er Paulines Superkoffer in den<br />

Gepäckraum, schob mit der anderen einen wild gestikulierenden Mann beiseite, wobei er<br />

diesen breit angrinste, der darauf hin nichts erwiderte und sich fluchend entfernte.<br />

Holt war froh, aus dem Flughafenbereich zu kommen. Auf der Fahrt nahm er die<br />

Umgebung wahr, meistens flache, einstöckige Häuser, die alle wie kleine Festungen mit<br />

einem Ring von Gittern umgeben waren. Dazu hatten alle Türen und Fenster zusätzliche<br />

Gitter.<br />

„Was ist hier los?“, wandte er sich an Pauline, „Das sieht aber merkwürdig aus. Solche<br />

kleinen Buden und so verbarrikadiert wie Forts. Ist das überall so?“<br />

„Nein!“, antwortete Pauline, „Nur hier im Central Valley ist alles so verrammelt. Hier<br />

ist das Zentrum der Kriminalität. Außerhalb von San José ist das nicht so sichtbar, auf dem<br />

Lande siehst du gar keine Gitter.“<br />

Neben den vielen Gittern war Holt aufgefallen, dass sich hinter jeden dieser Stahlpferche auch<br />

Hunde aufhielten, die Fußgänger und vorbeifahrende Autos wütend anbellten. Pauline sagte<br />

ihm, dieses sei die Ortschaft San Antonio de Belén. Belén ist der spanische Begriff für die<br />

106


iblische Stadt Bethlehem. Noch vor der Ortsgrenze zu Santa Aña lag am Rande einer tiefen<br />

Schlucht eine Hazienda mit Namen Villa Belén. Das war Holts Ziel, nach einer langen Fahrt<br />

über den Atlantik. Von der Straße bog Ed plötzlich, für Holt unerwartet, nach links ab, fuhr<br />

eine ungefähr zweihundert Meter lange Allee zwischen blühenden Bougainville auf einen<br />

überdachten Parkplatz. Wie aus dem Nichts erschien ein Mann mit indianischen<br />

Gesichtszügen. Oscar, der Gärtner begrüßte alle sehr höflich, indem er sich mehrmals<br />

verbeugte, und vor die Namen der ihm bekannten Personen stets Donna und Don vorsetzte.<br />

Holt sprach er mit Senior an. Ty gab Holt zu verstehen, er brauche sich um nichts zu<br />

kümmern. Hinter der großen, schweren Eingangstür wartete Sessil, ein ebenfalls indianisch<br />

aussehendes Hausmädchen. Sie hatte einen kleinen Serviertisch hingestellt, auf dem mehrere<br />

Gläser Champagner standen. Ty reichte Pauline und Holt je ein Glas. Ed und Sessil nahmen<br />

sich selbst eins.<br />

Auf Englisch begrüßte er Pauline und Holt ganz herzlich mit einer kurzen Rede.<br />

Pauline war freudig überrascht. Holt merkte, dass diese freundlichen Begrüßungsworte<br />

ehrlich gemeint waren, er hatte beide Männer sofort sympathisch gefunden, wie er auch das<br />

Personal als angenehm empfand. Beide, wie auch die Bediensteten, freuten sich, dass Pauline<br />

wieder da war und das Holt den Weg über den Ozean geschafft hatte, um hier ein neues<br />

Zuhause finden zu können.<br />

Oscar hatte inzwischen das Gepäck in eines der Gästezimmer gebracht und war dann<br />

verschwunden. Holt nutzte die Zeit, in der Pauline für die zwei Männer ihre<br />

Überraschungsgeschenke auspackte, um sich sein neues Domizil anzuschauen.<br />

Die Villa Belén war ursprünglich die Residenz des ehemaligen Präsidenten von Honduras, der<br />

hier einige Jahre im Exil verbracht hatte. Gebaut als typische mexikanische Hazienda mit im<br />

Karree liegenden Gebäudeteilen. An der Innenseite verliefen drei Meter breite, überdachte<br />

Arkaden. In der Mitte der Anlage befand sich ein großer Swimmingpool und am offenen Ende<br />

des „U“ eine riesige Bar. Der Barraum war mit einem Wasserfall und Goldfischteich<br />

versehen. Am unteren Ende, des großen „U“ befand sich der Wirtschaftsteil mit den zwei<br />

Küchen, dem Speisesaal, der Bibliothek und ein weiterer Speiseraum. Direkt am<br />

Arkadengang lagen die verschieden großen Gästezimmer.<br />

An der Arkadenecke zum Wirtschaftsteil stand ein riesengroßer abgedeckter<br />

Vogelkäfig. Als Holt die Abdeckung, eine bunte Indianerdecke, beiseitezuschieben versuchte,<br />

durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, irgendetwas hatte ihn in den Finger gebissen. Hinter<br />

der Abdeckung hörte er ein wütendes Zischen, was ihn bewegte, diesem Geräusch und dem<br />

Verursacher der Attacke auf den Grund zu gehen. Vorsichtig schob er die Decke beiseite und<br />

schaute in zwei wütend funkelnde schwarze Knopfaugen eines rot-grünen Papageis, der ihn<br />

boshaft anschaute.<br />

„Na, du bist mir ja ein richtiges Mistvieh,“ flüsterte Holt, „Wir werden uns schon<br />

vertragen, und wenn nicht, kommst du in den Suppentopf!“<br />

Vom Klang der Stimme ein wenig beruhigt, verdrehte der Vogel ein wenig den Kopf<br />

und steckte diesen unter einen seiner Flügel, als ob er sagen wollte „Du kannst mich mal!“<br />

Pauline hatte bislang im angebauten Verwalterhaus gewohnt. Auf einem der vielen Treffen<br />

der amerikanischen Gemeinde hatte sie zusammen mit Tom, ihrem vor über einem Jahr<br />

verstorbenen Mann, Ginger kennengelernt. Ginger war eine lebenslustige und<br />

aufgeschlossene Frau aus Los Angeles. Sie hatte irgendwann einmal Russel, einen<br />

Bauunternehmer aus Seattle, an der Westküste getroffen und sie waren zusammengeblieben.<br />

Als Russel vor ein paar Jahren die Villa Belén kaufte, um Geld an dem amerikanischen Fiskus<br />

vorbei zu bringen, war Ginger anfangs von Costa Rica begeistert. Ein schönes Land, viele<br />

Amerikaner ringsherum, in der Woche drei bis fünf Partys. Das war ein Leben, wie es Ginger<br />

gefiel. Als Russel jedoch nach der Winterzeit wieder in die Staaten fuhr, um Geld zu<br />

107


verdienen, aber Ginger in der großen Hazienda allein ließ, kippte die Situation. Sie war allein<br />

und fühlte sich auch so. Obwohl im Haus ständig andere Personen anwesend waren, überkam<br />

sie das Gefühl des Alleingelassenseins mit großer Wucht und sie begann, erst wenig und dann<br />

immer mehr, zu trinken. Diese Trinkerei verlagerte sie auch auf die Partys außerhalb. Im<br />

Countryclub Escazú traf sie auch auf Pauline, die gerade Witwe geworden war und die den<br />

plötzlichen Verlust ihres Mannes, durch Intensivierung der Kontakte zu anderen<br />

Amerikanern, ausgleichen wollte. Beide Frauen, die eine Witwe, die andere Strohwitwe,<br />

fanden sich sympathisch und trafen in der Folgezeit öfters zusammen. Manchmal blieb<br />

Pauline übers Wochenende bei Ginger in der Villa Belén und der Aufenthalt dehnte sich<br />

zunehmend auch auf die Woche aus. Ginger hatte von der Führung eines Ressorts keine<br />

Ahnung, sie vermietete nur sporadisch die Gästezimmer. Um Einnahmen brauchte sie sich<br />

nicht zu kümmern, da sie von Russel im Monat eintausend Dollar zum Leben bekam, die<br />

zusätzlichen Einnahmen aus der Vermietung konnte sie ebenfalls privat verbrauchen. Die<br />

Folge war, bis auf zwei Langzeitgäste stand das Ressort meistens leer, die Substanz verfiel,<br />

weil nichts erhalten und alles grau und unansehnlich wurde.<br />

Pauline sah sofort den schlechten Zustand, es tat ihr in der Seele weh, dieses an sich schöne<br />

Anwesen, so herunter gekommen zu sehen. Nachdem sie Ginger näher kennengelernt hatte,<br />

machte sie ihr den Vorschlag, sich doch intensiver um die Vermietung zu kümmern und einen<br />

Teil der Einnahmen für die Instandhaltung zu verwenden. Ginger traute sich jedoch solche<br />

Arbeit allein nicht zu. Pauline die über zwanzig Jahre in Berlin zwei Pensionen geleitet hatte,<br />

bot ihre Unterstützung an, die Ginger sofort annahm. Innerhalb von zwei Wochen hatte<br />

Pauline ihren alten Hausstand aufgelöst, die Einrichtung und Möbel verpackt und in die Villa<br />

Belén geschafft. Ginger gab ihr den Anbau, den sie in Aufrechnung für ihre Hilfe<br />

unentgeltlich nutzen konnte.<br />

Als erste Maßnahme verlangte Pauline von Ty Harden und Ed Cunningham, den<br />

Langzeitmietern, eine vernünftige Miete. Diese hatten bislang für einen unverschämt guten<br />

Mietpreis, den noch Russel in Unkenntnis der Kostendeckung gewählt hatte, in der Villa<br />

Belén gewohnt. Sie waren aber nicht enttäuscht, als Pauline mit der Mieterhöhung herauskam.<br />

Diese war dennoch moderat und lag weit unter den Mietpreisen, die Ty und Ed anderswo<br />

hätten bezahlen müssen.<br />

Im Countryclub und in der American Legion, einem Veteranenklub für ehemalige<br />

Angehörige der amerikanischen Streitkräfte, hatte Pauline Kontakt zu einigen Ehefrauen der<br />

Veteranen bekommen. Diese waren alle im fortgeschrittenen Alter und das Leben hatte bei<br />

vielen, wenn nicht bei allen, Spuren hinterlassen, die diese mit Hilfe von Schönheitschirurgen<br />

zu beheben oder zu vertuschen versuchten. Oftmals war zwar das Ergebnis dieser<br />

Bemühungen eine Art Mumifizierung der Gesichtshaut, dennoch waren viele dieser Frauen<br />

nicht davon abzubringen, sich „verschönern“ zu lassen. Aus diesem Kreis der Betroffenen<br />

kannte sie die Namen einiger der Schönheitsärzte. Sie kannte auch das Problem dieser Ärzte,<br />

für ihre Patientinnen, von der Umwelt abgeschlossene Unterkunftsmöglichkeiten zu finden.<br />

Nach dem chirurgischen Eingriff färbte sich das betreffende Körperteil erst rot, dunkelrot,<br />

danach blau bis ins Schwarze gehend. So gezeichnet wagte keine der betroffenen Frauen, in<br />

die Öffentlichkeit zu gehen, selbst nicht in das Hotelrestaurant oder den Zimmerkellner zu<br />

empfangen. Die Scham und die mangelnde Hospitalisierung der Patientinnen hinderte bei den<br />

Schönheitsärzten ein Aufblühen der Einnahmen.<br />

Dieses Problem hatte Pauline erkannt, die sich mit zwei dieser Ärzte in Verbindung<br />

setzte und diesen ein Angebot machte: Die Frauen konnten zu einem normalen Hotelpreis in<br />

der Villa Belén unterkommen, sie konnten dort voll beköstigt werden und der Arzt konnte sie<br />

dort zur Nachbetreuung aufsuchen. Das Wichtigste war jedoch, diese Frauen waren unter sich,<br />

sie brauchten sich nicht zu schämen oder zu verstecken. Von den Einnahmen aus dieser<br />

Vermittlung für die Unterkunft und der Vermittlung von Patienten wollten Pauline und<br />

108


Ginger vom Arzt zehn Prozent des Honorars. Beide angesprochenen Schönheitsärzte nahmen<br />

das Angebot begeistert an. Dadurch konnten sie ihren Umsatz verdoppeln, wenn nicht sogar<br />

verdreifachen.<br />

Aber es sollte anders kommen. Russel, der sein Tätigkeitsgebiet auch auf Costa Rica<br />

ausdehnen wollte, kam überraschend in die Villa Belén. Er verbreitete dort bei den Frauen<br />

Unruhe und beleidigte diese, indem er mit seinen „Geschäftsfreunden“ in die Hazienda einfiel<br />

und mehrere Sauforgien feierte. Bei diesen ging es hoch her, anwesende, von den Operationen<br />

gezeichnete Frauen, wurden mit abfälligen Worten über ihr Aussehen angepöbelt. Er ließ<br />

Ginger und Pauline wissen, dass „diese alten und hässlichen Vögel“ sein Wohlgefühl<br />

beeinträchtigten und sie doch dafür sorgen sollten, dass diese Weiber abhauen möchten. Nach<br />

einigen Tagen hatte er es geschafft, die Frauen hatten die Hazienda verlassen. Ginger griff aus<br />

Frust immer mehr zur Flasche und Pauline zog sich in ihr Apartment zurück, um den oft<br />

sturzbetrunkenen Russel und dessen Freunden aus dem Weg zu gehen.<br />

Die Situation wurde von Tag zu Tag gespannter. Ginger und Russel gingen sich aus<br />

dem Wege, jeder trank für sich allein oder im Kreis seiner jeweiligen Freunde. Pauline<br />

versuchte Ginger von der sinnlosen Trinkerei abzuhalten, erntete jedoch keine Dankbarkeit.<br />

Im Gegenteil Ginger kehrte ihre Aggressivität immer mehr gegen Pauline, die sich dies sehr<br />

zu Herzen nahm.<br />

Eines Nachts kam es zur Explosion. Als Russel Ginger wieder einmal gedemütigt und<br />

als Schlampe beschimpft hatte, rastete diese aus. Sie stürzte in ihr Zimmer und kam mit einer<br />

Pistole wieder, die sie sofort auf Russel abschoss. Nur der trunkene Zustand, der Ginger ein<br />

Zielen unmöglich machte, verdankte Russel sein Leben. Nachdem eine Vase und ein Spiegel<br />

zu Bruch gingen, brach Ginger zusammen. Am nächsten Tag verließ Russel Costa Rica, ohne<br />

sich mit Ginger wieder vertragen zu haben. Für Pauline aber brach die Hölle los. Ginger<br />

zwischen Frust und Trunkenheit hin und her gerissen, suchte als Sündenbock ihrer Situation<br />

Pauline aus und überschüttete diese mit ungerechtfertigten Vorwürfen. Als Ginger anfing,<br />

einen Container zu ordern, der auch prompt geliefert wurde; alle wertvollen Gegenstände zu<br />

verstauen begann, floh Pauline, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu Freunden. Als<br />

Sessil Pauline eine Woche später anrief, dass Ginger abgereist und die Villa Belén fasst leer<br />

sei, kam Pauline mit banger Erwartung zurück. Sie traf ein Schock. In der Tat, die Hazienda<br />

war fasst vollständig ausgeräumt. Selbst ihre eigenen Möbel, zumindest die, die im großen<br />

Aufenthaltsraum gestanden hatten, waren verschwunden. Ginger hatte sich schadlos gehalten.<br />

Als Pauline telefonisch Russel über den Stand der Dinge berichtete, bezichtigte dieser zuerst<br />

Pauline der Mittäterschaft. Später kam wohl bei ihm die Einsicht, das Pauline wohl nichts<br />

damit zu tun hatte und er rief bei der ratlosen Pauline an und entschuldigte sich. Da die Villa<br />

Belén nun ohne Verwaltung war, bot er Pauline einen Verwaltungsvertrag an. Gegen freies<br />

Wohnen und Essen, sowie fünfundzwanzig Prozent aus der zukünftigen Vermietung, bekam<br />

Pauline einen Geschäftsführervertrag, der sie auch zum Einstellen und Kündigen von Personal<br />

berechtigte.<br />

Zuerst war Pauline über diese Entwicklung zufrieden, dann kamen ihr aber Zweifel.<br />

Was würde geschehen, wenn Russel wieder wie ein Barbar in das Ressort einfallen würde?<br />

Wer würde sie entlasten, wenn sie selbst einmal ausspannen wollte? In dieser Situation fiel ihr<br />

eine Bekannte aus Boca Raton ein: Uschi, die viele Jahre als selbstständige Bar- und<br />

Hotelbetreiberin gearbeitet hatte. Nach einigen Anrufen und einer Bedenkzeit sagte Uschi zu,<br />

die nächsten Monate zur Probe zu arbeiten.<br />

109


Villa Belén<br />

Langsam zog der Himmel zu. Zuerst schoben sich noch zerrissene Wolkenfetzen vor die<br />

Sonne, die sich nach und nach zu einer geschlossenen Wolkenbank verdichteten. Die<br />

Luftfeuchtigkeit wurde spürbarer. Über den Gipfeln der nördlichen Gebirgskette zogen<br />

dunkle, bedrohlich wirkende Wolkenfelder auf. Aus den hochgetürmten Wolken fiel eine<br />

breite Regenfront an den südlichen Hängen nieder. In der Ferne setzte ein dumpfes Grollen<br />

ein, welches Minute zu Minute näher kam und stärker wurde.<br />

Holt schaute auf die Uhr. In einer Stunde würde es hier heftig regnen, wie immer zu dieser<br />

Stunde in der Regenzeit. Rosita, die wasserscheue Papageiendame, krächzte und wackelte auf<br />

der Stange im Käfig unruhig hin und her, sie spürte den kommenden Regen. Auf dem Rasen,<br />

beim Swimmingpool, lagen noch einige Holzteile, die vor dem bald einsetzenden Regen<br />

gerettet werden mussten. Holt hatte sie dort am Morgen ausgebreitet, um aus der Vielzahl der<br />

verbogenen Holzteile die besten heraussuchen zu können. Pauline hatte ihn jedoch davon<br />

abgehalten. Im großen Aufenthaltsraum hatte Ed Cunningham aus Versehen eine Steckdose<br />

herausgerissen, die wieder eingesetzt werden musste. Ed wollte einen CD-Player anschließen,<br />

dabei war er mit seinen großen Füßen an der Verlängerungsschnur hängen geblieben und<br />

hatte diese mitsamt der Steckdose aus der Wand gerissen. Als Ed die Steckdose wieder in die<br />

Wand hineindrücken wollte, bekam er einen Stromschlag.<br />

Pauline hatte den Wehlaut und das einsetzende Fluchen Eds gehört und war dem<br />

nachgegangen. Sie fand ihn wie einen begossenen Pudel, den Finger der rechten Hand im<br />

Mund haltend, unsicher vor dem angerichteten Schaden stehen.<br />

„So ein ungeschickter Blödmann!“, hörte sie auf Deutsch, eine ironische,<br />

schadenfrohe Stimme.<br />

In der Ecke rekelte sich der „lange Mike“ in einem Korbsessel und grinste Pauline und<br />

Ed an. Ed, scheinbar noch unter Schock, stand am CD-Player. Mike war durch das<br />

Herausreißen des Steckers beim Durchblättern einer Broschüre aufgeschreckt. Interessiert<br />

hatte er dem „Reparaturversuch“ Cunninghams zugeschaut. Er sah von seinem Platz aus die<br />

herausgerissenen, entisolierten Enden der Stromleitungen und wie sich die großen behaarten<br />

Pranken Eds um die Steckdose legten. Es war ihm klar, was in absehbarer Zeit geschehen<br />

musste. Genau beobachtend sah er, wie Cunningham mit seinen dicken Fingern die Steckdose<br />

wieder in die Aufnahme der Wand drücken wollte und dabei den Kabelenden immer näher<br />

kam. Als es kurz knallte und Cunningham vor Schreck und Schmerz mit einem Wehlaut<br />

hochschnellte, war auf seinem Gesicht ein zufriedener Ausdruck zu sehen. Es wäre für ihn ein<br />

Leichtes gewesen, Cunningham vom Reparaturversuch abzuhalten, aber er wäre dann um eine<br />

Freude beraubt worden, einen anderen Menschen leiden zu sehen. Pauline hatte davon nichts<br />

mitbekommen.<br />

„Die Engländer sind einfach zu blöd, einen Eimer Wasser auszuschütten, eher saufen<br />

sie ihn aus,“ wandte er sich in Deutsch an Pauline, damit Ed ihn nicht verstehen konnte.„Ich<br />

habe es kommen sehen, der Tollpatsch wollte die Dose wieder in die Wand drücken und hat<br />

die Leitungen angegrapscht, dabei hat er einen gewischt bekommen.“<br />

„Warum hast du ihn denn nicht abgehalten und geholfen? Du hast doch Ahnung von<br />

solchen Sachen.“<br />

„Mensch Pauline, dann wäre mir diese grandiose Vorstellung entgangen, die mir der<br />

Fettklops geliefert hat.“<br />

Pauline schaute den langen Mike verständnislos an. „Du bist doch wirklich ein<br />

falscher Hund,“ antwortete sie zornig. „Was hat Ed dir getan, damit du ihn dem Risiko<br />

aussetzt, durch einen Stromschlag zu Schaden zu kommen. Er hat es doch mit dem Herzen,<br />

dabei kann man doch draufgehen.“<br />

110


„Is er ja nich, was frisst er so viel, damit er so fett wird. Is es meine Schuld, wenn er<br />

alles allein machen will. Er hätte mich ja fragen können.“<br />

Cunningham hatte zwar an der Tonlage mitbekommen, dass Pauline dem langen Mike<br />

Vorwürfe machte, konnte aber nur ein paar Worte Deutsch verstehen. Brummend entfernte er<br />

sich, nachdem Pauline ihm sagte, dass Holt den Schaden schon reparieren würde. Sie traf Holt<br />

in der kleinen Bodega an, wo er gerade ein riesiges leeres Gurkenglas mit Schrauben sortierte.<br />

Er schaute kurz hoch und lächelte sie an.<br />

„Hans tue mir einen Gefallen und repariere eine Steckdose im großen Raum. Ed hat<br />

sich ein wenig ungeschickt angestellt und hat Stromschlag bekommen. Der lange Mike, der<br />

Deutsche, hat alles mitbekommen aber ihn nicht abgehalten. Er hat sich richtig gefreut.“<br />

„Was ist denn das für ein schräger Vogel?“ Ich habe ihn schon gestern hier gesehen,<br />

hat aber nicht mit mir gesprochen, erst recht nicht in Deutsch. Ist er ein Gast?“<br />

„Nein, er hat früher mal für Ginger, du weißt doch, das war die Freundin von Russel<br />

dem Eigentümer, als Buchhalter gearbeitet. Sie hat ihn aber gefeuert. Nun versucht er<br />

wahrscheinlich wieder durch Russel, diesen Job zurück zu bekommen. Er lungert hier<br />

manchmal rum, wartet auf Russel und versucht bei einigen Gästen neue Kontakte zu knüpfen.<br />

Er scheint aber eine Menge Ahnung von Computern und Fernsehen zu haben. Es kann nicht<br />

schaden, so einen Spezi zu kennen. Aber an die Bücher lasse ich ihn nicht mehr, davon werde<br />

ich Russel abraten, wen er mich fragen sollte.“<br />

„Warum ist er denn gefeuert worden?“<br />

„Er ist menschlich manchmal ein Ekel, wie eben die Sache mit Ed. Mike hatte hier mit<br />

seiner Freundin gelebt, die hat er in aller Öffentlichkeit schlecht behandelt. Das hat der<br />

Ginger und einigen Gästen nicht gefallen. Da er sich außerdem noch bei Russel einkratzen<br />

wollte, hatte er es sich ganz bei Ginger verscherzt, als sie zusätzlich noch mitbekam, dass<br />

Mike einige Abrechnungen nicht korrekt geführt hatte. Er hatte sich immer ein kleines<br />

„Zubrot“ gegönnt und die Zahlungen am allerletzten Tag oder auch verspätet erledigt, obwohl<br />

er das Geld schon von Ginger zur Bezahlung der Rechnungen bekommen hatte. In der<br />

Zwischenzeit hat er mit dem Geld gearbeitet und die Zinsen dafür eingesteckt.“<br />

„Das ist ja schon fasst kriminell.“<br />

„Ganz so schlimm ist er wohl doch nicht, es sind doch alles nur kleine Gaunereien.<br />

Das macht doch jeder hier in Costa Rica. Wenn man nicht genug kontrolliert, kann es schon<br />

passieren, dass man beschissen wird. Der lange Mike hat sich bloß den hier herrschenden<br />

Gegebenheiten angepasst.“<br />

Als Holt, bewaffnet mit Schraubenzieher und Polprüfer, im großen Raum erschien, saß Mike<br />

noch in der Ecke und studierte einige Broschüren. Er sah kurz auf und erwiderte Holts<br />

„Hallo“ mit dem amerikanischen „Hi“. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Holt sich suchend<br />

umschaute.<br />

„What do you look for?“, fragte er auf Englisch, “The fuse box is in the kitchen, right next to<br />

the door on the wall.”<br />

Obwohl sich Holt sicher war, dass Mike wusste, dass er Deutscher war, machte er das<br />

Spielchen mit. „Thanks, but you can speak German with me,“ und in Deutsch fortsetzend, “es<br />

ist leichter für mich, ich kann nicht so gut Englisch.”<br />

Mike legte die Broschüre beiseite und schaute Holt forschend an, er fixierte ihn mit<br />

seinen graublauen kalten Augen. Keine weitere Regung als Interesse war auf seinem Gesicht<br />

zu sehen. Er sah zu, wie Holt zur Küche ging, hörte das Klicken der Kippschalter am<br />

Sicherungskasten und nahm das Erlöschen der Leselampe an seiner Seite wahr.<br />

Zur Küche hin rief er „Es ist aus, kein Strom mehr, du kannst jetzt die Steckdose<br />

fixen.“, wobei er für das deutsche Wort reparieren den englischen Begriff nutzte.<br />

Nachdem Holt die Steckdose befestigt und Strom eingeschaltet hatte, ging er auf Mike<br />

zu und reichte ihm die Hand.<br />

111


„Mein Name ist Hans, ich bin der Freund von Pauline.“<br />

„Ich weiß, hab dich gestern hier schon rumlaufen sehen. Hab zuerst gedacht, der<br />

Geizkragen von Russel hat einen neuen Tico eingestellt.“<br />

Holt schaute Mike fragend an. „Tico? Was ist ein Tico?“ Holt konnte mit dem Begriff<br />

nichts anfangen, war es ein Bediensteter, eine Art Hausmeister?<br />

„Ticos sind die Masse der einheimischen Blödmänner hier. Ein Tico ist ein Mann, eine<br />

Tica ist eine Frau. Übersetzt heißt das ungefähr Der kleine, Nette, aber sie sind nich nett, klein<br />

ja, aber verschlagen und doof.“<br />

„Du scheinst nicht viel von den Ticos zu halten?“<br />

„Nein, wenn du so lange hier bist wie ich, dann wirst du auch dieser Meinung sein. Es<br />

gibt zwar Ausnahmen, aber nur ganz wenige.“<br />

„Also muss man sich im Umgang mit den Einheimischen vorsehen?“<br />

Mike grinste, zog ein verächtliches Gesicht, er schaute sich um und flüsterte ein<br />

schreckliches Deutsch, fasst, als ob er Holt ein Geheimnis anvertrauen wolle.<br />

„Vorsicht kann nich schaden, die Ticos sind nich mit viel Intellenz gesegnet, man<br />

muss sie nur kurz halten und immer kontrollieren. Hier kannst du nur Landsleuten vertrauen,<br />

die sich auskennen. Leute wie mich!“<br />

Holt vermeinte durch seine Worte eine Art Selbstempfehlung zu vernehmen, die Mike ihm<br />

anbot. Gleichzeitig fiel ihm die Geschichte mit den Rechnungen ein. Interessant dachte er, Du<br />

hast sicherlich von deinen Ticos schon einiges gelernt. Er lenkte das Thema auf technische<br />

Fragen, die hier in Costa Rica im Allgemeinen und in der Anlage im Besonderen anstanden.<br />

Seine Absicht war es, sich bestätigen zu lassen, dass Mike ein „Spezi“ in technischen Dingen<br />

sei, nicht ohne Hintergedanken. Das in der Anlage befindliche Kabelfernsehen hatte kein<br />

deutschsprachiges Programm, obwohl er im Angebotskatalog der Kabelgesellschaft das<br />

Programm der Deutschen Welle gesehen hatte. Als Mike bestätigte, dass man hier im Ressort<br />

auch dieses Programm erhalten kann, es nur eingestellt werden müsste, kam Holt zur Sache.<br />

„Wenn es so leicht ist, dann kannst du ja DW-TV einstellen. Er dauert ja wohl nicht<br />

lange und du scheinst doch Zeit zu haben.“<br />

Um sich als unbeholfener Laie hinzustellen und die Eitelkeit des Deutschen zu<br />

schmeicheln setzte er hinzu, „Du bist doch ein Spezi, außerdem kannst du fließend Englisch<br />

und Spanisch. Ich bin dagegen wie ein Neandertaler. Du kannst doch alles perfekt lesen, ich<br />

muss mit einem Wörterbuch arbeiten. Also helfe mir dabei, oder noch besser, stelle du den<br />

Sender ein, ich schaue zu, wie ein Spezialist arbeitet.“<br />

Mike schien durch das Hofieren geschmeichelt zu sein. Er langte zu dem kleinen<br />

Schraubenzieher, mit dem Holt die Steckdose befestigt hatte, ging zum Fernseher, rückte<br />

diesen von der Wand ab und fing an der hinteren Seite an einer Skala zu schrauben.<br />

„Ich weiß zwar, wie es gemacht wird,“ murmelte er für Holt noch verständlich vor<br />

sich hin, „und wie es hinhaut, aber nicht warum es geht.“<br />

Holt schwieg und schaute gebannt auf den Bildschirm. Eine Reihe von Sendern waren<br />

in einem Menü aufgelistet, ein Teil aktiviert und einige noch nicht.<br />

„Halt, wir haben ihn. ... Ja, es ist noch unter ... no ... eingestellt.“<br />

Mike ging zum Lesetisch und langte zur Fernbedienung. Er bediente diese und Holt<br />

sah, dass die Einstellfelder unter no und yes abwechselnd durch Mike betätigt und ausgewählt<br />

wurden. Nachdem er alles eingestellt hatte, drückte er mit einem selbstzufriedenen Lächeln<br />

Holt die Fernbedienung in die Hand.<br />

„Jetzt kannst du das deutsche Scheißfernsehen empfangen.“<br />

Holt war beeindruckt, Mike hatte genau drei Minuten für die Einstellung gebraucht. So<br />

viel Zeit hätte er allein schon für das erste Aufschlagen des Wörterbuches aufwenden müssen.<br />

Auch wenn der Lange nicht sonderlich sympathisch war, er hatte unbestritten ein Händchen<br />

für technische Sachen. Pauline hatte Recht, man sollte Mike als Spezi nutzen können.<br />

112


„Für deine Arbeit lade ich dich zu einem Bier ein, als Dankeschön.“<br />

Mike, der sich wieder zu seiner Broschüre setzte, schaute überrascht hoch, weil er von<br />

Holt wohl keine Einladung zu einem Drink erwartet hatte. Holt hatte das kurze Empfinden,<br />

dass Mike in umgekehrten Fall sich nicht dankbar gezeigt hätte.<br />

„Nein, Danke, ich trinke kein Bier.“<br />

„Dann einen Whiskey mit Coke oder auch Rum?“<br />

„Nein, nein, Danke, ich trinke überhaupt keinen Alkohol, oder ganz, ganz selten, nur<br />

zu Sylvester oder zum Geburtstag zum Anstoßen.“<br />

„Du bist ja ein Heiliger“, frotzelte Holt, „was kann ich dir denn dann anbieten? Einen<br />

Saft, eine Cola pur oder was?“<br />

„Ein Glas Milch macht es auch, da ist Kalzium drin. Kalzium ist gut fürs Hirn.“<br />

Kurze Zeit später schlürfte Mike genießerisch seine Milch. Er musste hier schon seit<br />

zwei Stunden gesessen haben und hatte sich durch Sessil, dem Hausmädchen, nichts bringen<br />

lassen. Holt sah, dass Mike Durst hatte und vermutlich auch Hunger.<br />

„Willst du auch was essen? Du siehst aus, wie ein wenig vernachlässigter<br />

Junggeselle.“<br />

Mike lachte kurz auf, etwas mit Bitternis. „Ja, Danke, wäre ganz gut. Ich habe ein<br />

riesiges Haus mit einem riesigen Kühlschrank, aber der ist immer leer. Seitdem mich Diana<br />

verlassen hat, diese Schlampe, komme ich nicht zum Auffüllen oder vergesse es einfach. Hab<br />

andere Probleme.“<br />

Nachdem Sessil für Mike Essen auf Kosten des Hauses gebracht hatte, wollte Holt<br />

nicht sofort zur weiteren Arbeit aufbrechen, obwohl das Heranziehen der Gewitterfront nicht<br />

mehr zu überhören war und die Bretter immer noch auf dem Poolrasen lagen.<br />

„Lebst du weit von hier?“<br />

Beim Kauen antwortete Mike zwischen den Bissen „In Bello Horizonte, da musst du durch<br />

Santa Aña und Escazú. Is eigentlich ein Ortsteil von Escazú. Liegt am Berg. Man hat eine<br />

schöne Aussicht. Von hier fährst du eine halbe Stunde in Richtung San José auf der Autopista<br />

und dann ab durch Escazú.“<br />

„Und da hast du ein ganzes Haus. Ist das nicht zu teuer?“<br />

„Ach was, nur dreihundert Dollar. Der Chinese, mein Vermieter, will am Haus nichts<br />

mehr machen. Er will es irgendwann einmal verkaufen. Es hat überhaupt keinen Komfort, ist<br />

aber geräumig und man kann was draus machen. Sind ungefähr hundertzwanzig<br />

Quadratmeter, Autoeinstellplatz und ein großer Garten. Alles sicher und vergittert, damit ich<br />

nicht beklaut werde.“<br />

„Von deinen Ticos?“<br />

„Ja, die Lumpen klauen alles. Einmal habe ich einen erwischt, der war gerade dabei,<br />

mit einem Wagenheber die Gitter an meinem Schlafzimmer auseinander zu drücken. Da habe<br />

ich das Geräusch gehört. Ich habe ihn noch laufen sehen und hinter ihm her geschossen. Ob<br />

ich ihn getroffen habe weiß ich nicht so genau, es war jedenfalls Blut am Zaun.“<br />

„Du hast eine Waffe?“<br />

„Ja, ganz legal, ich habe sie auf den Namen meiner Firma registrieren lassen. Darf sie<br />

im Haus, im Büro und im Auto mitführen und auch benutzen. Nur nicht offen auf der Straße<br />

mittragen. Die Bullen haben mir gesagt, wenn ich schießen muss, dann nicht nur ins Bein,<br />

nein voll draufhalten, den Kerl killen, sonnst hast du später die ganze Familie auf dem Hals.<br />

Gefährlicher als die Ticos sind die Nicos, da musst du erst schießen und dann später fragen, is<br />

besser so.“<br />

„Was sind denn Nicos, Superticos?“<br />

„Nein, das sind Nicaraguaner, kurz Nicos genannt. Die sind genauso verschlagen wie<br />

die Ticos, nur mutiger, weil sie bettelarm sind und nichts zu verlieren haben. Aber seitdem ich<br />

Lucky und Flaco habe, traut sich keiner mehr auf das Grundstück.“<br />

„Du kannst dir sogar Bodyguards leisten?“<br />

113


Mike lachte laut auf. „Nein, keine Bodyguards, es sind zwei Riesenrotties.“ Nachdem<br />

er Holts fragendes Gesicht sah, setzte er ergänzend hinzu, „Ein Rottweiler und ein Pointer, die<br />

zum Frühstück einen kleinen Tico fressen können. Lucky habe ich halb verhungert gefunden.<br />

Habe sofort gesehen, dass die bei gutem Futter eine Kämpferin sein kann. Sie hasst die<br />

Ticotypen, die müssen ihr Mal was ganz Schlimmes zugefügt haben. Die habe ich<br />

aufgepäppelt, sie ist nun die Glückliche, weil sie durch mich überlebt hat. Flaco habe ich aus<br />

dem Tierheim geholt, er war ganz schmal, eben flaco, wie es auf Spanisch heißt. Auch er hat<br />

die Veranlagung zum Kämpfer.“<br />

„Es freut mich zu hören, dass du ein guter Tierfreund bist.“<br />

„Quatsch, was heißt hier Tierfreund. Ich habe mit den Viechern einen Deal gemacht.<br />

Sie bekommen zu fressen und können unter dem Dachsims schlafen und als natürliche<br />

Gegenleistung bewachen sie mich und mein Grundstück.“<br />

„Na ja, ein wenig musst du schon Hunde mögen, für so berechnend halte ich dich auch<br />

wieder nicht.“<br />

Mike schaute Holt mit verkniffenen Augen an, ließ ein paar Sekunden verstreichen,<br />

bevor er antwortete. „Ich hasse Hunde und alles Viechszeug. Für mich sind das Angestellte<br />

oder bessere Sklaven, die das machen, was ich will und was mir nutzt.“<br />

Beim Aufräumen seiner Bodega dachte Holt über Mike nach. Dieser Mann machte auf den<br />

ersten Blick einen äußerst unangenehmen Eindruck. Leider verdrängte Holt diesen ersten<br />

Eindruck. Das sollte sich später als verhängnisvoll erweisen.<br />

114


Abgang Villa Belén<br />

Schulz kam nun öfters, er wartete auf Russel, um seine alte Anstellung eventuell wieder zu<br />

erhalten. Russel hatte sich für Ende Dezember angekündigt. Pauline stand mit ihm telefonisch<br />

in Kontakt. Auf ihr Verlangen hin, fünftausend Dollar für die notwendige Instandhaltung zu<br />

überweisen, antwortete dieser, sie möge das Geld nach und nach aus den laufenden<br />

Einnahmen entnehmen oder sie solle es aus ihren privaten Mitteln vorstrecken, sie würde es<br />

sofort nach seiner Rückkehr zurück bekommen. Die Einnahmen reichten aber nicht aus, damit<br />

konnte man nur Löcher stopfen, aber keine größeren Instandhaltungen finanzieren. Holt war<br />

bereit, die notwendigen fünftausend Dollar vorzustrecken. Diese gingen alleine für das<br />

Material drauf. Es war Holts Ehrgeiz, die Anlage bis Weihnachten so herzurichten, dass im<br />

neuen Jahr nur noch die Außenanlagen und der Tiefbrunnen überholt werden mussten. Am<br />

22. Dezember erledigte er die letzten Arbeiten. Villa Belén sah wie neu aus. Die Bodega war<br />

nun leer von eingekauften Baumaterialien, Holts Brieftasche ebenfalls.<br />

Am Abend brachte Pauline, zusammen mit Holt, Ed und Ty, die Bar in Ordnung,<br />

sodass sie zur gemeinsamen Weihnachtsfeier genutzt werden konnte. Zur Verbesserung der<br />

Atmosphäre platzierte Pauline auch einige kleinere Andenken, eine Wanduhr und Bilder aus<br />

Deutschland. Ed hatte einen Weihnachtsbaum organisiert, der sich nach genauer<br />

Begutachtung durch Holt scheinbar als Teil einer deutschen Friedhofshecke entpuppte. Seine<br />

Großmutter hatte Gewächse dieser Art als Buchsbaum bezeichnet.<br />

Holt passierte ein kleines, unerwartetes Malheur. Beim Reinigen des Goldfischteiches<br />

entdeckte Holt eine dicke Agakröte im Becken, die er mit etwas unsanfter Gewalt mithilfe der<br />

scharfen Seite eines Spatens am Boden des Beckens platt drückte und den Kadaver dann über<br />

die hohe Mauer auf das dahinter liegende freie Feld warf. Die Kröte hatte im Todeskrampf ein<br />

Sekret abgesondert, welches den Goldfischen nicht gut tat. Am nächsten Morgen schwammen<br />

sie alle, aber mit den Bäuchen nach oben, im Becken. Oscar, der Gärtner, den Holt zur Hilfe<br />

gerufen hatte, erklärte ihm, dass das Gift der Agakröte ein Pferd, mit Bestimmtheit aber einen<br />

Hund, töten könnte. Die Goldfische hatten es jedoch nicht überlebt, sie schienen nicht so<br />

widerstandsfähig wie ein Pferd zu sein. Noch bevor die Gäste vom Frühstück zurück waren,<br />

kam Holt auch mit neuen Goldfischen aus der Stadt zurück. Bevor er die Goldfische einsetzte,<br />

ließ er das alte, vergiftete Wasser ab, reinigte die Teichpflanzen und spülte die Steine<br />

sorgfältig ab. Nachdem er dies erledigt hatte, ließ er neues Wasser in das Becken und setze<br />

die Goldfische ein. Gespannt wartete er auf eine anomale Reaktion der Fische. Diese<br />

schwammen jedoch munter herum und stürzten sich auf das eingestreute Fischfutter. Als sich<br />

die ersten Gäste an den zwei Tischen am Wasserfall des Fischteiches niederließen, war die<br />

Fischwelt wieder in Ordnung. Keiner hatte etwas von der „Katastrophe im Goldfischteich“<br />

mitbekommen.<br />

Gegen Mittag erschien Schulz, und setzte sich im vorderen Teil der Arkaden, neben den<br />

Vogelkäfig, in dem Rosita Rabatz machte. Von hier aus konnte man den Swimmingpool<br />

überschauen. Er beobachtete, wie Ty und Ed badeten und der Kapitän, ein Engländer, der<br />

einmal Seemann war, auch zögernd, sich an seiner Frau klammernd, in den Pool ging. Er war<br />

schon ein wenig tatterich und musste sich auch am Geländer festhalten. Holt, der auch an der<br />

Sitzgruppe Platz genommen hatte, sah, wie Schulz die planschenden Gäste beobachtete.<br />

„Hab von Sessil gehört, dass ihr das Loch hinter der Küche bezogen habt,“ begann<br />

Schulz das Gespräch.<br />

Schulz meine das kleine Zimmer, welches ursprünglich für die Küchenmagd<br />

vorgesehen war. Holt hatte einen offenen Gang, der von der Küche zu den dahintergelegenen<br />

Räumen führte, durch eine schalldichte Wand abgetrennt, sodass das Zimmer, ein kleiner<br />

Abstellraum und ein Bad, als kleines Appartement zu nutzen waren.<br />

115


„Es reicht für uns aus Mike, es ist groß genug. Soll ja nur zum Schlafen sein, den Rest<br />

des Tages sind wir doch in der Anlage, wo doch Platz genug für uns ist,“ entgegnete Holt.<br />

„Dann wart erst einmal ab, bis Russel mit seinen Buddys wieder hier ist, dann habt ihr<br />

und die Gäste keine Ruhe mehr.“<br />

„Das glaube ich nicht,“ antwortete Holt, ohne davon recht überzeugt zu sein. „Warum<br />

sollte er das machen?“<br />

„Weil er ein Arschloch von Neandertaler ist, er säuft bis zum Umfallen und randaliert<br />

im Suff.“<br />

„Du scheinst ihn ja gut zu kennen.“<br />

„Nicht gut, aber ausreichend Hans. Ich habe ja hier schon einmal gearbeitet und auch<br />

gewohnt. Ich weiß das, was auf euch zukommt. Aber wenn ihr die Schnauze voll habt, ich<br />

kann euch die Hälfte meines Hauses zur Untermiete anbieten. Ich saufe nicht und mach auch<br />

keinen Krach.“<br />

Holt dachte nach. Wenn die Prophezeiungen von Schulz wirklich eintreffen sollten,<br />

was ja nach den Berichten von Pauline im Fall Ginger auch vorgekommen war, wäre es<br />

besser, sicherheitshalber Vorkehrungen zu treffen.<br />

„Wie viel Platz hast du denn zu vermieten?, wollte Holt wissen.<br />

„Also, ich hätte da zwei Zimmer und ein Bad zur alleinigen Nutzung. Dazu käme die<br />

Mitbenutzung des Wohnzimmers, der Küche und des Büros. Eigentlich hättet ihr das ganze<br />

Haus, denn ich bin nur selten da.“<br />

Das hörte sich für Holt gut an und er hakte nach. „Wie groß ist denn das Haus und die<br />

angebotenen Räume?“<br />

„Das Haus hat ungefähr hundertfünfzig Quadratmeter, eure Räume alleine ungefähr<br />

fünfzig Quadratmeter. Dazu kommen ein riesiger Garten mit nochmals tausend Quadratmeter,<br />

ein Einstellplatz fürs Auto und eine kleine Bodega. Das alles könntet Ihr für dreihundert<br />

Dollar pro Monat anmieten. Ist das nicht ein Superangebot?“<br />

Holt dachte nach. In der Tat, dies war ein gutes Angebot. Von den Erzählungen Schulz<br />

hatte er schon mehr über die Lage des Hauses gehört. Pauline hatte bestätigt, dass Escazú eine<br />

bessere Wohngegend sei. Sie kannte die Umgebung und pries sie als ungewöhnlich schön.<br />

„Okay Schulz,“ antwortete er, „wir warten erst einmal ab, ob sich Russel wirklich wie<br />

ein Neandertaler aufführt. Wenn es so sein sollte, können wir uns ja immer noch entscheiden,<br />

außerdem muss ich erst mit Pauline darüber reden. Eigentlich bin ich ja hierher gekommen,<br />

um eine Arbeit wahrzunehmen.“<br />

Schulzens Schwarzmalerei bewahrheitete sich, sie wurde sogar noch übertroffen. Russel traf<br />

am Morgen des 24. Dezember ein. Er war in Begleitung von drei amerikanischen Freunden,<br />

zu denen sich während des Tages noch zwei „Geschäftsfreunde“ aus Costa Rica<br />

hinzugesellten. Die Sechs begannen in den frühen Nachmittagsstunden ein feuchtfröhliches<br />

Gelage, bei dem sich die anfängliche Lautstärke während der folgenden Stunden zu einem<br />

wüsten Lärm steigerte. Pauline, die Russel bat, ihm die Geschäftsentwicklung darlegen zu<br />

können und das verauslagte Geld zurück erwartete, war machtlos, mit dem bereits<br />

angetrunkenen Mann ins Gespräch zu kommen. Der Heilige Abend, den Pauline mit Holt und<br />

ein paar Gästen in der separaten Bar feiern wollte, wurde durch die betrunkenen Männer<br />

empfindlich gestört. Sie sprach Russel darauf hin an und bat ihn, sich mit seinen<br />

Saufkumpanen zum Teufel zu scheren, was er überraschenderweise auch tat.<br />

Er stierte Pauline mit blutunterlaufenen Augen und hochrotem Säufergesicht zuerst<br />

fassungslos an und schrie über die Schulter zu seinen Kumpanen: „Los Leute, lasst uns hier<br />

abhauen. Mit diesen alten, hässlichen Weibern können wir nichts anfangen. Wir fahren nach<br />

San José in den Puff und legen die Schikas flach!“<br />

Die betrunkenen Männer grölten laut und gingen torkelnd in Richtung Ausgang. Noch<br />

auf dem Parkplatz hörte Holt das Zerbersten einiger Flachen und Gläser. Später das<br />

116


Aufheulen eines Motors, Bremsenquietschen und den Knall eines Zusammenstoßes. Danach<br />

Stille. Die Meute war sturzbetrunken abgefahren. Beim Ausfahren hatten sie noch den<br />

Leihwagen des Kapitäns gerammt, wie Holt wenig später bei der nachfolgenden<br />

Ortsbesichtigung feststellen musste.<br />

Nachts um drei kam Russel mit seinen Freunden zurück. Sie machten im großen<br />

Aufenthaltsraum einen Heidenlärm, der Fernseher lief mit äußerster Lautstärke, nur vom<br />

gelegentlichen Grölen übertönt, welches gegen sechs Uhr morgens leiser wurde und dann<br />

verstummte, ohne das der Fernseher abgestellt wurde.<br />

Pauline und Holt hatten den Lärm nur unterschwellig wahrgenommen, da ihre Räume<br />

etwas vom Schall geschützt hinter der Küche lagen. Die anderen Gäste hatten kerzengrade in<br />

den Betten gesessen, machtlos gegen die Unruhestifter etwas unternehmen zu können.<br />

Die nächsten zwei Tage hatten die Gäste Ruhe. Russel war mit seinen Buddys auf<br />

irgendeine in den Bergen gelegene Finca gezogen. Er hatte Uschi als seine neue Geliebte<br />

erkoren und diese auch mitgenommen, worüber Pauline und Holt nicht unzufrieden waren.<br />

Uschi hatte sich als eine leichtfertige Person entpuppt, die mit allen Mitteln einen reichen<br />

Mann suchte, der sie ernähren sollte. Russel schien dieser Mann zu sein, da er offensichtlich<br />

über Vermögen verfügte. Da konnte sie ja schon über solch unwichtige<br />

Charaktereigenschaften, wie Trunksucht hinweg sehen. Uschi war mit dieser Materie als<br />

ehemalige Barfrau bestens vertraut.<br />

Am Sylvestertag kam es zur finalen Auseinandersetzung. Pauline hatte Russel am Morgen<br />

abgepasst und diesen zur Rede gestellt. Da Holt dabei anwesend war, wagte er sich nicht,<br />

gegenüber Pauline ausfällig zu werden. Auf das von Holt verauslagte Geld angesprochen,<br />

lachte er beiden ins Gesicht und antwortete, da sie hier wohnten und zu Essen zum Nulltarif<br />

hatten, denke er nicht daran, das Geld zurückzuzahlen. Als Holt diese unverschämte Antwort<br />

hörte, sprang er auf, packte Russel am Hemdkragen und zog ihn über den Rasenstreifen zum<br />

Pool. Dort schmiss er den kreischenden Mann mit einem Schwung in den Pool, der ins<br />

Wasser klatschte, wobei eine mächtige Welle aufkam, die über den Beckenrand schwappte.<br />

Prustend schwamm dieser zum Rand des Beckens, wo Holt seinen Kopf unter Wasser<br />

drückte und dabei brüllte, „Ich bring dich um du Sau, du Scheißami, du Neandertaler!“<br />

Oscar, der durch den Lärm aufmerksam geworden war und hinzu eilte, konnte Holt<br />

gerade noch davor abbringen, Russel wie einen Hund zu ersäufen, indem er ihn, zusammen<br />

mit Pauline, mit vereinter Kraft vom Beckenrand zerrte. Zitternd vor Aufregung und<br />

pudelnass verschwand Russel in seinem Zimmer, aus dessen offener Tür Uschi mit großen<br />

Augen herausschaute.<br />

Zusammen mit einigen Gästen packten Pauline und Holt ihre Koffer, nachdem Holt<br />

mit Schulz am Telefon vereinbart hatte, dass sie noch am gleichen Abend bei ihm einziehen<br />

würden. Die restlichen Möbel, die Pauline gehörten, sollten im neuen Jahr abgeholt werden.<br />

Sie hatten noch die letzten Worte von Russel im Ohr: „Ihr deutschen Nazis seid gefeuert,<br />

verschwindet hier, bevor ich die Polizei hole!“<br />

117


In Bello Horizonte<br />

Lucky, eine stattliche Rottweilerdame, war äußerst misstrauisch und bellte Holt mit tiefer<br />

Stimme an, als dieser aus dem Wagen stieg und sich dem links vom Eingang gelegenen<br />

Hundegatter näherte. Flaco, der Pointerrüde, beäugte Holt und schnüffelte an seinem<br />

Handrücken, den er an das Gitter hielt. Flaco schien zufrieden zu sein und Lucky verstummte<br />

auch, sie legte sich zusammengerollt an die Hauswand und schaute Holt mit ihren braunen<br />

Augen an, beobachtete jedoch jeden weiteren Schritt.<br />

Schulz hatte den Weg genau beschrieben, sodass Holt das Haus auf Anhieb fand. Es<br />

lag im oberen Teil von Escazú, am Weg nach Ajúelita, einer kleinen Ortschaft in den Bergen.<br />

Gegenüber des Hauses lag eine Wohnanlage namens Los Eylisseos, dessen einzelne Häuser<br />

hinter einer hohen Mauer, weit weg von der Straße lagen. Die vorbeiführende Straße führte in<br />

östlicher Richtung in ein kleines Tal, durch das ein reißender Gebirgsbach floss. Direkt in der<br />

Sohle des Tals, am Bach, lag das nächste Haus, welches von Raffa, einem ehemaligen<br />

Fallschirmspringeroffizier aus Nicaragua, mit seiner Familie bewohnt wurde.<br />

Das eingeschossige Haus in dem Schulz bislang alleine lebte, entsprach dessen Beschreibung,<br />

es war in der Tat groß und geräumig. Nur die Aufteilung des großen Salons war durch eine<br />

unnötige Trennwand verunstaltet. Umgeben von einem Maschendrahtzaun und hohen Hecken<br />

mit prächtig blühenden Bougainville lag der große Garten. Holt fiel auf, dass zwischen den<br />

Haltestangen des Zaunes, oben am Spanndraht, paarweise leere Flaschen hingen. Schulz<br />

grinste, als Holt nach den Zweck der Flaschen fragte. Es handelte sich um eine primitive aber<br />

effektive Warnanlage. Sollte jemand über den Zaun steigen, würden die Flaschen aneinander<br />

scheppern und das würde die in der Nacht auf dem Gelände frei herumlaufenden Hunde<br />

alarmieren. In Nähe des Hauses standen sechs riesige Kiefern, die wohltuenden Schatten<br />

warfen und an der westlichen Seite wuchsen acht Bananenstauden mit ausladend breiten<br />

Blättern. Der Boden des Gartens hatte einen dichten Grasbewuchs, der durch tiefe Risse in<br />

den Boden unterbrochen wurde. Wie Schulz sagte, traten diese Risse jedes Jahr zur<br />

Trockenzeit neu auf und verschwanden erst wieder zur Regenzeit.<br />

Rund um das Haus führte ein schmaler, ein Meter breiter Betonstreifen. Dieser hatte<br />

den Vorteil, dass in der Regenzeit, das oftmals wie aus Eimern schüttende Wasser nicht ins<br />

Haus drang und man trockenen Fußes unter dem ausladenden Dach um das Haus herumgehen<br />

konnte. Vorne, zur Straße hin, hinter einer zirka drei Meter hohen Wellblechwand, die<br />

Abgrenzung zur Straße, lag ein kleinerer Garten mit vielen tropischen Blumen und einem<br />

großen Eukalyptusbaum. In der Mitte zog sich eine tiefe, mit halben Betonröhren versehene<br />

Rinne hin, die um die Ecke ging und an der Westseite des Hauses endete. Zur östlichen Seite<br />

endete die Rinne in einer Betonröhre, die unter dem Zufahrtsweg und dem großen Schiebetor,<br />

außerhalb des Grundstückes im Straßengraben endete. Holt fragte sich, ob die Dimension der<br />

Rinne nicht etwas zu groß ausgefallen sei. Während des ersten Regens musste er jedoch<br />

feststellen, dass es nicht so war, um die hereinbrechenden Wassermassen aufnehmen zu<br />

können.<br />

Pauline und Holt fühlten sich hier sofort wohl. Nur die Tatsache, dass sie nun beide ohne Job<br />

waren und Holt seine Finanzreserve verloren hatte, belastete sie. Schulz zeigte sich<br />

verständnisvoll und versprach Holt eventuell eine Arbeit in den kommenden Wochen. Pauline<br />

hatte schon ihre eigenen Vorstellungen. In den Staaten hatte sie eine Lizenz für Kosmetik und<br />

Nagelpflege und auch mit Erfolg als Kosmetikerin gearbeitet. Als ihr Mann noch lebte, hatte<br />

sie sporadisch bei ihren Freundinnen und Bekannten die Nagelpflege übernommen. Bei der<br />

eingehenden Betrachtung des zweiten Zimmers kam ihr sofort die Idee, diesen Raum für diese<br />

Tätigkeit zu nutzen und die Kontakte zu Ihren alten Kundinnen wieder aufzufrischen. Am<br />

dritten Tag nach ihrem Einzug brachte Ed noch einige Möbel aus der Villa Belén, die Pauline<br />

118


gehörten. Er erzählte, dass Russel Uschi als Managerin eingesetzt habe und das bis auf Ty und<br />

ihm, alle anderen Gäste ausgezogen seien. Pauline war über diese Entwicklung sehr traurig,<br />

da sie sich in den letzten Monaten solche Mühe gegeben hatte, die Appartements zu<br />

vermieten.<br />

Nach einigen Tagen war auch Lucky verträglicher geworden, sie hatte wohl erkannt,<br />

dass Pauline und Holt nun zum Haus gehörten und das von ihnen keine Gefahr ausging.<br />

Nachdem Holt die Hunde auch gefüttert hatte, war das Eis gebrochen. Lucky ließ sich<br />

streicheln und leckte sogar Holts Hände, der ihr gerade das Futter gebracht hatte.<br />

Schulz ging morgens aus dem Haus und kam regelmäßig sehr spät wieder. Seit einigen Tagen<br />

hatte er eine größere Aufgabe zu erledigen. Für einige Amerikaner richtete er im Centro<br />

Commercial Sabana Norte die Technik für ein Olinekasino, 35 mit Wettbüro, ein. Er hatte Holt<br />

erzählt, dass die Amis viel Geld hätten, aber von der Materie überhaupt nichts verständen. Da<br />

sie keine Ahnung hatten, wie schnell etwas zu bewerkstelligen sei, ließ Schulz sich<br />

ausreichend Zeit und machte während ihrer Anwesenheit auch total unnötige Dinge, er<br />

gaukelte Aktionismus vor, worauf seine Auftraggeber auch prompt hereinfielen. Aus der<br />

Masse der „notwendig“ erachteten Materialien hatte Schulz auch eine Parabolantenne für den<br />

Fernseh-Satellitenempfang abgezweigt, die er auch sofort auf dem Dach des Hauses aufbaute.<br />

Im Receiver der Satellitenanlage befand sich eine Codierungskarte, welche normalerweise die<br />

monatliche Bezahlung der Gebühren an den Betreiber von Direkt-TV regelte. Schulz hatte die<br />

normale Karte gegen die Testkarte eines Technikers von Direkt-TV ausgetauscht, der diese<br />

Karte Schulz aus „Gefälligkeit“, wie Schulz es später verlauten ließ, gegeben hatte. Nun<br />

steckte im Receiver eine Live time Card. Das hatte zur Folge, dass der Fernsehempfang<br />

praktisch kostenlos war. Holt machte sich seine Gedanken darüber. Da er jedoch inzwischen<br />

das Geschäftsgebaren von Direkt-TV kannte, empfand er nur Schadenfreude, zumal er ja auch<br />

davon partizipierte. Schulz war auch der Meinung, dass der Stromlieferant mit zweierlei Maß<br />

rechnete. Die Einheimischen bezahlten nur ein Drittel des Energiepreises im Gegensatz zu<br />

den Ausländern. Darüber hatte er sich sofort nach dem Einzug geärgert, und er beschloss,<br />

dagegen etwas Wirksames zu unternehmen.<br />

Als Pauline und Holt bereits einen Monat im Haus wohnten und der Stromverbrauch<br />

gestiegen war, schritt Schulz zur Tat. Der Zähler war in einem alten vermoderten Holzkasten<br />

in der Außenmauer neben dem Tor angebracht, damit vom Energielieferanten der Verbrauch<br />

abgelesen werden konnte, ohne das ein Angestellter, das Grundstück betreten musste. Das war<br />

äußerst günstig, denn der Zustand der oftmals maroden Zuleitungen war nicht sichtbar, auch<br />

keine Manipulationen. Schulz zog sich isolierende Handschuhe an und werkelte an der<br />

rückwärtigen Seite der Stromzufuhr zum Zähler, die zum Grundstück zeigte, herum. Holt<br />

hatte kurz über seine Schultern geschaut und zugesehen, konnte aber nicht erkennen, was<br />

Schulz dort fabrizierte.<br />

Wenig später schaute er Holt triumphierend an. „So, nun läuft der Scheißzähler<br />

rückwärts, in zwei Wochen stelle ich ihn wieder um, aber dann auf Kriechspur.“<br />

Er lachte und verstaute sein Werkzeug in einer Kiste. Holt dachte in diesem Moment<br />

an das Sprichwort, Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich.<br />

Eigentlich bestand das Leben von Schulz aus einer Aneinanderreihung von mehr oder<br />

weniger kleineren Gaunereien. Aus seinen Erzählungen hörten Pauline und Holt, dass Schulz<br />

sehr oft im Leben nur „Zweiter Sieger“ geblieben war. Er erzählte, dass er von seiner Mutter<br />

nie geliebt und als unerwünschtes Kind zur Großmutter abgeschoben worden war. Im Laufe<br />

der Zeit bildete sich zwischen Schulz einerseits und Pauline anderseits, eine Art Mutter-Sohn-<br />

Verhältnis. Sie fing an, von „unserem Großen“ zu reden, wenn sie von Schulz sprach. Holt<br />

war es anfänglich unangenehm, aber er gewöhnte sich daran und nahm es später als gegeben<br />

119


hin. Schulz, mit dem Instinkt eines verlassenen, einsamen Tieres, schien diese Adoption<br />

anzunehmen und auszunutzen.<br />

Zu den Kunden von Schulz gehörte auch ein Ehepaar. Er Roger, Brite und aktiver Seemann<br />

und sie Cindy, Amerikanerin und oftmals verwaiste Hausfrau, hatten einen Computer, der die<br />

etwas nervöse und jähzornige Handhabung durch Cindy nicht vertrug. So kam es, dass sie<br />

eines Tages vor der Tür stand, mit einem Computer unter dem Arm. Pauline nahm sie in<br />

Empfang, sie war erfreut Cindy zu sehen, welche sie bereits aus dem Newcomers Club<br />

kannte. Im Jähzorn, weil ein Modem nicht funktionierte, hatte Cindy mit einem Hammer auf<br />

den Computer eingedroschen. Kein Wunder, das neben ein paar Beulen am Blech des<br />

Gehäuses auch einige innere Teile aus den Fugen geraten waren. Schulz schaute sich den<br />

Rechner an und stellte fest, dass „Einiges“ wohl ausgetauscht werden müsste. Die<br />

Erschütterung hatte ihr zerstörerisches Werk getan. Während Schulz am Computer<br />

rumschraubte, unterhielt sich Pauline mit Cindy auf der Terrasse. Holt war in die kleine<br />

Werkstatt gekommen, um sich einen „verprügelten“ Computer mal von innen anzuschauen.<br />

„Was will die hysterische Tante mit so einem tollen Gerät?“, murmelte Schulz, für<br />

Holt gerade noch verständlich, vor sich hin. „Is nich von hier, is aus den Staaten, von DELL.<br />

Viel zu viel Technik eingebaut, zu wertvoll für diese Schnepfe, die kann das alles gar nich<br />

nutzen. Schau mal Holt,“ wandte er sich mit einem Mal wieder so ein scheußliches Deutsch<br />

sprechend, an diesen, „sie hat hier eine Videosteckkarte, eine zusätzliche Soundkarte und<br />

einen Pentium-Prozessor. Das braucht sie doch alles gar nich. Um ihre E-Mail zu checken,<br />

reicht ein 300er Prozessor aus und die Steckkarten sind einfach überflüssig.“<br />

„Und was willst du tun?“, wollte Holt wissen.<br />

„Ich repariere den Riss auf der Mutterplatine, baue die Steckkarten aus und setze ihr<br />

einen schwächeren Prozessor mit gleichem Slot ein. Dann lass ich mir mindestens eine<br />

Woche Zeit, damit sie glaubt ich hätte viel an der Kiste zu schrauben.“<br />

„Was soll sie denn mit den ausgebauten Teilen anfangen?“, wollte Holt, sich naiv<br />

stellend, wissen.<br />

„Sie nichts, ich fange damit etwas an, ich bau sie in meinen Computer ein.“<br />

„Verrechnest du den Wert der ausgebauten Teile mit deiner Arbeit?“<br />

„Du hast sie wohl nicht alle Holt, das ist mein zusätzlicher Gewinn.“<br />

„Mensch Schulz, das kannst du doch nicht machen, das ist Beschiss.“<br />

„Was heißt hier Beschiss, der Rechner läuft einfach runder ohne den unnötigen<br />

Ballast. Ich tu ihr noch einen Gefallen damit, dass ich den Rechner abspecke“, und mir auch,<br />

dachte er.<br />

Holt war zwar mit dieser Art Kundenbetreuung nicht einverstanden, verzichtete jedoch aus<br />

Gründen der Privatraison darauf, auf Schulz einzuwirken. Er war von ihm abhängig und<br />

konnte es sich in seiner finanziellen Lage nicht leisten, Schulz als Betrüger darzustellen.<br />

Ein weiteres Opfer war der deutsche Bäckermeister Hans aus Guanacaste. Die hohe<br />

Luftfeuchtigkeit am Pazifik hatte an dessen Computer Wirkung gezeigt, die Korrosion hatte<br />

einige Lötstellen und Lötverbindungen angegriffen. Auch dieser Computer wurde<br />

„abgespeckt“ und im Betriebssystem ein zusätzlicher, zeitgesteuerter Fehler eingebaut, der<br />

den Besitzer nach drei Monaten wieder zu Schulz führen musste. Beim Einrichten der<br />

Internetverbindungen notierte Schulz sich sämtliche Eingangsdaten und die dazu gehörenden<br />

Passworte. So hatte er während der Zeit eine Liste von ungefähr zwanzig Internetanschlüssen<br />

von verschiedenen Kunden. Wenn Schulz ins Internet ging, loggte er sich abwechselnd unter<br />

den Namen verschiedener Nutzer ein, die auch die Kosten seiner Internetnutzung trugen.<br />

Gegen Ende Januar löste Schulz sein Versprechen ein. Er hatte wieder einen Auftrag zur<br />

Errichtung eines Kasinos mit Wettbüro an Land gezogen. Mit den Auftraggebern hatte er<br />

120


vereinbart, dass sein Mitarbeiter, damit meinte er Holt, alle Holzarbeiten für das Vorhaben<br />

erledigen sollte. Alleine der Umfang dieser Tätigkeit betrug zehntausend Dollar. Nachdem<br />

Holt sich die Holzpreise und die Preise für das notwendige Werkzeug ausgerechnet hatte,<br />

sagte er Schulz zu, den Auftrag anzunehmen. Unter dem Strich blieben ungefähr sechstausend<br />

Dollar übrig, damit konnten Pauline und Holt ein gutes halbes Jahr über die Runden kommen.<br />

Die Arbeiten waren für ihn leichter als gedacht. Mit dem, vom Vorschuss neu gekauftem<br />

Werkzeug hatte er innerhalb von drei Wochen alle Stellagen, Plattformen und Abstützböden<br />

im Carport des Hauses hergestellt. Mit einem großen Lastkraftwagen wurden gegen Mitte<br />

Februar die vorgefertigten Teile abgeholt und nach Sabana Norte gebracht. Der<br />

Zusammenbau vor Ort dauerte nur drei Tage, wobei Schulz pingelig darauf achtete, dass Holt<br />

nicht zu schnell ans Werk ging.<br />

Schulz pendelte während dieser Zeit öfters vom laufenden alten Vorhaben zu der<br />

Arbeitsstelle, an der Holt beschäftigt war. Er wollte Holt unbedingt das bereits mit Erfolg<br />

laufende Vorhaben zeigen und ihn bei den Betreibern vorstellen. Kurz vor Arbeitsschluss<br />

erschien er noch einmal auf der Baustelle und bat Holt mitzukommen, damit er ihm etwas<br />

Interessantes zeigen könne. Das Wettbüro und Internetkasino lag gleich in der Nachbarschaft<br />

im gleichen Areal, in einem Bürohaus, wo die gesamte obere Etage genutzt wurde. Man<br />

konnte nur über den Lift in das Geschoss gelangen. Als Schulz mit Holt erschien, mussten sie<br />

im separaten, durch Panzerglasscheiben abgesicherten Eingangsbereich erst einmal warten, es<br />

wurden Besucherausweise ausgestellt und ihnen wurde ein Begleiter zur Seite gestellt, der am<br />

Gürtel eine nicht zu übersehende Schusswaffe trug. Mann, die machen es aber spannend, das<br />

ist doch nicht Fort Knox, dachte Holt, als er mit Schulz in eine neue Welt eintrat.<br />

Das Projekt war in zwei große Abteilungen aufgeteilt. Im vorderen Bereich befand sich das<br />

Callcenter mit ungefähr dreißig Boxen mit jeweils drei Telefonen, in denen die Mitarbeiter<br />

des Wettbüros, versehen mit sogenannten Headsets, die Wetten annahmen. Vor jedem<br />

Mitarbeiter befanden sich in Augenhöhe zwei Monitore, auf dem alle Wetten in Nordamerika,<br />

Asien und Europa verzeichnet waren und das interne Orderprogramm des Büros. Vor den<br />

Mitarbeitern befand sich eine Tastatur, in der die Wettaufträge eingegeben wurden. Im<br />

Orderprogramm konnte der jeweilige Mitarbeiter den Stand der Bearbeitung der Wette sehen<br />

und auch auf dem Wettbildschirm die Quotenänderungen mitbekommen. Der wichtigste Teil<br />

im Orderprogramm war die Übersicht und Bestätigung der Zahlungseingänge der<br />

Wetteinlagen. Diese wurde erst bestätigt und die Quote angegeben, nachdem der<br />

Zahlungseingang sichergestellt war. Es gingen unglaubliche Summen über den Tisch.<br />

Im hinteren Bereich befand sich das Onlinekasino. Holt hatte etwas anderes erwartet.<br />

Es waren keine Spieltische und auch keine Spielautomaten im Raum. Nur fünfzehn<br />

Bildschirme flimmerten, vor denen jeweils ein Mitarbeiter des Kasinos saß.<br />

Holt schaute über die Schulter eines der Mitarbeiter und er erkannte auf dem<br />

Bildschirm einen digitalen Roulettetisch, auf dem sich das Rad drehte. Es sah tatsächlich wie<br />

ein echter Roulettetisch aus. Im unteren rechten Drittel waren Zahlen und Nummern, die sich<br />

ständig änderten. Auf Anfrage teilte ihm der Mitarbeiter mit, dass das die am Spiel<br />

teilnehmenden Onlinebesucher seien und das Ergebnis ihrer Setzentscheidungen. Wie viel<br />

Geld die Besucher einsetzten, konnte Holt nicht erkennen.<br />

„Und wie und wo zahlt man das Geld ein und wie wird es ausgezahlt, wenn man<br />

gewinnt?“, wollte er von dem begleitenden Mitarbeiter wissen.<br />

„Einzahlungen erfolgen über ein mit uns verbundenem Clearinghouse, darunter<br />

müssen Sie eine Art Bank oder besser die Abteilung Kreditkartenwesen der Bank verstehen.<br />

Der Spieler zahlt auf ein Konto bei diesem Clearinghouse ein und der Betrag wird<br />

elektronisch auf das Spielerkonto beim Onlinekasino gutgeschrieben, ohne das der Betrag im<br />

Zugriffsbereich des Kasinos ist. Diesen Betrag kann der Spieler bei allen klassischen<br />

121


Kasinospielen einsetzen, die wir anbieten. Hier wird zum Beispiel Roulette abgewickelt, an<br />

den anderen Workstations zum Beispiel Bakkarat, Poker und so weiter.“<br />

„Aber ich sehe hier keine Geldbewegungen,“ stellte Holt fest.<br />

„Ja das stimmt,“ antwortete der Begleiter, „die finanziellen Transaktionen finden auf<br />

einem anderen Server statt. Der steht nicht hier in Costa Rica, sondern befindet sich auf den<br />

Cayman Islands. Im separaten Teil des Kasinos, dort hinter den dunklen Scheiben, befinden<br />

sich nur die Kontrollmonitore, von denen aus der Server per Internet durch eine schnelle und<br />

leistungsstarke Satellitenverbindung gesteuert wird. Da komme selbst ich nicht rein und für<br />

Besucher ist auch der Zutritt verboten.“<br />

Holt sah durch massive Rauchglasscheiben nur die Umrisse einiger Personen und das<br />

bläuliche Flackern der Monitore.<br />

Eines wollte Holt noch wissen: „Wie sieht es aus mit Betrugsversuchen?“<br />

„Die hat es auch schon gegeben,“ antwortete der Begleiter. „Zur Sicherheit des<br />

Spielers und der Bank werden beim Clearinghouse, neben den Bearbeitungs- und<br />

Abwicklungsgebühren zwanzig Prozent der eingenommenen Beträge für drei Monate<br />

einbehalten. In dieser Zeit muss der Spieler bei Streitigkeiten seine Ansprüche geltend<br />

machen. Das Onlinekasino hat kein gesondertes Recht, Geld von Spielern einzubehalten. Es<br />

kann nur, wenn etwas nicht stimmt, beim Clearinghouse intervenieren und die Auszahlung<br />

zugunsten des Spielers stoppen. Aber es macht uns nichts aus, denn hier gilt immer noch das<br />

alte Spielersprichwort: Die Bank gewinnt immer!“<br />

Nach der Erledigung seiner „holzigen“ Aufgabe hatte Holt nichts mehr zu tun, was Geld<br />

einbrachte. Bei Pauline sah es anders aus. Anfangs schleppend, dann immer in kürzeren<br />

Abständen, erschienen alte und neue Kundinnen, die sich von Pauline verschönern ließen, was<br />

Holt manchmal in Anbetracht des Alterungsprozesses für unmöglich erachtete. Pauline hatte<br />

ihm eingeschärft, zu den Frauen immer freundlich zu sein, auch wenn darunter richtige<br />

„Zicken“ waren. Getoppt wurde es durch das Verlangen, nach diskretem Hinweis durch<br />

Pauline, Tee, Kaffee oder Sekt zu kredenzen. Holt war nicht begeistert davon. In der<br />

Zwischenzeit räumte er immer das Feld und tobte mit den Hunden im Garten oder verdrückte<br />

sich nach Escazú, wo er sich in der dortigen Baustoffhandlung umschaute, ohne nur eine<br />

Schraube zu kaufen. Auf Dauer wurde jedoch jeder Fluchtversuch unmöglich.<br />

„Du Esel, wenn du dich nicht so bockig anstellen würdest, hätte ich noch mehr<br />

Trinkgeld bekommen. Kannst du dich nicht in die Welt dieser gelangweilten Frauen<br />

hineindenken? Sie wollen am Bauch gepinselt werden und wenn du noch den Gentleman<br />

mimst, fressen sie dir aus der Hand und werfen nur so mit dem Geld rum. Hans du bist eine<br />

richtige Geschäftsbremse.“ Das war ein schlagendes Argument.<br />

Pauline rauschte davon, das war nun das Ergebnis. Er ging hinaus zu Lucky und<br />

erzählte ihr seine Sorgen, die ihm in stiller Hoffnung, etwas zusätzliches Futter abgreifen zu<br />

können, mit großen braunen Augen Holt anschaute. Flaco hatte auch zugehört, als er kein<br />

Futter sah, hob er das Bein und pinkelte an die weißen Terrassenstühle. Holt warf ihm<br />

fluchend eine leere Getränkedose hinterher, die er gerade noch ergreifen konnte, bevor Flaco<br />

die gesamte Ladung seiner Blase verteilt hatte. So ein hündisches Ferkel!, stellte er mit tiefer<br />

Abscheu fest. Lucky machte das Verhalten Flacos nichts aus, sie kannte ihren Hundemann zu<br />

genüge, um sich noch über diesen Dödel aufzuregen, und sie war auch noch „guter<br />

Hoffnung“, so würden es die Menschen wohl sagen.<br />

Der Frühling verging, der Sommer kam und mit ihm drei Hundebabys. Als Lucky in den<br />

Wehen lag, war gerade Schulz deutscher Freund Brettschneider zu Gast. Dieser lebte im<br />

Osten von San José, auf der kleinen Farm seiner Freundin und hatte schon Erfahrung als<br />

Geburtshelfer bei Hunden. Lucky hatte sich in ihre Hundehütte zurückgezogen. Nach der<br />

Geburt von fünf Welpen, konnte Brettschneider unter Lucky eine Totgeburt und ein bereits<br />

122


sehr schwaches Hundebaby hervorziehen. Holt sah mit Erstaunen, wie Brettschneider beim<br />

Welpen eine Mund zur Schnauze Wiederbelebung versuchte, aber die Mühe war vergeblich,<br />

das bereits zu schwache Hundebaby verstarb beim Rettungsversuch. Die restlichen drei<br />

Welpen hatten sich an den Zitzen von Lucky festgesaugt und fiepten laut, wenn ihnen die<br />

Zitze aus dem Mäulchen rutschte. Lucky putzte sie mit Hingabe, indem sie die Welpen von<br />

allen Seiten ableckte und mit ihrer großen Schnauze in die Position beförderte, die sie gerade<br />

für notwendig erachtete, um mit ihrer Zunge an Stellen heranzukommen, die ihr noch nicht<br />

sauber genug erschienen. Holt kannte dieses Bild, er hatte seine Hündin Miffi in Erinnerung,<br />

die ihre kleinen Maulwürfe ebenso vor vielen, vielen Jahren während seiner Kindheit,<br />

gepflegt hatte.<br />

Nachdem die Welpen sauber waren, konnte Holt die Verschiedenheit der Farbe des<br />

Fells ausmachen. Ein Welpe war ganz schwarz, einer schwarz mit weißen Flecken und der<br />

dritte hatte die Zeichnung eines Tigers, braun mit dunklen Streifen. Holt nannte sie Dicky,<br />

Blacky und Brauny. Dicky sollte nur einen Monat alt werden, bis er eines Morgens tot und<br />

steif vor der Hütte lag. Blacky und Brauny wuchsen zur Freude von Pauline und Holt heran,<br />

für Schulz waren die zwei Welpen nur lästige Fresser. Da Holt sich jedoch um die<br />

Verpflegung der Hunde kümmerte, war es ihm egal, von wem sie ihr Fressen bezogen, sofern<br />

wer es nicht war.<br />

Durch die Hunde und kleinere Arbeiten im und am Hause war Holt ein wenig von seiner<br />

Nichttätigkeit abgelenkt. Bereits nach wenigen Wochen liefen die zwei Welpen den ganzen<br />

Tag hinter Holt her. Zuerst hatten sie alleine den Zutritt in das Haus nicht gewagt, aber mit<br />

der Zeit wurden sie mutiger. Eines Tages besuchten sie Holt im zweiten Zimmer, der dort<br />

gerade Schäden an der Holzwand beseitigte. Sie waren durch das ganze Haus geirrt, um Holt<br />

zu finden. Als sie ihn nun endlich gefunden hatten, stürzten sie sich heulend vor Freude auf<br />

Holt. Lucky und Flaco, angelockt durch das Freudengeheul, schauten von draußen durch das<br />

Fenster auf diese Szene. Als Holt die kleinen Hunde wieder in den vorderen Garten brachte,<br />

konnte er die Spuren der Eindringlinge feststellen. Im Salon waren angebissene Kekse<br />

zerstreut, in der Küche war in der Essecke eine Vase umgefallen und zerbrochen, in der<br />

Laundry hatten sie einige Wäschestücke vom Bügeltisch gezogen und diese nach ihren<br />

Gutdünken bearbeitet, aber ansonsten hielt sich der Schaden in Grenzen.<br />

In den nächsten Wochen tat sich Brauny als wahre Abenteurerin hervor, sie trieb Holt fasst<br />

zur Verzweiflung. Sie hatte sich unter anderem ein Loch unter dem Wellblechzaun gegraben<br />

und lief auf die Straße, um den Verkehr zu begutachten. Sie hatte ihr Leben nur dem Guard<br />

vom gegenüberliegenden Kondo zu verdanken, der sie beobachtete und dann in Gewahrsam<br />

nahm, bevor sie von einem Auto platt gemacht worden wäre. Dann war das Abflussrohr zum<br />

Straßengraben dran. Bei einer Inspektion blieb sie darin stecken. Holt hörte sie winseln,<br />

wusste jedoch nicht, woher die Wehlaute kamen. Erst als Blacky ebenfalls zum Abfluss<br />

watschelte, sah er die Bescherung. Holt konnte sie gerade noch an den Hinterläufen packen<br />

und aus dem Rohr ziehen. Dadurch ließ sie sich jedoch nicht abschrecken, jede unbeobachtete<br />

Minute nutzte sie dazu, ins Haus einzudringen. Holt baute vor. Richtiger, er baute vor der<br />

Eingangstür zur Küche einen Rahmen mit Maschendraht. Das war für Brauny auch kein<br />

Hindernis, sie krabbelte wie eine Katze am Draht hoch und ließ sich zur anderen Seite in die<br />

Küche plumpsen. Nun reichte es Holt, nach ein paar Klapsen auf den Hintern der Übeltäterin<br />

wurde das Absperrgatter wieder entfernt und die Außentür zum kleinen Garten ständig<br />

geschlossen gehalten. Seitdem war nur das Kratzen an der Tür zu vernehmen, wenn die<br />

vierbeinigen Abenteurer eindringen wollten.<br />

123


Der Geldsegen<br />

In Berlin war am Gericht die Entscheidung gefallen. Holt und Panzer hatten gegen die<br />

holländische Firma ihren Rechtsstreit gewonnen. Wie Bert in seiner ausführlichen E-Mail<br />

erklärte, war zum Entscheidungstermin am Landgericht die Beklagte nicht erschienen, sodass<br />

in der Sache ein Versäumnisurteil erging. Bert, der vor dem Gerichtssaal auf die Gegenseite<br />

wartete, wunderte sich zuerst, als niemand von dieser erschien. Bis auf den gemeinsamen<br />

Rechtsanwalt der GbR Holt & Panzer, der mehr wusste und Panzer, blieb die Klägerseite<br />

unter sich. Bert, der den Kollegen kannte, sprach ihn darauf an.<br />

„Was halten Sie davon Herr Kollege? Will die Beklagte dadurch wieder einmal Zeit<br />

herausschinden?“<br />

Der andere Anwalt schaute in seine Unterlagen, die er auf dem Schoß ausgebreitet<br />

hatte. Oben lag für Bert erkennbar mit Briefkopf des gegnerischen Anwalts ein Schreiben.<br />

„Nein Herr Kollege, der gegnerische Anwalt hat mir mitgeteilt, dass seine Mandantin<br />

in Holland Konkurs angemeldet und er selbst keine weiteren Anweisungen bekommen hat,<br />

noch über den Stand der Vertretungsvollmacht informiert wurde. Er hatte angekündigt, dass<br />

er wahrscheinlich nicht zur Verhandlung erscheinen wird.“<br />

„Dann ergeht auf Antrag also ein Versäumnisurteil,“ stelle Bert fest.<br />

„So ist es Herr Kollege. Wenn die Beklagte nicht innerhalb von vierzehn Tagen aus<br />

wichtigem Grund einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand stellt, wird das<br />

Urteil rechtskräftig. Aber ich sehe keinen so triftigen Grund. Im Konkursverfahren dürfte<br />

auch in Holland genauso wie bei uns verfahren werden.“<br />

Der Rechtsanwalt dachte nach und ergänzte. „Die Hauptforderung ist durch<br />

Bürgschaft bei der Deutschen Bank abgesichert, aber auf die aufgelaufenen Zinsen dürften die<br />

Kläger nicht rechnen, ebenso die Prozesskosten und Anwaltsgebühren, diese dürften auch<br />

nicht erstattet werden.“<br />

„Dann haben die Kläger eben so mal auf die Schnelle zirka zweihunderttausend DM<br />

verloren und dürfen dann noch die verauslagten Prozesskosten, die ja die unterliegende Partei<br />

zahlen müsste, selbst begleichen,“ antwortete Bert.<br />

„Ja Herr Kollege, gewonnen und teilweise doch verloren, so ist nun einmal unser<br />

Rechtssystem.“<br />

Als Holt die ausführliche E-Mail öffnete, hielt er zuerst einmal die Luft an. Ausführlich las er<br />

sich den Bericht durch und machte sich Gedanken über die Anweisungen, um die Bert bat. Er<br />

kannte Panzer und es war zu befürchten, dass dieser das Geld, wenn es erst einmal auf dem<br />

Geschäftskonto war, zu dem er Zugriff hatte, nicht mehr bei Holt landen würde. Er musste<br />

also Bert Anweisungen erteilen, dass er als Empfangsberechtigter die Freigabe des Geldes nur<br />

Zug um Zug genehmigen sollte. Wenn Panzer hunderttausend Mark für Holt freigab, so gab<br />

dieser hunderttausend Mark für Panzer frei. Da Holt jedoch in sogenannter Vorderhand immer<br />

zuerst einen Betrag freigab und Panzer darauf reagierte, ging es nur so lange gut, bis die letzte<br />

Rate anstand. Holt fragte sich, durchschaut Panzer diese Abwicklung und wird er diese<br />

Chance ausnutzen? Dieser durchschaute jedoch Holts Schachzug und behielt wie befürchtet,<br />

die letzten hunderttausend Mark mit der Begründung ein, er hätte mehr geleistet, also ständen<br />

ihm auch mehr zu. Bert hatte auf Anraten Holts aber reagiert und durch Gerichtsbeschluss das<br />

gemeinsame Geschäftskonto einfrieren lassen. Holt wartete in Costa Rica gespannt die<br />

weitere Entwicklung ab und wurde unangenehm überrascht. Panzer hatte sich mit Jäger,<br />

einem ehemaligen Gläubiger Holts, zusammengetan. Obwohl diese Angelegenheit bereits<br />

einige Jahre rechtlich bereinigt war, wusste Panzer, dass Holt es versäumt hatte, von Jäger<br />

eine Schuldanerkennungsurkunde heraus zu verlangen, obwohl die Schuld getilgt war.<br />

Zusammen mit Jäger erschien Panzer bei einem Gerichtsvollzieher und ließ aufgrund dieses<br />

unanfechtbaren Titels das gesamte Geschäftskonto pfänden. Holts hunderttausend Mark<br />

124


gingen verloren, da der Titel ohne Einredemöglichkeiten vollstreckbar war. Es galt das<br />

Vertrauen in die Wirksamkeit deutscher Rechtstitel, diesmal zum Nachteil Holts, dem<br />

bewusst war, dass hier schwer was zu machen war.<br />

In Anbetracht des zu erwartenden Geldes hatte sich Holt, zusammen mit Pauline, ein Konto<br />

bei einer Privatbank besorgt. Der Hauptsitz war auf den Cayman Islands, eine Zweigstelle in<br />

Miami und eine weitere in Escazú. Der Vorteil war, dass anstatt die Namen der Kontoinhaber<br />

nur Zahlen oder Codewörter benutzt wurden, streng nach Schweizer Vorbild. Diesen Weg<br />

hatte Holt auf Anraten Paulines auch genommen. Mit der Auszahlung des Betrages wurden<br />

auch Einkommenssteuern für die GbR fällig. Da Panzer über das Geschäftskonto verfügte,<br />

hatte er auch, so wenigstens nach Meinung Holts, die Pflicht, die Steuern der GbR<br />

abzuführen. Ein Schreiben Berts an Panzer, die Steuern vom Geschäftskonto zu zahlen,<br />

rundeten diesen Sachverhalt noch einmal ab. Ganz sicher war Holt sich jedoch nicht, ob der<br />

deutsche Fiskus es auch so sah. Darum hatte er dieses Nummernkonto ausgewählt. Nachdem<br />

die vorletzte Summe zugunsten Holts bei Bert auf einem Rechtsanwaltsanderkonto einging<br />

und auch keine weitere Rate mehr zu erwarten war, schickte Holt die Angaben für den<br />

Zahlungstransfer zu Bert. Dieser zog für alle seine rechtsanwaltlichen Tätigkeiten einen<br />

größeren Betrag ab und überwies im Juli den Restbetrag, der immerhin noch rund<br />

dreihundertfünfzigtausend Dollar ausmachte.<br />

Telefonisch hatte sich Pauline erkundigt, ob bei Benir, so hieß die Privatbank, auf dem<br />

gemeinsamen Konto Geld eingegangen war. Der Angestellte, der am Telefon über<br />

Geldbeträge nicht sprechen durfte, bestätigte nur den Eingang, wie er sagte, eines größeren<br />

Betrages. Als Pauline und Holt die Kontoauszüge in den Händen hielten, jubelten beide. Im<br />

Haben stand ein Betrag von dreihundertfünfundsechzigtausend amerikanische Dollar.<br />

Die Stimmung in Bello Horizonte war ausgelassen. Holt war von der Sorge frei, wie er<br />

sich selbst über Wasser halten konnte, ohne Pauline zur Last zu fallen. Er war sich mit<br />

Pauline einig, Schulz zunächst nichts vom Geld zu erzählen. Es ließ sich wirklich sorgenfreier<br />

mit einem finanziellen Polster leben. Um nicht vor Schulz über ihre weiteren Zukunftspläne<br />

reden zu müssen, besprachen sie dies immer, wenn dieser nicht im Haus war. Aber das war im<br />

Moment schwierig. Schulz hatte die Einrichtung des zweiten Kasinos im Centro Commercial<br />

bis auf das Nachrüsten einiger Computer für die Betreiber fasst abgeschlossen. Das<br />

Nachrüsten und die Einstellung der Software erledigte er von zu Hause aus.<br />

Am südlichen Berghang von Escazú, noch nahe zum Zentrum, lag das Speiserestaurant mit<br />

Bar El Che, deren Betreiber Lofti und Mark, zwei Briten, Pauline bereits aus der<br />

Vergangenheit kannte. In einer kleinen Seitenstraße, aber mit der linken Front noch zur<br />

Hauptstraße gelegen, war die Bar Treffpunkt fasst aller Briten, einigen Amerikanern und<br />

Deutschen, die in Escazú und Umgebung lebten. Zur Straße hin befand sich eine offene<br />

Veranda, das eigentliche Restaurant, an deren linker Seite ein großer Grill stand. Im Gebäude<br />

befand sich hinter der Terrasse der Barraum mit einer im rechten Winkel stehenden langen<br />

Bar. Das Ambiente erinnerte gewollt an einen englischen Pub. Der nach hinten gehende<br />

Ausgang zum Vorratsraum war mit dem Union-Jack verhangen. Links vom Tresen, am Weg<br />

zu den Toilettenräumen, hing ein großes Bild der Queen mit dem Untertitel „Probe“. Dieses<br />

Bild wich jedoch von den abertausenden, die im gesamten Gebiet des Commonwealth die<br />

Wände verzieren mochten, ab. Auf diesem Bild bohrte sich Elisabeth II genüsslich in der<br />

Nase. Ob es sich hier um eine „gemeine“ Fotomontage handelte, konnte oder wollten Mark<br />

und Lofti auf Fragen ihrer Kunden nicht beantworten.<br />

Am Abend, nachdem Lucky, Flaco und die zwei Welpen versorgt waren, gingen Pauline und<br />

Holt zu Fuß nach Escazú hinunter, um bei Tom Tom, einem deutschen Feinkostladen, für das<br />

125


kommende Wochenende Lebensmittel zu bestellen und um im El Che einzukehren. Wie<br />

immer zu dieser Abendzeit war die Bar gerammelt voll. Nur im Restaurant waren noch zwei<br />

Plätze an einem Vierertisch frei. Bipo, der Kellner, machte schnell den Tisch sauber, da die<br />

vorherigen Gäste gerade gegangen waren. Am Tisch saß bereits Lynn, die Besitzerin einer<br />

anderen Bar, mit einer ihrer Serviererinnen. Holt hatte sie bereits bei einem Besuch mit<br />

Pauline im kanadischen Klub ein paar Wochen vorher kennengelernt. Pauline kannte Lynn<br />

bereits seit einigen Jahren und war erfreut, sie wieder zu treffen.<br />

Während sich die zwei Frauen herzlich begrüßten und angeregt miteinander sprachen,<br />

schaute Holt in die umfangreiche Speisekarte und sah sich die übrigen Gäste an. Rundherum<br />

wurde nur Englisch gesprochen. Einige Leute kannte er bereits.<br />

„Was hältst du davon Hans?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Er schaute<br />

Pauline fragend an. „Was soll ich wovon halten?“, antwortete er fragend.<br />

„Hast du nicht zugehört?, wollte Pauline wissen. Hatte er nicht, er hatte abgeschaltet,<br />

da ihn das längere angestrengte Verfolgen der Gespräche in englischer Sprache stets<br />

ermüdete.<br />

„Lynn sagte gerade, dass sie freies Geld bei den Schwestern zu 3,75 Prozent anlegt<br />

und das jetzt am Paseo Colon eine neue Firma ebenfalls ein ähnliches Angebot, aber für 4,0<br />

Prozent macht,“ übersetzte Pauline ins Deutsche.<br />

„3,75 oder 4,0 Prozent sind zu wenig, da kann ich das Geld doch gleich in<br />

Deutschland lassen. Die Bayrische Hypothekenbank zahlt für Festgeldeinlagen, ab einem<br />

Jahr, glaube ich jedenfalls vor kurzem gelesen zu haben, schon 6,25 Prozent.“<br />

„Hans, nicht im Jahr, Lynn meint pro Monat.“<br />

„Das kann nicht sein Pauline,“ antwortete Holt, der den Zinssatz schnell im Kopf überschlug,<br />

„das wären im Jahr ungefähr fünfundvierzig Prozent, das kann sich keine Bank leisten.“<br />

Pauline fragte in Englisch bei Lynn nach und sagte ihr, was Holt gerade in Deutsch<br />

festgestellt hatte. Holt verstand genug, um mitzubekommen, dass es sich hier tatsächlich um<br />

einen monatlichen und nicht jährlichen Zinssatz handelte.<br />

Nachdem Pauline den Inhalt noch einmal in Deutsch wiederholt hatte, sagte Holt zu<br />

ihr, „Da ist ein Haken dran. Bei dem Zinssatz geht doch jede Bank pleite, ich kann es mir<br />

einfach nicht vorstellen. Frage Lynn mal, an welche Bedingungen die Einlage geknüpft ist<br />

und welchen Ruf die Schwestern haben.“<br />

Am Ende des Gesprächs wusste Holt mehr. Die Privatbank Villa Globus, 36 wurde von zwei<br />

Schwestern betrieben und hieß deswegen bei den Anlegern nur kurz The Sisters. Sie zahlten<br />

für Festgeldeinlagen seit über fünfundzwanzig Jahren zwischen 3,25 bis 3,75 Prozent Zinsen<br />

pro Monat. Anlegen konnte jeder Kunde jedoch nur bis fünfzigtausend Dollar, die<br />

Zinsbeträge mussten auch monatlich abgehoben werden, sie konnten nicht stehen bleiben und<br />

in den Anlagebetrag eingerechnet werden und Zinseszins abwerfen. Weiter musste jeder neue<br />

Interessent einen Bürgen beibringen, der bereits bei den Sisters Kunde war.<br />

Lynn hatte aber munkeln hören, dass die Sisters mit großen Unternehmen, die<br />

finanzielle Engpässe hatten, kurzfristige Termingeschäfte abschlossen. So sollte sich einmal<br />

Intel für drei Tage zehn Millionen Dollar geliehen und dafür am vierten Tag zwölf Millionen<br />

zurückerstattet haben. Weiter hatte Lynn gehört, dass die Sisters Drogengeld vom<br />

kolumbianischen Kartell waschen sollten und dem Präsidenten von Costa Rica größerer<br />

Kredite, ohne Sicherung, gewährt haben. Die neue Firma Saving Money, 37 geführt von einem<br />

ehemaligen leitenden Mitarbeiter der Sisters, bot nun sogar 4 Prozent Zinsen pro Monat an, zu<br />

ähnlichen Einstandsbedingungen.<br />

Nach dem Essen hatte Bipo an der Bar zwei Plätze freigemacht, sodass Pauline und Holt<br />

umziehen konnten. Bipo, der im Restaurantbereich arbeitete und auch den Grill bediente, war<br />

zum Erstaunen Holts auch der amtierende Barkeeper. Zuerst rannte dieser vom Grill zu den<br />

126


Tischen im Restaurant, von dort zur Küche im Hauptgebäude, zur Bar und wieder zurück.<br />

Holt konnte den Arbeitsaufwand abschätzen, da er vor, während und nach seiner Studienzeit<br />

ebenfalls als Kellner und Barkeeper gearbeitet hatte.<br />

Bipo strahlte und tat so, als ob er seine Gäste zum ersten Mal an diesem Tage sah, und<br />

grüßte in Deutsch „Guten Abend“.<br />

Holt grinste den ebenfalls grinsenden Bipo an und fragte, „Kannst du noch mehrere<br />

Worte auf Deutsch?“<br />

Bipo runzelte die Stirn und dachte nach. „Ja, nein, guten Morgen, noch ein Bier, Leck<br />

mich am Arsch, alles klar.“<br />

Pauline und Holt lachten. „Bipo, damit kommst du in Deutschland immer durch, nur beim<br />

Leck mich am Arsch könntest du Schwierigkeiten bekommen.“<br />

„Warum?“<br />

„Na, weil das eine Beleidigung und Aufforderung ist, der man in der Öffentlichkeit<br />

nicht nachkommen sollte.“ Pauline klärte Bipo in Spanglish auf.<br />

„Ach so, deshalb war im letzten Monat ein deutscher Gast mit einem Mal so<br />

unfreundlich. Ich hatte immer gedacht, es bedeute so viel wie Sie können uns gerne wieder<br />

besuchen.“<br />

Noch einmal verblüffte Bipo Holt. Im Gegensatz zu den anderen Gästen stellte er vor<br />

Pauline und Holt keine eisgekühlten Flaschen Bier und Gläser voll mit Eiswürfeln hin.<br />

Sorgfältig goss er in nicht gekühlten Gläsern die Hälfte einer eiskalten Flasche und die Hälfte<br />

einer Flasche, die er aus dem Bierkasten genommen hatte. Er achtete darauf, dass sich<br />

ausreichend Schaum bildete, dann schob er die Gläser zu seinen neuen Gästen rüber.<br />

„Prooost! Real German Beer like Bavaria on October fest!“<br />

Nachdem sich Bipo verzogen hatte, sprachen beide über die scheinbar dubiosen<br />

Geldanlagemöglichkeiten. Pauline kannte eine Reihe von Amerikanern und auch Kanadiern,<br />

die Kunden bei den Schwestern waren. Alleine die Tatsache, dass die Schwestern über<br />

fünfundzwanzig Jahre immer die Zinsen pünktlich zahlten und auch mit den costa-ricanischen<br />

Behörden keine Probleme hatten, überzeugte Holt, bei den Schwestern einen Betrag<br />

anzulegen, aber auch bei der neuen Bank am Paseo Colon, um das Risiko eines möglichen<br />

Verlustes zu halbieren.<br />

In den nächsten Tagen waren Holt und Pauline damit beschäftigt, Geld unter die Leute zu<br />

bringen. Die Schwestern hatten einen Anlagestopp bis zum Ende des Jahres. Am Paseo<br />

Colon, bei Saving Money, war man geneigt, Geld anzunehmen. Michael Garcia, der Berater<br />

für Anlagevorhaben, erklärte die Modalitäten. Im Gegensatz, zu den Schwestern, konnte man<br />

hier per Person und einer Firma jeweils einen Betrag von hunderttausend Dollar anlegen.<br />

Theoretisch waren das dreihunderttausend Dollar. Auch hier galt, dass man einen Bürgen mit<br />

Referenz vorweisen musste. Pauline dachte nach und antwortete.<br />

„Michael ist nicht auch Norma Goldstein hier Kundin?“<br />

Garcia druckste herum. „Nun, ich weiß nicht, wir dürfen hier keine Namen nennen,<br />

ich könnte Ärger bekommen.“<br />

„Brauchst du doch auch nicht. Wir machen es so, ich nenne eine Reihe von Namen,<br />

bei denen ich annehme, dass sie bei dir Kunden sein könnten. Lande ich einen Treffer,<br />

brauchst du nur zu nicken. Ich werde dann mit dem Betreffenden sprechen, ob er mir eine<br />

Referenz ausstellt. Wenn das der Fall sein sollte, kommen wir wieder und bringen das Geld<br />

mit. Okay?“<br />

Michael Garcia nickte auch nur.<br />

Norma, eine uralte Dame in bester geistiger Verfassung, wollte zwar nicht gleich bestätigen,<br />

dass sie Geld bei Saving Money angelegt hatte. Sie kannte Pauline bereits einige Jahre aus<br />

127


dem Costa-rician Woman Club und als diese ihr erklärte, dass Michael Garcia sie als gute<br />

Kundin empfohlen hatte, war sie bereit, eine Referenz auszustellen. Während der<br />

Unterhaltung hatte sie Pauline und Holt einen Martini angeboten. Es blieb nicht bei einem.<br />

Als Holt vom Sessel aufstehen wollte, merkte er, dass er mittelprächtig angetrunken war.<br />

Pauline zeigte nur leichte Wirkung und Norma schien nur Wasser getrunken zu haben.<br />

128


Das Onlinekasino<br />

Holt hatte sich dazu durchgerungen, bei Saving Money erst einmal zweihunderttausend Dollar<br />

anzulegen, hunderttausend gingen davon auf Paulines Namen. Schulz, mit einem<br />

ausgeprägten Riecher für Geld, hatte mitbekommen, dass sich die finanzielle Lage bei den<br />

beiden wesentlich gebessert haben musste. Auf seine bohrenden Fragen hin erzählte Holt,<br />

dass er aus dem Verkauf seiner Firma sechsunddreißigtausendfünfhundert Dollar bekommen<br />

wird und eine erste Rate in Deutschland auf sein Konto geflossen sei. Die Antwort klang<br />

plausibel und Schulz bohrte nicht mehr nach, kam aber mit einer Bitte heraus.<br />

„Hans kannst du mir einen Gefallen tun?“, begann er eines Abends das Gespräch.<br />

„Wenn du mich nicht anpumpen willst, natürlich,“ antwortete Holt. „Was kann ich für<br />

dich tun?“<br />

„Du kannst ja jetzt nachweisen, dass du bei einer Bank über Geld verfügst,“ begann er<br />

mit seiner Erläuterung. „Das ist sehr wichtig, wenn du nach Costa Rica ein Auto einführen<br />

willst.“<br />

„Will ich doch gar nicht.“<br />

„Klar, du nicht, aber ich.“<br />

„Und was hat das mit mir zu tun?“, wollte Holt wissen.<br />

„Ich habe aus Prinzip kein Konto bei einer Bank, ich traue diesen Lumpen nicht. Das<br />

ist jetzt aber mein Problem. Mein Vater, der in Deutschland für BMW arbeitet, hat für mich<br />

einen 700er BMW bestellt. Das Geld für den Ankauf habe ich ihm schon im letzten Jahr<br />

gegeben, als er mich besuchte. Das Geld für den Transport im leeren Bananencontainer habe<br />

ich auch, sogar das für die Scheißer vom Zoll, nur, ich kann keine Bankverbindung<br />

nachweisen und ohne die kann ich nichts, rein gar nichts einführen, was offiziell über den<br />

costa-ricanischen Zoll geht.“<br />

„Aha,“ antwortete Holt, „Du willst, dass ich für dich die Kiste importiere?“<br />

Mit dieser Frage traf er ins Schwarze. Schulz nickte nur.<br />

„Bekomme ich denn keine Schwierigkeiten, wenn ich für dich ein Auto einführe?“,<br />

wollte Holt wissen.<br />

„Nein,“ antwortete Schulz, „Du kannst als Tourist ein Auto zum eigenen Gebrauch<br />

einführen, es drei Monate ohne eine besondere Genehmigung auch fahren und es dann hier an<br />

einen Tico verkaufen. Der muss dann aber die Einfuhrsteuer an den Staat zahlen. Der Käufer<br />

wäre dann ich, weil ich beim Kauf in Costa Rica keinen Banknachweis erbringen muss. Nur<br />

die Einfuhrsteuer muss ich auf ein Konto beim Zoll einzahlen, aber das ist in meinem Fall<br />

unwahrscheinlich, weil mein Anwalt Marco Antonio das für mich regeln kann, er hat zwei<br />

Brüder, die im Staatsdienst in hoher und höchster Position sind. Außerdem ist er der Neffe<br />

des jetzigen Präsidenten.“<br />

„Präsidenten von was?“, wollte Holt wissen.<br />

„Von Costa Rica!“<br />

Drei Wochen später traf in Porto Limon mit einem fast leeren Bananentransporter in einem<br />

Container der BMW ein. Als Einführender musste Holt nach Porto Limon zum Zoll, um die<br />

Wahre zu deklarieren und abzuholen. Noch nie im Leben hatte es Holt mit einer so lahmen,<br />

ineffektiven und korrupten Behörde zu tun gehabt. Obwohl sie morgens um sechs Uhr bereits<br />

beim Zoll waren, konnten Holt und Schulz erst am späten Abend von einem Dienstplatz des<br />

Zolls das Auto abholen. Die ganzen Laufereien hatten Schulz noch einmal siebenhundert<br />

Dollar gekostet. Der hatte damit gerechnet und fleißig Schmiergeld gezahlt, welches die<br />

Beamten, ohne eine Miene zu verziehen, einsteckten. Holt konnte dadurch aber auch keine<br />

Beschleunigung feststellen, was er Schulz auch sagte.<br />

129


„Hast du eine Ahnung, wenn ich die Saubande nicht geschmiert hätte, wäre ich<br />

frühestens in drei Wochen an mein Auto gekommen, dann möglicherweise ohne Räder und<br />

Motor.“<br />

Das Abstellen des Autos auf dem Zollplatz, auch nur für einen halben Tag, hatte<br />

ausgereicht, einige Teile am Auto fehlen zu lassen. Der Kofferraum war aufgebrochen und ein<br />

Satz Reservereifen fehlten, der CD-Player war ausgebaut und von der Antenne war auch<br />

nichts zu sehen. Schulz fluchte und beschwerte sich beim Verantwortlichen des Zollplatzes.<br />

Dieser hob nur die Schultern und bedauerte, dass es im Hafen Diebe gäbe. Das Auto sei<br />

bereits so auf dem Platz gekommen. Holt und Schulz glaubten es nicht.<br />

Schulz, der mit dem Einrichten der zwei Kasinos viel Geld verdiente, zeigte sich bei Pauline<br />

und Holt spendabel. Aus Dankbarkeit dafür, das Holt ihm bei der Einfuhr seines BMW<br />

geholfen hatte, schenkte er beiden je ein Flugticket nach San Andrés, einer kleinen<br />

kolumbianischen Insel, die östlich in Höhe Nicaragua in der Karibik lag. Mit dem Flugzeug<br />

brauchte man gerade einmal eine drei viertel Stunde und der Preis war auch erschwinglich.<br />

Dieser Drei-Tages-Trip wurde von einigen Reisebüros extra für die in Costa Rica lebenden<br />

Ausländer angeboten, die alle drei Monate für zweiundsiebzig Stunden aus dem Land<br />

mussten. Im Preis war auch die zweimalige Übernachtung enthalten. Das Sonderangebot hatte<br />

Schulz nicht mehr als fünfhundert Dollar gekostet und es schien ihm für den von Holt<br />

erwiesenen Gefallen, auch Wert zu sein.<br />

Die drei Tage auf San Andrés waren eine wirkliche Erholung. Im Gegensatz zu San José, fand<br />

man auf der Insel keine Gitter vor den Fenstern, Türen und Veranden. Die Straßen waren<br />

sauber und der Strand wurde jeden Tag zweimal mit großen Kehrmaschinen gesäubert.<br />

Untergebracht waren sie im Lord Pierre, mit das beste Hotel auf der Insel. Das vorgesehene<br />

kleine Zimmer im hinteren Teil des Hotels wurde durch eine zusätzliche Aufbuchung gegen<br />

eine Suite getauscht. Diese hatte einen großen Balkon zur Seeseite mit einem wunderbaren<br />

Ausblick über die Karibik, bis zu einer nahen, dem Ort vorgelagerten Insel.<br />

Beim Einchecken gab es noch eine merkwürdige Überraschung. Die junge Frau an der<br />

Rezeption konnte die Reservierung nicht finden. Pauline und Holt standen ratlos vor dem<br />

Schalter und noch ratloser wurden Sie, als ihnen mitgeteilt wurde, im Hotel kein Zimmer<br />

bekommen zu können. Holt fluchte laut. Ein südländisch aussehender Mann in einem weißen<br />

Leinenanzug, Strohhut und großer Sonnenbrille kam zur Rezeption. So hätte Holt, als<br />

imaginärer Filmproduzent, einen Mafiosi auftreten lassen. Die Überraschung, er war<br />

wahrscheinlich auch einer. Nicht dass er es erzählte, nein, die Wirkung, welche dieser Mann<br />

auf seine Umgebung ausübte, sprach dafür Bände. Später erfuhr Holt auch, wer dieser Mann<br />

war.<br />

„Kann ich Ihnen helfen?“, hörten sie hinter sich eine sonore, tiefe Stimme.<br />

Überrascht drehten sich Pauline und Holt um.<br />

„Sagen Sie es mir, ich habe hier ein wenig mitzureden. Was ist passiert?“<br />

Pauline erklärte es ihm, dass sie nicht einchecken könnten, obwohl sie das Zimmer<br />

bezahlt hatten. Der Mann bat sie, in der Lobby Platz zu nehmen, er würde das regeln. Vom<br />

Sessel aus sah Holt, wie der Mann den Geschäftsführer mit einer herrischen Geste zu sich rief.<br />

Dieser machte mehrere Bücklinge und antwortete dienstbeflissen. Der Geschäftsführer gab<br />

der Rezeptzionistin eine Anweisung. Diese nickte und winkte Holt zu, zur Rezeption zu<br />

kommen.<br />

„Don Escobar hat dafür gesorgt, dass Sie zum gleichen Preis die Honeymoon Suite<br />

bekommen. Darf ich Ihre Pässe haben?“<br />

Pauline reichte die Pässe herüber und ging auf den Geschäftsführer zu. „Vielen Dank<br />

Senior Escobar, dass Sie unseren Aufenthalt ermöglicht haben.“<br />

130


Der Geschäftsführer glotzte Holt dumm an. „Ich bin nicht Escobar. Don Escobar ist<br />

der Mann dort,“ dabei zeigte er auf den Mafiosi, „er hat die Hochzeitssuite an Sie vergeben.“<br />

„Kann er denn das als Gast?“<br />

„Er kann alles. Er ist zwar auch hier Gast, aber ein ganz besonderer, ihm gehört die<br />

halbe Insel.“<br />

Am Abend sahen sie den Don wieder. Er saß mit seiner Familie in einer Ecke des<br />

Speisesaales. Schräg gegenüber, in der anderen Ecke saß ein anderer Mafiosi, der<br />

zufälligerweise der Polizeichef von Cali war. Die beiden Männer hatten sich nur durch ein<br />

kurzes Nicken begrüßt. Der beflissentliche Kellner bot als Spezialgericht Zunge in Madeira<br />

an. Es war die beste Zunge, die Pauline und Holt je aßen. Dazu gab es einen leichten Rotwein<br />

aus Chile und Vanilleeis aus Bogota. Der Abend verlief herrlich.<br />

Vor dem Hotel lag auf dem Wasser der Karibik die Bar unter einem Runddach aus<br />

Palmenblättern. Durch die breiten Ritzen der Plattform konnte man im klaren Wasser<br />

tausende verschiedenfarbige Fische beobachten. Dies war die bislang schönste Bar, die Holt<br />

mit Pauline je besucht hatte. Der Sonnenuntergang und die aufkommende Nacht bei klarem<br />

Sternenhimmel erzeugten eine nie zu vergessende Urlaubsstimmung, die noch bis zum<br />

Eintreffen in Bello Horizonte anhielt und dort jäh beendet wurde.<br />

Schon beim Eintreten vermissten Pauline und Holt die Welpen. Lucky lag mit großen<br />

traurigen Augen in ihrer Hütte und selbst Flaco machte einen betrübten Eindruck. Holt suchte<br />

nach den Welpen auf dem gesamten Grundstück und fand sie nicht. Pauline, die auch besorgt<br />

war, rief den noch nicht anwesenden Schulz an und teilte diesem mit, das die Welpen nicht<br />

auffindbar seien. Pauline hörte Schulz am anderen Ende der Verbindung zu, ihre Mine<br />

verfinsterte sich und sie sprach im ärgerlichen Ton, wie Holt es mitbekam.<br />

„Schulz hat Blacky und Brauny weggegeben, er hat Blacky an Raffa und Brauny an<br />

Brettschneider verschenkt,“ sagte sie, als Holt sie erwartungsvoll anschaute.<br />

„So ein Scheißkerl, er hat damit gewartet, bis wir ein paar Tage nicht da waren,“<br />

entfuhr es Holt.<br />

„Hans, auch wenn wir die Beiden groß gepäppelt haben, es waren nicht unsere Hunde,<br />

Mike konnte damit machen, was er wollte,“ antwortete sie. „Und denke mal nach, vier Hunde<br />

hier, sind einfach zu viele. Früher oder später hätten wir sie auch weggeben müssen.“<br />

Pauline hatte Recht, aber trotzdem war es fies von Schulz, die Lage durch ihre<br />

Abwesenheit auszunutzen.<br />

Einige Tage später, Holt hatte sich mit dem Verlust der Welpen abgefunden und<br />

Schulz auch keine Szene gemacht, kam Schulz mit einer deutschen Zeitung zurück. In der<br />

Welt stand ein interessanter Artikel über die Glückspielindustrie in Mittelamerika. Dort war<br />

geschrieben, dass alleine in Costa Rica siebenhundert Onlinekasinos und Wettbüros registriert<br />

waren, von weltweit dreitausend. Der weltweite Umsatz dieser Kasinos sollte etwa bei zirka<br />

dreißig Milliarden Dollar liegen. Schulz hatte Holt auf diesen Artikel hingewiesen.<br />

Nachdem Holt im Beisein von Schulz den Artikel durchlas, fragte dieser, „Was sagst<br />

du dazu, arbeite ich nicht in der richtigen Branche?“<br />

Holt bestätigte dies. „Ja, mit Kasinos kann man auf der ganzen Welt sehr viel Geld<br />

gewinnen, aber auch verlieren.“<br />

Nach einer kurzen Pause, die für einen Außenstehenden als Denkpause eingestuft<br />

worden wäre, fragte er Schulz, „Was würdest du mit, sagen wir mal, mehreren hunderttausend<br />

Dollar anfangen?“<br />

„Keine Frage,“ antwortete Schulz spontan, „ich würde jeden Cent, den ich besitze, in<br />

mein eigenes Kasino hinein stecken. Das ist doch zurzeit eine Goldquelle.“<br />

„Und wie viel braucht man für so ein eigenes Kasino?“, wollte Holt wissen.<br />

Schulz rechnete mit den Fingern vor, wobei jeder Finger hunderttausend Dollar sein<br />

sollte.<br />

131


„Achtzigtausend für die Lizenz, zwanzigtausend für die Technik,“ er legte einen<br />

Finger um, „fünfzigtausend für notwendigen Kleinkram, fünfundzwanzigtausend Deposit für<br />

das Clearinghaus und nochmals fünfundzwanzigtausend für zwei Hochleistungsserver auf den<br />

Cayman Island,“ er legte einen weiteren Finger um, „fünfzehntausend für Bürotechnik,<br />

fünfunddreißigtausend für Miete, Mietsicherheit, Telefonleitungen, Parabolantennen und so<br />

weiter.“<br />

Er starrte auf seine Hand. Zwei Finger hatte er umgebogen und den dritten Finger mit<br />

der anderen Hand, beim Zählen umklammert. „Also, ich würde mit zweihundertfünfzigtausend<br />

Dollar auskommen und hätte das Geld in einem Jahr wieder eingespielt. Das<br />

Problem jedoch ist, welcher Idiot gibt mir so viel Geld, ich kenne jedenfalls keinen,“ damit<br />

verschwand er in seinem Büro, wo er an einigen Computern herumschraubte. Er ließ einen<br />

nachdenklichen Holt zurück.<br />

Noch am gleichen Tag, als Pauline vom Einkaufen zurückkam, berichtete Holt über das<br />

Gespräch mit Schulz. Pauline hatte aufmerksam zugehört.<br />

„Hans, wenn wir jemanden hätten, der wie Schulz Ahnung davon hat oder wir von der<br />

Materie etwas verständen, wäre so eine Idee interessant. Vorher sollte man sich einmal so ein<br />

Kasino ganz genau anschauen und auch einmal im Internet online spielen.“<br />

In den folgenden Tagen erkundigte sich Holt mehrmals bei Schulz über den Aufbau<br />

eines Onlinekasinos, der bereitwillig Auskunft gab. Was Holt nicht bemerkte, dass bei Schulz<br />

Neugierde geweckt wurde, warum Holt mit einem Mal so viel Interesse für Onlinekasinos<br />

zeigte. Zuerst dachte Schulz, dass Alles nur hypothetische Fragen wären, ohne ernsthaften<br />

Hintergrund. Als Holt sich immer wieder über die Höhe der notwendigen Investitionen<br />

erkundigte und ihm Beträge über hunderttausend oder sogar zweihunderttausend Dollar nicht<br />

abschreckten, begann er eins und eins zusammenzuzählen und kam zu dem Ergebnis, dass<br />

Holt nicht nur lumpige sechsunddreißigtausend Dollar hatte, dass mehr, viel mehr, vorhanden<br />

sein musste. Nach einigen Überlegungen beschloss er, einen Türken zu bauen und die<br />

Reaktion von Holt abzuwarten.<br />

Bereits am übernächsten Tag hatte Schulz alles Notwendige vorbereitet, was er für den<br />

Türken benötigte. Am Abend fragte er Holt scheinheilig, ob dieser nicht einmal den<br />

üblicherweise für Fremde gesperrten Kontrollraum eines Onlinekasinos besichtigen möchte.<br />

Der Eigentümer vom Kasino „Pik-Ass“ war auf den Cayman Islands und der Geschäftsführer<br />

sei ein guter Bekannter, der einmal ein Auge zudrücken würde, wenn Holt zu Besuch käme.<br />

Am nächsten Abend wäre so eine Besichtigung möglich. Holt, dem die Idee eines eigenen<br />

Kasinos nicht mehr aus dem Kopf ging, sagte sofort zu, zumal ja selbst Pauline meinte, man<br />

müsste sich schlaumachen.<br />

Holt erkannte beim Eintritt „seine Holzarbeiten“ wieder, nur dass nun viele Leute darauf<br />

herumliefen und arbeiteten. Der Kontrollraum des Kasinos lag gleich hinter der Panzertür zur<br />

linken Seite. Holt stellte fest, dass alle Kasinos nach gleichem Muster aufgebaut waren: einen<br />

gesicherten Eingangsbereich, ein großer Arbeitsraum für die Angestellten, sanitäre<br />

Einrichtungen und eine kleine Küche, ein Raum, in dem die lokale Computertechnik stand<br />

und der obligatorische Kontrollraum für die Kontrolleinrichtungen mit dem Schreibtisch des<br />

Geschäftsführers. Als Schulz und Holt, in Begleitung des Geschäftsführers, der hier<br />

Supervisor hieß, den Kontrollraum betraten, saßen zwei Controller vor ihren Monitoren. Ein<br />

dritter Monitor stand auf dem Schreibtisch des Geschäftsführers und wurde ausschließlich<br />

von diesem zur Kontrolle der Controller genutzt.<br />

Noch im Raume stehend, deutete der Geschäftsführer auf die Monitore und erklärte,<br />

„Hier kommen alle Informationen zusammen, die im Zusammenhang mit den finanziellen<br />

Transaktionen der Onlinespieler stehen. Wir können hier selbst nicht die Spiele verfolgen, das<br />

machen die Angestellten im angrenzenden Raum, aber wir sehen hier die sogenannte Kasse<br />

132


des Kasinos, in dem sich die Spieler ihre Chips kaufen oder diese in Geld zurücktauschen.<br />

Das erfolgt so, wie in jeder Bank, der Spieler zahlt ein, bekommt seine Chips und geht damit<br />

zum Roulettetisch oder an eine Slotmaschine. Dort steckt er die Chips in den Automaten oder<br />

legt sie auf den Tisch, nur dass hier alles digital geschieht. Unsere Angestellten beobachten<br />

jede finanzielle Aktion an ihren Monitoren. Der Zufluss und Abfluss der Gelder wird jedem<br />

Spieler der online ist, zugeordnet. Wir wissen immer, wie viel er einzahlt, wo er es verwendet<br />

und wie viel er verliert oder gewinnt. Sein Spielerkonto ist nur auf dem Kontrollmonitor<br />

sichtbar. Alle Spieler werden durch uns lückenlos erfasst, die Gewinne oder Verluste der<br />

Bank werden auf dem Monitor in einer Spalte zusammengefasst und saldiert. Diese<br />

Einnahmenliste wird jeden Tag um Mitternacht eröffnet und wieder eine Minute vor der<br />

folgenden Mitternacht geschlossen und dann saldiert. Die Tagesliste wird im Zentralrechner<br />

abgespeichert und ausgedruckt. Die einzelnen Tageslisten ergeben die Monatsliste und die<br />

zwölf Monatslisten die Jahresliste.“<br />

Schulz führte Holt bewusst in Richtung des Rechts stehenden Kontrollmonitor. Ein<br />

junger Mann hatte vorher Schulz ein Zeichen gegeben, welches Holt nicht wahrnahm. Schulz<br />

fasste Holt am Arm und sie stellten sich hinter den Mann und schauten auf den Monitor.<br />

Schulz beugte sich vor und zeigte Holt auf dem Monitor die Zahlen in der ganz rechten<br />

Spalte. Die Zahl verändere sich ständig, im Moment stand sie auf 73.745.<br />

„Das ist der Saldo des heutigen Umsatzes des Kasinos um fünf Uhr und<br />

zweiunddreißig Minuten,“ erklärte der Controller. „Noch sind etwas über sechs Stunden Zeit,<br />

er kann also noch über hunderttausend kommen. Jetzt, in der Mitte der Woche, ist es ein<br />

flauer Tag, erst zum Wochenende steigt wieder der Umsatz, wenn die Leute mehr Zeit zum<br />

Spielen haben. Es gibt manchmal auch Tage, da bleibt der Umsatz unter fünfzigtausend.“<br />

„Meine Fresse“, entfuhr es Holt, „da kommen ja im Monat fasst eine Million Dollar<br />

zusammen!“<br />

Der Supervisor, Schulz und der Controller lachten. Der Controller griff in eine<br />

Schublade und holte die zusammen mit Schulz am Vorabend angefertigte Liste hervor und<br />

wies auf die Schlusssumme der angeblich vorherigen Monatsabrechnung. Ganz unten stand<br />

die Summe von 3.536.800 Dollar. Holt stockte der Atem. „Über drei Millionen,“ hauchte er.<br />

„Ja soviel,“ antwortete der Supervisor. „Davon gehen leider zwanzig Prozent<br />

Royalty 38 an den Lizenzgeber und nochmals zwanzig Prozent sind Betriebskosten für<br />

Personal, Wartung und so weiter. Im letzten Monat hat Steve ungefähr zwei Millionen Dollar<br />

verdient und davon geht kein Cent an Uncle Sam, denn er sitzt auf seiner Insel in der<br />

Karibik.“<br />

Holt war immer noch benommen, als er mit Schulz in Bello Horizonte eintraf. Er erzählte<br />

Pauline, er habe gerade gesehen, wie der Ami Steve, den sie beide vom Sehen kannten,<br />

fünfundvierzigtausend Dollar im eigenen Kasino gewonnen hatte. Bei Holt erschien dabei<br />

klitzekleine Dollarzeichen in den Augen, so meinte es Pauline, zu sehen.<br />

*<br />

Schulz war zufrieden. Der kleine Controller hatte eine Kopie des gestrigen Tagesverlaufes als<br />

HTML-Site zusammengebastelt und neue, höhere Zahlen eingesetzt. Dazu kam noch ein<br />

sogenannter Counter, ein kleines Computerprogramm, welches auf hochgeladenen Websites<br />

den Usern oft vorgaukelte, dass hier echte Zahlenbewegungen stattfanden. Diese Webseite<br />

hatte er auf seinem lokalen Computer abgespeichert. Auf das Zeichen Schulz hatte er die<br />

Website auf den Monitor geladen, sodass Holt einen beeindruckenden Einnahmeabend des<br />

Kasinos sehen konnte. Der Supervisor war auch eingeweiht. Schulz hatte diesem erklärt, dass<br />

Holt nicht die echten Zahlen sehen sollte, er gab jedoch nicht den wahren Grund an.<br />

Tatsächlich war der Umsatz des Kasinos an jenem Abend, das erst seit zwei Monaten online<br />

war, noch nicht so hoch, hätte jedoch auch ausgereicht, um einen unbedarften Besucher des<br />

133


Kontrollzentrums zu beeindrucken. Schulz wollte sicher gehen, dass die vermutete Geldgier<br />

bei Holt alle Vorsicht ausschalten sollte, vergaß aber, dass es eigentlich sein Charakterzug<br />

war und nicht der eines Mannes wie Holt. Als Holt und Pauline einmal in San José waren,<br />

hatte er die Unterlagen, welche auf Holts Schreibtisch lagen, durchsucht und einen<br />

bemerkenswerten Kontoauszug gesehen. Holt hatte mehr Geld, als er zugab. Daraus sollte<br />

sich etwas für Schulz entwickeln, der nun abwartete, ob die Besichtigung Wirkung zeigte. Sie<br />

tat es!<br />

*<br />

Obwohl die Zinseinnahmen bei Saving Money sehr gut waren, beschloss Holt, nach<br />

Absprache mit Pauline, zum nächsten Monatsersten wieder hunderttausend Dollar abzuziehen<br />

und dieses Geld unter anderem in ein eigenes Onlinekasino zu investieren. Pauline und Holt<br />

waren der Meinung, dass Schulz ein Angebot, für sie alle Arbeiten zu erledigen, nicht<br />

abschlagen würde. Holt hatte sich bereits einige Gedanken gemacht, wie er das Vorhaben<br />

durchziehen sollte. Nach costa-ricanischem Recht bot sich die Möglichkeit an, eine Anonyme<br />

Gesellschaft, eine S.A., zu gründen und alle Werte in diese Gesellschaft einzubringen, sowie<br />

mit der Geschäftsführung einen Präsidenten zu beauftragen. Holt im Glauben, dass das<br />

Gesellschaftsrecht in Costa Rica nicht von dem in Deutschland gravierend abweichen müsste,<br />

wollte zusammen mit Pauline als Inhaber der Gesellschaftsanteile, die Entscheidungsgewalt in<br />

der Hand behalten. Als Präsident gedachte er Schulz, für ein in Costa Rica stattliches Gehalt,<br />

anzustellen. Als materiellen Anreiz dachte er auch daran, den Präsidenten mit einer<br />

Gewinnbeteiligung an das Wohl der Gesellschaft zu binden. Den Geschäftsführervertrag und<br />

den Gewinnbeteiligungsvertrag hatte er in kürzester Zeit in deutscher Sprache angefertigt<br />

nach dem er mit Pauline noch die einzelnen Konditionen und Eckpunkte besprach.<br />

Schulz, der es geahnt und auf solch ein Angebot gewartet hatte, zeigte sich Holt<br />

gegenüber überrascht. Die Unterbreitung des Angebots hatten sich Pauline und Holt für die<br />

bereits geplante Einladung in ein Nobelrestaurant nordöstlich in den Bergen von San José, am<br />

Wochenende vorbehalten.<br />

Der sich verblüfft gebende Schulz, antwortete mit der bereits seit Tagen festgelegten<br />

Antwort auf diese Frage. „Ihr seid ja wie meine eigene Familie. Habt Ihr euch das auch richtig<br />

überlegt, so ein Wagnis einzugehen?“ Dabei dachte er an seine Familie in Deutschland, die er,<br />

bis auf die Großmutter, ablehnte und verachtete.<br />

Holt war durch die Worte, wie meine eigene Familie, gerührt und geschmeichelt.<br />

„Mike, ich glaube, wir können dir vertrauen, wir leben ja gemeinsam unter einem Dach und<br />

sind außerdem noch Landsleute. Du besitzt auch richtige Erfahrung mit solchen Sachen und<br />

hast bereits zwei Kasinos mit Wettbüros eingerichtet. In der letzten Woche habe ich doch<br />

gesehen, dass diese prächtig laufen. Wem soll ich denn diese Aufgabe anvertrauen, wenn<br />

nicht dir? Das heißt, wenn du Zeit und Lust dazu hast.“<br />

Schulz bestätigte sofort, dass er beides habe. Wandte aber ein, dass er, wenn er nun<br />

den Auftrag bekäme, etwas noch ganz Sicheres machen würde.<br />

„Mike, was kann man noch sicherer machen, als es nicht schon ist?“, wollte Holt<br />

wissen.<br />

„Eigene Kasinosoftware programmieren lassen,“ antwortete Schulz sofort, „um nicht<br />

von einem Lizenzgeber abhängig zu sein und die zwanzig Prozent Royalty bezahlen zu<br />

müssen.“<br />

Holt leuchtete dieses Argument ein. „Und wie stellst du dir das vor?<br />

Softwareentwicklung kostet doch sehr viel Geld?“<br />

„Natürlich kostet es viel Geld, aber man kann ja die Software später selbst als<br />

Lizenzgeber weitergeben und Gewinne daraus ziehen. Ich habe an der Universität in San José<br />

vier Studenten an der Hand, die im kommenden Sommer ihren Abschluss machen. Diese<br />

134


Jungs sind clever, sie haben bereits für IQ-Playdorum, 39 die Lizenzgeber vom Pik-Ass, die<br />

Software zum Teil geschrieben. Die Quellcodes kamen aus Taiwan, aber die Zusatzmodule<br />

haben die Vier programmiert. Dafür haben sie nicht einmal zehntausend Dollar bekommen.<br />

Wenn ich denen ein Angebot mache, sagen wir einmal, siebzigtausend Dollar zu zahlen,<br />

klauen sie auch für uns den Quellcode. Soll ich mit denen sprechen?“<br />

Schulz schaute Holt und Pauline fragend an. Pauline schien Bedenken zu haben.<br />

„Mike, die können doch nicht einfach etwas klauen?“<br />

„Ach, was denkst du, wie es in der Glücksspielindustrie zugeht. Glaubst du, die<br />

Taiwanesen haben alles allein zusammengefummelt? Ich sag euch, die Chinesen sind die<br />

größten Diebe, vor denen ist nichts sicher. Wenn wir denen etwas abnehmen, sorgen wir nur<br />

für eine ausgleichende Gerechtigkeit.“<br />

Pauline und Holt, die schon öfters über die mangelnde Einstellung der Chinesen zum<br />

geistigen Eigentum Anderer gehört hatten, sahen ein, diesbezüglich nicht so kleinlich zu sein.<br />

„Wie lange brauchst du, um alles anzuleiern?“, wollte Holt wissen.<br />

„Wenn du mir in den nächsten Tagen zweihunderttausend Dollar gibst, ist in einem<br />

Monat alles geritzt. Über die Einzelheiten, wie Geschäftsgründung, Betriebssitz und so weiter,<br />

werden wir später reden. Aber ich werde mich bereits morgen mit einem der Studenten in<br />

Verbindung setzen, damit wir Nägel mit Köpfen machen können. Ich glaube zwar nicht, dass<br />

die Jungs so schnell sind, dass wir gleich am Anfang auf IQ-Playdorum verzichten können,<br />

aber in einem viertel Jahr dürfte die eigene Software fertig sein.“<br />

„In Ordnung“, antwortete Holt. „Wir werden dir morgen fünfzigtausend Dollar geben,<br />

damit du alles erst einmal in die Wege leiten kannst. Du bekommst auch zwei<br />

Vertragsentwürfe, die du ins Spanische übersetzen solltest, damit wir bei einem Anwalt die<br />

S.A. gründen können. Der zweite Vertrag sollte dir einen Anreiz geben.“<br />

„Und wie willst du dein Onlinekasino nennen?“<br />

„Nennen wir es doch The Devils Club!“<br />

*<br />

Schulz war mit der Entwicklung mehr als zufrieden, Holt hatte es ihm sehr leicht gemacht,<br />

dieser war für ihn ein ausgemachter sorgloser Trottel. Die Idee mit der eigenen, zu<br />

entwickelnden Software war ihm spontan eingefallen. Ursprünglich war es eine ernsthafte<br />

Absicht, die aber daran scheiterte, richtige Programmierer zu finden, die tatsächlich in der<br />

Lage waren, eine solche Software zu entwickeln. Er hatte auch keine vier Studenten an der<br />

Hand, die im Bereich Nachrichtentechnik studieren, die, welche er kannte, studierten nur<br />

Theaterwissenschaft. Aber diese konnten ihm auch dienlich sein. Als er sich den<br />

Geschäftsführervertrag und den Gewinnbeteiligungsvertrag durchlas, kämpfte er eine Weile<br />

mit sich, ob er sich nicht doch mit diesen Angeboten zufriedengeben sollte. Er rechnete sich<br />

aus, dass er in zehn Jahren ein gemachter Mann sein könnte, aber seine Gier erdrückte<br />

rationale Erwägungen, ehrlich zu bleiben und noch ein paar Jahre zu warten. Warum warten?<br />

Er sah in der Übersetzung der notwendigen Verträge eine Möglichkeit, diese in der<br />

spanischen Amtssprache so zu formulieren, dass Holt und Pauline sich ihm selbst auslieferten.<br />

Er dachte an die Gedankenspiele zurück, die er mit Brettschneider durchgegangen war. Inhalt<br />

dieser gedanklichen Erwägungen war, wie man unbedarfte Gringos zu hohen Investitionen<br />

verleiten konnte, um diese im Zuge des Vorhabens Schritt für Schritt um ihr Vermögen zu<br />

bringen, bis sie bei „Zero“ angelangt waren. Brettschneider als Deutscher nannte diese Option<br />

jedoch „Null“, die Schulz inhaltlich aufgegriffen hatte. Hier bot sich nun eine ungeahnte<br />

Chance, diese Option realisieren zu können. Einen ganz kurzen Augenblick hatte er Mitleid<br />

mit seinen zukünftigen Opfern, welches jedoch im tausendstel Bruchteil einer Sekunde wieder<br />

verflog und sich einer freudigen Erwartung unterordnete. Er musste Pauline und Holt in<br />

135


Sicherheit wiegen und verhindern, dass sie mitbekamen, was wirklich läuft. Es war<br />

notwendig, eine räumliche Trennung zwischen diesen und ihm in die Wege zu leiten.<br />

Hamlet wartete wie mit Schulz vereinbart pünktlich in Escazú bei Rosti Pollo, 40 einem<br />

Hähnchengrill. Schulz kam sofort zur Sache.<br />

„Hör zu Othello, du kannst mit deinen Leuten eine Menge Kies machen, wenn ihr<br />

euch nicht so blöd anstellt,“ begann Schulz das Gespräch, nachdem er sich gesetzt und bei der<br />

heraneilenden Kellnerin ein halbes Grillhähnchen bestellt hatte.<br />

„Ich heiße Hamlet!“, erwiderte dieser wütend.<br />

„Is doch scheißegal, wie du heißt, deine Eltern müssen beknackt gewesen sein, dir so<br />

einen blöden Namen, den keiner kennt, gegeben zu haben.“<br />

„Wir sind eine Schauspielerfamilie, da wurden alle Kinder nach literarischen Helden<br />

benannt,“ empörte sich Hamlet.<br />

„Mein Vater arbeitet in der Autobranche und ich heiße auch nicht Golf oder<br />

Mercedes,“ wandte Schulz ein.<br />

„Das ist ganz was anderes und übrigens, ist Mercedes ein Frauenname.“<br />

„Komm lass uns nicht über deinen merkwürdigen Namen streiten, kommen wir zur<br />

Sache,“ beendete Schulz den Disput. „Du bist doch Schauspieler, könntest du mit deinen<br />

Freunden bei mir eine kleine Rolle spielen?“, wollte Schulz wissen.<br />

„Das ist mir neu, dass du ein Theater hast. Ich dachte, du bist bei den<br />

Computerschraubern.“<br />

„Klar, ich habe kein eigenes Theater, ich spiele nur Theater vor, und dabei brauche ich<br />

Unterstützung.“<br />

„Willst du eine Weihnachtsfeier organisieren, sollen wir die Weihnachtsmänner<br />

spielen? So einen Quatsch machen wir nicht!“<br />

„Nein, ihr sollt bei einer Besprechung als Computerfachleute, beziehungsweise als<br />

Softwareprogrammierer auftreten.“<br />

„Und was soll das für einen Sinn machen?“<br />

„Das lass diesmal meine Sache sein, ob es Sinn macht. Bei der Besprechung will ich<br />

zwei Kunden von einer tollen Idee überzeugen. Dazu brauche ich euch, ihr sollt den Leuten<br />

etwas erklären und auf Fragen ganz bestimmte Antworten geben.“<br />

„Das heißt, du gibst uns jedem eine Rolle und dazu den passenden Text?“<br />

„Nein, nicht den ganzen Text, sondern ich erkläre es euch, um was es geht und was ihr<br />

dann auf Fragen antworten solltet. Es hängt ganz von eurem Improvisationstalent ab. Wenn<br />

ihr richtige Schauspieler seit, dürfte es für euch kein Problem sein, einmal eine halbe Stunde<br />

von etwas zu labern, von dem ihr nichts versteht.“<br />

„Und was bietest du uns für das Engagement?“, wollte Hamlet wissen, nachdem er<br />

einen Moment nachgedacht hatte.<br />

„Dafür bekommt jeder fünfhundert Dollar.“<br />

Hamlet riss die Augen auf. „Für eine halbe Stunde für jeden von uns fünfhundert<br />

Dollar?“, wollte er noch einmal wissen.<br />

Schulz nickte.<br />

„Ist da irgendein Haken dran, machen wir uns strafbar, wenn wir vorgeben jemand zu<br />

sein, der wir gar nicht sind?“<br />

„Othello, ihr beteiligt euch an einer, sagen wir einmal windigen Geschäftssache, die<br />

ich abziehe und die euch scheißegal sein sollte. Für fünfhundert Dollar in einer halben Stunde,<br />

würde ich die größte Schlampe in San José bumsen.“<br />

Hamlet überhörte das Othello beflissentlich, dachte jedoch darüber nach mit Schulz<br />

nie Geschäfte machen zu wollen, die über die Schauspielerei hinaus gingen.<br />

*<br />

136


Die notwendigen Erledigungen durch Schulz dauerten tatsächlich nicht lange. Durch seine<br />

vorherigen Projekte kannte er bereits die einschlägigen Lieferfirmen und deren Mitarbeiter.<br />

Die fünf Computer und zwei Server wurden bei der Firma Compuserve, die notwendigen acht<br />

Telefonlinien bei der staatlichen Telefongesellschaft Racsa und die Büroausrüstung beim<br />

chinesischen Möbelhaus Akido bestellt. Bei der Bestellung hatte Schulz darauf geachtet, stets<br />

die Waren mit dem höchsten Preis auf die Lieferliste zu bestellen. Da er im Auftrage handelte,<br />

feilschte er verbissen um die in Costa Rica übliche Vermittlungsgebühr, die manchmal bei<br />

zehn Prozent vom Verkaufpreis und oft auch darüber lag. Bei Compuserve handelte er eine<br />

Vermittlungsprovision von zwölf Prozent und bei Akido zehn Prozent heraus, nur bei Racsa<br />

war es nicht möglich, da es sich um eine staatseigene Firma handelte. Dafür schmierte er den<br />

Leiter der Abteilung Neukunden mit zweihundert Dollar, mit der Folge, dass die lange<br />

Wartezeit von mindestens drei Monaten wegfiel und die Leitungen bereits drei Tage nach der<br />

Bestellung, in einer Abendaktion, vom Leiter der Abteilung selbst gelegt wurde.<br />

Bereits eine Woche nach dem Startschuss meldete sich bei Schulz ein ihm bekannter Makler,<br />

um diesem das noch immer leer stehende Wohn- und Geschäftshaus im westlichen Teil von<br />

Escazú anzubieten. Schulz hatte es bereits bei der Bürosuche für Steve besichtigt. Dieser hatte<br />

sich jedoch für ein Büro im Centro Commercial entschieden, da dort auch andere Amerikaner<br />

ihre Büros hatten.<br />

Das offerierte Haus war für Schulz Zwecke günstig. Neben den Büroräumen im<br />

Erdgeschoss befanden sich noch mehrere Räume zum Wohnen im oberen Geschoss. Diese<br />

Wohnräume hätten auch für Schulz ,Pauline und Holt zum Leben ausgereicht, aber in<br />

Anbetracht seiner Absicht, die Beiden von geschäftlichen Angelegenheiten fernzuhalten, war<br />

dieses natürlich zu verhindern.<br />

Als Holt sich das Haus anschaute, stellte Schulz bereits die Weichen. „Hans, unten<br />

kommt das Büro rein, oben werden der Techniker und ich wohnen. Das hat außerdem noch<br />

den Vorteil, dass ich hier einziehen kann und ihr habt das Haus in Bello Horizonte ganz allein<br />

für euch.“<br />

Obwohl Holt das Zusammenleben mit Schulz nicht als störend empfand, schien ihm<br />

diese Entwicklung jedoch entgegen zu kommen. Die von Schulz frei werdenden Räume<br />

konnte er selbst gut nutzen. Dabei dachte er sofort an die Verlegung des Schlafzimmers, der<br />

Einrichtung eines Gästezimmers und an den Umbau des einen Zimmers zum Büro. Aber was<br />

hat Schulz von einem Techniker gesprochen?, dachte er.<br />

„Mike, was für einen Techniker benötigen wir?“, wollte er wissen.<br />

„Du hast doch die Büros und die Kasinos im Office Center gesehen,“ antwortete<br />

Schulz, „Dort lief einiges Personal herum, bei einigen Leuten handelte es sich um Techniker,<br />

nicht die, welche vor den Monitoren saßen, ich meine die Leute, welche sich in den<br />

Technikräumen aufhielten. Die Kontrollaufgaben und Leitung des Kasinos kann ich am<br />

Anfang allein erledigen, aber die technischen Probleme kann ich nicht lösen, dazu benötigen<br />

wir einen Computer- und Nachrichtentechniker.“<br />

„Mist!“, entfuhr es Holt, „Daran habe ich gar nicht gedacht.“<br />

„Aber ich,“ antwortete Schulz. „Ich kenne da einen guten Mann, der für uns arbeiten<br />

könnte. Er ist auch Deutscher, ist jetzt aber im Moment drüben bei den Amis. Ich habe bereits<br />

per Mail nachgefragt, ob er Lust hat. Er hat mir auch geantwortet, dass er die Amis hasst und<br />

gerne nach Costa Rica zurück möchte.“<br />

„Na, dann biete ihm doch den Job an, er könnte doch sofort beginnen denke ich. Die<br />

Technik kommt doch schon bereits in der nächsten Woche.“<br />

„Hab ich auch schon erledigt, er hat zugesagt. Für tausendfünfhundert Dollar im<br />

Monat mit freier Unterkunft.“<br />

137


Holt war die Eigenmächtigkeit von Schulz, bereits ohne Absprache über Gehälter zu<br />

entscheiden, gegen den Strich gegangen. Er dachte an den Inhalt des<br />

Geschäftsführervertrages. Dort stand drin, dass der Geschäftsführer im Rahmen seiner<br />

Befugnisse solche Entscheidungen treffen konnte. Es war also richtig, wenn Schulz bereits<br />

jetzt solche Entscheidungen traf, da er ja durch Holt dazu befugt worden war.<br />

„Mike,“ antwortete er, seinen schon verflüchtigenden Unmut verbergend, „wir müssen<br />

aber zuerst den wichtigsten Vertrag, die Gründung der Gesellschaft, notariell beurkunden<br />

lassen. Ich möchte, dass alle weiteren Verträge dann durch dich im Namen unserer<br />

Gesellschaft abgeschlossen werden. Dazu gehört auch der Mietvertrag für das Haus hier.“<br />

Dabei wies er mit dem Kopf herüber.<br />

„Ich habe den Vertrag bereits übersetzt und Marco übergeben, der hat nur ein paar<br />

Richtigstellungen und Verbesserungen eingefügt, da Spanisch ja nicht meine Muttersprache<br />

ist. Wir könnten schon in den nächsten zwei Tagen alles erledigen.“<br />

Er zeigte mit seinem Finger auf den vom Makler mitgebrachten Mietvertrag. „Der<br />

Vermieter ist übrigens auch ein Deutscher.“<br />

Holt schaute auf den Vertragsentwurf. In der Spalte des Vermieters stand, Conrad<br />

Prinz von Preußen.<br />

„Das ist ja nicht zu fassen, wir mieten von den Hohenzollern, hier am Arsch der Welt,<br />

ein Haus. Wenn das meine Großmutter noch erfahren könnte, das ihr Enkel mit dem<br />

Kaiserhaus Geschäfte macht, sie wäre ganz aus dem Häuschen geraten.“<br />

Schulz grinste breit. „Das ist nur ein verarmter Ableger, zumindest hat er nicht so viel<br />

Knete wie die anderen Blaublüter in Deutschland. Mir ist es scheißegal, wer mir was<br />

vermietet, es kann meinetwegen auch der Kaiser von China sein.“<br />

Zwei Tage später wurde in der Kanzlei des Notars und Rechtsanwaltes Marco Antonio Longe<br />

in San José, die Gesellschaft HaPau Internetservices S.A. gegründet. Schulz wurde durch<br />

einstimmigen Gesellschafterbeschluss von Pauline und Holt zum Präsidenten ernannt. Nach<br />

costa-ricanischem Recht musste jedoch die Geschäftsführung einer Anonymen Gesellschaft<br />

aus drei Personen bestehen. Marco wies ausschließlich nur auf diesen einzigsten Punkt hin<br />

und schlug vor, dass Pauline als die Verantwortliche für Finanzen und er selbst als<br />

stellvertretender Präsident firmieren sollten. Auf die Frage, ob sich anwaltliche und notarielle<br />

Tätigkeit mit der geschäftlichen Tätigkeit nach costa-ricanischem Recht vereinbaren ließen,<br />

antwortete er, dass dies nur eine nichtssagende Formalität sei, die in Costa Rica üblich wäre.<br />

Holt, der die Aufrichtigkeit und Rechtmäßigkeit solcher Auskünfte eines ausländischen<br />

Kollegen nicht anzweifelte, gab sich mit den Antworten während und nach der Beurkundung<br />

zufrieden. Am Ende der Beurkundung unterzeichneten Pauline und Holt den<br />

Gründungsvertrag ihrer Gesellschaft.<br />

Im gleichen Moment hatten sie, was sie nicht ahnten und erst viel später erfahren<br />

sollten, ihre Gesellschaft in die Hand eines Mannes gelegt, der nicht in ihrem Sinne tätig<br />

werden wollte, der auf dem Sprung war, ihnen alles zu nehmen. Durch die Unterzeichnung im<br />

Gründungsvertrag erhielt Schulz die bekannte juristische Vollmacht Power of Attorney 41 und<br />

Marco als Vizepräsident Generalvollmacht, alles zu machen, was nicht ausdrücklich in einer<br />

Gesellschafterversammlung durch Holt und Pauline verboten oder angeordnet wurde. Mit<br />

keinem Wort wurden die Arglosen über die Wirksamkeit der Gesellschafterbeschlüsse oder<br />

den Umfang der in Costa Rica ausufernden Vollmachten eines Präsidenten der S.A.<br />

aufgeklärt.<br />

Alles lief so, wie Schulz es mithilfe seines Anwaltes Marco abgesprochen hatte, der<br />

im Moment der Unterschriftsleistung, das Schlimmste machte, was ein Rechtsanwalt und<br />

Notar gegenüber seinem Mandanten nur machen konnte, Mandantenverrat und Betrug.<br />

138


Der Angriff<br />

Schulz hatte von Mary, der amerikanischen Freundin des als Techniker gedachten Deutschen<br />

namens Ross, die Nachricht erhalten, dass dieser am Freitag mit der 16-Uhr-Maschine aus<br />

Houston landen würde. In den letzten E-Mails hatten Schulz und Ross ausgiebig über die<br />

nächsten Schritte geschrieben. Welche Pläne Schulz im Detail hatte, wusste Ross noch nicht,<br />

er konnte diese jedoch erahnen, da er Schulz gut kannte. Dieser hatte nur angekündigt, dass er<br />

für Ross einen „tollen Job“ habe, bei dem eine Menge Geld zu verdienen sei. Es hatte sich<br />

sehr euphorisch angehört. Als einer der letzten Passagiere erschien Ross. Er schleppte zwei<br />

riesige Koffer und eine Menge anderer, kleinerer Gepäckstücke mit sich. Schulz rieb sich die<br />

Hände, als er, das ganze Gepäck sah und ging auf Ross zu.<br />

„Na Alter, hast wohl all deinen Trödel mitgebracht?“<br />

Ross stelle das Gepäck ab, schaute sich nach einem Gepäckwagen um und grinste<br />

Schulz an, der erwartungsvoll alles fixierte. Er gab Schulz die rechte Hand und haute ihn mit<br />

der freien Hand auf die Schulter, dass Schulz leicht in die Knie ging.<br />

„Das sind mindestens dreißigtausend Dollar du Penner. Halte keine Maulaffen feil und<br />

pack mit an. Hast du Mary schon gesehen, sie muss doch schon durch sein?“<br />

„Ja, sie ist nur noch einmal kurz zurück um etwas zu holen. Wir sollen am Wagen<br />

warten, sie ist in ein paar Minuten zurück. Was will sie denn noch holen?“, wollte Schulz<br />

wissen.<br />

„Sei nicht so neugierig“, antworte er spontan, entschied sich jedoch Schulz etwas mehr<br />

zu sagen, „So machen wir es immer. Erst bringt sie ihre Sachen raus, checkt die Abfertigung,<br />

ob da jemand heute Dienst schiebt, auf den sie sich nicht verlassen kann. Wenn alles in<br />

Ordnung ist, geht sie zum Flieger, tut so, als ob sie was vergessen hätte und holt die Sachen.<br />

An der Abfertigung für das Personal wird sie dann nicht mehr kontrolliert. Der ganze<br />

Vorgang dauert nicht mehr als drei Minuten. So ist sie sicher und wenn sie mal erwischt<br />

werden sollte, sagt sie, das die Ware von einem Tico sei, den sie als Dauerpassagier kennt und<br />

nur einen Gefallen tun wollte, ein Paket für dessen Mutter mitzunehmen. Die Alte gibt es<br />

wirklich, bloß, sie ist schon mental hinüber und kann nichts verraten, weil sie nichts weiß.“<br />

Er lacht und während er die Koffer auf den Gepäckwagen legte, erklärte er den<br />

sprachlosen Schulz, „Die Ticos sind doch alle Heuchler. Wenn du von deiner armen alten<br />

Mutter sprichst, bekommen sie feuchte Augen. Die sind wie die Italiener, die von ihrer Alten<br />

sagen, sie sei eine Heilige. Das musst du immer ausnutzen Schulz, wenn du mit einem Tico<br />

zu tun hast. Die Mutter ist den Ticos sehr wichtig. Sie können sich nicht vorstellen, das zum<br />

Beispiel Deutsche wie du, von ihrer Mutter nicht viel halten.“<br />

„Stimmt Volker, sie ist mir egal.“<br />

„Ist doch dasselbe, ob dir jemand egal ist oder ob du nichts von ihm hältst. Es kommt<br />

doch auf dasselbe heraus.“ Er unterbrach sein Gespräch mit Schulz und schaute zu seinen<br />

Gepäck hinüber. „Pass auf, dass der Karton nicht runterrutscht, da ist noch ein<br />

Flachbildmonitor drin. Hab ihn billig abgegriffen, für nur hundert Dollar. Auf dem Markt<br />

kosten die jetzt noch um die tausend Dollar. Ist das ein Geschäft oder nicht?“<br />

„Wir haben doch schon genug Monitore,“ maulte Schulz, „Du hättest dafür paar<br />

Speicherchips mitbringen sollen, die kann man hier verticken oder in die Maschinen<br />

einbauen.“<br />

Mary stand schon am Wagen, als beide ankamen. Sie begrüßte Schulz kurz und flüsterte Ross<br />

etwas ins Ohr, der daraufhin für Schulz vernehmbar antwortete.<br />

„Du kannst laut sprechen, Schulz ist eingeweiht, außerdem ist er ja nicht dämlich und<br />

kann sich schon was denken. Also, es hat wieder mal geklappt. Wenn wir so weiter machen,<br />

sind wir in zwei Jahren gemachte Leute.“<br />

139


Schulz war mit seinem alten Cadillac gekommen, der einen größeren Kofferraum als der neue<br />

BMW hatte. Dennoch war der riesige Kofferraum schnell mit Ross Gepäck vollgepackt. Der<br />

Rest landete auf den Rücksitz neben Mary, die auch noch leichte Sachen auf den Schoß<br />

nehmen musste.<br />

Noch beim Einsteigen sagte er zu Ross auf dessen letzte Bemerkung eingehend, „So<br />

lange will ich aber nicht warten. Wir machen jetzt einen Deal. Ich hab es dir doch<br />

geschrieben, dass ich dich hier als Techniker brauche. Also pass jetzt genau auf, ich erklär es<br />

dir.“<br />

Während er das Auto steuerte, zog er mit der Linken aus seiner Brusttasche eine<br />

Zigarette, zündete sie am Zigarettenanzünder an und schaute grinsend zu Ross, der auf dem<br />

Beifahrersitz saß, hinüber. Sorgfältig präpariert legte er Schritt für Schritt seines Planes dar,<br />

der einfach und bestechend für Ross erschien. Schulz hatte nicht die Gabe, fließend und<br />

richtig Deutsch zu sprechen, aber Ross verstand auf Anhieb, was sich Schulz ausgetüftelt<br />

hatte. Er erkannte, dass sich Schulz durch seine letzten Tätigkeiten viel Wissen angeeignet<br />

hatte und auch wusste, wie man ein Sportsbook oder Onlinekasino aufzog, wie alles ablief<br />

und wie es ineinander verzahnt funktionierte. Schulz war unbestritten in der Lage, selbst so<br />

etwas in eigenem Namen zu machen, konnte es bislang aber nicht aus Mangel an eigenen<br />

Finanzen. Diesen Mangel wollte er durch einen geschickten Schachzug auf Kosten Anderer<br />

ausgleichen.<br />

Im Detail sah sein Plan so aus: Seine sehr guten Kenntnisse in der Computerbranche<br />

und in der spanischen und englischen Sprache sollten die Grundvoraussetzungen sein, um<br />

sich an potenzielle Investoren aus Nordamerika und Europa zu wenden, die in Scharen nach<br />

Costa Rica kamen. Weltweit war bekannt, dass Costa Rica für dubiose aber profitabelste<br />

Geschäfte bestens geeignet war. Diesen potenziellen Personenkreis beabsichtigte er dazu zu<br />

bewegen, in Costa Rica zu investieren.<br />

Zielgerichtet wollte er die potenziellen Investoren dazu überreden, in Costa Rica<br />

entweder ein "Sportsbook", 42 ein "Onlinekasino" oder beides zu errichten. Alle notwendigen<br />

Erledigungen wollte er durch Dienstleistungen selbst durchführen. Bei der Errichtung des<br />

Projektes beabsichtigte er, auch überflüssiges Inventar und überteuerte Technik zu erwerben.<br />

Von allen Einkäufen würde er sowieso mindestens zehn Prozent Kommission von den<br />

Verkäufern erhalten. Nachdem das Projekt gestartet war, wollte er die Geschäfte absichtlich<br />

so führen, dass sie keine Gewinne erzielen würden. Die Investoren wollte er durch angeblich<br />

notwendige, finanzielle Nachschüsse so lange schröpfen, bis diese überfordert und frustriert<br />

das Projekt aufzugeben gedachten. In dieser Situation wollte er die betrogenen Investoren<br />

dazu bewegen, Costa Rica wieder zu verlassen. Bevor diese das Land verließen, sollten sie<br />

Schulz die Vollmacht erteilen, zu retten, was noch zu retten war, faktisch sprichwörtlich den<br />

Bock zum Gärtner machen. Dabei wollte Schulz es immer so hinstellen, dass er selbst alles<br />

Erdenkliche getan habe, nur dass die Umstände derzeit ungünstig seien und die Behörden<br />

doch zu korrupt.<br />

Für die Palette der Betrügereien hatte er bereits die notwendigen Partner: Einen<br />

korrupten Rechtsanwalt, der allen Handlungen den rechtlich korrekten Anschein geben sollte,<br />

eine Dependance einer US-amerikanischen Computerfirma, einen Techniker, Ross, welcher<br />

für die Installation zuständig sein sollte und einen Softwareprogrammierer. Weiter hatte er<br />

eine Handvoll zwielichtiger Personen um sich herum, die für alle Dienste bereitstanden. Aus<br />

der Konkursmasse wollte er sich befriedigen, alles für sich selbst verwerten. Da die<br />

Investoren nun ausreichend gemolken waren und alles verloren hatten, nannte er diese<br />

Variante des Betruges zynisch die "Null - Option".<br />

Ross hatte mit offenem Mund zugehört. Man merkte es ihm an, dass er von Schulz<br />

Vortrag beeindruckt war. Als er immer noch schwieg, hakte Schulz nach.<br />

„Na Alter, was hältst du davon? Machen wir es?“<br />

140


„Der Plan ist großartig,“ antwortete Ross, „scheitert nur daran, dass wir keine<br />

Dummen finden, die sich melken lassen.“<br />

Schulz lehnte sich aufatmend zurück, legte eine längere Pause ein und grinste Ross<br />

breit an. „Die brauchen wir nicht erst finden, ich habe die Dummen schon, es sind meine<br />

Untermieter.“<br />

„Da kann’s mit dem Geld nicht weit her sein, wenn sie bei dir Untermieter sind. Wer<br />

Geld hat, mietet oder kauft sich ein eigenes Haus. Spinne nicht rum Schulz, wegen so einem<br />

unausgegorenen Mist lässt du mich aus den Staaten kommen?“, antwortete Ross ärgerlich.<br />

Schulz zeigte sich nicht beleidigt. Er lachte und machte vor Freude ein paar<br />

Schwenker beim Fahren, das Mary auf dem Rücksitz zu kreischen anfing.<br />

„Ross, als sie kamen, waren sie tatsächlich arm wie die Kirchenmäuse. Ich habe sie in<br />

der Villa Belén kennengelernt. Pauline war dort Verwalterin und er, Hans heißt er, hat jede<br />

Drecksarbeit in der heruntergewirtschafteten Anlage erledigt. Dann hatten sie Ärger mit dem<br />

Eigentümer, der sie beschissen hat. Als sie mich fragten, ob ich für sie eine Bleibe wüsste,<br />

habe ich ihnen meine zwei leer stehenden Zimmer angeboten. Seitdem sich meine Freundin<br />

verduftet hat, lebe ich ja allein in dem großen Haus. Sie zahlen über die Hälfte der Miete und<br />

außerdem ist immer jemand im Haus und die Ticos können nicht mehr einbrechen, um meine<br />

Technik zu klauen.“<br />

„Mann Schulz, ich krieg die Motten! Mit den paar Piseratzen willst du diesen Plan<br />

durchziehen?“<br />

„Wart ab, ich hab dir doch noch nicht alles erzählt. Abgesehen davon, dass sie mich<br />

wie einen Sohn behandeln und ich Geld spare, vertrauen sie mir blind. Den Hans hab ich<br />

schon voll eingewickelt, der glaubt, ich wäre sein Freund. Ich habe ihm ein paar<br />

Computertricks gezeigt und am Computer allein arbeiten lassen. Er ist richtig happy. Aber<br />

nun kommt das Schärfste. Hans hatte in Deutschland eine Firma, die hat angeblich Pleite<br />

gemacht, als ihn ein paar Geschäftspartner aufs Kreuz legen wollten. Er hat sie zwar verklagt,<br />

aber in der Zwischenzeit ist seine Firma trotzdem den Bach runtergegangen. Als er sich am<br />

Tiefpunkt seiner beruflichen Karriere befand, lernte er Pauline kennen und ist dann mit ihr<br />

nach Costa Rica gegangen. Er hat wohl selbst nicht mehr daran geglaubt, den Prozess zu<br />

gewinnen. Er hat ihn aber gewonnen! Vor einem Monat ist das Geld gekommen, ich habe<br />

durch Zufall die Kontoauszüge in seinem Schreibtisch gefunden. Wie er den Geldtransfer von<br />

fasst einer halben Million Dollar gemacht hat, weiß ich nicht, aber er hat jetzt eine Menge<br />

Schotter und den nehmen wir ihn wieder mit meinem Plan ab.“<br />

Ross hatte, immer aufmerksamer werdend, zugehört. „Mensch Schulz, du bist doch<br />

wirklich ein Schwein. Was haben dir die Leute getan? Du kannst sie doch nicht so einfach<br />

abziehen.“<br />

„Das is mir scheißegal, ich bin mein ganzes Leben rumgeschubst und ausgenommen<br />

worden, jetzt bin ich mal an der Reihe,“ antwortete er ärgerlich.<br />

Ross dachte nach und fragte zielgerichtet. „Nach deinem Plan bleibt ihnen nichts<br />

übrig, wie du sagst, die Null-Option, also Zero, Nichts. Du glaubst doch nicht etwa, dass die<br />

sich nicht wehren? Wenn du so etwas mit mir machen würdest, würde ich dir den Hals<br />

durchschneiden.“<br />

Schulzens Blick verfinsterte sich, seine blauen Augen schienen glasig zu werden. Mit<br />

stechendem Blick starte er Ross an, dem ein leichter Schauer über den Rücken lief, als er<br />

diesen Blick sah.<br />

„Klar Ross, sie haben jetzt nur die Null-Option, aber wenn sie mir Ärger machen,<br />

schaffe ich sie mir vom Hals, dann haben sie nur noch die Option zu sterben ... Option to<br />

die.“<br />

*<br />

141


Das von Holt zur Verfügung gestellte Haus gefiel Ross. Er konnte mit Mary zwei Zimmer im<br />

oberen Geschoss nutzen, die einige Tage zuvor, durch Schulz mit Möbeln ausgestattet worden<br />

waren. Mary hatte mitbekommen, dass sich Ross auf eine krumme Sache einließ, sagte jedoch<br />

nichts, da sie Ross in den Staaten überwiegend unterhalten hatte und froh darüber war, einen<br />

kleineren Abstand zu ihm gefunden zu haben, ohne ihn ganz zu verlieren.<br />

Mitte der 90er Jahre hatte Mary Volker Ross in einer Nachtbar in San José kennen<br />

gelernt. Seit Anfang der 90er Jahre arbeitete sie als Flugbegleiterin bei American Airways<br />

und flog zweimal in der Woche auf der Linie Houston – San José. Ihr Mann arbeitete auch bei<br />

der gleichen Fluglinie als Copilot. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sie immer ihren<br />

Dienst gemeinsam genommen, sodass sie nicht getrennt waren. Erst gegen Ende ihrer<br />

Schwangerschaft und ein Jahr bis nach der Geburt ihrer Tochter blieb Mary allein in Houston,<br />

während ihr Mann mit anderen Frauen, oftmals Flugbegleiterinnen der Gesellschaft, intime<br />

Kontakte pflegte. Sie hatte es herausbekommen, sich aber nicht scheiden lassen, weil die<br />

katholischen Eltern ihres Mannes für das gemeinsame Kind sorgen wollten und als<br />

Gegenleistung jedoch den Verzicht einer Scheidung durchsetzten.<br />

Nachdem sie wieder tätig war, flog sie jedoch auf anderen Linien, auf denen ihr<br />

getrennt lebender Mann, nicht eingesetzt wurde. Während der Aufenthalte an ihren Zielorten<br />

lebte sie ihre sexuellen Begierden aus, wobei sie bei der Auswahl ihrer nächtlichen Partner<br />

nicht gerade wählerisch war, sofern diese ihr sexuelle Abenteuer und Befriedigung<br />

versprachen. Dieses Leben änderte sich schlagartig, als Ross in ihr Leben trat. Nicht dass er<br />

ein besonders außergewöhnlicher Mann im Bett gewesen wäre, vielmehr gab ihr seine ruhige<br />

und sanfte Art ein Gefühl der Geborgenheit, auf das sie nach einigen stürmischen Nächten mit<br />

Ross nicht mehr verzichten wollte. Jedes Mal, wenn sie Costa Rica anflog, traf sie sich mit<br />

ihm und war glücklich, bis eines Tages im Herbst 1995 dieses Glück ein jähes Ende fand. Als<br />

sie damals in dem kleinen Appartement eintraf, war er nicht anwesend. Er kam auch nicht,<br />

während sie auf ihn wartete. Voller Sorge flog sie nach Houston zurück, ihre Anrufe brachten<br />

nichts, auf der Gegenseite nahm niemand ab. Diese Ungewissheit blieb fasst drei Wochen.<br />

Jedes Mal ging sie zur Wohnung, fand diese aber stets verlassen vor, sie konnte erkennen,<br />

dass während ihrer Abwesenheit auch keine weitere Person die Wohnung betreten haben<br />

konnte. Ihre Nachfragen in der Nachtbar, bei Nachbarn und der Polizei blieben ergebnislos.<br />

Nach drei Monaten erfolglosen Wartens gab sie auf und hakte vorerst die Episode Ross ab.<br />

Als sie ein halbes Jahr später noch einmal vorbei schaute, wohnten andere Leute in der<br />

Wohnung, die ihr bestätigten, dass der Vormieter spurlos verschwunden sei und der<br />

Vermieter die Wohnung daher neu vermietet habe. Mary stand vor einem Rätsel, das jedoch<br />

zwei Jahre später gelöst werden sollte.<br />

Im Frühjahr 1997 traf sie Ross überraschend wieder, als sie in Costa Rica den Santa Maria<br />

Airport verlassen wollte. Kurz bevor sich ihr Taxi in Bewegung setze, wurde auf einmal die<br />

Tür aufgerissen und ein Mann setzte sich neben sie, den sie auch auf Anhieb nicht gleich<br />

erkannte. Erst als sie sich über die flegelhafte und nicht erwünschte Art des Einstiegs<br />

beschweren wollte, stockte ihr der Atem. Neben ihr saß ihr verflossener und vermisst<br />

geglaubter Geliebter! Ross machte einen gehetzten, aber erleichterten Eindruck, als er Mary<br />

sah. Nachdem sie sich vom Schreck erholt hatte, erzählte er ihr noch während der Fahrt nach<br />

San José im Taxi den Grund seines Verschwindens.<br />

Im Sommer 1995 wurde Ross von einer ihm bekannten Österreicherin gebeten, für<br />

fünfzigtausend Dollar einen delikaten Auftrag zu erledigen. Die Frau hatte mit einem schwer<br />

reichen, aber älteren Landsmann mehrere Jahre in Grecia, westlich von San José gelegen,<br />

zusammengelebt, der sie mehr oder weniger aushielt. Da sie über genug Geld verfügten,<br />

stellte der ältere Mann auf Wunsch der Frau einen jüngeren Verwalter, einen aus Nicaragua<br />

stammenden Mann, ein. Dieser war Jahre zuvor der Geliebte der Österreicherin, die diese<br />

142


Beziehung wieder auffrischen wollte, ohne dass der ältere Mann etwas davon mitbekam. Der<br />

Verwalter bekam Einsicht in die wichtigsten Papiere und erkannte, dass der Alte reich war.<br />

Über seine Geliebte kam er zwar an ausreichend Geld heran, aber es war ihm nicht genug.<br />

Diese unbefriedigende Situation gedachte er, zu seinen Gunsten zu ändern. Diese Möglichkeit<br />

bot sich ihm im Frühjahr 1995, als die Österreicherin aus familiären Gründen dringend in ihre<br />

Heimat musste.<br />

Der Alte litt seit einiger Zeit an Alzheimer, jedoch nur in Schüben, sodass er noch<br />

lichte Momente hatte. Während so einer Phase überredete der Verwalter den Alten, mit ihm<br />

nach Nicaragua zu gehen, um dort einen Arzt aufzusuchen, der als Spezialist bekannt sei. Der<br />

Alte, der sich in den lichten Momenten auch seiner Krankheit bewusst war, sagte zu, bat aber<br />

die Rückkehr seiner Lebensgefährtin aus Österreich abzuwarten. Mit einiger Mühe gelang es<br />

dem Verwalter, den alten Mann das Warten auf die Frau auszureden. In Nicaragua, in der<br />

Nähe von Managua, hatte der Verwalter ein abgelegenes Haus von seinen dort lebenden<br />

Verwandten zur Verfügung gestellt bekommen. Bei einer Bank hatte er bereits ein Konto für<br />

den Mann errichtet, auf das in Zukunft die Gelder, Pensionen und Mieteinnahmen aus<br />

Österreich und Pachteinnahmen aus Costa Rica, fließen sollten. Noch bevor die Frau aus<br />

Österreich zurückkam, war der Verwalter, zusammen mit ihm in Richtung Nicaragua<br />

verschwunden. Die verblüffte Frau fand ein fast leeres Haus und leere Konten vor. Ihr war<br />

sofort klar, was geschehen sein musste und wer dahinter steckte, da sie die heimlichen<br />

Ambitionen ihres Geliebten kannte, auch seine Bereitschaft, krumme Dinger zu drehen.<br />

Bereits nach kurzer Zeit war sie im Bilde und bestens über den Verbleib des alten Herrn<br />

informiert.<br />

Die veranlasste Verlegung des Kontos von Costa Rica nach Nicaragua und die bei<br />

einer Bank in Managua hinterlegte, auch notariell in Nicaragua beurkundete<br />

Generalvollmacht zeigten, wo der Mann sich aufhielt. Auch die erschlichene Pflegschaft über<br />

den immer hinfälliger werdenden Alten, deutete auf den Aufenthaltsort, wo er sich nun gegen<br />

seinen Willen aufhielt. Sie erinnerte sich an diverse Gespräche, in denen ihr Geliebter von<br />

einem kleinen Ort in der Nähe Managuas geschwärmt hatte und es fiel ihr auch der Name<br />

wieder ein. San Miguel de Vera Cruz.<br />

Die Frau hatte im Laufe ihrer Partnerschaft mit dem Alten eine Menge Geld<br />

beiseitegeschafft. Sie wäre auch ohne ihn nicht arm geblieben. Ross hatte einmal bei ihr einen<br />

Computer eingerichtet und in der Folgezeit auch verschiedene Software installiert. Da sie sich<br />

mit diesem auf Deutsch unterhalten konnte, hatte sie sich auch öfters mit Ross getroffen, der<br />

sie in verschiedenen Angelegenheiten beraten hatte und beim Erwerb von technischen<br />

Geräten behilflich war. Er hatte ihr nicht verheimlicht, dass er ein Abenteurer war und dass<br />

ihm bestimmte Aufträge delikater Natur nicht fremd seien. Die Frau hatte den Inhalt dieser<br />

Gespräche in Richtung Verbotenem, stets als Übertreibungen von Ross angesehen, jedoch mit<br />

einem Korn der Wahrscheinlichkeit. Nun, da sie einen bereitwilligen Gehilfen suchte, der sich<br />

von Risiken nicht abschrecken ließ, erinnerte sie sich erneut an Ross.<br />

Für fünfzigtausend Dollar sagte dieser zu, den alten Mann von Nicaragua nach Costa<br />

Rica wieder zurück zu entführen. Nach einiger Zeit der Vorbereitung verschwand Ross<br />

ebenfalls in Richtung Nicaragua. Die Rückentführungsaktion endete für Ross im Desaster. Er<br />

hatte nicht damit gerechnet, dass der Entführer auf sein Kommen oder das Kommen eines<br />

Anderen vorbereitet war. Gewarnt durch einen Anwalt aus San José, der den Entführer und<br />

dessen Ex-Geliebte kannte, konnte dieser Gegenmaßnahmen einleiten. Ross wurde beim<br />

Ausspähen des Hauses, in dem er den Alten vermutete, beobachtet. Während er in näherer<br />

Umgebung des Hauses seinen Beobachtungen nachging, wurde sein Zimmer in Managua von<br />

Freunden des Verwalters durchsucht, die bei der Polizei tätig waren. Die im Zimmer<br />

gefundenen Beweismittel hätten ausgereicht, Ross wegen einer in Nicaragua geplanten und<br />

begonnenen Straftat hinter Schloss und Riegel zu bringen. Der Verwalter, der ja selbst Dreck<br />

am Stecken hatte und die Wahrheit scheute, überzeugte seine Freunde jedoch davon, diesen<br />

143


nicht zu stellen, sondern bei seiner geplanten Aktion ins offene Messer laufen zu lassen und<br />

ihn zu erschießen.<br />

In einer Nacht, als Ross sich das Haus näher anschauen wollte, schlugen sie zu. Beim<br />

Überklettern einer Umgrenzungsmauer wurde er von zwei Kugeln getroffen, welche die<br />

angeheuerten Polizisten auf ihn, ohne Vorwarnung, abschossen. Ross fiel getroffen und stark<br />

blutend vorwärts von der Mauer auf das Grundstück. Das rettete ihm das Leben. Bevor die<br />

Täter auf das Grundstück kommen konnten, wurden Nachbarn aufmerksam, die bei einer in<br />

der Nähe gelegenen Polizeistation anriefen, dass Schüsse gefallen seien. Die schnell<br />

eintreffenden Polizisten hinderten die zu Verbrechen gedungenen Polizisten davor, Ross den<br />

Rest zu geben. Sie gaben allerdings vor, hier zufällig vorbei gekommen zu sein und Ross<br />

beim Überklettern der Mauer gesehen zu haben. Auf ihr Anrufen habe der vermeintliche<br />

Einbrecher eine Waffe gezogen, sodass sie sofort das Feuer eröffnet hätten. Die Polizei fand<br />

auch eine Waffe bei Ross, die steckte jedoch noch im Gürtel und niemand fragte sich, wie es<br />

Ross geschafft haben sollte, getroffen und fallend die Waffe hinten in den Gürtel zu stecken.<br />

Die Polizeiärzte flickten Ross im Haftgefängnis von Massaya zusammen. Ross, der<br />

mit der Wahrheit nicht heraus kommen konnte, wurde aufgrund der belastenden Aussage der<br />

Polizisten wegen versuchten schweren Einbruchs, unter Beiführung einer Schusswaffe und<br />

wegen versuchter Tötung der eingreifenden Polizisten zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren<br />

verurteilt. Nachdem er genesen war, wurde er in die Haftanstalt überführt. Die Österreicherin<br />

hatte einige lückenhafte Informationen vom verräterischen Anwalt erfahren und sich sofort<br />

Gedanken darüber gemacht, wie sie Ross aus Nicaragua heraus bringen könnte. Der Anwalt<br />

sah darin eine weitere Möglichkeit, leichtes Geld zu verdienen. Die frustrierte Frau brachte<br />

noch einmal hunderttausend Dollar auf, um Ross Flucht zu finanzieren. Das Geld übergab sie<br />

dem Anwalt. Dieser hielt bezüglich des Ergebnisses sein Wort. Den größten Teil des Betrages<br />

behielt er aber selbst. Über einen Verwandten, ebenfalls Anwalt in Nicaragua, wurde ein<br />

Wächter für zehntausend Dollar bestochen, Ross während einer Nachuntersuchung im<br />

Haftkrankenhaus entkommen zu lassen. Noch vor der medizinischen Untersuchung übergab<br />

der bestochene Wächter an Ross eine provisorische Identifikationskarte, fünfzig Dollar und<br />

eine Busfahrkarte, zu einem kleinen Fischerort an der Karibik. Ein, dem Wächter bekannter<br />

Schmuggler, brachte Ross illegal über dem Seeweg nach Porto Limon. In San José konnte<br />

Ross anfänglich bei alten Bekannten unterkommen und in einem kleinen Computerladen ein<br />

wenig Geld verdienen. Noch in Massaya hatte er, durch Zufall, von einem Haftkameraden<br />

erfahren, dass der Verwalter, den er sehr gut aus der gemeinsamen Jugendzeit kannte, auch<br />

einen sehr guten Kontakt zu dem Anwalt der Österreicherin in San José hatte. Ross konnte<br />

sich die Zusammenhänge zusammen reimen. Drei Wochen nach seiner Ankunft fand man den<br />

Anwalt erschossen in einer Tiefgarage. Ross, der noch beim Zusammensparen einer sauberen<br />

Schusswaffe war, sah sich eines Vergnügens beraubt, als er über den Mord in der Zeitung las,<br />

aber er war befriedigt und voller Genugtuung.<br />

Seine Möglichkeiten, so kurze Zeit nach den Ereignissen in Nicaragua, in Costa Rica wieder<br />

Fuß zu fassen, ohne bei den Behörden aufzufallen, waren begrenzt. Da Ross bei seiner<br />

Inhaftierung Papiere aus Costa Rica bei sich trug, wurde die costa-ricanische Botschaft in<br />

Managua über den Vorgang, jedoch nur aus der Sicht der dortigen Polizei, informiert. Ross<br />

kannte die Arbeitsweise der costa-ricanischen Polizei und konnte auf dessen Ineffizienz und<br />

Bestechlichkeit vertrauen. Zu schaffen machte ihm nur die Tatsache, dass bei einer Flucht<br />

verurteilter Straftäter, stets Interpol informiert wurde und diese die Flüchtlinge auf eine<br />

Fahndungsliste setzten. In Costa Rica gab es eine Dienststelle von Interpol und Ross war sich<br />

nicht sicher, ob die Ticos in diese Behörde nicht zufälligerweise kompetentere Polizisten<br />

delegiert hatten. Er musste für mindestens zwei Jahre aus Costa Rica verschwinden.<br />

In dieser verzwickten Situation hielt Ross sich zurück, mehr als notwendig in der<br />

Öffentlichkeit zu erscheinen. Durch Bekannte aus Deutschland ließ er sich den Reisepass<br />

144


seines zwei Jahre jüngeren Bruders schicken, der in der Nähe von Hamburg lebte und den<br />

Pass als verloren bei der Polizei meldete. Nachdem er den Kontakt zu Mary wieder<br />

aufgenommen und seine Beziehung erneuert hatte, ging es ihm nur darum, ohne<br />

Einreisevisum im Pass seines Bruders, aus Costa Rica heraus zu kommen. Mary half ihm<br />

dabei. Ausgerüstet mit einem echten Flugticket nach Houston auf den Namen des Bruders,<br />

dessen Pass und etwas Geld in der Tasche passierte er in blauer Uniform und einem<br />

Namensschild der American Airways am Revers, den Personaleingang am Flughafen.<br />

Während er an der Kontrolle unbehelligt vorbeiging, lenkte Mary den kontrollierenden<br />

Grenzbeamten mit einem besonders tiefen Ausschnitt und ein paar netten Worten ab. Das<br />

Betreten des amerikanischen Bodens in Houston war einfach. Nachdem er beim Betreten des<br />

Flugzeuges das Namensschild abgenommen und die blaue Jacke mit einer grauen in der<br />

Bordtoilette getauscht hatte, nahm er als ganz normaler Passagier seinen für ihn reservierten<br />

Platz ein. Zwei Jahre später betrat er wieder costa-ricanischen Boden, um das Geschäft seines<br />

Lebens machen zu können.<br />

*<br />

Ross machte auf Pauline und Holt einen guten Eindruck. Er erschien zur<br />

Einweisungsbesprechung im Bürohaus ordentlich gekleidet, in einem leichten Leinenanzug,<br />

mit offenem Hemd und italienischen Designerschuhen. Seine langen Haare waren nach hinten<br />

zu einem Zopf zusammengebunden. Auf der Straße hätte man ihn leicht als einen Playboy<br />

halten können. Sein Gesicht, die Brust, sichtbar im Hemdausschnitt und die Arme waren von<br />

der Sonne gebräunt. Mit sonorer, aber leiser Stimme, stellte er sich vor. Holt, der bereits am<br />

Anfang des Gespräches fragte, was die Anwesenden trinken möchten, war überrascht, von<br />

Ross zu hören, dass dieser alles außer Tomatensaft trinken könnte. In Anbetracht der<br />

Tagesordnung aber gerne einen Kaffee oder ein Wasser bevorzugen würde. Auf Holts<br />

irritiertem Blick, hinsichtlich des Tomatensaftes, erklärte er, dass er eine Allergie habe, die<br />

ihn nach dem Genuss von Tomatensaft oder Tomaten umbringen könnte. Das von Schulz<br />

vorgeschlagene Gehalt akzeptierte er, ohne noch einmal darüber sprechen zu wollen.<br />

Schulz hatte seine Möbel, sonstigen Hausrat und die Harley Davidson von Brettschneider mit<br />

einem großen Lastkraftwagen abholen lassen. Der Cadillac war bereits vor einigen Tagen<br />

verschwunden. Schulz, der mit dem BMW nachgekommen war, holte aus der Laundry ein<br />

altes Bettlaken und breitete dieses über die Rücksitze. Holt, der das sah, fragte nach dem<br />

Grund, weil er etwas ahnte.<br />

„Mike, was willst du da noch verladen?“<br />

Schulz zupfte das Bettlaken über die Vorderlehne und antwortete. „Die Hunde, die<br />

machen mir sonst alles mistig.“<br />

„Das kannst du nicht machen!“, antwortete Holt erschrocken. „Wer soll uns hier vor<br />

Einbrechern schützen?“<br />

„Na, die Flaschen an den Zäunen, sind doch `ne gute Warnanlage. Die Hunde brauch<br />

ich doch am Bürohaus.“<br />

Holt, der einsah, dass dort auch Hunde nötigt waren, wollte jedoch nicht total<br />

einlenken. „Lass uns wenigsten Lucky noch für zwei oder drei Monate hier. Wir werden uns<br />

einen jungen Hund besorgen und da ist es besser Lucky bleibt noch eine Weile. Flaco sollte<br />

doch auch vorübergehend alleine ausreichen.“<br />

Schulz, der wusste, dass Holt an den Hunden hing und der keine Verstimmung<br />

riskieren wollte, kam Holt entgegen. „Okay, ich lasse Lucky hier, bis der neue Hund ein<br />

wenig herangewachsen ist.“<br />

145


Holt hatte mitbekommen, dass zwischen Brettschneider und Schulz etwas nicht richtig<br />

lief. Nachdem Brettschneider vom Grundstück abfuhr, fragte er noch schnell Schulz, „Was ist<br />

los Mike? Der Brettschneider macht ein Gesicht, als ob er Zahnschmerzen hat.“<br />

„Der ist stinkig,“ antwortete Schulz, „er wollte von mir die Harley haben, weil er mein<br />

Freund sei. Ich habe ihn gefragt, ob er bescheuert wäre, was für einen Grund ich haben sollte,<br />

so einem Loser wie ihm, etwas zu schenken.“<br />

„Na, ich glaube, dass mit dem Loser hättest du nicht so direkt sagen sollen.“<br />

„Ach was, er ist ein Schmarotzer, er geht mir auf’n Keks. Ich hatte ihm beim Bäcker<br />

Hans in Guanacaste einen Job besorgt. Nach drei Tagen hat er ihn geschmissen, weil er Brote<br />

austragen musste. Der Herr war sich für körperliche Arbeit zu fein. Nun steh ich beim Bäcker<br />

blöd da, so einen Affen wie Brettschneider empfohlen zu haben.“<br />

Holt konnte das verstehen, er hatte Brettschneider auch in dieser Richtung<br />

eingeschätzt. Immer wenn er bei Schulz zu Besuch war, hatte er eine unsichtbare Wolke von<br />

Asozialität und ordinärer Lebensweise verbreitet. Holt fragte sich, ob es wahr sein konnte,<br />

dass dieser Mann in der deutschen Bundeswehr Offizier gewesen und später in Costa Rica bei<br />

der Ausbildung der Präsidentengarde beteiligt war. Aber Menschen ändern sich zum Guten<br />

wie zum Schlechten.<br />

Lucky schien sichtlich traurig, Flaco nicht mehr zu haben. Mit großen braunen und traurigen<br />

Augen schaute sie immer zum Schiebetor, als ob sie die Rückkehr ihres Hundemannes<br />

erwartete. Lucky tat Holt leid. Am Abend, als Pauline vom Besuch Bonnies, ihrer Freundin<br />

aus Santa Aña, zurück war, sprach er Luckys Problem an.<br />

Pauline hörte zu und antwortete. „Du erinnerst dich doch noch an den Tierarzt aus der<br />

Mall an der Autopista? Ich habe seine Visitenkarte bekommen, als wir Flaco wegen der<br />

Risswunde im Ohr dort versorgen ließen. Er hat manchmal auch Welpen zu verkaufen. Ich<br />

werde dort mal anrufen und fragen, ob er für uns einen kleinen Rotti hat.“<br />

Das Telefongespräch sollte die Zukunft entscheidend beeinflussen. Der Tierarzt<br />

erinnerte sich an Pauline und Holt, er teilte mit, dass er zurzeit noch zwei kleine<br />

Rottweilermädchen habe, die er jedoch erst in zwei Wochen verkaufen könnte, da sie noch bei<br />

der Mutter seien. Pauline bat darum, die beiden Welpen zu reservieren, sie würde diese dann<br />

mit Holt in zwei Wochen besichtigen und vielleicht gleich alle zwei kaufen.<br />

Als Holt, zusammen mit Pauline, zwei Wochen später die Tierarztpraxis betrat, stach ihnen<br />

sofort der gegenüberliegende große Hundekäfig ins Auge, in dem zwei Winzlinge mit großen<br />

brauen Augen erwartungsvoll die eintretenden Zweibeiner betrachteten. Pauline brach in<br />

Entzücken aus, ging zum Käfig und stupste beide Hündchen auf die feuchten, schwarzen<br />

Nasen, die vor Freude anfingen laut zu jaulen. Holt, der hinter Pauline stand, brach in Lachen<br />

aus. Ein Welpe hatte nicht an sich halten können und die Tropfen fielen auf Paulines Fuß.<br />

„Wir nehmen beide,“ wandte Holt sich an den Tierarzt, der durch den Lärm angelockt,<br />

aus seinem Büro getreten war.<br />

Während der Tierarzt die Papiere, Hundestammbaum und Kaufvertrag fertig machte,<br />

hatte Holt die Hundchen aus dem Käfig genommen und beide links und rechts in der<br />

Armbeuge gehalten. Beide schauten nach oben, ein Welpe leckte an Holts Kinn, während der<br />

andere versuchte, die in der Hemdtasche steckende Sonnenbrille anzubeißen. Der Anfang war<br />

gut gelaufen, sie hatten sich nicht verängstigt gezeigt, im Gegenteil, sie schienen sehr<br />

neugierig und frech zu sein.<br />

Während der Rückfahrt ging Pauline auf die Bedenken ein, wie wohl Lucky auf die<br />

fremden Welpen reagieren würde. Der Tierarzt hatte gesagt, dass in Einzelfällen Hündinnen<br />

fremde Welpen nicht akzeptierten und auch schon tot gebissen hätten.<br />

146


Holt sah darin keine Probleme. „Lucky ist eine friedfertige Natur. Zur Sicherheit<br />

werden wir die Beiden hinten in der Laundry einsperren und morgen am Tag ganz sachte mit<br />

Lucky bekannt machen.“<br />

„Na, wenn das mal gut geht, Hans,“ antwortete Pauline. „Du kannst dich doch noch an<br />

den kleinen Hund erinnern, den Raffa einmal mitbrachte. Lucky hätte den tot gebissen, wäre<br />

Mike nicht dazwischen gegangen.“<br />

„Das ist ganz was anderes. Der Hund war zwar kleiner als Lucky, jedoch kein Welpe.<br />

Außerdem war dieser auf Luckys Napf zumarschiert und hatte daraus fressen wollen. Es war<br />

Luckys Napf und ihr Revier, es ist was anderes, wenn wir ihr Morgen die Kleinen dann<br />

vorsetzten, wird sie bestimmt diese als Hundebabys erkennen und ihnen nichts tun,“<br />

antwortete Holt, obwohl er im Inneren nicht ganz davon überzeugt war.<br />

Die Welpen wurden nicht wie ursprünglich geplant in der Laundry, sondern in der Küche<br />

untergebracht. Pauline hatte ein extra großes Stofftuch in einer Küchenecke vorbereitet und<br />

daneben einen doppelteiligen Hundenapf mit Milch und Trockenfutter gestellt. Kurz bevor<br />

Holt zu Bett ging, schaute er noch einmal bei den neuen Hausgenossen nach. Diese lagen auf<br />

der Decke, hoben ihre kleinen Köpfe und schauten Holt groß an. Nachdem sie mit einem<br />

kleinen Seufzer ihre Köpfchen wieder auf die Decke gelegt hatten, ging Holt zurück ins<br />

Schlafzimmer. In der Nacht wurde er durch ein unbestimmtes Geräusch wach. Er schaute zu<br />

Pauline herüber, die jedoch auf der Seite liegend, fest schlief. Mit einem flauen Gefühl im<br />

Magen ging Holt durch den Salon in Richtung Küche, aus dem er weitere Geräusche<br />

vernahm. Als er die Schwingtür öffnete, sah er die Bescherung. Die Küche war regelrecht<br />

verwüstet. Zwischen Fressensresten, ausgekippter Milch, angenagten Zeitungen, umgekippten<br />

Schemeln und vielen kleinen Haufen Hundekot lagen die Welpen am Fußboden und spielten<br />

mit Küchengeräten, die sie vom Counter herunter geangelt hatten. Holt brauchte fasst zwei<br />

Stunden, bis wieder Ordnung in der Küche hergestellt war. Während der Säuberungsaktion<br />

saßen die kleinen Welpen in einem größeren Karton, ihre Pfoten am oberen Rand festhaltend,<br />

damit sie ihre Nasen noch über den Rand stecken konnten, um zu sehen, wie Holt sich<br />

abschuftete.<br />

Nachdem die Aufräumarbeiten beendet und die noch benutzbaren Küchengeräte in<br />

Sicherheit gebracht waren, wurden die kleinen Übeltäter wieder auf das Tuch gesetzt. Sie<br />

sahen ganz brav aus, als Holt ging. Am nächsten frühen Morgen fand er beide im Salon, den<br />

sie zu einer Müllhalde umgewandelt hatten. Mit vereinten Kräften mussten sie die Schwingtür<br />

in der Nacht aufgedrückt, den Salon inspiziert und nach ihrem Geschmack neu geordnet<br />

haben. Als Pauline den Salon betrat, um nach dem Rechten zu schauen, hatte Holt zum<br />

zweiten Mal innerhalb von acht Stunden größere Aufräumarbeiten erledigt. Die Welpen lagen<br />

auf dem Stoff in der Küche und schliefen den Schlaf der Gerechten. Pauline sagte nur, „Ach<br />

Ihr lieben Kleinen, so brave Mädchen,“ worauf Holt jedoch aus bestimmten Gründen nicht<br />

eingehen wollte.<br />

Lucky beäugte durch die Gitterstäbe ihres Hundegatters die Welpen, die in einem großen<br />

Karton im Carport saßen und über den Rand interessiert zu Lucky hinüberschauten. Pauline<br />

und Holt hatten die Szene beobachtet. Da sich beide Parteien nur neugierig anschauten,<br />

beschloss Holt spontan, die Kleinen vor das Gatter zu setzen und die Reaktion der Hündin<br />

abzuwarten. Sicherheitshalber nahm er nur ein Hündchen aus dem Karton, zufälligerweise das<br />

kleine Mädchen mit dem längeren Stummelschwänzchen. Ungefähr zwei Meter vor dem<br />

Gatter setzte er Betti, wie er sie nun nannte, auf dem Fußboden ab. Betti lief mit kleinen<br />

trippelnden Schritten schnurstracks auf Lucky zu, die große Augen und einen langen Hals zu<br />

machen schien. Direkt vor dem Gitter stoppte sie und fing laut an zu jaulen. Holt vermeinte<br />

sie verstehen zu können, wie sie „Mama, meine Mama“ rief. Lucky schnüffelte aufgeregt an<br />

der kleinen Nase des Welpen, welche diese durch das Gitter gesteckt hatte. Ganz langsam<br />

147


drückte Holt das Gitter auf. Sofort schob sich das Hundebaby durch den kleinen Spalt und lief<br />

auf Lucky zu. Holt stockte der Atem. Was würde nun geschehen? Lucky beschnüffelte das<br />

Kleine, drückte es mit ihrer großen Schnauze auf die Seite und leckte das schmutzige<br />

Bäuchlein, was dieses mit viel Wohlgefallen erduldete. Der Welpe mit dem kürzeren<br />

Stummelschwänzchen, Alfi, hatte über den Rand des Kartons alles beobachtet und fing nun<br />

schrill zu jaulen an, als sie ihre Schwester bei Lucky sah. Holt hob nun auch diese aus dem<br />

Karton und setzte sie zu Boden. Wie ein Blitz schoss sie auf Lucky zu, die fragend auf das ihr<br />

zulaufende Hündchen schaute: „Noch ein Baby?“, schien sie zu denken. Alfi ließ sich erst gar<br />

nicht säubern, sie suchte sofort die Zitzen Luckys, um sich daran festzusaugen. Lucky, die<br />

bereits seit einigen Monaten keine Milch mehr hatte, schob die hungrige Alfi mit der<br />

Schnauze von den Zitzen weg, warf sie um und begann die heftig Strampelnde zu säubern.<br />

Als Pauline und Holt eine Stunde später nach dem Rechten schauten, lagen die Welpen, dicht<br />

gedrängt an ihrer neuen Mama und schliefen fest. Lucky hatte die Zwei als ihre Kinder<br />

angenommen, es gab keine Probleme, wie der Tierarzt es für möglich gehalten hatte.<br />

Pauline und Holt hatten genug zu tun, ihr Heim umzubauen, einzurichten und mit dem neuen<br />

Mercedes die Umgebung abzufahren, auf der Suche nach passenden Baumaterialien und<br />

Hausrat. Durch die Vermittlung Mikes sprachen sie mit dem Eigentümer des Hauses. Sie<br />

wurden als neue Mieter akzeptiert und hatten die Option, das Haus für neunzigtausend Dollar<br />

zu kaufen. Holt, der aus den Geschäftsgewinnen der nächsten Monate den Kaufpreis<br />

entnehmen wollte, holte sich auch die Genehmigung des Eigentümers, erhebliche<br />

Veränderungen am Haus bereits vor dem Kauf vornehmen zu können, ohne das sich der<br />

Kaufpreis durch die Wertsteigerung verändern sollte.<br />

Als Hilfe bei den umfangreichen Arbeiten am und um das Haus, den Terrassen und dem<br />

Garten, hatte Mike einen Tico namens Alvaro empfohlen. Dieser stammte aus einer<br />

bekannten und alten Großgrundbesitzerfamilie, die bei Heredia mehrere Kaffeeplantagen<br />

besaß. Als fünfter Sohn des Hidalgo José Maria Guadeloupe de Nuñez hatte Alvaro zwar eine<br />

gute Ausbildung als Landwirt erhalten, jedoch nicht die Chance, einmal auf den väterlichen<br />

Plantagen selbst als Jefe das Geschick lenken zu können. Er war dazu verdammt, bei anderen<br />

Plantagenbesitzern als Lohnempfänger zu arbeiten. Nach einigen Jahren war ihm die Tätigkeit<br />

in den Plantagen zuwider, er ließ sich von einem Mexikaner anwerben, für diesem in der<br />

Nähe von Mexiko Stadt bei Bauvorhaben mitzuwirken. Dort erlernte Alvaro zwar keinen<br />

richtigen Beruf, jedoch nahm er alle sich ihm anbietenden Kenntnisse begierig auf, sodass er<br />

nach wenigen Jahren in der Lage war, alle Arbeiten alleine zu erledigen, die im<br />

Zusammenhang mit einem Hausbau anfielen. Alvaro war ein Allroundhandwerker, ohne das<br />

er Zeugnisse dafür vorlegen konnte. Zurück nach Costa Rica hatte ihn nur das Heimweh<br />

getrieben.<br />

Holt stellte Alvaro als Faktotum ein. Bereits beim Einstellungsgespräch offenbarte er<br />

umfangreiche englische Sprachkenntnisse, er ging auf Holts Bauvorschläge ein, beantwortete<br />

seine Fragen und kam bereits mit guten Ideen heraus, wie man das Anwesen ausbauen könnte.<br />

Wie Ross, so war auch Alvaro ein groß gewachsener Mann mit, für Frauen sicherlich<br />

beeindruckender Figur, gutem Benehmen und sauberem Erscheinungsbild. Sofort nach der<br />

Einstellung sprach er Holt mit „Sir“, manchmal auch mit „Don Miguel“ und Pauline stets mit<br />

„Doña Pauline“ an, was nicht ohne Eindruck blieb. Nach zwei Monaten waren der Garten und<br />

die direkte Umgebung des Hauses nicht mehr wieder zu erkennen. Holt hatte mit Alvaros<br />

Hilfe ungefähr fünfundvierzigtausend Dollar verbaut, er war ganz und gar auf das Haus<br />

fixiert, sodass er die Entwicklung in der Firma erst spät, eigentlich zu spät, mitbekam.<br />

Mike kam einmal in der Woche nach Bello Horizonte, um Pauline und Holt über die<br />

Entwicklung des Geschäfts zu informieren. Obwohl keine Zahlen, wie beim damaligen<br />

148


Besuch im Kasino des Amerikaners Steve, vorlagen, schien es jedoch eine Entwicklung mit<br />

Steigerungstendenz zu geben. Die täglichen Einnahmen tröpfelten erst spärlich, wurden zu<br />

einem kleinen Rinnsal, was stetig anschwoll und bei dieser Entwicklung versprach, in<br />

wenigen Monaten zu einem reißenden Gebirgsbach zu werden. So jedenfalls hoffte es Holt.<br />

Zuletzt lagen die Tageseinnahmen bereits bei ungefähr siebentausend Dollar, also bei zehn<br />

Prozent der Tageseinnahmen, die das bereits seit acht Monaten laufende Kasino „Pik-Ass“ zu<br />

verzeichnen hatte, wie es Holt ja selbst auf dem Kontrollmonitor gesehen hatte.<br />

Bei der vorletzten Besprechung sollte sich das Blatt wandeln. Schulz teilte mit, dass<br />

keine größeren Einnahmen mehr zu verzeichnen wären, da offensichtlich eine russische<br />

Hackerbande in das System des Kasinos eingedrungen sei, die alle bisherigen Einnahmen, bis<br />

auf einen kleinen Restbetrag, abgeräumt hätten. Weitere illegale Zugriffe seien aber nicht<br />

mehr möglich, da er für zweiunddreißigtausend Dollar eine extra Sicherung eingebaut habe.<br />

Diese Sicherungsmaßnahme würde in der Branche als „Firewall“ bezeichnet. Holt, der wegen<br />

des von Schulz dargelegten Rückschlages sauer reagierte, zeigte sich jedoch zufrieden durch<br />

die von Schulz eingeleitete Sicherungsmaßnahme mit dem Firewall. Hoffnungsvoll erwartete<br />

er die nächste Besprechung.<br />

Schulz kam zur Besprechung, wieder mit Hiobsbotschaften. Die Sicherungsmaßnahme<br />

hätte zwar gegriffen, aber das zwischengeschaltete Clearinghouse verlange wegen der<br />

erhöhten Gefahr durch Hackereinbrüche einen höheren Sicherheitseinbehalt, außerdem wäre<br />

noch der Erwerb eines zusätzlichen Servers notwendig, da die Verteilung der Aktivitäten auf<br />

zwei Servern das Risiko halbieren würde. Holt schien diese Argumentation einleuchtend und<br />

versprach, nach einer Besprechung mit Pauline, welche die privaten Finanzen verwaltete, das<br />

Geld zu besorgen. Pauline war zwar über diese Entwicklung nicht erfreut, willigte jedoch ein,<br />

da es ja im Grunde nicht ihr Geld war und sie nicht beabsichtigte, Holt Steine in den Weg zu<br />

legen. Kurz vor Weihnachten übergab sie Schulz noch einmal fünfundsechzigtausend Dollar.<br />

Sie hatte das Geld bar abgehoben und für Schulz bereitgehalten, um es ihm bei der<br />

wöchentlichen Besprechung zu übergeben.<br />

„Mike willst du uns linken?“, begann sie das Gespräch anlässlich der Übergabe des<br />

Geldes. „Ich kann es nicht so recht glauben, dass mit einem Mal nichts mehr laufen soll. Was<br />

macht dich so sicher, dass es jetzt wieder funktionieren soll?“<br />

Mittlerweile hatte sie sich einige von Schulz erstellte Papiere angeschaut. Sie war<br />

hinsichtlich der vielen Fehler und Unrichtigkeiten in diesen Papieren erschrocken, was sie an<br />

der Kompetenz Schulz zweifeln ließ. Sie erinnerte sich noch genau an die<br />

„Abrechnungsbelege“, die Schulz in der Villa Belén erstellt hatte. Diese glichen in ihrer<br />

Mangelhaftigkeit die, welche er Pauline nun vorlegte.<br />

Schulz, der das Misstrauen Paulines erkannte und die Gefahr sah, das Holt unbequeme<br />

Fragen stellt, welche er nicht beantworten konnte und wollte, hatte bei dieser Besprechung<br />

große Mühe, das Misstrauen Paulines, wenn nicht gänzlich zu zerstreuen, jedoch zumindest<br />

einzudämmen. Holt, der intuitiv verspürte, dass etwas faul war, merkte auch, dass Pauline<br />

sich mit der Argumentation von Schulz nicht zufriedengab. Er wandte sich direkt an Schulz,<br />

ohne sich vorher mit Pauline abgesprochen zu haben.<br />

„Mike, ich schau mir das nicht mehr lange an. Du hast mir versprochen, die Kiste ist<br />

sicher. Das ist sie offensichtlich doch wohl nicht. Wenn ich kein Vertrauen zu dir hätte, wärst<br />

du bereits schon auf der Straße. Ich gebe dir und dem Ross genau vierzehn Tage, dann muss<br />

sich das Blatt gewendet haben. Wenn du bis dahin keine befriedigende Antwort auf unsere<br />

Probleme hast und kein weiteres Geld gemacht wird, muss ich dich entlassen, so leid es mir<br />

auch tut.“<br />

Schulz war während dieser Worte blass und nervös geworden. Pauline hatte sich nicht<br />

weiter dazu geäußert, bis auf das sie zu Holts Worte mit dem Kopf bestätigend nickte.<br />

149


„Das ... das ..., das kannst du doch nicht mit mir machen!“, stammelte Schulz. „Ich hab<br />

doch alles Menschenmögliche getan, das Kasino zum Laufen zu bringen. Das mit den<br />

Hackern, das ist doch nicht meine Schuld.“<br />

„Das hättest du als Fachmann wissen müssen,“ entgegnete Pauline. „Nachdem das<br />

Kind in den Brunnen gefallen ist, diesen abzudecken ist wohl zu spät. Ich bin auch der<br />

Meinung von Hans, du bekommst noch einmal vierzehn Tage, um die Karre aus dem Dreck<br />

zu ziehen. Weiter möchte ich für jede Ausgabe auf Heller und Pfennig eine Rechnung sehen.<br />

Außerdem bitte ich dich, mir sämtliche Abrechnungsbelege im Original zu übergeben, damit<br />

ich sie prüfen kann. Mit deinen Saldolisten kann ich nichts anfangen, die sind unvollständig<br />

und nicht überprüfbar.“<br />

Schulz hatte sich inzwischen gefangen, in seinem blassen Gesicht war der Ärger, den<br />

er empfand, ersichtlich. „Pauline willst du damit sagen, ich bescheiße euch?“<br />

„Mike, niemand sagt, dass du uns bescheißt,“ griff Holt ein. „Aber es kommt der<br />

Verdacht auf, wenn man sich deinen unvollständigen Papierkram anschaut. Ich werde die<br />

Unterlagen in der kommenden Woche selbst prüfen. Vergesse nicht, ich bin der Eigentümer,“<br />

er machte eine kleine Pause um sich zu verbessern, „... wir sind die Eigentümer.“<br />

Nachdem Schulz sie verließ, besprachen Pauline und Holt die Situation. Pauline begann das<br />

Gespräch.<br />

„Hans, hier stimmt was nicht, der Lange ist nicht sauber. Ich habe so ein unbestimmtes<br />

Gefühl. Wenn ich mir den Schweinskram anschaue, den Mike als Abrechnungen bezeichnet<br />

und dann an die Sache mit Ginger denke, kommen mir Zweifel, ob Mike überhaupt in der<br />

Lage oder willens ist, eine saubere Buchführung vorzulegen.“<br />

Holt sinnierte über das Gesagte nach und sprach scheinbar leise zu sich selbst. „Er ist<br />

entweder wirklich blöd oder er spielt den Blöden.“<br />

„Auf einigen Gebieten scheint der Lange tatsächlich ein wenig blöd zu sein, generell<br />

ist er alles andere als blöd. Ich glaube, er ist verschlagen wie ein Fuchs.“<br />

„Nun mach mal lang, erst ist er unser Großer und nun hält’s du ihn für einen<br />

verschlagenen Fuchs. Übertreibst du da nicht ein bisschen?“, antwortete Holt ärgerlich.<br />

„Hans, ich wünschte es mir, dass ich nur Gespenster sehe, aber ich bekomme immer<br />

mehr ein schlechtes Gefühl, wenn ich über die gesamte Situation nachdenke. Wir sollten ganz<br />

wachsam sein und Mike keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen. Ich glaube, wir<br />

sollten ihn morgen einmal überraschen und im Büro, für Mike unvorbereitet, erscheinen.<br />

Dabei schauen wir uns mal um.“<br />

„Überraschen geht nicht,“ warf Holt ein, „wir haben keine Schlüssel für das Büro.“<br />

„Was!!“, schreckte Pauline auf. „Wir haben noch nicht einmal die Schlüssel?“<br />

„Nein,“ entgegnete Holt. „Mike hat sie mir bereits vor zwei Monaten versprochen,<br />

aber bisher noch nicht gegeben. Ich habe bislang vergessen, danach zu fragen.“<br />

„Hans, ich glaube, er will gar nicht, dass wir unsere Nase in die eigene Firma stecken.<br />

Wenn wir jetzt da einfach hereinschneien, wird er misstrauisch. Wenn etwas an unserer<br />

Vermutung dran ist, sollten wir uns einen anderen Weg überlegen, wie wir herausfinden<br />

können, ob er uns betrügt.“<br />

Wie durch einen Zufall schaute Brettschneider herein. Er machte einen ungepflegten Eindruck<br />

und roch nach Alkohol. Nachdem er sich bei Pauline ein paar Zigaretten geschlaucht, in die<br />

Töpfe der Küche geschaut und das von Carmen, dem neuen Hausmädchen, vorgesetzte Essen<br />

heruntergeschlungen hatte, kam er mit einer Flasche Bier, auf die Terrasse, auf der sich<br />

Pauline und Holt mit Alfi und Betti beschäftigten.<br />

„Was ist denn das? Zwei kleine Rotties.“ Er griff sich die quietschende Alfi und<br />

begutachtete sie eingehend. „Gute Rasse, wird mal eine Kämpferin.“ Er griff sich Betti, die<br />

150


ihn in den Finger zu beißen versuchte. Lachend schüttelte er den Welpen. „Na du bist mir ein<br />

Luder, ich werde öfters kommen und dich trainieren, bis du Onkel Jens nicht mehr beißt.“<br />

Pauline und Holt hatten schon bei den vorhergehenden Besuchen Brettschneiders<br />

mitbekommen, dass dieser ein ganz anderes Verhältnis, als Schulz, zu Tieren hatte. Er sah in<br />

diesen keine Objekte, sondern wie er selbst sagte „tierische Persönlichkeiten“, und er verhielt<br />

sich auch gegenüber den Tieren so, was ihm bei Holt Respekt abverlangte. Holt, der darauf<br />

gewartet hatte, dass Brettschneider bald mit seinem Anliegen herauskommen würde, wurde in<br />

dieser Erwartung nicht enttäuscht. Zögernd begann er, auf sein Anliegen zu kommen.<br />

„Ihr wisst ja, dass ich zurzeit keinen ordentlichen Job habe. Mal mach ich hier was,<br />

und mal dort ein wenig, aber nichts, was Kies bringt und von Dauer ist. Ich wollte euch<br />

fragen, ob ich nicht einen Job bekommen kann, jetzt da Ihr richtig reich seid und so viel<br />

Personal eingestellt habt.“ Dabei wies er mit dem Kopf auf den im hinteren Teil des Gartens<br />

arbeitenden Alvaro.<br />

„Jens, willst du bei uns etwa den Garten umgraben?“, wollte Pauline wissen.<br />

„Nö,“ antwortete Brettschneider, „ich denke da mehr an eine Tätigkeit als Chauffeur<br />

und Bodyguard.“<br />

„Mann Jens,“ fiel Holt Pauline ins Wort, die sich dazu äußern wollte, „glaubst du, ich<br />

könnte den Wagen nicht alleine fahren? Und beschützen kann ich uns auch alleine.“<br />

Brettschneider hatte seinen Wunsch wohl nicht ganz so ernst gemeint und auch keine<br />

positive Antwort erwartet. Dennoch dachte er darüber nach und antwortete, „Jetzt seid ihr<br />

vielleicht noch nicht in Gefahr, aber wenn Ihr so weiter macht, wird es bald so sein.“<br />

„Wie meinst du das?“, hakte Pauline nach, „Wer oder was sollte für uns eine<br />

ernsthafte Gefahr sein, die Anlass gäbe, deine Hilfe als Bodyguard in Anspruch zu nehmen?“<br />

„Hab Ihr noch nicht darüber nachgedacht, dass es Leute geben könnte, die an euren<br />

Schotter ran wollen?“, warf Brettschneider ein.<br />

„Jens, wir haben unser Geld in das Kasino gesteckt und hier lagern auch keine<br />

Goldbarren. Schulz managt den Laden und beschütz ihn auch.“<br />

„Vor wem Hans? Wenn er den Laden beschützt, dann doch nur vor euch!“<br />

„Brettschneider erzähl keinen Mist, wir sind die Eigentümer!“<br />

„Ja, aber nur auf dem Papier aber nicht wirklich. Das lange Gerippe hat schon lange<br />

auf solche Chance gewartet. Er hat mir vor Monaten einmal erzählt, wie er Gringos zu rupfen<br />

beabsichtigt. Ich hab das damals als Spinnerei abgetan und auch noch aus Quatsch meinen<br />

Senf dazu gegeben. Glaubt mir, er bescheißt euch und wenn Ihr euch wehrt, bringt er euch<br />

um!“<br />

Die letzten Worte hatte Brettschneider direkt laut herausgepresst, fasst geschrien.<br />

Pauline und Holt waren sichtlich betroffen.<br />

Holt wollte mehr wissen: „Was habt Ihr beide damals ausgekaspert?“<br />

Brettschneider stand auf und holte sich aus dem Kühlschrank in der Küche eine<br />

weitere Flasche Bier. Unter dem Arm hatte er eine angebrochene Flasche Rum, Flor de Caña,<br />

geklemmt, auf drei Fingern hatte er kleine Schnapsgläschen gestülpt, die er zusammen mit der<br />

Rumflasche auf den Tisch stellte.<br />

„Trinkt erst mal einen guten Schluck, ihr werdet ihn gebrauchen, wenn ihr hört, was<br />

Schulz damals plante.“<br />

Brettschneider hatte recht, seine Erzählung verbreitete in Holts Hals eine immer größer<br />

werdende Trockenheit, die dieser mit dem Rum bekämpfte. Selbst Pauline, die selten harte<br />

Drinks zu sich nahm, schloss sich Holt und Brettschneider an.<br />

„Du bist doch Schulzens Freund. Warum erzählst du uns das?“, waren die ersten<br />

Worte von Holt, als Brettschneider seine Erzählung beendet hatte.<br />

„Bei Geld hört die Freundschaft auf. Mich hat er eiskalt abserviert und ich kann es<br />

nicht dulden, dass er euch betrügen will.“<br />

151


Bis zur angesetzten Besprechung waren es noch drei Tage. Pauline und Holt hatten noch<br />

lange über das Gespräch mit Brettschneider nachgedacht. Es war tatsächlich nicht von der<br />

Hand zu weisen, dass Schulz die Möglichkeit besaß, durch die erteilten Vollmachten, etwas<br />

zu unternehmen, was nicht ihrem Interesse galt. Einerseits hatten sie durch ihre Sorglosigkeit<br />

und mangelndem Misstrauen gegenüber Schulz eine exzellente Basis für mögliche<br />

Betrügereien aufgebaut aber anderseits hielten sie die Information Brettschneiders für eine<br />

ziemliche Übertreibung, geboren aus Missgunst und Frustration. Die Stellung von Ross zum<br />

Unternehmen konnte Brettschneider auch nicht genau erklären. Er erzählte nur, dass Schulz<br />

und Ross vor Jahren einmal zusammen auf einer Finca gewohnt hätten. Entgegen der<br />

Erklärung von Schulz, Ross nur oberflächlich zu kennen, stand die Tatsache, dass beide nicht<br />

nur zusammen unter einem Dach lebten, sondern auch ihre Freizeit gemeinsam verbrachten.<br />

Dieser Umstand allein reichte jedoch nicht aus, daraus eine Komplizenschaft zu konstruieren.<br />

Holt kannte die sich schnell entwickelnden privaten Beziehungen zu Arbeitskollegen aus<br />

eigener Erfahrung. Wer so eng zusammenarbeitete wie Schulz und Ross, der baute auch<br />

schnell eine persönliche, oftmals über die Kollegialität hinausgehende Freundschaft auf.<br />

Außerdem hatte Schulz auch nicht die Unwahrheit gesagt, als er erzählte, Ross aus der<br />

Vergangenheit zu kennen. Über den Grad der Beziehungen hatte er sich nicht weiter<br />

ausgelassen, was jedoch nicht unbedingt als Vertrauensbruch gegenüber Holt zu bewerten<br />

war. Durch die Erzählung Brettschneiders wurde jedoch sein bereits schwaches, latentes<br />

Misstrauen angefacht. Er dachte über die Momente nach, in denen er seine Mitarbeiter<br />

gemeinsam erlebt hatte und es fielen ihm immer mehr Einzelheiten ein, die er damals nicht<br />

bewertete. Es bildete sich im Unterbewusstsein Holts das Gefühl, dass sich beide viel besser<br />

kannten, als nach außen für Dritte erkennbar. Er reagierte, trotzt dieser Erkenntnisse nach dem<br />

Motto: Was nicht sein darf, ist auch nicht! Er verdrängte seine aufkeimende Besorgnis.<br />

Schulz hatte den obligatorischen Termin am Wochenende, der in der Mitte der Woche vor der<br />

angesetzten Besprechung lag, nicht wahrgenommen. Beim Anruf bei Schulz teilte dieser Holt<br />

mit, dass er mit der Behebung der Probleme so beschäftigt sei und da er sowieso in drei Tagen<br />

ausführlich berichten wolle, der Wochenendtermin überflüssig sei. Holt gab sich damit<br />

zufrieden, er teilte jedoch Schulz mit, dass er ein Fax mit den Tagesthemen, die er behandelt<br />

haben möchte, schicken werde, was auch geschah. Im Fax hatte Holt am Ende noch einmal<br />

ausdrücklich auf die Konsequenzen hingewiesen, die bis zur Kündigung und<br />

Schadensersatzforderungen gingen. Schulz hatte eine halbe Stunde später noch einmal wütend<br />

angerufen und gefragt, ob es Holts Absicht wäre, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Holt<br />

hatte nur darauf erwidert, dass es in der Hand seiner Angestellten lag, was aus der Firma<br />

werden würde.<br />

*<br />

Schulz ahnte, das Holt ihn durchschaut haben könnte. Er musste vorbauen und nicht nur die<br />

Ereignisse abwarten, die Holt nun in Bewegung zu setzen schien. Aufgeregt besprach er mit<br />

dem überraschten Ross den Inhalt des Fax, der es erst zweimal durchlesen musste, um zu<br />

begreifen, was auf sie zukam.<br />

„Mike, dein Plan scheint nicht so zu funktionieren, wie du es dir ausgemalt hast,“<br />

begann er spöttisch das Gespräch. „Der Holt hat den Braten gerochen und wird uns in den<br />

Arsch treten, wenn wir nicht sofort etwas unternehmen, was ihn ins Leere laufen lässt.“<br />

Schulz schien sich auf die Möglichkeit einer solchen Entwicklung vorbereitet zu<br />

haben, hatte sozusagen einen „Plan B“ in der Schublade. Er grinste Ross breit an und nahm<br />

Ross das Fax aus der Hand und tippte darauf. „Das ist eine unbegründete Drohung des<br />

Arbeitgebers gegen seine Angestellten.“<br />

152


„Ja, so siehst du es Mike, aber so muss es auch im Gesetz stehen und es müssen sich<br />

Richter finden, die dieser Meinung sind.“<br />

Schulz grinste immer noch. „Volker kannst du dich an die Geschichte vom Bäcker<br />

Hans erinnern, der einen Tico feuern wollte, weil dieser im Verdacht stand, in die Kasse<br />

gegriffen zu haben?“<br />

„Natürlich, aber was hat das mit uns zu tun?“<br />

„Der Fall selbst nicht, aber ich habe mir vom Bäcker damals erklären lassen, auf was<br />

sich der Tico, berufen hatte.“ Schulz schaute Ross abwartend an, nach einer Frage heischend,<br />

der dann auch die erwartete Frage stellte.<br />

„Und, worauf hat der sich berufen können?“<br />

Schulz lehnte sich zufrieden in seinem Chefsessel zurück. „Costa Rica ist eigentlich<br />

eine verkappte kommunistische Bananenrepublik, es hat ein Arbeitsrecht, das den Prolos alle<br />

Macht gibt und die Unternehmer offen benachteiligt. Das Gesetz wurde extra gemacht, um die<br />

großen amerikanischen Firmen abzuhalten, Personal in Streitfällen zu feuern, bis nicht ein<br />

Arbeitsgericht darüber entschied. Im Gesetz steht, kündigt ein Unternehmer einem<br />

Arbeitnehmer unbegründet, so muss der an den Arbeitnehmer das Siebenfache eines<br />

Jahresgehaltes als Schadensersatz zahlen. Der Arbeitgeber muss im Arbeitsgerichtsprozess<br />

beweisen, dass die Kündigung rechtens war. Zurzeit dauern Prozesse einige Jahre. Wenn der<br />

Holt uns kündigt, muss er bei den jetzt eingereichten Klagen über sieben Jahre warten, bis er<br />

in Guadeloupe dran ist.“<br />

Ross hatte interessiert zugehört. „Warum Guadeloupe?“, wollt er wissen.<br />

„Weil wir Holt beim Arbeitsgericht in Guadeloupe verklagen werden.“<br />

„Ist nicht das Gericht in Sabana Norte zuständig, weil Escazú in dessen Gerichtsbezirk<br />

liegt?“, wollte Ross wissen.<br />

„Eigentlich ja,“ entgegnete Schulz, „aber Marco kennt eine Richterin in Guadeloupe,<br />

die wird für uns die Angelegenheit übernehmen. Ich glaube nicht, dass Holt die falsche<br />

Zuständigkeit mit Erfolg rügen kann, wenn erst einmal eine Klage anhängig ist. Außerdem<br />

zahle ich der Richterin eine zusätzliche Verwaltungsgebühr.“<br />

„Du meinst, du schmierst sie?“<br />

„Ja!“, war die kurze und treffliche Antwort.<br />

Zwei Tage vor der Besprechung erscheinen Schulz, Ross und Marco, der offizielle<br />

Rechtsanwalt der Firma, vor Gericht in Guadeloupe. Mitgekommen waren auch zwei<br />

Gelegenheitsarbeiter, die in der Vergangenheit einige kleinere Aufträge für die Firma erledigt<br />

hatten. Marco gab vor der Richterin zu Protokoll, dass Schulz Schadensersatzansprüche auf<br />

entgangenem zukünftigen Gehalt über hundertdreißigtausend Dollar und Ross über<br />

sechzigtausend Dollar, wegen Verletzung der Arbeitsrechtsbestimmungen gegen Holt habe.<br />

Die Gelegenheitsarbeiter sagten unter Eid aus, sie wären Zeugen und wüssten davon. Weiter,<br />

sie selbst bekämen noch mehrere tausend Dollar für kleinere Arbeiten. Durch Zufall hätten sie<br />

aus sicherer Quelle erfahren, dass Holt sich ohne Zahlung seiner Schulden nach Amerika<br />

abzusetzen beabsichtige. Marco legte zum Beweis dieser Anschuldigungen, neben dem<br />

Geschäftsführer- und Anstellungsvertrag, auch das Fax vor, indem Holt mit Konsequenzen<br />

drohte. Bei der Übersetzung ins Spanische hatte er, abweichend von den deutschen<br />

Vertragsentwürfen und dem Text des Fax, den rechtlichen Inhalt zulasten Holt stark verändert<br />

und die angedrohten Konsequenzen als bereits festgelegte, rechtswidrige Maßnahmen<br />

interpretiert. Holt war in den Verträgen, nun in spanischer Amtssprache verfasst, in seinen<br />

Rechten als Inhaber der Firma beschnitten worden. Am Vorabend hatte Marco ein<br />

Abendessen für die Richterin und ihren Ehemann organisiert, dabei hatte ein Umschlag mit<br />

fünfhundert Dollar den Besitzer gewechselt.<br />

153


Am Abend vor der Besprechung erschien Ross unangemeldet in Bello Horizonte. Er gab vor,<br />

für Arbeiten am Bürohaus das Werkzeug, welches Holt in einer kleinen Bodega aufbewahrte,<br />

zu benötigen. Holt, der erfreut darüber war, dass Ross selbst Hand anlegen wollte, übergab<br />

diesem alles angeforderte Werkzeug, überwiegend teure elektrische Geräte. Es blieben nur<br />

noch ein paar Schraubenzieher und Zangen zurück. Holt sollte sein Werkzeug niemals wieder<br />

sehen.<br />

Zum angesetzten Meeting am nächsten Tag erschienen Schulz und Ross pünktlich. Sie<br />

machten einen äußerst gespannten Eindruck, den auch Pauline wahrnahm. Holt bemerkte die<br />

Anspannung mit Genugtuung, weil er glaubte, durch Druck etwas Bewegung in die<br />

verfahrene Kiste zu bringen. Nachdem alle Platz auf der großen Westterrasse genommen<br />

hatten, legte Holt den Text des drei Tage alten Fax auf den Tisch und eröffnete die<br />

Besprechung.<br />

„Ich möchte, dass wir alle Punkte, die ich euch im Fax geschrieben habe, heute<br />

eingehend besprechen und zu jedem Punkt erwarte ich eine klare Antwort.“<br />

Holt bemerkte sofort die ablehnende Haltung seiner Angestellten, ihre Versteinerung<br />

in den Gesichtern und die Schweißperlen auf Schulzens Stirn, obwohl es im Schatten der<br />

Terrasse angenehm kühl war.<br />

„Wir werden hier gar nichts mehr sagen .... und ... wenn wir was sagen, dann nur noch<br />

in Gegenwart unseres Anwaltes Marco.“<br />

Holt durchfuhr ein Blitzschlag. Das war offene Konfrontation, hatte er sich eben<br />

verhört? Er schaute zur Seite, zu Pauline, die mit geöffnetem Mund erstarrt auf ihrem Stuhl<br />

saß.<br />

„Ich habe mich wohl eben verhört, ihr wollt nur noch in Gegenwart eures Anwalts<br />

reden. Was soll dieser Quatsch? Marco ist auch mein Anwalt und warum seid ihr denn<br />

überhaupt gekommen?“<br />

„Wir sind gekommen, damit du später nicht vor Gericht sagen kannst, wir seien nicht<br />

kooperativ gewesen.“<br />

Holt musste wegen dieser Unverfrorenheit erst einmal seine Gedanken sammeln. Was<br />

war in diese Männer gefahren, er hatte doch keinen Anlass zu diesem Verhalten gegeben.<br />

Nachdem er sich gefasst hatte, antwortete er, „Wer will hier zu Gericht gehen? Ich habe doch<br />

diese Besprechung anberaumt, um die Probleme gemeinsam lösen zu können. Ich verstehe<br />

euch nicht!“<br />

„Was, du verstehst uns nicht?, antwortete anstelle des angesprochenen Schulz<br />

unerwartet Ross. „In deinem Fax hast du uns offen mit fristloser Kündigung gedroht. Wir<br />

haben es hier schwarz auf weiß.“. Dabei fuchtelte er mit einem Blatt Papier vor Holts Gesicht<br />

herum.<br />

„Dann hast du nicht den gesamten Text gelesen!“, antwortete der langsam wütend<br />

werdende Holt. „Ich habe Punkt für Punkt auf Aufklärung und Bearbeitung der Fragen<br />

bestanden und erst im Falle eurer Weigerung oder Unfähigkeit die Probleme zu lösen, auf die<br />

Möglichkeit einer Kündigung hingewiesen. Ich habe doch nicht eine halbe Million Dollar<br />

investiert, damit ihr dieses Geld in den Sand setzt. Als Eigentümer der Firma haben wir das<br />

Recht, auf Durchführung und Einhaltung der Verträge zu bestehen.“<br />

Schulzens Starre im Gesicht war einem höhnischen Grinsen gewichen, als er<br />

antwortete. „Klar, wir bestehen auch auf die Einhaltung der Verträge, ihr könnt uns nicht so<br />

einfach feuern! Wir werden uns zu wehren wissen.“<br />

„Bleib auf dem Teppich Schulz, wir haben bislang weder von Kündigung noch von<br />

einer fristlosen Kündigung gesprochen, noch haben wir so etwas vorgehabt. Aber so, wie ihr<br />

euch hier aufführt, sollten wir tatsächlich so etwas in Betracht ziehen. Nicht das ihr nicht<br />

willens oder in der Lage seit, eure Arbeit zu machen, teilt ihr uns nicht einmal mit, wie der<br />

Stand der Entwicklung der Software ist, für die ich fünfundsechzigtausend Dollar<br />

hingeblättert habe. Wo ist diese überhaupt?“<br />

154


Schulz erhob sich schon, als er antwortete. „Diese Software kannst du jetzt in jedem<br />

Laden für fünfzig Dollar kaufen. Die hat keinen Wert mehr für uns.“<br />

Holt sprang auch vom Stuhl auf und brüllte Schulz an. „Bist du verrückt Schulz, ich<br />

habe dir vor drei Monaten fünfundsechzigtausend Dollar gegeben und heute erzählst du mir,<br />

die Software hätte nur noch einen Wert von fünfzig Dollar?“<br />

Ross und Schulz hatten sich erhoben und machten Anstalten zu gehen. Beim<br />

Hinausgehen drehte sich Schulz noch einmal um. „Sei ganz vorsichtig Holt, wir lassen uns<br />

nicht von dir bescheißen, wir sehen uns vor Gericht wieder.“<br />

Pauline und Holt waren wie gelähmt. Dass die Entwicklung der Geschichte eine<br />

solche Richtung nehmen würde, hatten sie in ihren schlechtesten Vorstellungen nicht<br />

vermutet. Zuerst dachten sie daran, sich an den gemeinsamen Anwalt Marco zu wenden, aber<br />

hinsichtlich der Drohung Schulzens, nur noch in Gegenwart Marcos reden zu wollen, hatte<br />

bewiesen, dass Marco nur der Anwalt von Schulz war, also sprichwörtlich ein Gegner.<br />

Letztlich war man sich einig, einen neuen Anwalt mit der sich anbahnenden Angelegenheit zu<br />

beauftragen.<br />

Bei Tom Tom, dem Delikatessladen, hatte Pauline eine deutschstämmige<br />

Rechtsanwältin kennengelernt, an die sie sich erinnerte und dessen Telefonnummer aus ihrem<br />

Notizblock hervorkramte. Zwei Stunden später saß Angelika de Perez vor ihnen auf der<br />

Terrasse und hörte sich den spektakulären Vorgang des Tages an.<br />

155


Die Abwehrschlacht<br />

Schulz fragte sich, was er an Holts Stelle machen würde. Ihm war es bei den Gedanken sofort<br />

klar, Holt wird sich wehren. Vorsorglich hatte er, hinsichtlich solcher zu erwartenden<br />

Entwicklung, mit der er zwar nicht so schnell rechnete, vorgebaut. Marco kannte aus einigen<br />

Rechtsfällen den Chef der Polizeistation von Escazú. Zusammen mit Schulz hatte er, bereits<br />

vor ein paar Wochen, diesen in seiner Station aufgesucht. Als Vorwand hatte er dem<br />

Polizeichef erklärt, sich wegen Problemen mit einem Vermieter, an die Polizei wenden zu<br />

müssen. Dadurch waren bereits die Weichen für zukünftige Auseinandersetzungen mit Holt<br />

gestellt. Dem Polizeichef war bekannt, dass Marco ein Verwandter des Präsidenten war und<br />

auch familiäre Beziehungen zu der Führung der Policia National de Costa Rica hatte. Marco<br />

nicht behilflich zu sein, könnte sich nachteilig beim Erklimmen der Karriereleiter auswirken.<br />

Schulz, der erwartet hatte, dass Holt in Begleitung mit einem Rechtsanwalt erscheinen würde,<br />

wurde nicht enttäuscht.<br />

*<br />

Am nächsten Vormittag erschien Holt mit seiner Anwältin am Bürohaus und klingelte an der<br />

Tür Sturm. Bereits als Holt die Auffahrt zur Tür hoch ging, hatte er im oberen Bereich des<br />

Hauses, hinter den verstaubten Fensterscheiben eine Bewegung gesehen. Es war also jemand<br />

zu Hause. Es schien Holt, als ob sich hinter der Balustrade des zweiten Geschosses eine Tür<br />

um einen kleinen Spalt öffnete. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er einen Kopf.<br />

Als es an der Vordertür heftig und andauernd klingelte, gingen Schulz, Ross und zwei<br />

Prostituierte, die sich im oberen Wohnbereich aufhielten, auf Tauchstation und stellten sich<br />

taub. Schulz schaute Ross fragend an, der nur leicht den Kopf verneinend schüttelte und<br />

andeutete, erst einmal abzuwarten. Vom oberen Geschoss konnten sie durch die Spalten des<br />

Geländers der Balustrade, durch die verstaubten Fenster Holt, Pauline und eine ihnen<br />

unbekannte Frau erkennen, die aufgeregt miteinander sprachen. Die Frau telefonierte mit<br />

ihrem Handy und fragte Holt offenbar etwas, da dieser ihr ein Schriftstück übergab. Die Frau<br />

las offensichtlich etwas aus dem Schreiben dem Gesprächsteilnehmer auf der anderen Seite<br />

der Telefonverbindung vor, danach klappte sie das Handy zusammen. Schulz sah, dass die vor<br />

dem Haus wartenden ungebetenen Gäste gespannt auf den Weg, der nach Escazú führte,<br />

schauten. Ross, der den Vorgang auf der Auffahrt auch wahrgenommen hatte, war gerade im<br />

Begriff, Schulz etwas zuzuflüstern, als ein Lieferwagen mit den Insignien eines<br />

Schlüsseldienstes vorfuhr. Nun wurde auch für Schulz die Situation brenzlig.<br />

„Los Mike, ruf den Bullen an, damit er unseren Arsch retten kann!“, flüsterte er, wobei<br />

er die sich entwickelnde Situation weiter beobachtete.<br />

Schulz griff zum Telefon und wählte die Nummer des Polizeichefs von Escazú. Dieser<br />

war bereits beim zweiten Klingelton am Telefon und hörte sich Schulzens Bitte an und sagte<br />

zu, sofort zu kommen.<br />

*<br />

Der Bedienstete des Schlüsseldienstes, ein älterer, grauhaariger, nett erscheinender Mann,<br />

hörte sich ruhig den Auftrag der Anwältin an und ließ sich den Mietvertrag und den Reisepass<br />

von Holt zeigen. Noch während er sich mühsam den Vertrag durchlas, fuhren drei<br />

Polizeiautos vor. Zwei stellten sich vor und nach der Auffahrt zum Haus quer auf die Straße.<br />

Der größere Wagen hielt ganz eng hinter dem Wagen dem der Anwältin. Ein korpulenter<br />

Mann, in der braunen Uniform der regulären Polizei, stieg ächzend aus und ging schwer<br />

atmend die Auffahrt hoch. Vor der Tür wartete die Gruppe.<br />

156


Ohne den Anschein jeglicher Freundlichkeit und ohne zu grüßen, blaffte er die<br />

wartende Gruppe an: „Ich bin vom Mieter dieses Hauses informiert worden, das hier fremde<br />

Personen rechtswidrig in das Haus einzudringen beabsichtigen. Wer sind Sie und weisen Sie<br />

sich aus!“<br />

Holt hatte etwas in dieser Art erwartet. Das unangenehme Auftreten des Polizisten,<br />

seine eindeutige Parteilichkeit und die mangelnde Sachlichkeit, hatte er trotzt seiner<br />

mangelhaften Kenntnisse der spanischen Sprache sofort verstanden, jedoch in dieser offenen<br />

Form, nicht erwartet. Er konnte aus dem Augenwinkel wahrnehmen, dass auch seine<br />

Anwältin sichtlich erschrocken war. Angelika de Perez zog verärgert ihren Anwaltsausweis<br />

aus der Tasche und reichte diesen dem Polizisten herüber.<br />

„Ich handele als Anwältin im Auftrage des rechtmäßigen Mieters dieses Hauses. Der<br />

im Hause verweilende Herr Schulz ist nur Untermieter des oberen Teils des Hauses. Mein<br />

Mandant ist Eigentümer der in diesem Haus befindlichen Firma und Hauptmieter des<br />

gesamten Hauses. Herr Schulz verweigert meinem Mandanten den berechtigten Zutritt.“<br />

„Warum geht er nicht in das Haus, wenn er Mieter ist?“, fragte der Polizist süffisant.<br />

Der Anwältin wurde sofort klar, dass der Polizist bestens informiert war und<br />

antwortete, fasst widerwillig. „Weil er keinen Schlüssel dazu besitzt.“<br />

„Ein Mieter, der keinen Schlüssel hat,“ höhnte der Polizist, „und wie ich sehe, haben<br />

Sie bereits einen Schlüsseldienst mitgebracht. Das ist versuchter Hausfriedensbruch und der<br />

Versuch möglicherweise von noch anderen Straftaten.“<br />

Der Ärger bei der Anwältin war nicht mehr zu übersehen. Mit hochrotem Kopf reichte<br />

sie dem Polizisten den Mietvertrag herüber. „Ich sage noch einmal, mein Mandant ist Mieter<br />

dieses Bürohauses und er hat ein Recht dieses zu betreten.“<br />

„Sie irren sich!“, antwortete der Polizist kühl, „Der Vertrag kann gefälscht sein und<br />

das muss ich erst überprüfen. Sie wissen doch als Anwältin ganz genau, dass in Costa Rica<br />

ein bewohntes Haus, nur mit einer richterlichen Anordnung, gegen den Willen der Bewohner<br />

betreten werden darf.“<br />

Der Polizist schaute die Anwältin lauernd an und wartete auf die Antwort, die er schon<br />

kannte. Er hackte nach: „Haben Sie so eine richterliche Anordnung vorzuweisen?“<br />

Die Anwältin schwieg eine Weile betreten, da sie sich der Situation bewusst wurde.<br />

Vor ihr stand ein geschmierter, korrupter Polizist und sie konnte in dieser Situation nichts<br />

ausrichten. Sie antwortete leise, „Nein, ich habe keine solche richterliche Anordnung.“<br />

In den Augen des Polizisten blitzte Triumph auf. „Na, dann rate ich Ihnen,<br />

verschwinden Sie hier schnellstens, bevor ich Sie wegen Widerstandes gegen die staatliche<br />

Autorität verhaften lasse!“<br />

„Übertreiben Sie nicht. Sie wissen doch selbst, dass Sie gegen das Gesetz verstoßen.<br />

Wir werden mit einer richterlichen Anordnung wiederkommen, ... und ich verspreche Ihnen,<br />

Sie werden wegen Ihres Verhaltes hier Ärger bekommen.“<br />

Der Polizist lachte sie laut aus, er wackelte mit seinen zwei Armen wie eine Ente mit<br />

ihren Flügeln. „Na, wie ich mich vor Ihnen fürchte ... huch ... !“Er winkte zu seinen Leuten<br />

und gab ihnen den Befehl, die blockierte Straße frei zu machen.<br />

Holt hatte den Vorgang mit fast angehaltenem Atem wahrgenommen. Es schien ihm<br />

einfach unmöglich, dass ein leitender Polizist sich so zu einer Marionette machen ließ.<br />

Nachdem die Polizei abgefahren war, konnte er oben auf der Balustrade zwei feixende<br />

Figuren sehen, die sich keine Mühe mehr gaben, sich zu verstecken oder auch nur den<br />

Anschein von Redlichkeit zu zeigen. Der umsonnst gerufene Schlüsseldienstler war mit einem<br />

Mal nicht mehr der alte, vertrauenserweckende Mann, sondern ein fordernder, geifernder<br />

Tico, der aus der Situation noch Geld herausschlagen wollte und der erst zeternd verschwand,<br />

als Holt ihm zwanzig Dollar in die Hand drückte.<br />

157


Pauline war ebenfalls entsetzt über diese Situation. Sie konnte diese Entwicklung nicht<br />

begreifen. Vor vierzehn Tagen hatte sie Schulz nochmals Geld gegeben und darauf vertraut,<br />

dass alles wahr sei, was ihr dieser vorgelogen hatte.<br />

Zu Hause in Bello Horizonte besprachen alle drei die Situation. Angelika war der Meinung,<br />

dass Pauline und Holt dreigleisig vorgehen sollten. Neben einer Strafanzeige bei der<br />

„Ochota“, der Kriminalpolizei von Costa Rica, sollte beim Gewerbe- und Ordnungsamt<br />

Einsicht in die Registerunterlagen genommen und Schulz sollte von seiner Funktion als<br />

Präsident durch Gesellschafterbeschluss abberufen werden. Drittens sollte beim zuständigen<br />

Zivilgericht eine Klage auf Schadensersatz eingereicht werden. Sie versprach, die Anträge<br />

innerhalb von zwei Tagen ausarbeiten zu wollen und danach mit Holt zur Ochota zu gehen.<br />

Müde und total frustriert gingen sie aufgewühlt, durch die Ereignisse des Tages, abends<br />

schlafen.<br />

Der nächste Tag war ruhig, fast friedlich zu nennen. Holt hatte den ganzen Vormittag<br />

darüber nachgedacht, wie er Schulz aus dem Haus bekommen könnte. Nicht im geringsten<br />

erahnte er den Umfang, des sich wie eine Gewitterwolke zusammenballenden Unheils. Zwei<br />

Tage nach der nutzlosen Aktion vor dem Bürohaus kam die niederschmetternde Nachricht.<br />

Angelika rief an und kündigte das Mandat mit sofortiger Wirkung. Holt war zuerst schockiert,<br />

aber er hackte nach, um zu erfahren, was er unterschwellig ahnte.<br />

Am Abend nach der letzten Besprechung war durch die Fensterscheiben ihres Hauses<br />

ein Mauerstein geflogen. Am Stein war eine unmissverständliche Warnung angebracht, der<br />

Hinweis, dass es beim nächsten Mal kein Steinbrocken, sondern eine Handgranate sein würde,<br />

wenn sie nicht sofort ihre neugierige Nase aus Fällen heraushalten würde, die der Gesundheit<br />

abträglich seien. Obwohl kein Name genannt war, wusste sie sofort, wer dahinter steckte. Sie<br />

hatte zuerst erwogen, mit der Warnung zur Ochota zu gehen, war aber nach einigen<br />

Überlegungen zum Entschluss gekommen, ihr Leben und das ihrer Familie nicht zu<br />

gefährden. Sie kannte das Rechtssystem von Costa Rica, sie kannte die Korruption und<br />

Unfähigkeit der Polizei und sie kannte die Bereitschaft der Unterwelt, für wenig Geld zu<br />

töten. Alles dies erklärte sie Holt und bat um sein Verständnis. Holt verstand ihre Situation.<br />

Holt war alleine auf sich gestellt, wenn man davon absah, dass er in Pauline eine verlässliche<br />

Hilfe hatte. Zuerst glaubte er noch, auch ohne Rechtsanwalt die notwendigen Schritte<br />

erledigen zu können. Bereits bei der Ochota musste er kapitulieren. Der aufnehmende Beamte<br />

sprach kein Englisch, sodass Holt zuletzt mit dem Leiter der Behörde sprechen musste, der<br />

zwar leidlich Englisch sprach, jedoch zur Anzeigenaufnahme selbst nicht befugt war. Dieser<br />

empfahl, dass Holt sich einen Dolmetscher suchen solle, um mit diesem zusammen die<br />

Anzeige zu erstatten. Er empfahl einen Dolmetscher namens Manfred, einem gebürtigen<br />

Deutschen, der bei den Behörden und Gerichten zugelassen war und sehr korrekt sei. Noch<br />

aus dem Büro konnte er Manfred erreichen, der sofort versprach, in einer halben Stunde bei<br />

der Ochota einzutreffen. Manfred sollte sich als Glückstreffer herausstellen, zwischen allen<br />

den Nieten, die Holt jemals ihre Dienste in Costa Rica anboten. Manfred kannte sich bei der<br />

Ochota sehr gut aus. Beim aufnehmenden Beamten setzte er sich hinter dessen klapprige<br />

Schreibmaschine und schrieb die Anzeige auf ein Formblatt. Holt trug den Sachverhalt vor,<br />

der vom Dolmetscher sofort und schnell in spanischer Sprache in das Formular eingetragen<br />

wurde. Bereits nach zwanzig Minuten war der Vorgang erledigt. Im schräg gegenüber<br />

liegenden Restaurant, in welches Holt Manfred zur nachfolgenden Besprechung einlud,<br />

eröffnete dieser Holt einige unbequeme Wahrheiten.<br />

„Das mit der Anzeige hättest du dir sparen können. Ich sage dir bereits schon jetzt, es<br />

wird nichts passieren.“<br />

Holt war erschrocken, ob dieser Eröffnung. „Was willst du mir damit sagen? Meinst<br />

du, ich wäre nicht im Recht?“<br />

158


„Nein, das will ich dir damit nicht sagen,“ entgegnete Manfred, „ich arbeite bereits seit<br />

fasst zehn Jahren als vereidigter Dolmetscher. Bei der Ochota war ich schon über hundert Mal<br />

mit Amis und Europäern, die beklaut oder betrogen wurden. In den meisten Fällen ist rein gar<br />

nichts passiert.“<br />

„Warum denn das, war nichts an den Anzeigen dran oder waren die Leute nicht im<br />

Recht?“, wollte Holt wissen.<br />

„Weißt du, die Ticos sind faule Hunde, besonders faul sind Polizisten und Anwälte. Es<br />

hat sich hier in Costa Rica die Auffassung verbreitet, sich bei rechtlichen Streitigkeiten<br />

zwischen Ausländern nicht einzumischen, jedoch immer abzukassieren. Wenn dann noch<br />

Ticos in Straftaten involviert sind, wird auf Durchmarsch geblasen. Die Ticos beschützen ihre<br />

Landsleute, auch die größten Verbrecher, wenn das Opfer ein Ausländer ist.“<br />

„Das kann doch nicht wahr sein!“, entfuhr es Holt. „Die machen tatsächlich<br />

Unterschiede zwischen Einheimischen und Ausländern. Das ist doch offensichtliches<br />

Unrecht.“<br />

„Ja, es ist Unrecht, aber du kannst dagegen nichts machen, zumindest nicht offiziell<br />

mithilfe der Polizei, den Anwälten oder Gerichten. Du musst da inoffizielle Wege<br />

einschlagen.“<br />

Holt wollte diese inoffiziellen Wege wissen. Als Manfred sie ihm eingehend erklärt<br />

hatte, entrüstete er sich. „Niemals, ich werde doch keinen Richter oder Polizisten bestechen.“<br />

„Doch, das musst du, ansonsten bekommst du kein Recht“, antwortete Manfred ruhig<br />

und gelassen.<br />

Holt fühlte sich nicht in der Lage, den Behauptungen Manfreds zu folgen und als<br />

gegeben anzuerkennen. Seine Vorstellungen über Recht und Unrecht, in einem zivilisierten<br />

Rechtsstaat wie Deutschland geprägt, ließen es nicht zu, zu glauben, was Manfred über Costa<br />

Rica erzählte. Infolge dieses Unglaubens entschloss er sich, seine rechtlichen Bemühungen<br />

selbst in die Hände zu nehmen. Es sollte sich leider als ein verhängnisvoller Trugschluss<br />

erweisen.<br />

Alle Maßnahmen, die eigentlich Angelegenheit eines Rechtsanwaltes gewesen wären, wurden<br />

durch Holt erledigt. Nach der Anzeige bei der Ochota erkundigte er sich bei der<br />

Registerbehörde und bat um Einsicht in das Register. Dort blitzte er ab. Bereits bei der ersten<br />

Stelle wurde ihm mitgeteilt, dass er als Ausländer und ohne Rechtsanwalt keine Einsicht<br />

bekommen könne. Holt konnte nicht herausfinden, ob diese Mitteilung der Wahrheit<br />

entsprach. Die zivilrechtliche Klageschrift hatte Manfred ins Spanische übersetzt, aber die<br />

Übersetzung an Holt mit den Worten überreicht, dass alleine der bloße Text nicht ausreichen<br />

würde. Bei der Klageerhebung waren ein paar Formalitäten und sprachliche Eigenheiten<br />

notwendig, die seiner Meinung nach Holt nicht erbringen konnte.<br />

„Was sind das für Formsachen und Eigenheiten?“, wollte er von Manfred wissen.<br />

„Die Klage darf nur von einem in Costa Rica zugelassenen Anwalt eingereicht<br />

werden, wenn der Kläger Ausländer ist. Diese Bestimmung ist offiziell dazu da, dass der<br />

Ausländer nicht wegen Unkenntnis des costa-ricanischen Rechtssystems vor Gericht<br />

benachteiligt wird, dient jedoch nur der Bereicherung der Anwälte. Zweitens kannst du so<br />

eine Klage nicht abfassen, wie vor einem Gericht in Deutschland oder den Staaten. Hier musst<br />

du in der Klageschrift das Gericht bitten, doch so gefällig zu sein, in ehrfürchtiger Demut<br />

selbigst, dein Anliegen wohlwollend zu prüfen. Das Schreiben muss vor Untertanengeist<br />

triefend, geschrieben sein. Das nüchterne Recht, sein Recht auch zu erwarten, solltest du in<br />

keiner Silbe schreiben,“ erklärte Manfred dem mit offenem Mund zuhörenden Holt.<br />

„Manfred, das ist doch tiefstes Mittelalter, das ist doch die Sprache der spanischen<br />

Inquisition, als sie vor dreihundert Jahren hier das Land eroberten, da hat sich doch nichts<br />

geändert,“ empörte sich Holt.<br />

159


„Du hast recht, diesbezüglich hat sich seitdem nichts geändert. Nur die Technik ist<br />

moderner geworden, die Schreiber an den Gerichten benutzen jetzt Schreibmaschinen,<br />

Computer und Kopiermaschinen, aber der Text einer Klage könnte 1600 geschrieben worden<br />

sein.“<br />

Auf dem Rückweg von San José nach Escazú musste Holt den Ortsteil Rohrmoser passieren.<br />

Auf der Hauptstraße in Richtung Sabana fahrend, sah er im letzten Moment auf der rechten<br />

Seite der Straße ein Hinweisschild, das auf die deutsche Botschaft hinwies. Als Holt spontan<br />

von der linken Fahrbahn aus nach rechts abbog, hörte er nur noch das Quietschen mehrerer<br />

Autobremsen und das Fluchen der geschnittenen Fahrer.<br />

Die Botschaft lag in einer stillen Seitenstraße, umgeben von einer hohen<br />

ockerfarbenen Mauer. Hinter der Mauer hing an einem Flaggenmast schlaff die deutsche<br />

Nationalfahne. Nach einem Klingeldruck erscholl aus dem auf dem Klingeltableau montierten<br />

Lautsprecher die Frage auf Spanisch, was er wolle. Holt ignorierte die spanische Anfrage und<br />

antwortete auf Deutsch, dass er Hilfe der Botschaft benötige. Der Diensttuende verstand<br />

Deutsch und der Summer wies durch sein Geräusch darauf hin, dass die Tür durch Holt zu<br />

öffnen sei.<br />

Nach kurzer Wartezeit erschien eine Konsularbeamtin, die sich als Frau Stein,<br />

vorstellte. Holt musste sich durch Pass ausweisen, dass er Deutscher sei. Frau Stein<br />

verschwand mit seinem Pass für eine Weile im Nebenraum. Durch die nicht völlig<br />

zugezogenen Jalousien der anderen Abfertigungsbox konnte Holt sehen, wie die Frau<br />

offensichtlich seine Daten in einen Computer eingab. Sie schien zufrieden zu sein und kam<br />

zur ersten Box zurück, in der Holt auf der anderen Seite schon wartete.<br />

„Ich werde in Deutschland nicht gesucht. Glauben Sie, wenn es so wäre, wäre ich so<br />

blöde, hier aufzutauchen?“, teilte er der Beamtin mit, als diese auf dem Stuhl hinter der<br />

Panzerglasscheibe Platz genommen hatte.<br />

Die Konsularbeamtin war verblüfft, fasste sich aber schnell und antwortete, „Herr<br />

Holt, wir sind stets angewiesen bei deutschen Besuchern zu prüfen, ob gegen diese in<br />

Deutschland etwas vorliegt.“<br />

„Und wenn es so wäre, würden sie diesen Hilfesuchenden die Hilfe verweigern und<br />

hier festnehmen lassen?“<br />

„Nein, natürlich nicht!“, antwortete die Frau ärgerlich. „Bei schweren Verbrechen oder<br />

wenn die Person mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, würden wir die Polizei von<br />

Costa Rica informieren und um Amtshilfe ersuchen. Beim Verlassen dieses Gebäudes würde<br />

dann der Betreffende in Abschiebehaft genommen.“<br />

„Na, da habe ich ja wirklich Glück,“ antwortete Holt ironisch.<br />

Die Frau ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und hörte sich Holts Anliegen<br />

aufmerksam an. Nach einer kurzen Nachdenkpause gab sie die Antwort. „Herr Holt, von<br />

seitens der Botschaft können wir nichts unternehmen, auch wenn der mutmaßliche Täter<br />

Deutscher ist. Uns sind die Hände gebunden, Sie müssen sich einen kompetenten<br />

Rechtsanwalt suchen, der möglichst auch Deutsch spricht.“<br />

„So einen hatte ich schon,“ antwortete Holt. „Eine deutschstämmige Anwältin, die<br />

nach einer massiven Drohung durch den Täter das Mandat hingeschmissen hat.“<br />

„Nun ja,“, begann die Frau zögernd, „wir haben hier eine Liste von Referenzanwälten,<br />

die für deutsche Unternehmen und deutsche Bürger tätig werden. Einige sprechen perfekt<br />

Deutsch.“<br />

Sie kramte in einer Schublade herum und zog ein Blatt beschriebenes Papier heraus.<br />

„Ich mache Ihnen hiervon eine Kopie, sie können sich dann selbst mit den Anwälten in<br />

Verbindung setzen. Ich kenne sie fasst alle. Wenn Sie mich fragen, würde ich Ihnen Frau<br />

Vargas empfehlen, sie ist eine resolute und kompetente Frau. Ihr Mann ist bei der Polizei und<br />

ich glaube nicht, dass sie mit Drohungen zu schrecken ist, das Mandat aufzugeben.“<br />

160


Die Adresse der Anwältin stand auf dem Zettel. Nicht weit vom Gerichtskomplex<br />

entfernt, in einem Viertel der Stadt, welches als „Casa Matute“ bezeichnet wurde, fand Holt<br />

die Kanzlei. Eine Gehilfin öffnete die Tür, an die Holt energisch klopfte. Frau Vargas hat<br />

einen Mandanten und er müsse warten, teilte diese Holt mit.<br />

Als er, nach einiger Zeit, nachdem der letzte Mandant ging, hereingebeten wurde, fand<br />

er eine adrett gekleidete, im mittleren Alter befindliche Frau vor. Sie bat Holt in deutscher<br />

Sprache, auf dem gegenüberliegenden Sessel Platz zu nehmen.<br />

Sie hörte sich Holts Anliegen aufmerksam an und machte sich einige Notizen. Ab und<br />

zu stellte sie ein paar Fragen, Holt beantwortete diese. Eine Zeit dachte die Frau nach und<br />

schaute prüfend auf ihre Aufzeichnungen, dann sprach sie, „Senior Holt, ich mache Ihnen<br />

keine Versprechungen, aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass viel Arbeit auf den von<br />

Ihnen beauftragten Anwalt zukommen wird und ... ich werde dieser Anwalt mit Bestimmtheit<br />

nicht sein. Mein Terminkalender ist proppenvoll, ich kann nicht jeden Ratsuchenden<br />

annehmen. Außerdem bin ich auf Vertrags- und Wirtschaftsrecht spezialisiert. So wie ich die<br />

Sache überschaue, erwarte ich in Ihrem Fall Schwierigkeiten bei der Sicherung des<br />

Firmeneigentums. Ich empfehle Ihnen sicherheitshalber alle Firmenwerte in Sicherheit zu<br />

bringen oder auf eine vertrauenswerte Person, zu übertragen. Dieser Rat kostet Sie nichts. Ich<br />

will Ihnen nicht den Mut nehmen, aber wenn Sie bessere und umfangreichere Beweise<br />

vorlegen können, sieht die Sache anders aus. Sie benötigen jetzt einen Rechercheanwalt und<br />

keinen Prozessanwalt, wie ich es bin.“<br />

„Senora Vargas“, entgegnete Holt, „wollen Sie nicht doch den Fall übernehmen? Frau<br />

Stein von der deutschen Botschaft hat Sie als eine sehr kompetente Anwältin empfohlen. In<br />

Deutschland oder in Amerika würde uns kein Anwalt hängen lassen, nur weil wir Ausländer<br />

sind.“<br />

Die Anwältin machte ein verärgertes Gesicht. „Was glauben Sie, wo wir hier sind?<br />

Dies ist auch Amerika! Zwar nur der mittlere Teil. Die Nordamerikaner nehmen für sich<br />

sprachlich den gesamten Doppelkontinent in Anspruch. In den Vereinigten Staaten von<br />

Nordamerika würden Sie auch keinen ausgelasteten Anwalt überreden können, ein Mandat zu<br />

übernehmen, welches nur Arbeit und kein Geld einbringt. Ich kann Sie verstehen und glaube<br />

auch, dass Sie in großen Schwierigkeiten sind. In meiner Nachbarschaft, zwei Häuser weiter<br />

auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat ein Kollege seine Kanzlei. Er hat nicht viele<br />

Mandanten und lebt ausschließlich durch An- und Ummeldungen von Autos und kleineren<br />

Mietsachen. Versuchen Sie es bei ihm, er heißt Marco Antonio Neto, er wird Sie schon<br />

nehmen.“<br />

Zu Hause berichtete Holt Pauline ausführlich über seine missratenen Bemühungen. Sie hörte<br />

aufmerksam zu und kam mit einem überraschenden Vorschlag heraus. „Wir sollten Jens mal<br />

fragen, ob er uns behilflich sein kann. Er ist zwar ein ordinärer Mensch, hat aber sehr gute<br />

Beziehungen zur Polizei, kennt einige Anwälte und ist nicht so leicht einzuschüchtern.“<br />

„Glaubst du, der macht so etwas aus purer Freundschaft?“, warf Holt ablehnend ein.<br />

„Nein Hans, nicht aus Freundschaft, aber fürs Geld. Ob wir nun unbekannten Tico-<br />

Anwälten das letzte Geld geben oder ob wir den Brettschneider beauftragen, den kennen wir<br />

wenigstens.“<br />

Holt schloss sich Paulines Argumentation an. „Okay, wir werden mal mit ihm reden,<br />

vielleicht weiß er einen Weg.“<br />

Brettschneider sagte zu, am Abend vorbei zu schauen. Pünktlich zur Abendbrotzeit erschien<br />

er. Noch beim Essen hörte er sich Holts Geschichte an.<br />

„Hab ich euch doch gesagt!“, antwortete er noch mit vollem Mund. „Der Lange ist ein<br />

falscher Hund, ich habe euch gewarnt, aber Ihr wolltet ja nicht hören.“<br />

161


Obwohl Brettschneider Recht hatte, ärgerte sich Holt über dessen Überheblichkeit,<br />

was er jedoch aus Vernunftgründen schnell wieder verdrängte. Brettschneider schob einen<br />

letzten Bissen in den Mund und wischte seine Hände an der Tischdecke ab, was Pauline<br />

missbilligend zur Kenntnis nahm. „Er wird etwas gegen euch unternehmen!“<br />

„Hat er das nicht schon getan?“, warf Pauline ein. „Was meinst du, gegen wen sich<br />

sein Handeln richtet? Doch nur gegen uns!“<br />

„Das meine ich nicht, das war doch nur die halbe Aktion, ich meine, er wird sich<br />

persönlich gegen euch richten, beziehungsweise gegen euch etwas ausrichten lassen, er wird<br />

euch an den Kragen gehen.“<br />

Holt, der auch Paulines Ansicht teilte und direkt gegen sie gerichtete Handlungen<br />

nicht erwartete, antwortete. „Jens, ich glaube, du übertreibst. Mike ist ein notorischer<br />

Betrüger, aber er ist feige und wagt nicht, uns etwas anzutun. Beim Ross sieht es schon anders<br />

aus, ... “ Holt zögerte einige Sekunden, „ ... glaube ich jedenfalls.“<br />

„Das ist es ja gerade,“ antwortete Brettschneider, „weil er feige ist, wird er andere mit<br />

der Drecksarbeit beauftragen. Er kennt einige Kolumbianer, die schneiden für hundert Dollar<br />

Hälse durch.“<br />

„Jens, ich hoffe Hühnerhälse,“ antwortete Holt abwiegelnd.<br />

„Nein Hans, für hundert Dollar auch deinen Hals.“<br />

Pauline und Holt bekamen ein mulmiges Gefühl. Brettschneider setzte noch einen<br />

drauf. „Ich habe Euch damals nicht die ganze Geschichte mit der Null-Option erzählt. Das<br />

lange Gerippe hat mir damals gesagt, wenn es ihm gelingt, an die Mäuse zu kommen und die<br />

Amis anfangen sich zu wehren, dass er diese dann zum Schweigen bringt.“<br />

„Jens, du meinst doch nicht, dass der Mike das tatsächlich ernst gemeint hat?“<br />

„Todernst, ich kenne ihn schon seit Jahren, er geht über Leichen. Bisher hat er sich nur<br />

mit Zusammenschlagen lassen zufriedengegeben, aber er lässt auch töten, glaubt es mir. Er<br />

meint es ganz bitterernst und wie ich das jetzt so sehe, ihr seit in großer Gefahr.“<br />

Holt war sich nun im Klaren darüber, dass seine bisherigen Bemühungen wohl nicht<br />

ausreichen würden, gegen Schulz und Ross vorzugehen. Manfred sollte wohl recht behalten.<br />

Die Ochota hatte sich nicht gemeldet und bei der Nachfrage durch Brettschneider, wieweit die<br />

Ermittlungen seien, taten die Beamten überrascht. Sie ließen Holt mitteilen, dass er selbst<br />

Beweise für ein strafbares Verhalten seiner Angestellten vorbringen müsste. Solange ein<br />

Arbeitsgerichtsprozess anhängig sei, wären der Ochota die Hände gebunden, in dieser Sache<br />

selbst zu ermitteln.<br />

Brettschneider hatte nach seiner Berichterstattung gegenüber Pauline und Holt sich erst<br />

einmal eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank geholt und etwas wie „ich werd mal den José<br />

anrufen ...“ gemurmelt und sich dann mit dem Handy auf die Ostterrasse verzogen. Nach<br />

einer viertel Stunde suchte er Holt auf, der noch immer mit Pauline auf der Westterrasse über<br />

die Sachlage beriet.<br />

„Ich könne etwas über die Lumpen in Erfahrung bringen,“ eröffnete er das Gespräch,<br />

„aber es wird etwas kosten.“ Dabei rieb er den Zeigefinger und Daumen seiner erhobenen<br />

rechten Hand fordernd vor Holt’s Gesicht.<br />

„Was meinst du mit etwas Jens?“, wollte Pauline wissen, die das Zeichen richtig<br />

deutete. „Das, was wir über dem Langen und Ross gegen Geld erfahren könnten, muss uns<br />

helfen, denen den Strick zu drehen und bei der Ochota verwertbar sein.“<br />

„Ich hab da einen alten Bekannten aus der Zeit, als ich die Garde trainierte. Er ist auch<br />

nach dem Präsidentenwechsel bei der Polizei geblieben, da der Neue keine Fachleute hatte,<br />

die sich im Verbundsystem auskannten,“ beantwortete er ausweichend auf Paulines Frage.<br />

„Von was für einem Verbundsystem redest du?“, wollte Holt wissen.<br />

162


„Ich meine das Informationsverbundsystem der Ministerien des Innern und der Justiz.<br />

Die Streuselköppe mussten bereits 1996 ein gemeinsames Informationssystem aufbauen,<br />

sonst hätten sie von den Amis keine Entwicklungshilfe bekommen. Damals hat ein Ami, der<br />

hier in Costa Rica geboren wurde, mithilfe des FBI für die Tico- Polizei die Arbeit gemacht.<br />

Die Ticos selbst waren zu blöde dazu. Den meisten Teil des Systems, wie Computer,<br />

Datenbanken und die Software haben sich inzwischen die einzelnen Polizeidepartements<br />

unter den Nagel gerissen, aber im Hauptquartier gibt es immer noch den<br />

Verbundbeauftragten, der die Reste des Systems eifersüchtig bewacht. Das ist mein<br />

ehemaliger Kollege und bei dem werde ich einmal nachforschen. Er ist mir noch was<br />

schuldig, und außerdem, braucht er immer Geld.“<br />

„Jens denk daran, es muss was Handfestes sein,“ erinnerte Holt Brettschneider, als er<br />

ihm zweihundert Dollar in die Hand drückte. Wie viel wirst du davon dem Bullen abgeben?,<br />

dachte Holt, als er sah, wie schnell Brettschneider das Geld in der Brusttasche seines Hemdes<br />

verschwinden ließ.<br />

Bereits zwei Tage später erschien ein strahlender Brettschneider in Bello Horizonte mit einem<br />

Packen amtlich aussehender Papiere, die er Holt im Büro auf den Schreibtisch schmiss.<br />

„Hans, der José ist eine Goldquelle, der ist seine fünfhundert Dollar Wert, das ist<br />

einfach Sahne, was er anbietet. Hier sind schon einige tolle Sachen dabei“, dabei deutete er<br />

auf die auf dem Schreibtisch liegenden Papiere und ergriff das oben liegende Blatt.<br />

„Das hier ist eine Information über Schulz von der Interpol. Der wird in Spanien und<br />

Panama wegen Betruges, Diebstahl, Vergehen wegen Gefährdung der Verkehrssicherheit und<br />

Flucht aus dem staatlichen Gewahrsam gesucht.“<br />

Brettschneider wühlte im Haufen Papier herum und zog ein weiteres Blatt heraus.<br />

„Das hier ist der Knaller. Auch eine Interpolinfo. Ross wird in Nicaragua wegen versuchten<br />

Mordes, Beamtenbestechung und wegen Flucht aus dem staatlichen Gewahrsam gesucht.<br />

Weiter steht hier, dass der Verdacht des Dokumentenmissbrauchs besteht. Er soll mit einem<br />

falschen Pass gereist sein.“<br />

Holt musste erst das Gehörte verdauen. Welchen Leuten hatte er seine Firma<br />

anvertraut? Ich habe regelrecht den Bock zum Gärtner gemacht, dachte Holt. Sein erster<br />

Eindruck von Schulz, damals in der Villa Belén war doch richtig gewesen. Nur bei Ross hatte<br />

er dieses Gefühl beim ersten Treffen nicht gehabt, anders als bei Brettschneider, den er zwar<br />

nicht für gefährlich sondern nur als asozial empfand.<br />

„Was meinst du mit, er ist seine fünfhundert Dollar wert?, wollte Holt von<br />

Brettschneider wissen. Ihm war die Eröffnung noch in Erinnerung, sie war nur durch die<br />

Wucht der Erkenntnisse ein wenig untergegangen.<br />

„José hat mitbekommen, dass diese Informationen mehr Wert sind als zweihundert<br />

Mäuse,“ beantwortete er Holts Frage, wobei er daran dachte, dass er José doch nur einhundert<br />

Dollar gegeben hatte und ihm höchstens weitere einhundert Dollar zu geben gedachte. Holt<br />

würde schon mit dem Zaster herausrücken. In Anbetracht der ganzen Verbrechen, die seine<br />

Spezies verübt hatten, musste es doch für Holt klar sein, dass seine Gegner Profis waren, von<br />

denen eine nicht zu unterschätzende Gefahr ausging. Diese Gefahr, konkret oder<br />

angenommen, musste aufgebauscht und als Grundlage zur Eröffnung weiterer Geldquellen<br />

genutzt werden. Er fuhr fort: „Hans, du brauchst echte Hilfe, so wie ich es dir schon letzte<br />

Woche angeboten habe.“<br />

Holt konnte sich noch gut an die Offerte erinnern. Brettschneider hatte seine Dienste<br />

als Bodyguard angeboten. Er sah, dass Brettschneider ihn lauernd betrachtete und auch zu<br />

Pauline herüber schaute und auf eine Antwort wartete.<br />

„Wie hast du dir das gedacht?, wollte Holt wissen.<br />

Brettschneider hatte sich schon seine Konditionen zurechtgelegt. Zuerst wollte er die<br />

Vorteile für Holt herausstellen und um dann später mit seinen Forderungen zu kommen.<br />

163


„Du, das heißt ihr, Pauline auch, bekommt von mir einen bewaffneten 24/7-<br />

Vollschutz. Du weist, ich habe legal eine Waffe und auch die Lizenz, als Bodyguard zu<br />

arbeiten. Dazu ist aber räumliche Nähe notwendig. Ich meine, dass ihr mir das Gästezimmer<br />

geben solltet. Am Tage bin ich hier auf dem Grundstück präsent, wenn ihr nach Escazú oder<br />

San José wollt, fahre und beschütze ich euch. Nachts werde ich wie ein Fuchs nur mit einem<br />

Auge schlafen.“ Er machte eine Pause, um die Reaktion seiner zukünftigen Auftraggeber<br />

abzuwarten. Diese lagen im Rahmen von Holts Erwartungen und Brettschneider setzte die<br />

Aufzählung fort. „Als Gegenleistung erwarte ich die private Nutzung des Mercedes,<br />

Vollverpflegung mit freier Unterkunft und ein entsprechendes ... na sagen wir mal ....<br />

Taschengeld.“<br />

Pauline und Holt hatten aufmerksam zugehört. Um nicht in Gegenwart von<br />

Brettschneider mit Holt darüber zu sprechen, beabsichtigte Pauline Zeit zu gewinnen.<br />

„Jens, wir werden uns das alles durch den Kopf gehen lassen. Es hört sich gut an und<br />

ich denke auch, wir benötigen in dieser Situation Unterstützung oder auch Schutz. Ich muss<br />

auch noch einmal unsere Finanzen durchrechnen. Frühestens bis morgen sollten wir wissen,<br />

was wir nun machen und ob wir auf dein Angebot eingehen können.“<br />

Brettschneider hatte aufmerksam zugehört und an den Mienen der Beiden entnehmen<br />

können, dass ihm der Auftrag schon sicher war. Er wollte keinen weiteren Druck machen, um<br />

nicht noch Pauline zu verprellen, die ihm gegenüber zu kritisch war, daher gab er sich mit<br />

ihrer Antwort zufrieden.<br />

Am Abend, nach dem Essen, unterhielten sie sich über das Angebot. Pauline hatte die<br />

Finanzen geordnet und festgestellt, dass bis auf ein paar tausend Dollar nichts mehr übrig war.<br />

Sie zeigte Holt ihre am Nachmittag aufgestellte Übersicht.<br />

„Nach meinen Berechnungen haben wir nur noch für drei Monate Geld zum Leben.<br />

Wenn Jens den Wagen nutzt, bei uns wohnt und beköstigt wird, macht es nicht viel mehr aus,<br />

was wir nicht verkraften könnten, aber ich weiß nicht, was er unter Taschengeld versteht.“<br />

„Sicherlich nicht das Gleiche, was wir darunter verstehen,“ antwortete Holt. „Wir<br />

sollten ihm eine Tagespauschale anbieten und einen Vertrag für erst einmal drei Monate.“<br />

„Und wie hoch, gedenkst du die Pauschale festzulegen?“<br />

„Nun ja, wir wollen guten Schutz und gute Hilfe, also sollten wir ihm auch einen<br />

guten Tagessatz anbieten.“<br />

„Hans, du kneifst, sag eine Zahl und lass mich nicht die Entscheidung allein treffen, an<br />

was denkst du?“<br />

„Pauline, beruhige dich, ich kneife nicht, bin mir jedoch nicht sicher, was angemessen<br />

ist. Wenn ich keine Geldsorgen hätte, würde ich für diese Art von Arbeit hundert Dollar am<br />

Tag zahlen.“<br />

„Hans, das sind dreitausend Dollar im Monat und im viertel Jahr greift er neuntausend<br />

Dollar ab, ohne sich besonders krumm zu machen. Das ist entschieden zu viel!“<br />

Holt machte eine saure Miene und hüllte sich erst einmal in Schweigen, um nicht<br />

sofort Paulines Abwehrhaltung anzufachen. Nachdem Pauline ihre Unterlagen in den<br />

Finanzhefter abgelegt hatte, schien ihm die Situation entspannter zu sein um Pauline seine<br />

Meinung, die schon mehr eine Entscheidung war, mitzuteilen.<br />

„Pauline, Loyalität gibt es nicht zum Nulltarif. Brettschneider ist zwar ein krummer<br />

Hund, aber wenn wir ihn gut bezahlen, ist er unser krummer Hund. Gerade seine<br />

Verschlagenheit und seine guten Kontakte zur Polizei sollten wir nutzen. Er hasst den Schulz<br />

und das ist für uns positiv.“<br />

„Hans, was ist, wenn er uns was vormacht und uns das jetzige schlechte Verhältnis zu<br />

Schulz nur vorspielt?“, antwortete Pauline zögernd. „Ich habe ein schlechtes Gefühl, dass der<br />

Brettschneider hier nur sein eigenes Süppchen kocht.“<br />

164


„Ach was Pauline, du siehst Gespenster. Stell dir doch einmal die Alternative vor,<br />

wenn wir Jens nicht hätten. Wir haben niemanden, der uns helfen kann. Ich meine, es ist<br />

besser, lieber eine schlechte Alternative zu haben als gar keine.“<br />

Eine Zeit lang saßen sie schweigend am Tisch und schauten auf die beiden Rottweiler,<br />

die vor ihnen auf dem Terrassenboden lagen und dösten. Holt konnte die Befürchtungen<br />

Paulines nicht vom Tisch wischen. Es bestand tatsächlich die Möglichkeit, das Brettschneider<br />

anderes im Sinn hatte, als nur zu helfen. Er müsste eine verpflichtende Bindung zu Jens<br />

aufbauen, ihm in die Pflicht nehmen können und auch an seinen Stolz appellieren. Diese<br />

Gedanken teilte er Pauline mit.<br />

Pauline hörte aufmerksam zu. „Eine verpflichtende Bindung? Wie willst du das<br />

hinbekommen?“<br />

„Denk doch einmal nach! Wie würde man bei dir so etwas erreichen können?“,<br />

forderte Holt Pauline auf.<br />

„Ich würde ein freundschaftliches Verhältnis aufbauen, die angebotenen Tätigkeiten<br />

gut bezahlen und nebenbei auch noch Sondervergünstigungen gewähren“, entgegnete Pauline.<br />

„Das schafft Vertrauen und Loyalität.“<br />

„Siehst du, das machen wir doch schon die ganze Zeit mit Jens. Während der Zeit,<br />

noch mit Schulz, haben wir ihn immer gut behandelt und waren nicht unfreundlich zu ihm. Er<br />

hat uns schon um so manche Kühlschrankfüllung an Bier und Essen erleichtert, er konnte sich<br />

bei uns aufhalten, solange er wollte und er ist sehr oft mit Alfi und Betti unterwegs.“<br />

Beim Nennen ihrer Namen waren die beiden Hunde aufgesprungen und kamen zum<br />

Tisch, wo sie beide ihre Nasen wie auf ein Kommando auf die Tischplatte legten. Trotzt der<br />

angespannten und verzweifelten Situation mussten beide lachen. Die Hunde schauten sie mit<br />

großen Augen an, als sie jedoch außer Streicheleinheiten nichts Weiteres bekamen, trollten sie<br />

sich, um ein wenig später wieder leise zu schnarchen.<br />

Man hatte sich geeinigt. Brettschneider sollte einen guten Vertrag für drei Monate bekommen.<br />

Neben freier Unterkunft und Verpflegung waren für die Dienstleistung Sicherheit noch<br />

einhundert Dollar pro Tag drin. Holt war optimistisch, Brettschneider für seine Dienste nicht<br />

mehr als drei Monate benötigen zu müssen.<br />

Am nächsten Morgen legte Holt Brettschneider den am Abend angefertigten Vertrag<br />

vor. Dieser bemühte sich, seine Überraschung zu verbergen, was zur Genugtuung von Holt<br />

und Pauline nicht ganz gelang. Brettschneider stierte auf den Vertrag und drehte ihn<br />

mehrmals hin und her, als ob auf der Rückseite etwas ganz klein Gedrucktes zu entdecken<br />

wäre.<br />

„Nun ja,“ begann Brettschneider, „das ist ja schön und gut, aber ...“ nach einigem<br />

Zögern, „... damit kann ich nicht viel anfangen.“<br />

Holt wäre beinahe aufgesprungen, Pauline hielt ihn jedoch an der Schulter zurück. Er<br />

war aufgebracht, beruhigte sich aber sofort nach den erklärenden Worten von Brettschneider,<br />

der wohl eine scharfe Reaktion von Holt erwartete.<br />

„Hans, der Vertrag ist sehr gut für mich, aber nur in Deutsch,“ begann er. „Wenn ich<br />

ihn bei irgendwelchen Behörden oder Personen vorzeigen muss, um zu belegen, dass ich für<br />

euch tätig bin, lachen die mich aus. Hier in Costa Rica ist Spanisch leider nun mal die<br />

Amtssprache. Ich benötige einen Vertrag und eine Handlungsvollmacht in Spanisch.“<br />

Holt hatte die Problematik sofort begriffen und lenkte ein. „Jens, dieser Vertrag ist nur<br />

für dich, damit du weist, was wir mit dir vereinbaren. Du bekommst natürlich diesen Vertrag<br />

auch in geltender Amtssprache, nebst Vollmachten. In den nächsten Tagen müssen wir<br />

sowieso zu dem uns empfohlenen Anwalt um das Auto aus Sicherheitsgründen auf die neue<br />

Firma umzuschreiben. Dann können wir sofort diesen Vertrag ins Spanische übersetzen lassen<br />

und dort auch unterzeichnen.“<br />

165


Brettschneider zeigte sich wegen dieser Entwicklung zufrieden und war mit Holts<br />

Vorschlag einverstanden. Dennoch schien ihm etwas nicht zu gefallen.<br />

„Warum wollt ihr euer Auto auf eine neue Firma umschreiben lassen? Das ist doch<br />

hier in Costa Rica mehr als gefährlich. Ich würde es euch nicht raten. Fragt doch eueren neuen<br />

Rechtsverdreher, ob ihr nicht das Auto auf seinen privaten Namen oder die Kanzlei<br />

umschreiben könnt ... oder auf eine andere Person,“ wobei er an sich dachte.<br />

„Wie kommst du darauf, dass eine Umschreibung auf unsere neue Firma gefährlich<br />

sei?, hackte Holt nach.<br />

Brettschneider überlegte eine Weile und flüchtig erschien es Holt so, als ob er sich<br />

irgendetwas zusammenlegte, was zwar nicht unbedingt wahr aber jedoch plausibel erschien.<br />

„Hans, wenn du hier während einer gerichtlichen Auseinandersetzung<br />

Firmenvermögen auf eine andere Firma ohne ersichtlichen Rechtsgrund überträgst, zählt das<br />

als illegale Verschiebung und kann rückgängig gemacht werden. Wenn deine Firma jedoch<br />

Firmenwerte an Privatpersonen verkauft, dann ist das möglich, solange kein gerichtliches<br />

„Embargo securidado“, oder so ähnlich, vorliegt.“<br />

Holt war erstaunt über Brettschneiders juristische Kenntnisse. „Woher weißt du das<br />

alles?“, wollte er wissen.<br />

„Das hab ich mit meiner rauschgiftsüchtigen Frau alles selbst mitgemacht. Mit der<br />

hatte ich zusammen eine Firma für einen Escortservice, zu der auch ein Auto gehörte. Sie ist<br />

zum Gericht gelatscht, als sie mich in die Pfanne hauen wollte. Gott sei Dank hat mein<br />

Schwiegervater, der ja auch Bulle ist, dies verhindern können, da er wusste, wozu seine<br />

Tochter den Wagen brauchte. Damals hat mir der Richter das noch rechtzeitig gesteckt und<br />

ich konnte den Wagen auf den Namen meines Schwiegervaters vorher ummelden lassen.“<br />

Brettschneider machte eine Pause und schaute sich noch einmal den in der Hand<br />

haltenden Vertrag an.<br />

„Weiter würde ich euch noch raten, mir eine Handlungsvollmacht auszustellen, die<br />

mich berechtigt, für euch alltägliche Handlungen durchzuführen, wie Stromkosten bezahlen,<br />

einzukaufen und Geld von der Bank für euch abzuholen und so weiter. Übrigens könnt ihr<br />

auch das Auto auf meinen Namen umschreiben lassen. Diese Umschreibung ist dann<br />

Bestandteil des Vertrages und wird bei Erledigung des Vertrages wieder rückgängig gemacht.<br />

Es ist praktisch und gleichzeitig ungefährlich. Als Grund für die Übertragung könnte eine<br />

zeitweilige Sicherheitsübereignung angegeben werden, die auf spätere Ansprüche von<br />

zukünftigen Lohnzahlungen basiert.“<br />

Pauline schaute Holt abwartend an, der gerade daran dachte, dass Brettschneider<br />

wirklich an alles gedacht hatte. Holt nickte nur leicht mit dem Kopf, was Pauline als<br />

Zustimmung für Brettschneiders Vorschlag interpretierte.<br />

*<br />

Marco hatte zwei Mandanten in seinem Büro, als seine Sekretärin zaghaft an die Tür klopfte<br />

und ihm mitteilte, dass ein Senior Schulz draußen warte und dieser etwas sehr Wichtiges auf<br />

dem Herzen habe. Marco entschuldigte sich kurz bei seinen Mandanten und eilte zum<br />

Warteraum, wo er Schulz aufgeregt auf einem Stuhl hin und her rutschen sah. Als dieser ihn<br />

kommen sah, sprang er auf und eilte auf Marco zu. Zwei weitere Mandanten, die noch<br />

warteten, schauten erwartungsvoll auf und spitzten die Ohren. Marco zog Schulz am Ärmel in<br />

Richtung Innenhof, in dem ein kleiner Springbrunnen inmitten von Blumen leise vor sich<br />

hinplätscherte.<br />

„Was ist los? Warum kommst du unangemeldet?“, herrschte er Schulz an, der wegen<br />

der Barschheit Marcos leicht den Kopf einzog.<br />

„Der Holt macht Ärger, er hat mich bei der Ochota angezeigt und hat wohl auch<br />

wieder einen neuen Anwalt. Wir müssen jetzt was dagegen tun, sonnst sitzen wir in der<br />

166


Scheiße“, flüsterte er aufgeregt, wobei er durch die noch offen stehende Tür zum Warteraum<br />

schielte.<br />

Marco hatte den Blick mitbekommen. Mit dem rechten Fuß hakte er nach hinten und<br />

schlug die Tür zu, die mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Finster schaute er Schulz an.<br />

„Was heißt hier sonst sitzen wir in der Scheiße? Ich werde nicht in der Scheiße sitzen, ich bin<br />

nur dein Anwalt. Und außerdem, was regst du dich künstlich auf. Lass Holt doch zur Ochota<br />

rennen, er wird nichts erreichen so wahr ich Longe heiße und der Chef der Ochota auch<br />

Longe heißt.“<br />

Schulz wurde wegen Marcos Kaltschnäuzigkeit sauer. „Nur mein Anwalt“, höhnte er.<br />

„Du bist mehr als mein Anwalt, du bist mein Komplize. Du hast vom Geld mehr bekommen,<br />

als es dir zusteht. Außerdem bist du auch der Anwalt und Notar von Holt. Du hast dich auf<br />

meine Seite geschlagen, und damit dem Holt geschadet. Ich erinnere nur noch an den<br />

Geschäftsführervertrag, den du so geändert hast, dass der Holt nichts mehr zu sagen hat. In<br />

Deutschland nennt man so etwas Mandantenverrat. Darauf steht Entzug der Anwaltszulassung<br />

und der Ausschluss aus der Anwaltskammer, wenn nicht sogar ein Strafverfahren – und du<br />

sprichst davon, dass du nuuuur mein Anwalt bist?“<br />

Marco war wegen der Heftigkeit über die Reaktion von Schulz blass geworden. Er<br />

dachte über das Gesagte nach. Schulz hatte Recht und er wusste es auch, konnte es aber<br />

gegenüber diesem nicht so einfach zugeben.<br />

„Mike, reg dich nicht so auf. Du hast ja unter Umständen recht. Mein Engagement in<br />

deiner Sache hat für Holt sicherlich Nachteile gebracht. Aber mir steht auch das Recht zu,<br />

sich für eine Seite zu entscheiden.“<br />

„Du bist ein Heuchler Marco. Erzähl mir keinen Mist! Du weißt doch ganz genau, dass<br />

du mich gegen Holt gar nicht vertreten kannst, weil er auch dein Mandant war. So etwas ist<br />

einfach standeswidrig.“<br />

Schulz sah den aufkeimenden Ärger in Marcos Gesicht und das dieser seinen Körper<br />

in Abwehrhaltung versteifte. Mit dem Instinkt eines Wolfes deutete er diese Signale sofort als<br />

das Herannahen von Unheil. So weit wollte er jedoch nicht gehen, er konnte es sich noch<br />

nicht leisten, auf Marco zu verzichten oder diesen sogar als Feind zu haben. Schnell schaltete<br />

er im Verhalten um und grinste Marco an.<br />

„He Alter, so habe ich es nicht gemeint. Du bist ja nicht nur mein Anwalt, sondern<br />

auch mein Freund. Und Freunde halten zusammen und können sich auch mal kritisieren. Mir<br />

geht es doch nur darum, das wir unsere Mäuse machen und uns nichts anbrennt.“ Dabei<br />

strahlte er Marco an und klopfte ihm beruhigend auf den Arm.<br />

Marco wurde unruhig, hob den linken Arm und schaute auf seine Armbanduhr. „Mike,<br />

ich hab da drin noch Mandanten, die warten auf mich.“ Dabei deutete er mit dem Kopf zu<br />

seiner Bürotür. „In zwanzig Minuten bin ich fertig, dann habe ich Zeit für unsere<br />

Angelegenheit.“<br />

„Und was ist mit denen?“, wollte Schulz wissen, indem er auf die zwei Männer im<br />

Wartezimmer deutete.<br />

„Die warten nicht auf mich, die wollen zum Kollegen, eine Tür weiter.“ antwortete er.<br />

Noch beim Weggehen, mit dem Gesicht halb über die Schulter gedreht, fügte er hinzu, „Ich<br />

hab da schon meine Vorstellungen wie wir dem Holt den Wind aus die Segeln nehmen.<br />

Morgen ist alles geritzt.“ und er verschwand im Gang. Schulz sah noch, wie sich die Tür zu<br />

dem Büro öffnete und wieder schloss.<br />

Die spätere Besprechung hatte länger gedauert als erwartet. Marco unterbreitete<br />

Schulz ausführlich seinen Vorschlag. Dieser hörte interessiert zu und schmunzelte zum<br />

Schluss.<br />

„Marco, du bist wirklich ein Scheiß-Rechtsverdreher. Du meinst also der Richter am<br />

Arbeitsgericht spielt bei dieser schrägen Sache mit?“<br />

167


„Es ist eine Richterin.“ antwortete er korrigierend. „Sie arbeitet nur halbtags, weil sie<br />

ein kleines Kind hat und sie braucht ständig Geld. Außerdem ist sie mir noch was schuldig.<br />

Vor ein paar Jahren habe ich ihr den Job am Gericht in Guadeloupe verschafft, obwohl sie<br />

keine Chancen hatte. Sie ist dumm wie eine Stulle, bumst aber gut.“<br />

Schulz schlug sich wiehernd auf die Oberschenkel. „Das ist gut, sie bumst aber gut.“<br />

Er schaute Marco mit Lachtränen in den Augen an und fasste sich wieder. „Aber sie ist in<br />

Guadeloupe, das hilft uns doch nicht weiter. Holt hat die Firma in Escazú und ich glaube<br />

dafür ist doch ein anderes Gericht zuständig.“<br />

„Stimmt im Prinzip,“ antwortete Marco, „aber das ritze ich schon. Wenn erst einmal<br />

eine Sache an einem Gericht anhängig ist, kümmert sich hier kein Aas mehr um irgendeine<br />

Zuständigkeit. Die Richter sind alles faule Säcke und sind im Grunde froh nicht noch mehr<br />

Arbeit aufgehalst zu bekommen.“<br />

„Aber wie bekommen wir es bis morgen hin, die Beweise für die Klage herzustellen,<br />

oder zu frisieren, oder die Klage selbst?“, wollte Schulz wissen.<br />

„Dann machen wir eben eine Nachtschicht und fangen mit der Arbeit sofort an. Du<br />

solltest Ross und einige deiner Kumpels als Zeugen hierher bitten, damit sie ein paar wichtige<br />

Aussagen zu Papier bringen können. Sag dem Ross auch, er soll noch einige Papiere aus dem<br />

Büro mitbringen.“ antwortete Marco.<br />

Ross brachte Alvaro und Warner gleich mit. Er hatte auch alle Papiere eingepackt, die sich<br />

auf Holt und die Firma bezogen. Abends um acht Uhr orderte Schulz zwei große Pizzas und<br />

mehrere Flaschen Cola. Nachdem Marco alles gesichtet hatte, gab er Anweisungen an Schulz,<br />

was er vervielfältigen und abändern sollte. Alvaro und Warner diktierte er nacheinander die<br />

getürkten Beweissaussagen, welche sie emsig mitschrieben und zum Schluss auf jeder Seite<br />

mit ihren Initialen und am Ende mit dem vollständigen Namen unterschrieben. Marco<br />

stempelte diese Papiere ab, unterzeichnete sie in seiner Eigenschaft als Notar, machte mehrere<br />

Kopien von den Originalen und packte die Originale zur Klageschrift. Selbstgefällig lächelte<br />

er, als er kurz vor Mitternacht das fertige Gemeinschaftswerk auf dem Schreibtisch<br />

betrachtete.<br />

„Da soll nur mal einer sagen, in Costa Rica gäbe es keine Gerechtigkeit. Damit reißen<br />

wir Holt den Arsch auf.“ Damit wies er auf die vollständige Klageschrift.<br />

Alle fünf Verschwörer lachten lauthals trotzt ihrer ersichtlichen Müdigkeit und<br />

klopften sich gegenseitig auf die Schultern.<br />

*<br />

Eine Woche später knatterte ein Moped laut vorm Gitterzaun in Bello Horizonte. Danach<br />

klopfte es an der großen Schiebetür. Holt öffnete das kleine Zusatztor in der Schiebetür.<br />

Davor stand ein Gerichtskurier mit hochgeklapptem Visier eines Sturzhelmes, der Holt fragte,<br />

ob hier ein Senior Holt wohne, was dieser bestätigte.<br />

„Ich habe für Sie eine Zustellung vom Gericht. Sie müssen den Empfang hier<br />

quittieren.“ Dabei zeigte er auf einen hellblauen Schein und reichte Holt einen Kugelschreiber<br />

rüber.<br />

Die Zustellung bestand aus einer Klageschrift mit Anlagen und einer gerichtlichen Verfügung<br />

des Arbeitsgerichtes von Guadeloupe. Holt war erstaunt, da er nie mit einem Arbeitsgericht<br />

von Guadeloupe zu tun hatte. Bereits nach wenigen Blicken in die Papiere erfasste er die<br />

Tragweite des Geschehens. Schulz hatte ihn vor einem Arbeitsgericht verklagt, Marco war<br />

sein Anwalt und das Gericht hatte bereits etwas zu seinem Nachteil verfügt.<br />

Pauline, die in der Küche herumhantierte, bekam von allem nichts mit. Selbst die<br />

Hunde hatten nicht angeschlagen, da sie gerade hinten im Garten tobten. Bevor er sich die<br />

168


Papiere richtig anschaute, ging er mit einem mulmigen Gefühl im Magen zu Pauline. Diese<br />

sah bereits bei seinem Eintreten, dass etwas nicht stimmte. Holt war kalkweiß im Gesicht und<br />

kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Seine Arme hingen schlaff herunter und in der rechten<br />

Hand hielt er ein Bündel Papiere.<br />

„Was ist passiert? Ist jemand gestorben?“, wollte sie wissen und ging auf Holt zu und<br />

nahm diesem die Papiere aus der Hand, ohne sie sich aber anzuschauen.<br />

Holt murmelte nur „Schulz“ und deutete auf die Papiere, die Pauline nun in der Hand<br />

hielt. Sie schaute darauf und zog sich einen Küchenstuhl heran, auf den sie sich setzte und<br />

damit begann, die Papiere zu lesen. Holt hatte den Atem angehalten und schwieg, er<br />

beobachtete Pauline. Diese schaute zu dem immer noch stehenden Holt auf.<br />

„Hans, das ist doch nicht möglich. Sag das ich träume,“ flüsterte sie mit kaum<br />

vernehmbarer Stimme.<br />

„Es ist kein Traum, das ist ein Albtraum, das ist der schlimmste Albtraum, den ich mir<br />

je vorstellen konnte,“ antwortete er. „Ich habe es zwar noch nicht alles gelesen, aber das<br />

Schlimmste glaube ich, kommt am Schluss.“ Dabei zog er ein ganz unten liegendes Papier aus<br />

Paulines Hand und deutete darauf. „Ich verstehe zwar nicht alles, was hier steht, neben den<br />

spanischen Floskeln erkenne ich aber einige Worte aus der Zeit meines Studiums. Sie sind<br />

lateinischen Ursprungs und in fasst allen Rechtssystemen der Welt, wiederzufinden.“ Mit<br />

seinem Zeigefinger deutete er auf die Worte Embargo Präventivo.<br />

„Unter Embargo,“ erklärte er, „versteht man sinngemäß ein Bewegungs-, Handlungsoder<br />

Verfügungsverbot und unter dem Wort Präventivo ist wahrscheinlich eine<br />

Vorbeugungshandlung zu verstehen. Dieses lateinische Wort hat als Lehnwort auch in der<br />

deutschen Sprache einen Niederschlag gefunden. Jeder versteht es, ich auch. Beide Worte<br />

zusammen in einer gerichtlichen Verfügung bedeuten für uns sicherlich nichts Gutes.“<br />

Holt schwieg und reichte Pauline die Verfügung. Diese schaute sich die zwei Worte<br />

noch einmal an, die fett gedruckt und eingerückt in der Mitte der Verfügung standen:<br />

Embargo Präventivo.<br />

„Hans, was heißt das nun genau für uns?“<br />

„Pauline, ich glaube, wir sind soeben, das heißt, genau in diesem Moment, wo ich die<br />

Papiere quittiert habe, klammheimlich enteignet worden.“<br />

„Wie kommst du darauf?“<br />

„Eigentlich ist das Vermögen unserer Firma aus Gründen der Sicherheit nur<br />

eingefroren. Das bedeutet, wir können nicht mehr darüber verfügen, solange dieser<br />

Rechtsstreit läuft. Aber viel schlimmer ist, dass der Schulz durch das Gericht bis zum Ende<br />

des Verfahrens als treuhändischer Verwalter unserer Firma eingesetzt wurde.“<br />

Dabei deutete Holt auf eine Passage der Verfügung, deren Bedeutung sie wegen der<br />

spanischen Sprache, bis auf drei Wortgruppen nicht verstanden. Dort stand: Senior Presidente<br />

Schulz ... la administración temporal ... en el período de la prohibición temporal.<br />

„Aber Hans, das können die doch nicht machen. Das Gericht macht doch hier den<br />

Bock zum Gärtner.“<br />

„Ja Pauli, so ist es, sie haben dem Schulz unsere Firma zum Fraß vorgeworfen.“<br />

„Aber worauf stützt dieser Lump sich. Das Gericht kann doch nicht über unser<br />

Eigentum verfügen, ohne uns angehört zu haben.“<br />

Holt blätterte in der Klageschrift. „Ich glaube Schulz, Ross, Alvaro und Warner<br />

machen ausstehende und zukünftige Lohnzahlungen beziehungsweise einen<br />

Lohnzahlungsverlust geltend. Ich verstehe zu wenig Spanisch, aber hinter jedem Namen sind<br />

Zahlen aufgelistet. Hier, bei Schulz steht hundertzwanzigtausend Dollar, bei Ross<br />

achtzigtausend Dollar, bei Alvaro sechstausendvierhunderddreißig Dollar und bei Warner<br />

dreitausendvierhundertzwanzig Dollar und fünfundzwanzig Cent. Die einzigst krumme<br />

Summe.“<br />

169


Pauline schaute sich die zwei krummen Zahlen genau an und stutzte. „Warte“ sprach<br />

sie, „ich komme gleich wieder.“ Sie verließ die Küche in Richtung Büro. Nach wenigen<br />

Augenblicken kam sie zurück. In ihrer Hand hielt sie ihr kleines Notizbuch. Sie blätterte darin<br />

herum, fand etwas und zeigte auf einen Eintrag.<br />

„Hier, am 12. Oktober habe ich an Warner genau dreitausendvierhundertzwanzig<br />

Dollar und fünfundzwanzig Cent gezahlt. Genau habe ich ihm dreitausendvierhundertfünfzig<br />

Dollar, einschließlich Trinkgeld, gegeben.“<br />

„Hast du dir die Zahlung bestätigen lassen?“, wollte Holt wissen.<br />

„Ja, natürlich. Eigentlich hat Warner von mir nur vierhundertfünfzig Dollar<br />

bekommen, da ich bereits vorher die Rechnung von der Ferreteria für das Material über<br />

zweitausend Dollar beglichen hatte. Genau das Gleiche ist mit der Zahlung an Alvaro. Der<br />

Betrag dort über sechtstausendvierhundertdreizig Dollar setzt sich zusammen aus Materialund<br />

Lohnzahlungen für sechs Monate. Hier schau!“ und sie zeigte auf die Zahlenkolonne in<br />

ihrem Büchlein. „Das sind die Abrechnungen für Alvaro für die Zeit ab August letzten Jahres<br />

bis jetzt. Er hat alles ausgezahlt bekommen. Dieser Schweinehund!“<br />

Wütend schlug sie ihr Notizbuch zu. „Kannst du mir mal sagen, wie Schulz und Ross<br />

zu solch astronomischen Zahlen kommen? Wir haben nur die letzte monatliche Zahlung<br />

zurückgehalten, weil sie ihre Arbeit nicht mehr gemacht haben. Was soll das alles?“<br />

„Ich weiß es auch nicht Pauline. Wir sollten mit dem Wisch schleunigst zu einem<br />

Anwalt gehen. Jens hat doch recht gehabt. Wir werden den Anwalt aufsuchen, den uns die<br />

Vargas nannte. Außerdem müssen der Vertrag mit Jens und die Umschreibung des Autos<br />

erledigt werden, wenn es nicht schon zu spät ist.“<br />

*<br />

Schulz stellte grinsend vor Brettschneider eine Flasche Bier. „Na,“ fing er an, „was machen<br />

unsere Loser nun?“<br />

Brettschneider haute den Kronenkorken der Flasche am Tischrand ab, was Schulz mit<br />

einem Missfallen zur Kenntnis nahm. „Diese Schwachköpfe haben mir doch tatsächlich den<br />

Wagen überschrieben, Kontovollmacht erteilt und sich durch einen Vertrag bei mir<br />

verschuldet, den sie nie erfüllen können.“<br />

Schulz lachte laut. „Da siehst du mal wieder, wie leichtgläubig die Beiden sind. Ich<br />

habe die immer eingewickelt, jetzt bist du dran. Ich staune wirklich, dass die es nicht<br />

mitbekommen, dass wir noch in Kontakt stehen.“<br />

Genüsslich schlürfte Brettschneider an seiner Bierflasche, sein Grinsen wurde noch<br />

breiter. „Kannst du dich daran erinnern, die Sache mit dem Bäcker Hans? Du hattest dich<br />

damals darüber tierisch aufgeregt, dass ich den Job wieder geschmissen hatte und du nun<br />

gegenüber dem Bäcker blöd da standest. Das hatten die Beiden ja mitbekommen und ich habe<br />

daraus `ne große Sache gemacht und ihnen verklickert, dass zwischen uns nun Eiszeit<br />

herrscht. Sie haben es mir abgenommen.“<br />

Schulz rieb sich die Hände und strahlte übers ganze Gesicht. „Jens, du bist doch<br />

wirklich ein begnadeter Schauspieler. Dich hätte ich damals auch mit einsetzen sollen, als ich<br />

dem Holt eine eigene Softwareentwicklung aufschwatzte.“<br />

„Hätte nicht geklappt“, murmelte Brettschneider, „davon habe ich keine Ahnung und<br />

Holt weiß das. Er hat mir immer am Computer helfen müssen, wenn ich in meine Pornoseiten<br />

nicht reinkam.“<br />

„Na, auf jeden Fall möchte ich dich nicht zum Feind haben oder dich auch nur gegen<br />

mich arbeiten sehen,“ antwortete Schulz.<br />

Wer sagt dir langes Gerippe, dass ich dein Freund bin und nicht gegen dich arbeite? Die<br />

Unterlagen, die ich über euch Spitzbuben gesammelt habe, machen die ganze Angelegenheit<br />

170


etwas pikanter, dachte Brettschneider, als er Schulz freundlich anschaute. Ich arbeite nur für<br />

mich, du wirst das schon früher oder später selbst mitbekommen. Mit viel Freude öffnete er<br />

die zweite Bierflasche, die Schulz inzwischen vor ihn stellte, an der Tischkante, ohne auf den<br />

unwilligen Blick von Schulz zu achten.<br />

*<br />

Brettschneider fühlte sich wohl. Er lebte in Bello Horizonte wie die Made im Speck. Bis auf<br />

wenige Fahrten nach Escazú, bei der er Pauline zum Einkaufen zu Saretto fuhr, und der<br />

abendlichen Runde, bei der er kontrollierte, ob alle Türen und Fenster verschlossen waren,<br />

hatte er nichts zu tun. Am Tage, wenn er nicht gerade unterwegs war, spielte er mit den<br />

beiden Hunden oder schmökerte in Holts Büchern.<br />

Nach drei Wochen, als er, wie immer zum Wochenende, siebenhundert Dollar von Holt<br />

erhielt, bemerkte er, dass Holt unruhig war und etwas auf dem Herzen hatte. Er sprach ihn<br />

darauf an, als Pauline nicht in Sichtweite war.<br />

„Was hast du Hans?“<br />

Holt kam nicht sofort mit seinen Problemen heraus, er zögerte und schaute<br />

Brettschneider fragend an. Dieser hakte nach. „Los erzähl, mir kannst du doch alles sagen,<br />

was dich bedrückt. Bin ich Schuld daran, nerve ich euch?“<br />

„Ja und nein“, fing er an zu reden, „wir haben finanzielle Probleme und ich kann dir<br />

wahrscheinlich ab nächste Woche nicht mehr den ganzen Betrag zahlen. Um die Firma zu<br />

retten, haben wir für den neuen Anwalt und die Hostingkosten der zwei Server im Office<br />

Center Sabana mehr Geld ausgeben müssen. Jetzt sind wir ganz schön knapp bei Kasse, es<br />

kommt ja kein neues Geld mehr herein. Nur Ausgaben haben wir.“<br />

Brettschneider hatte aufmerksam zugehört. Hinsichtlich der finanziellen Situation der<br />

Beiden hatte er so eine Entwicklung erwartet. Aber was redete Holt da von zwei Servern?<br />

Außerdem hatte er doch noch Geld bei Saving Money. Hier musste er nachfragen.<br />

„Von welchen zwei Servern redest du? Sind nicht alle Computer im Büro bei Schulz<br />

geblieben?“<br />

„Gott sei Dank nicht alle,“ antwortete Holt. „Im Büro standen nur die<br />

Arbeitscomputer. Die zwei Wichtigsten und Teuersten stehen nach wie vor als Server in<br />

Sabana bei einer Hostingfirma. Aber ich habe die Hostingkosten der letzten Monate selbst<br />

bezahlt. Jeden Monat fünfhundertvierzig Dollar pro Server. Das ist eine Menge Geld.“<br />

„Warum hast du die privat bezahlt und nicht über die Firma?“, wollte Brettschneider<br />

wissen.<br />

„Das ist ein Versehen gewesen. Als wir die Server dort installierten, hatte unsere<br />

Firma noch kein eigenes Konto oder ich glaube, da war noch etwas in der Schwebe. Der<br />

Einfachheit halber habe ich die monatlichen Kosten von eintausendachtzig Dollar von<br />

unserem privaten Konto selbst bezahlt. Später habe ich es wegen der Aufregungen vergessen<br />

zu ändern.“<br />

Als Holt dem zuhörenden Brettschneider dies mitteilte, kam diesem plötzlich ein<br />

Gedanke. Er erinnerte sich an die Beschlagnahmeverfügung des Gerichts. Er meinte sich auch<br />

zu erinnern, dass sich die Beschlagnahme nur auf die im Büro befindlichen Firmenwerte<br />

bezogen, nicht auf die Werte außerhalb des Büros. Die beiden Server könnte Holt letztlich<br />

auch nicht vor dem Zugriff Schulz retten, wenn dieser in Sabana die Weichen dazu stellte.<br />

„Jens, morgen fahren wir ins Office Center in Sabana. Ich werde dort dem Inhaber der<br />

Firma mitteilen, dass ich die Server auf meine neue Firma zu übertragen gedenke. Dann kann<br />

der Schulz sich diese nicht mehr unter den Nagel reißen.“<br />

Brettschneider hatte mit halb geöffnetem Mund zugehört. Er spielte den Hocherfreuten<br />

und klopfte Holt lachend auf die Schulter. „Los Hans, zeigen wir es den Pennern, die dich<br />

beklauen wollen. Ich werde dir dabei helfen, dein Eigentum zu schützen.“<br />

171


*<br />

Spät am Abend, kurz vor Mitternacht wurde Schulz durch das Klingeln seines Handys aus<br />

dem Schlaf gerissen. Schlaftrunken und ärgerlich drückte er den Empfangsknopf. Eine<br />

aufgeregte Stimme auf der anderen Seite redete auf ihn ein und er antwortete mehrmals nur<br />

kurz mit „Ja“, „Mach ich“ und „Scheiße“. Nach drei Minuten war das Gespräch bereits<br />

beendet.<br />

Nun war er hellwach. Er stand auf und ging zur Küche, um sich ein Glas Wasser zu<br />

holen. So ein Mist, Marco hat Scheiße gebaut. Das hätte nicht vorkommen dürfen, dachte er.<br />

Das Embargo muss auch auf Firmenwerte ausgeweitet werden, welche sich außerhalb des<br />

Büros befinden. Er grinste beim Trinken, als ihm ein neuer Gedanke durch den Kopf ging. ...<br />

und auch auf Werte in Holts Haus!<br />

*<br />

Bereits am nächsten Morgen um neun Uhr brachen Holt und Brettschneider auf, der auch den<br />

Wagen fuhr. Das Office Center Sabana war eine mit einer zwei Meter hohen Steinmauer<br />

umgebende kleine Stadt, in der einige Botschaften, Konsulate und eine Menge amerikanischer<br />

Firmen der IT- und Kasinobranche Einzug gefunden hatten. Im Haus 3, eines vierstöckigen<br />

und modernen Bürohauses, versehen mit getönten Glasfassaden und einer riesengroßen Lobby<br />

im Erdgeschoss, hatten drei Internetfirmen ihren Sitz, auch die Firma International Hosting<br />

SA, zu der Holt wollte.<br />

Die Empfangsdame an der Rezeption meldete Holt, nach dessen kurzen informellen<br />

Worten, telefonisch an. Einige Augenblicke später öffnete sich eine Bürotür und ein<br />

untersetzter, leicht übergewichtiger und blasser Mann kam zum Tresen der Rezeption. Der<br />

amerikanische Geschäftsführer, wie er sich vorstellte, begrüßte Holt freundlich und bat ihm<br />

ins Büro. Brettschneider nahm im Wartezimmer Platz, wobei er darauf achtete, dass die<br />

hübsche Empfangsdame mit dem großen Oberteil, seine Waffe, die er diesmal am<br />

Gürtelholster trug, unter der scheinbar verrutschten Windjacke sehen konnte.<br />

Jim Baldow, der Vizepräsident der Gesellschaft, hörte Holt scheinbar aufmerksam und<br />

interessiert zu. Ihm sei Holts Name als Absender der Hostingkosten bekannt, meinte er, habe<br />

ihn bedauerlicherweise aber bisher noch nie persönlich kennen gelernt. Auf einem Zettel<br />

machte er sich scheinbar Notizen. Als Holt geendet hatte, räusperte er sich, zog die Stirn<br />

kraus und setzte etwas verhalten zur Antwort an.<br />

„Ähh ..., nun ja Mr. Holt, das ist keine schöne Sache. Selbstverständlich werden wir<br />

Ihnen behilflich sein, Ihr Eigentum zu sichern. Sie müssen ... äh ... uns nur belegen, dass Sie<br />

wirklich Eigentümer der Server sind. Ich bin bislang davon ausgegangen, dass diese Server im<br />

Eigentum der Firma HaPau Enterprises SA stehen und das der Eigentümer dieser Gesellschaft<br />

ein Herr ... „ er blätterte in seinen auf dem Tisch liegenden Unterlagen, „... äh ..., ein Herr<br />

Michael Andreas ist.“<br />

„Nein, Eigentümer der Firma sind meine Lebensgefährtin und ich. Als Geschäftsführer<br />

hatten wir Herrn Michael Andreas Schulz eingesetzt. Dieser ist durch uns wegen Betruges<br />

und Veruntreuung abgesetzt worden. Derzeit leite ich nun selbst die Geschäfte.“<br />

Baldow schien diese Auskunft nicht zu genügen. „Sie müssen mir einen Beleg<br />

vorlegen, aus dem hervorgeht, dass Sie nun Präsident Ihrer Gesellschaft sind und über die<br />

Server verfügen können.“<br />

„Die Urkunde, aus der ersichtlich ist, dass ich jetzt der Präsident meiner eigenen Firma<br />

bin, habe ich aber zu Hause. Ich glaubte sie hier und jetzt nicht zu benötigen, da ich andere<br />

Belege bei mir habe, welche beweisen, dass ich die Server persönlich gekauft habe und auch<br />

von meinem persönlichen Konto bezahlte.“<br />

172


„Das tut mir leid. Kaufbelege sagen nichts über wahre Eigentumsverhältnisse aus. Sie<br />

könnten ja auch in Vollmacht, im Auftrage und auf Rechnung der Firma den Einkauf getätigt<br />

haben.“ Baldow räumte die Papiere zusammen und machte auf Holt den Eindruck, dass dieser<br />

das Gespräch zu beenden gedachte.<br />

„Warten Sie! Was ist, wenn ich meine Lebensgefährtin anrufe, die Urkunde zu<br />

bringen?, wollte Holt von dem schon stehenden Baldow wissen.<br />

„Dann ist jedoch die Situation eine andere. Ich muss jetzt in eine Besprechung.“ Dabei<br />

schaute Baldow demonstrativ auf seine Armbanduhr. „In zwei Stunden bin ich wieder zurück,<br />

dann können wir alles Weitere regeln.“ Sprach es und verließ einen verblüfften Holt allein im<br />

Büro zurück.<br />

Brettschneider hatte inzwischen die Empfangsdame angebaggert, wurde jedoch durch<br />

den herauseilenden Baldow unterbrochen. Fragend schaute er zur noch offenen Tür, in der ein<br />

Achsel zuckender Holt erschien.<br />

„Pauline bringt die Urkunde, aus der ersichtlich ist, dass ich Chef der Firma bin. Die<br />

benötige ich, um die Server heraus zu bekommen, wenn Baldow in zwei Stunden<br />

zurückkommt.“<br />

Brettschneider wurde blass, was Holt als Aufregung und Teilnahme deutete. „Was, in<br />

zwei Stunden schon kannst du die Server heraus bekommen?“ Er zögerte ein wenig und<br />

ergänzte mit den Worten, „Hoffentlich ist das noch rechtzeitig“, wobei er nicht sagte, für wen<br />

es noch rechtzeitig wäre.<br />

Nach einer halben Stunde erschien Pauline mit der Urkunde. Sie ließ sich noch einmal<br />

ausführlich den Stand der Gespräche mitteilen. Da sie noch über eine Stunde Zeit hatten,<br />

beschlossen sie, in ein in der Nähe gelegenes Restaurant zu gehen. Rechtzeitig zum avisierten<br />

Termin fanden sie sich wieder im Warteraum ein. Als die Empfangsdame sie kommen sah,<br />

griff sie zum Telefon. Holt vermeinte zu hören „Sie sind hier.“<br />

Vom Warteraum aus konnte Holt die Tür zum Fahrstuhl sehen. Er sah Leute kommen<br />

und gehen. Zwei Minuten nach der Zeit öffnete sich die Fahrstuhltür. Mehrere Personen traten<br />

heraus, wobei Holt Schulz und Longe, in Begleitung eines fremden Mannes und Baldow<br />

erkannte. Alle steuerten auf die Wartenden zu. Der unbekannte Mann trug eine Aktentasche<br />

unter dem Arm, die er auf den Tresen der Rezeption legte und ein amtlich aussehendes Stück<br />

Papier entnahm. Damit trat er auf Holt zu. Die Anderen blieben hinter ihm wartend am Tresen<br />

stehen.<br />

„Mein Name ist ...“, er nannte einen Namen, den Holt nach wenigen Sekunden bereits<br />

wieder vergessen hatte, „ ... ich bin Gerichtsvollzieher beim Arbeitsgericht Guadeloupe. Ich<br />

wurde darüber informiert, dass Sie ... wenn Sie Herr Hans Holt sind ... im Begriff sind, eine<br />

strafbare Vollstreckungsvereitlung durchzuführen.“<br />

Für Holt schien mit einem Mal die Welt stillzustehen. Das Rauschen seines Blutes<br />

übertönte alle Geräusche, über die sich eine Schicht Watte gelegt zu haben schien. Wie aus<br />

weiter Ferne hörte er die Worte des Büttels: „ ... übergebe ich Ihnen die Zweitanfertigung der<br />

ergänzenden Gerichtsverfügung und weise Sie auf die Strafbarkeit einer Sicherungs- oder<br />

Vollstreckungsvereitelung hin. Es ist Ihnen verboten, Eigentum der Firma HaPau Enterprise<br />

SA ohne Genehmigung des treuhändischen Verwalters, Herrn Schulz, zu entfernen, zu<br />

veräußern oder anderweitig darüber zu verfügen.“<br />

Holt stieß den Gerichtsvollzieher beiseite und stürzte in Richtung auf den grinsenden<br />

und triumphierend blickenden Schulz. Brettschneider, der bisher am Tresen gelehnt den<br />

Vorgang beobachtete, schnellte blitzartig vor und stellte sich schützend, mit dem Rücken zu<br />

Schulz, vor Holt. Er packte ihn mit beiden Händen fest an den Armen und neigte sein Gesicht<br />

zu Holt vor und flüsterte. „Mach, das nicht Hans, darauf wartet der Lump doch nur. Wenn du<br />

ihn oder den Gerichtsfuzzi hier in aller Öffentlichkeit angreifst, bist du heute Abend im Knast.<br />

Willst du das? Willst du diesem Pack die Freude machen?“<br />

173


Holt brauchte Sekunden, um Brettschneiders Worte zu begreifen und wirken zu lassen.<br />

Er trat einen Schritt zurück und Brettschneider einen halben Schritt zur Seite, sodass Holt das<br />

immer noch feixende Gesicht seines Feindes sehen konnte. Finster schaute er in an.<br />

„Schulz freue dich nicht zu früh. Auch wenn du dieses Miststück an deiner Seite und<br />

einige Scheißpapiere hast“, dabei deutete er mit dem Kopf auf Longe, der sich hinter den<br />

Tresen verzogen hatte, „ Unrecht währt nicht lange. Du kannst noch so viel lügen und<br />

tricksen, die Wahrheit kommt an den Tag, auch in einem so korrupten Scheißland wie Costa<br />

Rica. Du stehst auf tönernen Füßen. Denke doch einmal an deinen Grund, mit der du die<br />

Aufenthaltsgenehmigung erschlichen hast, an das Phantomkind, das du angeblich mit einer<br />

Nutte hast. Dieses Hurenkind gibt es jedenfalls nicht im Geburtsregister von Costa Rica. Hast<br />

du auch vergessen, dass du in Deutschland wegen mehrerer Straftaten, wie<br />

Urkundenfälschung, Betrug und Diebstahl gesucht wirst und dass in Panama, Luigi nur darauf<br />

wartet, dir den Hals umzudrehen?“<br />

Schulz war während der heftigen Worte erstarrt. Schlagartig hatte sich der Hohn auf<br />

seinem Gesicht verzogen und war durch Entsetzen abgelöst worden. Die Vorwürfe hatten die<br />

Ticos nicht verstanden, da Holt sie in Deutsch vorbrachte, nur Brettschneider schien so zu tun,<br />

als ob er nichts gehört habe.<br />

Die Truppe um Schulz entfernte sich in Richtung Technikraum, in dem Holts Server<br />

standen. Holt war immer noch wie gelähmt, er hielt den Gerichtsbescheid zerknüllt in seiner<br />

Hand und schaute Pauline verzweifelt an. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich die<br />

Fahrstuhltür wieder öffnete und Ross und Alvaro heraustraten. Ross schaute absichtlich an<br />

Holt vorbei, Alvaro zog den Kopf ein und schaute Holt einmal ganz kurz verschämt an, als sie<br />

in Richtung Technikraum gingen um zwei Minuten später, mit den zwei Servern beladen,<br />

zusammen mit Schulz, Longe und dem Gerichtsvollzieher in Richtung Fahrstuhl zu<br />

entschwinden. Nur Baldow blieb zurück, er kam zögernd auf Holt zu. Vor ihm blieb er<br />

abwartend stehen.<br />

„Sie müssen es verstehen. Ich konnte nicht anders. Bereits heute Morgen habe ich<br />

einen Anruf vom Gericht bekommen. Eine Richterin teilte mir mit, wenn ich mit meiner<br />

Firma hier weiter Geschäfte machen will, sollte ich mich auch an die Gesetze von Costa Rica<br />

halten. Wenn nicht, könnte ich gleich nach L.A. zurückgehen.“ Er machte eine Pause und<br />

noch beim Abwenden vollendete er seinen Spruch. „Glauben Sie, ich mische mich hier in<br />

Rechtsstreitigkeiten anderer Leute ein? Ich habe alleine genug Probleme, Ihre benötige ich<br />

nicht noch dazu.“<br />

*<br />

Holt hatte das Halten der Autos auf der Straße vor dem Haus gehört, dem aber keine größere<br />

Bedeutung zugemessen. Hier an der leichten Steigung hielten öfters die Schrottlauben der<br />

Ticos, die manchmal den Geist aufgaben. Einmal hatte ein Tico, direkt fünf Meter hinter der<br />

Einfahrt, die aufgeplatzte Stadtwasserleitung genutzt, eine Unterbodenwäsche zu bekommen.<br />

Er war ein paar Mal über den Strahl, der aus dem Boden der Fahrbahn nach oben ging, hin<br />

und her gefahren. Holt wurde darauf aufmerksam, als er den Aufprall des Wasserstrahls am<br />

Bodenblech des Autos hörte und er nicht wusste, was dort draußen auf der Straße geschah.<br />

Als er den Tico bei seiner Tätigkeit sah, musste er lachen, was aber die Wertschätzung zu<br />

diesem Volk noch mehr verringerte.<br />

Als am Stahlblech des Schiebetors heftig geklopft wurde, ging Brettschneider<br />

nachsehen. Er öffnete die kleinere Personeneingangstür im Tor, sprach ein paar Sätze mit<br />

draußen Stehenden und kam zu Holt ins Büro, nachdem er die Tür wieder geschlossen und<br />

verriegelt hatte.<br />

„Du wirst es nicht glauben, draußen steht die ganze Meute von Schulz, die haben<br />

wieder einen Wisch vom Gericht und wollen hier etwas beschlagnahmen.“<br />

174


Holt sprang auf und rief „Nur über meine Leiche! Jens hole deine Waffe, wir werden<br />

den Lumpen den Marsch blasen.“ Danach stürzte er über den Gang ins nahe gelegene<br />

Schlafzimmer.<br />

Brettschneider konnte noch hören, wie Holt irgendeine Schublade aufzog und darin<br />

rumkramte. Kurze Zeit später hörte er das vertraute Klicken einer Waffe, bei der eine<br />

Patronentrommel in die Laufstellung einrastete. Oh nein, dachte er, bloß das nicht. Der Kerl<br />

fängt doch nicht an, wie wild in der Gegend rumzuballern! Kurz vor dem Tor hatte er Holt<br />

eingeholt und packte diesen am Arm und zog ihn von der kleinen Tür weg, die Holt öffnen<br />

wollte.<br />

„Hans lasse mich das machen. Du legst noch jemanden um und reitest uns in die<br />

Scheiße.“ Er schaute Holt eindringlich an. „Ich wimmle die Lumpen ab, wir müssen nur Zeit<br />

gewinnen.“<br />

Holt wurde ruhiger, er dachte kurz nach und flüsterte dann zu Brettschneider. „Okay Jens, wir<br />

machen ihnen Angst. Du nimmst deine Waffe in die Hand, richtest diese aber auf keinen<br />

dieser Geier, damit später niemand sagen kann, du hast sie mit angelegter Waffe bedroht.<br />

Besser noch, du steckst sie wieder in den Gürtel, nach vorne, damit die Scheißkerle sehen<br />

können, dass du bewaffnet bist. Ich stehe hinter dem Tor, du lässt jedoch keinen rein, mag<br />

kommen was will.“ Laut rief er, damit die hinter dem Tor Stehenden es hören konnten, „Jens,<br />

wenn jemand auch nur einen Fuß auf mein Grundstück setzt, leg ihn um!“<br />

Brettschneider öffnete wieder die kleine Tür, stellte sich jedoch, die linke Hand auf<br />

seine Waffe legend, absperrend in verabredete Positur. Holt konnte hinter dem metallenen<br />

Türblatt der aufgesperrten kleinen Tür alles klar verstehen, „Ich habe mit Holt gesprochen. Er<br />

hat angeordnet, dass niemand das Grundstück betreten darf. Wenn ihr es trotzdem versucht,<br />

werde ich schießen.“<br />

Was Holt nicht wahrnehmen konnte, war das Zwinkern seines linken Auges und das<br />

Kopfnicken zur Seite, wo er hinter dem Tor stand. Danach hörte Holt eine ihm fremde<br />

Stimme in Spanisch, wobei er jedoch nur einzelne Worte verstand. Es schien der gleiche<br />

Gerichtsvollzieher aus dem Office Center zu sein. Dieser wurde durch die kreischende<br />

Stimme von Schulz unterbrochen.<br />

„Brettschneider, wenn du uns mit diesem Gerichtsbescheid nicht aufs Grundstück<br />

lässt, bekommst du und der Holt `ne Anklage wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt an<br />

den Hals, das verspreche ich euch.“<br />

Holt bemerkte, dass Brettschneider unruhig wurde. Es bestand die Möglichkeit, dass<br />

dieser seinen Auftrag nicht weiter durchzuführen beabsichtigte. Brettschneider wandte sich<br />

von den Außenstehenden ab, drehte sich halb herum, um hinter der offenstehenden Tür nach<br />

Holt zu schauen. Holt, der den Rückzug Brettschneiders erwartet hatte, zog den noch<br />

zögernden Bodyguard aus dem Türbereich und stellte sich selbst hinein. Seine Waffe hielt er<br />

in der rechten Hand, den Lauf noch auf den Boden gerichtet. Er schaute den direkt vor sich<br />

stehenden Schulz an, der zwei Schritte zurückwich.<br />

„He, du langes Gerippe, die anderen sind mir scheißegal, wenn ich schieße, dann nur<br />

auf dich. Dann aber genau zwischen die Augen. Du Sau hast mich bis aufs Blut gereizt.“<br />

Dabei hob er den Revolverlauf in Höhe von dessen Kopf, der einen Satz machte und sich<br />

hinter dem neben ihn stehenden Ross versteckte.<br />

Die Situation bot trotzt aller Ernsthaftigkeit ein wenig Komik. Die Räuber waren<br />

zunächst alle wie Salzsäulen erstarrt, nach dem Sprung lugte Schulz hinter Ross breiten<br />

Schultern hervor. Alvaro und Warner waren nach der Schrecksekunde hinter einen<br />

abgestellten LKW gesprungen und der Gerichtsvollzieher lief auf den PKW zu, mit dem er<br />

gekommen war. Holt lachte laut und fuchtelte weiter mit dem Revolver herum.<br />

„Kommt ihr Helden, ich hab nicht mehr viel zu verlieren. Ich zeig euch, wo die<br />

Ritterkreuze wachsen!“, dabei fiel ihm spontan die Szene aus dem Kriegsfilm Steiner – Das<br />

175


Eiserne Kreuz ein, als der Held und Ritterkreuzträger Steiner einen mit „Halsschmerzen“<br />

belasteten Offizier, gespielt von einem brillanten Maximilian Schell, genau diese Worte im<br />

Getöse einer Schlacht zugerufen hatte.<br />

Sie wollten alle keine Ritterkreuze und verzogen sich, nicht ohne noch zu drohen, er,<br />

Holt, würde diesen Gewaltakt noch bedauern. Danach war Stille, bis auf das laute Schnaufen<br />

Brettschneiders, der sich gerade mit einem schmutzigen Taschentuch den Schweiß von der<br />

Stirn wischte. Holt ging mit der Waffe in der Hand zum Schlafzimmer, wo er diesen in die<br />

immer noch offen stehende Nachttischschublade zurücklegte. Pauline saß auf ihrem Bett, sie<br />

hatte sich hierher zurückgezogen, als beide Männer bewaffnet zum Tor eilten. Zu ihren Füßen<br />

lagen die beiden Rottweiler, die ihre Köpfe hoben, um zu Holt zu schauen. Schöne<br />

Wachhunde seid ihr!, dachte er, dabei fiel ihm ein, dass sie das Knallen beim Schießen nicht<br />

vertragen konnten. Sie hatten ihn mit der Waffe in der Hand gesehen und falsche<br />

Rückschlüsse daraus gezogen, als sie vorher im Garten spielten. Jedes Mal, wenn er hinter<br />

dem Haus Schießübungen machte, hatten sich seine Hunde im Salon hinter den<br />

Fernsehsesseln oder irgendwo in der Küche verkrochen. Sie waren nicht schussfest, würde ein<br />

Hundetrainer dazu sagen.<br />

*<br />

Holts Möglichkeiten, alleine aus der Sache raus zu kommen, waren durch die Aktionen von<br />

Schulz im Office Center und vor dem Haus in Bello Horizonte gegen null gesunken. Er fragte<br />

sich, warum Schulz gerade zu diesem Zeitpunkt dort überraschend erschienen war. War es nur<br />

Zufall oder hatte Schulz einen Tipp bekommen? Doch wenn es so war, wer hatte seine Pläne<br />

gekannt? Es kam, neben Pauline und dem neuen Anwalt, nur noch Jens in Frage. Aber dieser<br />

konnte es nicht sein, denn er war doch mit Schulz zerstritten und zweifellos Nutznießer der<br />

Situation. Warum sollte er sich den Ast absägen, auf dem er saß? Oder gab es noch andere<br />

Gründe? In Holt wurden leichte Zweifel wach, die er jedoch unterdrückte. Er sprach darüber<br />

auch nicht mit Pauline, da sie in dieser Sache keine objektiven Ratschläge geben konnte. Sie<br />

war bei Brettschneider schon immer argwöhnisch, dass dieser ein doppeltes Spiel treibe.<br />

*<br />

Brettschneider hatte den Instinkt eines Raubtieres, er spürte, dass Holt und Pauline immer<br />

mehr in eine aussichtslose Position gerieten. Am Freitag hatte er etwas widerwillig die<br />

fünfhundert Dollar von Holt angenommen und zu dessen Erklärung, er werde die<br />

ausstehenden zweihundert Dollar noch bekommen, wenn wieder mehr Geld da sei, sich nicht<br />

geäußert. Am Wochenende ließ er sich nicht sehen, er war am Freitag spät abends mit dem<br />

Mercedes weggefahren, ohne zu sagen, wohin er wolle und wann er zurückkommen werde.<br />

Erst am Montag Vormittag sollte sich sein Verbleib aufklären, als nacheinander zwei<br />

Telefongespräche eingingen.<br />

Michael Gonzalez, der Geschäftsführer von Saving Money, Holts Privatbank, rief kurz<br />

vor Mittag an. Pauline nahm im Salon das Gespräch entgegen, sie hatte geglaubt,<br />

Brettschneider würde sich melden. Holt, der sich im Büro aufhielt, hatte zwar das Klingeln<br />

gehört, aber nicht rechtzeitig im Büro abgenommen. Von Weitem konnte er aus dem Salon<br />

die aufgeregte Stimme von Pauline hören, als diese besonders laut rief, „Was?“ Irritiert stand<br />

er vom Computer auf und ging in Richtung Salon, als ihm eine blasse und aufgeregte Pauline<br />

bereits auf dem Gang entgegen kam.<br />

„Der Brettschneider war bei unserer Bank und wollte dort unser ganzes Geld<br />

abheben,“ presste sie atemlos hervor.<br />

Holt glaubte sich, verhört zu haben. „Was wollte der Brettschneider?“<br />

176


„Er war bei Gonzalez und hat dort mit unserer Vollmacht die Zinsen für den jetzigen<br />

Monat abgehoben, aber er wollte auch noch das ganze Konto abräumen. Aber das hat der<br />

Gonzalez nicht gestattet, da sich die Vollmacht doch nur auf das Abheben der Zinsen bezog,“<br />

antwortete Pauline.<br />

Holt hatte mit steigendem Unbehagen zugehört. „Der spinnt wohl, wegen zweihundert<br />

Dollar verrückt zu spielen und dann auch noch an unsere eisernen Restreserven ranzugehen.<br />

Ich kann es nicht glauben. Mal sehen, was er sagt, wenn er hier auftaucht?“<br />

„Hans, ich glaube, er wird hier überhaupt nicht mehr auftauchen, er hat sich den<br />

Wagen und alles Geld, was er bekommen konnte, geschnappt und lacht sich jetzt eins ins<br />

Fäustchen. Mein Gefühl hat mich nicht betrogen, Brettschneider ist ein falscher Fünfziger.“<br />

Zwanzig Minuten später kam der zweite Anruf. Es war wieder nicht Brettschneider, aber<br />

dafür war es Holts neuer Anwalt, bei dem Brettschneider im Büro saß. Dieser teilte mit, dass<br />

Brettschneider darauf bestand, dass er sofort, möglichst noch am heutigen Tage, eine<br />

Zahlungsvereinbarung und Zusicherung der Zahlung von Holt bekommen will. Das<br />

Erscheinen von Holt sei zur Vermeidung einer Zahlungsklage dringend angeraten. Fünfzig<br />

Minuten später trafen Holt und Pauline in der Kanzlei ein.<br />

Brettschneider war übler Laune, er bestand auf sofortiger Zahlung der restlichen<br />

zweihundert Dollar. Weil ihm der Vertrag rechtswidrig gekündigt wurde, auf einen<br />

Schadensersatzbetrag in Höhe von zehntausend Dollar. Die übrigen vierhundert Dollar würde<br />

er natürlich anrechnen. Holt und Pauline hatten, immer mehr unangenehm berührt, das<br />

geifernde Fordern Brettschneiders gehört. In Holt stieg ein maßloser Zorn auf, er stand vom<br />

Stuhl auf und beugte sich zu Brettschneider hinüber.<br />

„Du Lump schämst dich wohl überhaupt nicht. Wir haben dir für fünfunddreißig Tage<br />

über tausend Dollar, freie Unterkunft, Verpflegung und die Nutzung des Autos gewährt. Nicht<br />

dass du uns bestehlen willst, du erpresst uns auch noch. Dir wurde der Vertrag nicht<br />

gekündigt. Am letzten Freitag haben wir dir unser letztes Geld gegeben. Die Zinsen über<br />

sechshundert Dollar hast du uns ja schon gestohlen, sodass wir bis zum nächsten<br />

Monatsersten überhaupt kein Geld mehr haben. Jetzt kündige ich dir hiermit fristlos wegen<br />

offensichtlicher strafbarer Handlungen. Gebe mir sofort die Autoschlüssel zurück!“<br />

Brettschneider war auch aufgesprungen und begann zu brüllen. „Was, du nennst mich<br />

einen Lumpen. Du arrogantes Arschloch bist nicht mehr Staatsanwalt in Deutschland, du<br />

schuldest mir zehn Mille und wenn nicht sogar mehr. Dein Auto siehst du so lange nicht<br />

wieder, bevor du mir nicht das gesamte Geld gegeben hast, was mir zusteht.“ Er sprang auf,<br />

griff seine Papiere und eilte zur Tür, die er laut hinter sich zuschmiss. Kurze Zeit später<br />

hörten alle Drei in der Kanzlei das Anspringen eines Automotors, laute Kupplungsgeräusche<br />

und das Quietschen von durchdrehenden Reifen. Am Fenster vorbei schoss ein dunkelblauer<br />

Mercedes, vor dem gerade noch ein roter Toyota ausweichen konnte.<br />

*<br />

Es sollte noch schlimmer kommen. Der Gerichtskurier wurde in den nächsten Wochen<br />

Stammlieferant schlechter Nachrichten. Schulz überzog Holt und Pauline mit einer nicht<br />

endenden Zahl von Anzeigen. Alle waren aus der Luft gegriffen, hatten nur den Zweck einer<br />

juristischen Breitseite. Obwohl gar nicht befugt, hatte er das Ereignis am Tor als Anlass zu<br />

einer Anzeige genommen. Er erstattete bei der Polizei gegen Holt eine Anzeige wegen<br />

bewaffnetem Widerstand gegen die staatliche Autorität. Dazu war er als Privatperson nicht<br />

einmal berechtigt. Die für die zur Anzeige aufnehmende Behörde war die Polizeistation in<br />

Escazú, deren Chef Holt ja bereits am Bürohaus unangenehm kennengelernt hatte. Holt<br />

wunderte sich nicht mehr. Ernster wurde es, als der abgeblitzte Gerichtsvollzieher, zusammen<br />

mit Marco Antonio bei der Ochota eine Anzeige gegen ihn erstattete und der Vermieter des<br />

177


Hauses anrief und Aufklärung verlangte, warum Holt den Mieter Schulz unberechtigterweise<br />

aus dem Haus geworfen habe. Den Vermieter konnte Holt während einer kurzen Rücksprache<br />

zufrieden stellen, aber die Anzeige bei der Ochota bedeutete Übles.<br />

Zusammen mit dem neuen Anwalt, der zufälligerweise auch Marco Antonio hieß,<br />

jedoch nicht zur Familie Longe zählte, erschien Holt mit einem riesigen Stapel Papieren in der<br />

Zentrale der Ochota in San José. Der für die Anzeige zuständige Beamte war ausnahmsweise<br />

einmal nicht inkompetent oder korrupt. Sorgfältig prüfte er die vorgelegten Unterlagen und<br />

hörte sich die Erklärungen des Anwaltes an. Nachdem er noch einmal in eine Datenbank im<br />

Computer geschaut hatte, richtete er seine Worte auf Spanisch an Marco Antonio, der kurze<br />

Zeit später Holt auf Englisch den Sachverhalt übersetzte.<br />

„Also“, begann er, „die rechtliche Sachlage ist wie folgend: Sie haben zwar gegen das<br />

Gesetz verstoßen, indem Sie einen Gerichtsvollzieher, der im Besitz einer gerichtlichen<br />

Verfügung war, den Zutritt in Ihr Haus verweigerten. Das auch noch unter Androhung einer<br />

Schusswaffe, was diese Angelegenheit noch schlimmer macht. Aber, Sie haben in einer Art<br />

Notwehr gehandelt, da die von Ihnen vorgelegten Unterlagen den Verdacht aufkommen<br />

lassen, dass der Gerichtsbeschluss auf unzulässiger, wenn nicht sogar auf rechtswidriger Art<br />

entstanden ist. Sie müssen jetzt sofort eine Gegenanzeige zu Protokoll geben und beim<br />

Gericht den Antrag auf Aufhebung des falschen Beschlusses erwirken.“<br />

Der Beamte nahm die Gegenanzeige auf, die er danach auch in Abschrift der<br />

zuständigen Staatsanwaltschaft vorlegen wollte. Nach zwei Stunden war die Prozedur<br />

erledigt. Nachdem sich Holt und Marco Antonio Nicht-Longe vom Beamten freundlich<br />

verabschiedet hatten, gingen sie die Treppen herunter. Noch bevor er den nächsten<br />

Treppenabsatz betrat, sah er im angrenzenden Warteraum Brettschneider sitzen, der ihn auch<br />

wahrgenommen hatte und ein erschrockenes Gesicht machte. Bevor sich Holt gefangen hatte<br />

und sich umdrehte, um auf Brettschneider zuzugehen, hatte dieser sich erhoben und war am<br />

anderen Flurende im dortigen Treppenhaus verschwunden. Holt stellte sich die Frage, Was<br />

sucht diese elende Kreatur hier?, welche ein paar Tage später beantwortet wurde.<br />

Brettschneider hatte Holt wegen Diebstahls privater Kleidung angezeigt, Kleidung, die er<br />

zurückgelassen hatte und die bereitlag, abgeholt zu werden. Es handelte sich um zwei<br />

verwaschene T-Shirts, ein paar stinkende Socken und zerschlissene, alte Jeans.<br />

Diese Anzeige sollte jedoch nicht die einzigste Aktion von Brettschneider bleiben.<br />

Eine Woche später erhielt Holt eine weitere Klageschrift vom Arbeitsgericht Guadeloupe.<br />

Brettschneider hatte ihn auf dreizehntausendfünfhundertfünfzig Dollar entgangenen Lohnes<br />

verklagt.<br />

Marco Antonio Neto, der nun nicht mehr neue Anwalt, riet Holt, bei der gerade eingerichteten<br />

Kammer für Korruptionssachen beim obersten Gericht Costa Ricas eine Abwehrklage<br />

einzureichen, die sich auf alle zu Unrecht ergangenen Gerichtsbeschlüsse und Anzeigen bei<br />

der Polizei berief. Zuerst waren Holt und Pauline skeptisch, als sie jedoch in der Tico Times<br />

einen Artikel über die neue Antikorruptionskammer lasen, das die Zukunftsaussichten und die<br />

Effektivitätsaussichten der Kammer in höchsten Tönen lobte, beschlossen sie, eine Klage<br />

einzureichen.<br />

Nach vierzehn Tagen war die Klageschrift durch Marco Antonio Neto fertig gestellt. Holt<br />

hatte alle Beweisunterlagen zusammengestellt, und wenn diese in englischer oder deutscher<br />

Sprache verfasst waren, durch den Dolmetscher Manfred in die Gerichtssprache übersetzen<br />

und beglaubigen lassen. Das hatte die meiste Zeit und das letzte Geld beansprucht. Am Tag<br />

des Einreichens schaute er sich die Klageschrift noch einmal in Marcos Kanzlei genau an,<br />

bevor sie abgegeben werden sollte. Sie bestand aus zwölf Seiten Klage nebst fünfundsechzig<br />

Beweisurkunden und vier eidesstattlichen Versicherungen. Holt hatte das Gefühl alles<br />

gemacht zu haben, was zu machen war. Er war der Meinung, dass sich kein Gericht der Welt<br />

178


der erdrückenden Beweislage verschließen könne. Er sah bereits in Gedanken, wie die<br />

korrupte Richterin aus dem Gerichtsgebäude in Guadeloupe gejagt wurde und wie Schulz mit<br />

seinen Komplizen, mit Handschellen gefesselt, in eine „Grüne Minna“ einsteigen, die in<br />

Richtung Gefängnis abfuhr. Zufrieden klappte er die Unterlagen zu.<br />

„Nun Marco, hoffen wir, dass der Gerechtigkeit genüge getan wird,“ sagte er zum<br />

müden, aber hoffnungsvollen Anwalt.<br />

Dieser lächelte matt und antwortete „Auch wenn du es nicht mehr glaubst, aber Costa<br />

Rica ist nach wie vor noch ein Rechtsstaat. Die neue Kammer am Obersten Gericht wird gut<br />

und schnell arbeiten.“<br />

Holt dachte, Hoffentlich behältst du Recht!<br />

Zwei Wochen nach dem Einreichen der Klage las Pauline, die mehr Spanisch verstand als<br />

Holt, in der La Nation, dass die Richter an der Kammer für Antikorruptionssachen vom<br />

Präsidenten des Obersten Gerichts endgültig bestätigt worden sind. Beim Lesen der Namen<br />

der fünf neu ernannten Richter stutzte sie, sie fand unter anderem einen vertraut klingenden<br />

Namen: Lucio Antonio Longe. Sie konnte sich daran erinnern, dass Longe einmal damit<br />

prahlte, in seiner Familie, neben dem Präsidenten, auch zwei Richter an oberen Gerichten zu<br />

haben. Sein Onkel Lucio sei so ein Richter.<br />

Die Zeit verging, Tage, Wochen, Monate, vom Obersten Gericht kam keine Antwort. Holt rief<br />

fasst jeden Tag bei Marco Antonio an und nervte diesen. Es sollte bei dieser nicht erklärbaren<br />

Schweigsamkeit bleiben. Erst in der Woche, in der Pauline und Holt Costa Rica verließen,<br />

sollte Marco Antonio Neto von der besagten Kammer eine Eingangsbestätigung mit<br />

Vorgangsnummer erhalten, mehr nicht und auch nicht weniger.<br />

*<br />

Das Leben war freudlos und schwierig. Pauline führte am Telefon oftmals lange Gespräche<br />

mit ihrer besten Freundin Bonnie in Florida. Nach diesen Gesprächen hatte Holt oftmals das<br />

Gefühl, dass sich Pauline nach Amerika sehnte. Er konnte das verstehen, hier in Costa Rica<br />

war in absehbarer Zeit nichts Positives zu erwarten. Besonders frustriert waren sie über die<br />

Gleichgültigkeit der Behörden und der Untätigkeit der Gerichte. Von anderen Amerikanern<br />

und aus der Wochenzeitung Tico Times erfuhren sie, dass eine Welle der Korruption über<br />

Costa Rica hinweg fegte. Alle sprachen davon, doch niemand war in der Lage, diese<br />

Verhältnisse zu ändern. Mangels eines fahrbaren Untersatzes gingen sie oftmals nicht aus dem<br />

Hause und wenn doch, dann nur zur Erledigung der notwendigen Einkäufe oder zum<br />

Bezahlen der Rechnungen. Sie hatten sich in Erwartung weiterer Schikanen durch die<br />

Behörden in Bello Horizonte sprichwörtlich verschanzt. Holt hatte den Elektromotor an der<br />

großen Schiebetür abgeklemmt, die Sichtblenden zur Straßenseite durch das Anbringen<br />

weiterer Wellblechtafeln erhöht und die Anzahl der leeren Flaschen am Grundstückszaun<br />

verdoppelt. An Stellen im Garten, wo der Maschendraht am Zaun porös wurde, hatte Holt<br />

zusätzlich die Reste der Wellblechbahnen angebracht. Letztlich hielt er die Rottweiler von der<br />

Straßenseite fern, da er befürchtete, dass vergiftetes Fleisch über den Zaun geworfen werden<br />

könnte, indem er den Gartenteil zur Straße hin für die Hunde absperrte. Seine Bemühungen,<br />

dass Alfi und Betti kein Futter von Fremden annehmen oder diese dazu zu trainieren, hatten<br />

keinen Erfolg. Beide Hunde waren und blieben verfressen und dachten nicht daran, auf<br />

besondere Leckerbissen zu verzichten, besonders wenn sie von Brettschneider kämen.<br />

Anfang Januar wollte Holt Pauline zum Einkauf bei Saretto begleiten. Nachdem sie eine halbe<br />

Stunde vorm Tor erfolglos auf ein möglicherweise vorbeikommendes Taxi gewartet hatten,<br />

beschlossen sie, den Weg bis zum dreihundert Meter westwärts liegenden Abzweig der Straße<br />

zu Fuß zurückzulegen. Dort, an einer mehr frequentierten Straße, waren die Chancen<br />

179


günstiger, ein Taxi zu bekommen. Bis zum Abzweig nutzten sie bewusst die linke<br />

Straßenseite der Fahrbahn, der Bürgersteig endete fünfzig Meter hinter ihrem Haus. Die<br />

asphaltierte Straße war, wie üblich in Costa Rica, mit hunderten Schlaglöchern versehen in<br />

denen oftmals noch nicht verdunstetes Regenwasser stand. Es war auch besser, links zu<br />

gehen, da sie sich dann nicht immer umschauen mussten, ob von hinten ein Auto kam.<br />

Die Straße stieg in Richtung Santa Aña de Escazú leicht an. Weiter oben, an der<br />

Kreuzung, nahm Holt einen grauen LKW wahr, der dort stand. Im Führerhaus war der dunkle<br />

Umriss des Fahrers zu sehen. Warum der Wagen dort stand, darüber machte er sich keine<br />

Gedanken.<br />

Als sie bereits hundert Meter vom Haus entfernt waren, sah Holt, dass sich der LKW<br />

in ihre Richtung in Bewegung setzte. Bislang waren sie nebeneinander gegangen und hatten<br />

miteinander gesprochen, als das Fahrzeug nur noch hundert Meter von ihnen entfernt war, ließ<br />

Holt Pauline an sich vorbei gehen, sodass sie nun vor ihm ging. Das Fahrzeug hatte die<br />

Geschwindigkeit erheblich erhöht und nutzte die Mitte der gesamten Fahrbahn, jedoch den<br />

Schlaglöchern hin und wieder zu verschiedenen Seiten der Straße ausweichend. Ungefähr<br />

zwanzig Meter vor den Fußgängern zog der Wagen auf ihrer Straßenseite hinüber und hielt<br />

direkt auf sie zu. Holt stockte vor Schreck der Atem. Was geschieht hier?, dachte er entsetzt.<br />

Im letzten Moment, als das Fahrzeug nur noch drei Meter entfernt war, packte Holt Pauline<br />

von hinten, drehte sie mit einer Bewegung vom Auto weg und begann sich über die Schulter<br />

rückwärts in den Straßengraben fallen zu lassen. Pauline schrie gellend auf, als sie noch im<br />

letzten Moment vom vorderen Kotblech des Fahrzeuges an der Schulter getroffen wurde.<br />

Durch den Schlag des Anstoßes wurden die bereits rückwärts Fallenden in den modrigen<br />

Straßengraben geschleudert. Holt spürte den Fahrtwind des LKW, als dieser an ihnen vorbei<br />

raste und in Richtung Ajualita entschwand.<br />

Holt betastete die halb auf ihm liegende Pauline und schaute in deren kalkweißes<br />

Gesicht. Da er kein Blut noch Knochensplitter entdecken konnte, richtete er sich halb auf und<br />

schaute auf ihren Rücken, wo er auch nichts außergewöhnlich Sichtbares feststellte. Hinter<br />

sich hörte er aufgeregte Stimmen und sah zwei eilige Frauen auf sich zu kommen.<br />

Er schaute in Paulines Gesicht, in das wieder Farbe kam. „Pauline geht’s dir gut?<br />

Hörst du mich?“<br />

Pauline nickte mit dem Kopf und fasste sich mit der rechten Hand an die linke<br />

Schulter, wobei sie einen verhaltenen Schmerzenslaut ausstieß. „Ist schon in Ordnung, das<br />

Auto hat mich noch an der Schulter getroffen. Es tut so weh!“<br />

Die zwei Frauen halfen Pauline und Holt aus dem Straßengraben, wobei sie aufgeregt<br />

durcheinander sprachen. Sie wohnten in einem kleinen Haus, gegenüber der Stelle des<br />

Vorfalls und hatten durch Zufall den Vorgang beobachtet. Dass dies eben ein Attentat war,<br />

wurde Holt blitzartig klar, auch die Frauen, schienen der Meinung zu sein. Nachdem er sich<br />

noch einmal kurz davon überzeugte, dass Pauline relativ unbeschädigt war, bat er die Frauen,<br />

sich um Pauline zu kümmern. Dann sprang er auf die Fahrbahn und verstellte einem gerade<br />

heranfahrenden PKW den Weg, indem er heftig mit den Armen wedelte. Der Fahrer stoppte<br />

auch erschrocken. Holt riss die Beifahrertür auf und setzte sich unaufgefordert hinein.<br />

Unmissverständlich machte er dem verblüfften Mann klar, schnell in Richtung des<br />

Fluchtfahrzeugs zu fahren. Seit dem Ereignis waren noch nicht mehr als drei Minuten<br />

vergangen, obwohl es für Holt schon wie Stunden vorkam.<br />

Der Fahrer hatte sich mit seinem unerwünschten Passagier abgefunden, er hielt es für<br />

besser, einem sehr aufgebrachten und wütenden Mann, nicht zu widersprechen. Da Holt in<br />

Richtung Ajualita deutete und ständig Rapido! brüllte, beschleunigte er trotzt der gefährlichen<br />

Schlaglöcher das Auto bis zum technischen Limit, was hinsichtlich des lauten Klapperns der<br />

alten Karre, Holt noch relativ niedrig und langsam erschien. In Ajualita war ein Volksfest.<br />

Holt konnte schon von Weitem sehen, dass das Tatfahrzeug versuchte, durch die<br />

180


Menschenmenge auf dem Dorfplatz vorbei zu kommen. Eine Gruppe Betrunkener hatte das<br />

Fluchtfahrzeug zum Anhalten gezwungen. Der nervöse Tico stoppte direkt hinter dem LKW.<br />

Schon zwanzig Meter zuvor hatte Holt die Beifahrertür aufgerissen und sich zum Absprung<br />

bereit gemacht. Beim Ausrollen hechtete er aus dem Wagen und schob sich an den Leuten<br />

vorbei zum Fahrerhaus des Lkw. Das Aufreißen der Fahrertür, das Packen des Fahrers und<br />

sein Herauszerren auf die Straße waren eine geschlossene Bewegung. Holt kam auf einem<br />

braun gebrannten, schwarzhaarigen Mann mittleren Alters zu liegen, der vor Schreck seine<br />

Augen und den Mund weit aufgerissen hatte. Mit beiden Fäusten schlug er abwechselnd in<br />

das Gesicht des Täters, dem Blut aus der Nase spritzte. Die Leute um ihn herum nahm er in<br />

seiner Rage nicht wahr, auch nicht die sich nähernde Gefahr.<br />

Ein dumpfer schmerzhafter Schlag auf seinen Hinterkopf raubte ihm die Besinnung.<br />

Er fiel zur Seite, halb auf den am Boden liegenden, vor sich hinwimmernden Fahrer. Es<br />

wurde um ihn herum mit einem Mal leiser, dann still und danach dunkel. Dann wandelten<br />

sich der Zustand und das Gefühl, er vermeinte, in dicke Watte gepackt zu sein. Zögernd und<br />

langsam kam Licht wieder, zuerst verschwommen und dann immer klarer sah er den auf seine<br />

Stirn gerichteten Lauf einer großkalibrigen Waffe.<br />

Der Mann, der über ihm gebeugt stand, zerrte mit der freien Hand den Fahrer unter<br />

Holt hervor und dieser sah an den Augen seines Gegners, dass der im Begriff war, zu töten.<br />

Der Zeigefinger des Mannes krümmte sich leicht. Ob ich den Schuss noch höre?, dachte Holt,<br />

In den Romanen steht immer, dass der Tod schneller als der Schall sei.<br />

Diesmal schien der Tod nicht so schnell zu sein. Holt nahm wahr, dass irgendein<br />

Gegenstand von hinten an die Schulter seines potenziellen Mörders schlug, der dadurch einen<br />

Moment abgelenkt wurde und die vielen Menschen um ihn herum wahrnahm, die fasziniert<br />

der Handlung zuschauten. Der Mordimpuls des Täters wich dem Selbsterhaltungs- und<br />

Fluchttrieb, zudem er aus weiter Ferne ein Polizeiauto kommen sah. Er hieb Holt den Lauf der<br />

Waffe an die Schläfe, packte seinen zu sich kommenden Komplizen und schleppte diesen ins<br />

Fahrerhaus. Keine zwei Sekunden später heulte der Motor des LKW auf und die Leute<br />

spritzten zur Seite, sodass der sich entfernen konnte, ohne noch von irgendjemandem<br />

angehalten zu werden.<br />

Dem zweiten Schlag konnte Holt durch das Abwenden seines Kopfes ein wenig<br />

entgehen. Es schmerzte dennoch sehr und Holt konnte das Anschwellen seiner rechten<br />

Gesichtshälfte spüren. Ein älterer, schmuddliger Tico half ihm beim Aufstehen. Die um ihn<br />

herumstehenden Besucher des Volksfestes starrten Holt immer noch wie eine besondere<br />

Attraktion an. Ein etwas besser angezogener Mann, der sich in Begleitung zweier kleiner<br />

Kinder befand, sprach Holt auf Englisch an.<br />

„Das war aber knapp mein Freund. Wenn der Kolumbianer nicht eine Bierdose von<br />

Ricardo an den Kopf bekommen hätte, wärst du jetzt wahrscheinlich tot.“ Dabei deutete er auf<br />

den immer noch neben Holt stehenden älteren schmuddligen Mann, der offensichtlich Ricardo<br />

hieß. Ricardo strahlte wegen seines guten Werkes und fingerte am staubigen Boden an der<br />

ausgelaufenen Bierbüchse herum, die er aufhob und betrübt betrachtete.<br />

„Woher wollen Sie wissen, dass der Kerl ein Kolumbianer war? Kennen Sie ihn?“,<br />

wollte Holt wissen.<br />

„Nein ich kenne den Mann nicht,“ antwortete dieser. „Aber ich kenne Kolumbianer, und das<br />

war einer, Sie können sich darauf verlassen!“ Danach drehte er sich um, nahm seine zwei<br />

Kinder an die Hand und verschwand im Getümmel.<br />

Holt fasste in seine Hemdbrusttasche und holte die dort vorhandenen Geldscheine<br />

heraus. Es war nicht viel, ungefähr zwanzig Dollar und noch einmal der gleiche Betrag in<br />

Colonies. Langsam nahm er Ricardos freie Hand, drehte diese mit der Handfläche nach oben<br />

und legte das Geld hinein.<br />

181


„Danke mein Freund, du hast für vierzig Dollar soeben mein Leben gerettet. Es mag<br />

mehr wert sein, aber mehr Geld habe ich im Augenblick nicht bei mir.“ Danach drückte er die<br />

Hand des alten Mannes wieder zusammen.<br />

Ricardo hatte kein Wort, jedoch die Geste verstanden. Schnell umklammerte er die<br />

Geldscheine und verschwand mit einem breiten Grinsen in Richtung Bierstand in der Menge.<br />

Holt hörte dicht hinter sich das Quietschen von Autobremsen. Das Polizeiauto stand hinter<br />

ihm. Die Polizisten machten keine Anstalten auszusteigen, nur der Polizist auf dem<br />

Beifahrersitz, mit einer Maschinenpistole auf dem Schoß öffnete das Autofenster einen<br />

kleinen Spalt. Holt versuchte den Trotteln von Polizisten den Sachverhalt zu schildern, sie<br />

hörten zwar zu und hoben dann die Schultern, als Holt sie aufforderte, in Fluchtrichtung des<br />

LKW zu fahren. Holt gab auf, er winkte nur verächtlich ab, als der Beifahrer noch<br />

irgendetwas sagen wollte. So war es nun eben einmal in Costa Rica.<br />

*<br />

Die Verletzung bei Pauline war nicht so schlimm. Sie hatte zwar einen großen Bluterguss, der<br />

anfangs auch schmerzte und erst nach einigen Wochen verschwand. Holt hatte mehr<br />

abbekommen. Die Platzwunde am Hinterkopf schmerzte nicht sehr lange, jedoch seine linke<br />

Gesichtshälfte, von der Schläfe abwärts bis zum Unterkiefer, blieb einige Monate lang taub.<br />

Jahre später sollte bei einer Röntgenaufnahme festgestellt werden, dass sich im linken<br />

Wangenknochen ein verheilter Bruch befand.<br />

Holt ärgerte sich darüber, dass er seinen Revolver nicht bei sich getragen hatte. Nur<br />

weil er sich an das Gesetz hielt, hatte er die Waffe zu Hause gelassen. Es war ihm gestattet,<br />

eine Waffe im Hause, im Auto und in seiner Firma zu tragen, jedoch nicht in der<br />

Öffentlichkeit. Diese Bestimmung ignorierte er seit dem Vorfall. Zu jeder Minute hatte er die<br />

Waffe nun bei sich, auch dann, wenn er in der Öffentlichkeit unterwegs war. Er war nun<br />

bereit, diese auch ohne Skrupel einzusetzen. Pauline hatte das veränderte Verhalten von Holt<br />

mitbekommen und sprach ihn wegen der Waffe an.<br />

„Hans, wer zur Waffe greift, wird durch die Waffe umkommen.“<br />

„Stimmt Pauline, aber ich möchte nicht dieser sein, der umkommt und ich möchte<br />

auch nicht, dass dir wieder etwas passiert,“ antwortete er. „Auf die Bibel kannst du dich hier<br />

nicht mehr verlassen. Der liebe Gott hat sich von Costa Rica abgewandt, hier gelten andere<br />

Gesetzte, als die des Neuen Testaments.“<br />

Die Situation war unerträglich. Pauline wagte nicht einmal mehr, einkaufen zu gehen. Wenn<br />

Raffa, der Nachbar aus Nicaragua nicht gewesen wäre, hätte die Situation zu einer<br />

Katastrophe ausarten können. Er brachte Lebensmittel, hielt immer ein Auge offen und war<br />

manchmal auch nachts auf dem Grundstück. Holt war klar, dass es so nicht weitergehen<br />

konnte. Ein weiteres Ereignis, knapp zwei Wochen nach dem misslungenen Attentat, sollte<br />

endgültig die Weichen stellen.<br />

Wie immer zu abendlicher Zeit schauten sich Pauline und Holt die deutschsprachige Sendung<br />

der Deutschen Welle an. Wegen der Gefährdung der Hunde hatten sie diese seit der<br />

vereitelten Beschlagnahme abends immer beim Fernsehen im Salon. Erst nach elf Uhr wurden<br />

die Hunde in den separierten hinteren Gartenteil des Grundstückes gelassen. Es war gerade<br />

die Zeit, als die Wetternachrichten kamen. In Mitteleuropa herrschte der Winter, die<br />

Temperaturen in Berlin lagen bei minus zwei Grad.<br />

Pinnng machte es plötzlich erschreckend laut. An der Schiffsglocke hallte der Schlag<br />

noch nach.<br />

Holt, der sich gerade zu Betti beugte, um diese zu streicheln, schaute erschrocken nach<br />

oben zu der hinter ihm an einem Querbalken hängenden Messingglocke, die stark hin und her<br />

182


schwankte. Mit einem Satz war er, an den aufgesprungenen und wild bellenden Hunden<br />

vorbei, zum Lichtschalter gehechtet und hatte das Licht ausgeschaltet. Dabei brüllte er, „Auf<br />

den Boden Pauline, leg dich flach auf den Boden und rühre dich nicht!“<br />

Ob Pauline seinem Befehl nachkam, konnte er in der Dunkelheit nicht mehr erkennen.<br />

Beim Herauslaufen auf den Gang hatte er noch einen Hund getreten, der im allgemeinen<br />

Chaos laut aufheulte. Nach drei, vier Sätzen war er im Schlafzimmer am Nachtisch, ergriff<br />

den stets geladenen Revolver und eilte durch das Gästezimmer zum Büro. Schon beim<br />

Aufstoßen der Terrassentür zielte Holt auf die gegenüberliegende Hecke und leerte die<br />

Trommel durch sechs schnell hintereinanderfolgende Schüsse. Erst als die Trommel leer war,<br />

wurde Holt klar, dass er nun wehrlos im Licht der Terrassenlampe stand, direkt vor einer<br />

hellen Wand. Er ging schnell in die Hocke und schlich sich zurück ins Schlafzimmer um<br />

weitere Munition zu holen. Schnell waren die leeren Hülsen aus der Trommel geworfen und<br />

neue Patronen einzeln eingeführt und ein paar lose in die Hosentasche gesteckt. Noch im<br />

Laufen zur Terrasse zielte er nach links und zerschoss mit einem Treffer die Außenlampe.<br />

Das Licht im Büro war nicht an. Holt stand in der Dunkelheit und starrte zur<br />

gegenüberliegenden Hecke. Es war auch nichts zu sehen, als sich sein Auge an die Dunkelheit<br />

gewöhnt hatte. Aus dem Salon hörte er das aufgeregte Rufen Paulines, die wissen wollte, ob<br />

ihm was zugestoßen sei, was er laut verneinte.<br />

Auf der Straße, hinter der Hecke, röhrte ein Automotor auf, dann quietschende Reifen.<br />

Der Wagen entfernte sich schnell. Holt vermeinte den Klang des Autos zu kennen, den Klang<br />

seines unterschlagenen Mercedes. Kurze Zeit später sah Holt in Richtung von Raffas Haus,<br />

den Schein mehrerer Taschenlampen. Fünf Minuten später war Raffa mit seinem ältesten<br />

Sohn und seiner Frau da. Diesmal hatte Raffa eine kurzläufige Maschinenpistole bei sich, was<br />

Holt nun doch verblüffte.<br />

Am nächsten Morgen, bei Tageslicht, fand Holt hinter der Hecke mehrere<br />

Zigarettenstummel der Marke Marlboro, diese rauchte Brettschneider, sowie, vier leere<br />

Patronenhülsen des Kalibers 7,62 und in der Wand zu seiner Terrasse, neben der demolierten<br />

Außenlampe, zwei Einschüsse in Kopfhöhe. Aufgrund dieser Beweise ging er von der<br />

Täterschaft Brettschneiders aus. War es nur eine Warnung des Psychopaten oder ein echter<br />

Mordversuch? Holt brauchte Klarheit.<br />

Den Gang zur Polizei ersparte er sich. Von dieser war keine Hilfe zu erwarten. Er musste<br />

alleine diesen Anschlag aufklären. Wie hatte er es damals im Praktikum bei der Kripo<br />

gelernt? Die Reihenfolge der Fragen war: Wer?, Wann?, Wie?, Wo? und Warum?<br />

Die Indizien Kippenreste und der Klang des Autos sprachen für Brettschneider. Wann? und<br />

Warum? schienen auch klar. Es war um sieben Uhr und achtundzwanzig Minuten abends<br />

geschehen. Der Täter handelte entweder für sich oder im Auftrag, gegebenenfalls für beides<br />

um seinen Widerstand psychisch oder physisch zu brechen. Physisch hätte zu bedeuten, dass<br />

er oder sie ihn umbringen wollten. War es so? Diese Frage könnte jedoch auch mit der<br />

Lösung der Frage Wie? beantwortet werden.<br />

Von wo aus und wie wurde in der letzten Nacht auf ihn geschossen. Die leeren<br />

Patronenhülsen hinter der Hecke waren ein Indiz dafür, dass der Täter mit einer Waffe des<br />

Kalibers 7,62 geschossen hatte. Da gab es einige Typen, aber Holt kannte davon nur die AK<br />

47, eine Maschinenpistole sowjetischer und jetzt wieder russischer Bauart. Den ersten Schuss,<br />

der die Schiffsglocke traf, hatte er nicht gehört. Vielleicht hatte das Pinnng an der Glocke den<br />

Knall des Schusses übertönt? Das war unwahrscheinlich. Holt kannte das Geräusch, den ein<br />

Schuss mit einer AK 47 machte, er war sehr laut und hätte mit Bestimmtheit den Einschlag<br />

laut überlagert. Es musste mit einem Schalldämpfer geschossen worden sein. Aber da war ein<br />

Problem, es gab seines Wissens nach für die AK 47 keine Schalldämpfer, oder doch? Er<br />

beschloss, sich im Internet darüber schlauzumachen. Seitdem er zum letzten Mal mit einer<br />

183


Kalaschnikow geschossen hatte, so nannte er die AK 47 aus alter Gewohnheit, waren mehr als<br />

dreißig Jahre vergangen. In dieser Zeit gab es auf dem Gebiet der Waffenentwicklung riesige<br />

Veränderungen. Warum sollte es für eine AK 47 heutzutage keine Schalldämpfer geben?<br />

Der Täter könnte den Lauf der Waffe, zur Unterstützung als Auflage, durch das Gitter<br />

gesteckt haben. Holt hatte sich einen ungefähr achtzig Zentimeter langen, abgebrochenen Ast<br />

gesucht, der ihm als imaginäre Waffe dienen sollte. Er legte sich zwischen die Heckenbüsche,<br />

auf das bereits durch den Täter niedergedrückte Gras, steckte den Ast durch das Gitter und<br />

zielte damit auf das Fenster des Salons, dort wo er am Abend vorher beim Fernsehen gesessen<br />

hatte. Bei Tageslicht konnte er jedoch, bis auf den matten Schimmer der<br />

Messingschiffsglocke, nicht genug erkennen. Der Salon war dunkler als die Welt außerhalb<br />

des Hauses. Mit dem mitgenommenen Fernglas schaute er sich das Fenster näher an. Es<br />

handelte sich um Schiebefenster, bei dem ein Flügel offen stand. Im silbrig glänzenden<br />

Fliegengitter hinter dem Fensterflügel erkannte Holt im Fernglas ein kleines dunkles Loch.<br />

Das musste das Einschussloch sein.<br />

Zurück im Salon schaute er sich das Loch von innen an. Zwei oder drei Fasern des<br />

Fliegengitters waren durchtrennt und die Reste ragten nach innen. Am unteren linken Rand<br />

der Glocke fand Holt eine kleine Delle. Hier musste das Projektil aufgeschlagen sein. Er<br />

schaute sich suchend um, fand aber bis auf ein paar angeknabberte Keksreste von den Hunden<br />

nichts Weiteres. Nachdem er seinen Fernsehsessel beiseitegeschoben hatte, fand er das<br />

Projektil. Es handelte sich um ein Vollmantelgeschoss aus Messing mit Bleikern, welches nur<br />

beim Militär verwendet wurde. Der Mantel des Projektils war an der Spitze leicht verformt.<br />

Am unteren, breiten Ende des Projektils erkannte Holt, direkt auf der breitesten Stelle, vier<br />

kleine Abschabungen. Die benutzte Waffe musste vier Züge haben. Unter einem Mikroskop<br />

hätte ein Experte auch die Richtung des Dralls erkennen können. Bei den meisten Waffen war<br />

der Rechtsdrall üblich, auch bei der AK 47.<br />

Pauline hatte über Holts Schulter zugeschaut, was Holt da trieb.<br />

„Wenn wir jetzt ein Laserzielgerät hätten, könnte ich die Flugbahn des Projektiles<br />

nachvollziehen,“ sagte er zu Pauline. „Ich werde jetzt nach draußen gehen, durch das Loch<br />

zur Glocke schauen. Du setzt dich in meinen Sessel, vielleicht kann ich dann sehen, ob der<br />

Schuss ernst gemeint war.“<br />

Pauline setzte sich in Holts Sessel. Von draußen schaute Holt durch das Loch über<br />

Paulines Kopf zur Glocke. Dabei murmelte er etwas für Pauline Unverständliches.<br />

„War es ernst gemeint?“, wollte sie wissen.<br />

Holt dachte nach, kam jedoch zu keinem Ergebnis, er zuckte nur mit den Schultern.<br />

Pauline hatte eine Idee und ging zum Gästezimmer und kam mit einer Rolle roten Wollzwirns<br />

zurück.<br />

„Hans, ich binde oder halte den Zwirn hinter dem Loch fest und du gehst mit dem<br />

anderen Ende zur Delle der Glocke. Dann spannst du den Zwirn und wir haben die<br />

Schussbahn. So wurde es auch gemacht und als Holt den Zwirn zur Glocke hin straffte, sah er<br />

die Flugbahn. Er ging nach außen, vor die Fensterfront, bückte sich und hob ein kleines<br />

Holzstückchen auf. Um dieses band er ein Ende des roten Zwirns. Dann ging er zusammen<br />

mit Pauline in den Salon, die er auf seinen Sessel schob. Der straff gespannte Zwirn ging zwei<br />

Zentimeter über Paulines Kopf zur Glocke. Pauline hatte nach einigen Sekunden still sitzen<br />

nach oben geschielt. Dann stand sie auf.<br />

„Hans, du bist ein Dödel! Ich bin doch kleiner als du,“ fuhr sie ihn ärgerlich an und<br />

nahm ihm das Ende des Zwirns aus der Hand. „Setzt du dich jetzt in den Sessel!“<br />

Pauline zog die Schnur straff. Holts Schädel war dazwischen, er bog die Schnur<br />

ungefähr drei bis vier Zentimeter nach oben.<br />

Pauline erstarrte und hauchte, „Hans, es war ernst gemeint, du solltest dran glauben!“<br />

184


Über Holts Rücken zog ein kalter Schauer, als er an den Moment dachte, als der Täter<br />

den Zeigefinger gekrümmt hatte. Er hatte sich in diesem Bruchteil einer Sekunde gerade zu<br />

seiner Hündin Betti gebeugt. Seine Liebe zu Tieren hatte ihm ohne Zweifel das Leben<br />

gerettet.<br />

*<br />

Es war nun nicht mehr von der Hand zu weisen, sie befanden sich in akuter Lebensgefahr.<br />

Noch am gleichen Tag, nach vielen Stunden anstrengender Beratung, waren sie sich einig, das<br />

Land schnellstens zu verlassen. Es musste noch einiges erledigt werden, Geld abheben, Möbel<br />

verkaufen, Mietvertrag kündigen und den wenigen verbliebenen Freunden Lebewohl zu<br />

sagen. Der schwerste Schritt stand ihnen noch bevor, die Trennung von den beiden Hunden,<br />

die ihnen so eng ans Herzen gewachsen waren.<br />

Pauline hatte mit einer Tica gesprochen, die mit einem Engländer verheiratet war und einen<br />

Hundezwinger betrieb. Diese war damit einverstanden, die beiden Hunde gegen Geld für<br />

Kost, Tierarzt und Logis für einige Monate aufzunehmen. Jeder Hund sollte pro Monat<br />

zweihundertfünfzig Dollar kosten. Es war viel, aber dennoch waren sie damit einverstanden.<br />

Die Abgabe der Hunde zögerten die Beiden bis zum letzten Augenblick hinaus. Dann war<br />

auch dieser Zeitpunkt gekommen. Die junge Frau war mit einem Pick-up erschienen, auf<br />

dessen Ladefläche das von Holt auseinander gebaute, große Hundehaus und alle<br />

Hundeutensilien Platz fanden. Alfi und Betti wurden in die rückwärtige Beifahrerkabine<br />

verfrachtet. Beide schauten ihre Bezugspersonen mit großen traurigen Augen fragend an. Holt<br />

hatte einen Kloß im Hals und Pauline begann still zu weinen. Holt sah noch Betti aus dem<br />

Autorückfenster schauen. Sie stand mit den Vorderfüßen auf der Rückbank und schaute Holt<br />

an. Das war das letzte Mal, das er seine lieben Tiere sah. Er sah sie nie wieder, das Schicksal<br />

wollte es so.<br />

Bei der Verabschiedung von Marco Antonio Neto, ihrem Anwalt, meinte dieser, dass ihre<br />

Entscheidung Costa Rica zu verlassen, richtig und wohl auch rechtzeitig sei. Von einem ihm<br />

bekannten und gewogenen Mitarbeiter am Gericht habe er erfahren, dass Schulz über Longe<br />

ein Impleado de Salida bei Gericht beantragt habe. Auf die Frage Holts, was denn dies sei,<br />

antwortete der Anwalt, dass es sich um eine Ausreisesperre handle, die erst nach Beendigung<br />

eines Gerichtsverfahrens durch einen Gerichtsbeschluss wieder aufgehoben werden könnte.<br />

Bei der Ausreise am Flughafen San José, hatten sie, trotzt starker Befürchtungen, keine<br />

Schwierigkeiten. Erst als der Flieger von der Startbahn abhob, fiel ihnen eine schwere Last<br />

vom Herzen. In den USA sollten sie Wochen später durch Neto erfahren, dass tatsächlich<br />

nach ihrer Ausreise ein Impleado de Salida ergangen war. Diese Sperre richtete sich bewusst<br />

nicht gegen eine Ausreise, sondern sollte dafür sorgen, dass beide auf Jahre nicht mehr in<br />

Costa Rica einreisen konnten, ohne die Zuversicht, auch wieder frei ausreisen zu können,<br />

wann immer sie es wollten. Daher die Verzögerung des Antrages bis nach ihrer überstürzten<br />

Flucht in die relative Sicherheit der USA.<br />

185


In den USA<br />

Holt hatte sich schon immer für Geschichte interessiert, solange er sich erinnern konnte. Er<br />

kannte die Gründe und Ereignisse, die zur Unabhängigkeit der nordamerikanischen,<br />

englischen Kolonien führten. Die vom amerikanischen Kongress verabschiedete<br />

Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 war für ihn eines der wichtigsten Urkunden des<br />

menschlichen Freiheitsstrebens. Der Kernsatz „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht,<br />

dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen<br />

unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach<br />

Glückseligkeit sind.“, besonders die englischen Worte … and the pursuit of Happiness …<br />

hatten sich unlöschbar in sein Gedächtnis gebrannt.<br />

Amerika war das Land seiner Hoffnungen und Träume. Obwohl amerikanische<br />

Bomberpiloten im Frühjahr 1945 seinen Großvater getötet und seine Mutter angegriffen und<br />

verwundet hatten. Der Großvater war der einzigste, bislang vom Krieg verschont gebliebene<br />

Erwachsene in seiner Familie gewesen. Eine Fliegerbombe zerriss am 6. März 1945 seinen<br />

alten und gebrechlichen Körper. Ein Begleitjäger des Bomberpulks hatte mit der Bordwaffe<br />

auf seine Mutter Jagd gemacht. Sie hatte ihn in einem Korbkinderwagen am Waldrand bei<br />

Saßnitz spazieren gefahren, um auf den Vater und Großvater zu warten, der die Großmutter<br />

und den Onkel vom Bahnhof abholen wollte. Der Kinderwagen aus Weidengeflecht hatte<br />

nach dieser Attacke kein abklappbares Kopfdach mehr, er selbst lag danach unversehrt und<br />

laut schreiend unter einer panischen und verwundeten Mutter, die ihn beim Herannahen des<br />

Jägers aus dem Kinderwagen riss und in den Schutz des dichten Buchenwaldes floh.<br />

Dreiundzwanzig Jahre später sollten in Vietnam wieder Amerikaner aus Flugzeugen auf ihn<br />

schießen, ohne das er damals auch nur eine Spur Feindseligkeit in sich fühlte.<br />

Daran musste er denken, als er in Begleitung Paulines in Miami aus der Maschine<br />

stieg und über das Rollfeld die beeindruckende Skyline der Stadt sah. Warum dachte er<br />

gerade in diesem Augenblick an die auf ihn schießenden Amerikaner? Er konnte sich keine<br />

Antwort darauf geben. War es ein böses Omen? Vielleicht hatte ein Jagdflugzeug, welches er<br />

weit über dem Flughafen gesehen hatte, diese Erinnerungen ausgelöst.<br />

Bonnie wartete bereits in der großen Vorhalle. Sie hatten sich zuletzt vor zwei Jahren<br />

bei ihrer Abschiedsparty in Costa Rica gesehen. Damals hatten sich Bonnie und Carl<br />

durchgerungen, das Land wieder zu verlassen. Beide hatten zusammen mehr als acht Jahre in<br />

Costa Rica gelebt. Holt konnte sich nicht mehr genau erinnern, was der Grund des Umzuges<br />

war. Er vermeinte, noch etwas von einer schweren Krankheit Carls in Erinnerung zu haben.<br />

Carl war letztes Jahr an Krebs gestorben. Bonnie war ungefähr zehn Jahre älter, sah für ihr<br />

Alter noch fabelhaft aus und strahlte Zuversicht und Lebensfreude aus. So erschien es<br />

jedenfalls Holt auf den ersten Blick, als er sie nach Pauline auch umarmte.<br />

Pauline taute sichtlich auf. Ihre oftmals schreckhaften Blicke über die Schulter und das<br />

misstrauische Zusammenkneifen der Augen waren wie weggeblasen. Sie konnte auch wieder<br />

lachen, als sie bei Bonnie untergehackt zum Parkplatz ging. Holt verspürte trotzt der bangen<br />

Erwartung, was nun auf sie zukommen würde, große Erleichterung.<br />

Auf der Fahrt von Miami nach Rockledge, einer kleineren Stadt weiter nördlich,<br />

südwestlich von Melbourne gelegen, im mittleren Florida, unterhielten sich die Frauen<br />

angeregt. Holt hatte in der ersten Zeit noch versucht mitzuhören und sich gelegentlich auch<br />

geäußert, wenn er angesprochen wurde. Später hatte er abgeschaltet und an Costa Rica zurück<br />

gedacht, auch an Alfi und Betti, seine dort gebliebenen Hunde.<br />

Bonnie schien Pauline einige Empfehlungen gegeben zu haben, was sie nun als<br />

Nächstes machen sollten. Von Anwälten, Anzeigen und FBI war die Rede, jedenfalls diese<br />

Worte hatte Holt noch mitbekommen, bevor er einschlief. Als sie in Rockledge auf den<br />

Carport von Bonnies Haus fuhren, war Pauline bestens instruiert und Holt ahnungslos.<br />

186


Schon am Telefon hatte Bonnie Pauline erklärt, dass sie so lange bei ihr wohnen konnten, bis<br />

sie selbst ein Haus finden würden. Bonnies Haus war groß und ausreichend für zwei Parteien.<br />

Gebaut war es im sogenannten Splitlevel, was hieß, dass es nach deutschem Verständnis<br />

eigentlich zwei Häuser unter einem Dach waren, die sich nur den Hauptraum gemeinsam<br />

teilten. Holt erschien diese Verschwendung von Raum und Ressourcen damals noch als ein<br />

Qualitätszeichen Amerikas. Bonnie erklärte so nebenbei, dass ihr Haus eigentlich für sie zu<br />

klein sei, sie hätte vorher in größeren Häusern gewohnt. Holt rechnete, die Quadratfuß in<br />

Quadratmeter um und kam auf das Ergebnis, das Bonnie alleine über zweihundertzwanzig<br />

Quadratmeter verfügte. Alle Häuser der Umgebung hatten diese Größe oder waren noch<br />

größer.<br />

Am nächsten Morgen lag auf dem gepflegten Rasen des Vorgartens, der frei von jeder<br />

Umzäunung war, ein in Zellophan verpacktes Zeitungsbündel. Holt sammelte das Bündel ein.<br />

Es war die Wochenendausgabe der hiesigen örtlichen Zeitung. Alleine der Immobilienteil<br />

erschien ihm zweimal so umfangreich wie die gesamte Sonntagsausgabe der Berliner<br />

Morgenpost. Bonnie legte den Immobilienteil und den Teil für die Autoangebote für Pauline<br />

und Holt beiseite. Sie erklärte beiden die umliegenden Wohngebiete, riet die Anmietung von<br />

Häusern an der A1A und im nordwestlichen Teil Melbournes ab. Holt wollte wissen, warum<br />

diese Gegenden nicht zu empfehlen waren.<br />

„Michael“, antwortete sie, wobei sie den Namen wie Maikel aussprach, „an der A1A<br />

sind die Häuser zu teuer und in der anderen Gegend wohnen zu viel Schwarze.“<br />

Pauline erinnerte Holt daran, dass es sich bei der A1A um die Straße unmittelbar<br />

entlang der Atlantikküste handelte, die sie bereits beim letzten Besuch auch befahren hatten.<br />

Holt konnte sich in der Tat an die klotzigen Strandvillen erinnern, gegen die Bonnies Haus<br />

gerade wie eine größere Hundehütte aussah. Das mit den Schwarzen hatte er nicht richtig<br />

verstanden, darum fragte er nach.<br />

„Warum sollen wir nicht dort wohnen, wo es viele Schwarze gibt, wir sind doch keine<br />

Rassisten?“<br />

Bonnie wollte sicherlich nicht als eine mit Vorurteilen behaftete Rassistin dastehen,<br />

was sie auch nicht wahr. Sie druckste mit der Antwort herum. „Na ja, ... äh ... dort,“ und sie<br />

zeigte mit dem Finger auf die Karte im Immobilienteil, „dort wohnen die meisten Leute, die<br />

von Welfare leben und diese sind schwarz.“<br />

Holt wusste, das Welfare die amerikanische Form von Sozialhilfe war. Er kannte die<br />

Wohngebiete in Berlin mit den meisten Sozialhilfebeziehern und er konnte sich gut das<br />

Wohnumfeld der Welfare-Check-Bezieher nordwestlich von Melbourne vorstellen. In<br />

Deutschland kamen die Verlierer der Gesellschaft überwiegend aus den Kreisen der<br />

unzureichend gebildeten Zuwanderer mit mangelnden Deutschkenntnissen, welche mit den<br />

urdeutschen Verlierern der alten Klasse der immer Benachteiligten, die neu erfundene Schicht<br />

des Präkariats bildeten. Die Präkarianer der USA waren Schwarze, meist abgekoppelt von<br />

einer guten Bildung, Kinder alleinerziehender, ebenfalls oftmals auch ungebildeter Mütter<br />

und wegen ihrer Hautfarbe benachteiligte Menschen. Trotzt seines Verständnis für deren<br />

Situation, wollte Holt dort nicht wohnen, wie er niemals in Berlin in den Stadtteilen<br />

Kreuzberg oder Neukölln hätte wohnen wollen.<br />

Die Auswahl war schon durch die Tatsache, dass nur ein Haus mit großem Garten für die<br />

Hunde in Frage kam und kein kleineres Appartement, erschwert. In den ersten zwei Wochen<br />

hatte Bonnie sie herumgefahren, viele Gespräche mit Maklern und Eigentümern geführt. Das<br />

Ergebnis der Besichtigungsfahrten war enttäuschend: zu teuer, zu klein, kein Garten. Bei<br />

diesen Hausbesichtigungen konnten Pauline und Holt Häuser sehen, die ihnen wie Paläste<br />

oder wie Schweineställe erschienen. Eine weite, aber nicht geeignete Palette.<br />

187


In der dritten Woche schien sich das Blatt zu wenden. Ein Rechtsanwalt hatte sich gemeldet,<br />

der ihren Fall prüfen wollte und der Eigentümer eines interessanten Hauses bat um Rückruf.<br />

Bonnie tat dies und vereinbarte einen Besichtigungstermin für den nächsten Tag. Sie legte den<br />

Termin so, dass Holt und Pauline noch vorher beim Anwalt vorsprechen konnten. Gemeinsam<br />

mit Bonnie fuhren sie an einem sonnigen Montagvormittag los.<br />

Der vermeintliche Anwalt stellte sich als C.R. Handcook vor, „Consultant“ einer<br />

englischen Beratungsfirma namens Osbaun Consultants, die sich ausschließlich nur mit<br />

Immigrationsfällen beschäftigte. Es war also kein Anwaltsbüro und Holt hatte den Eindruck,<br />

dass es sich bei den Mitarbeitern auch nicht um Anwälte handelte. Auf seine Frage<br />

diesbezüglich, erklärte der Consultant, dass die Firma vom Staat die Erlaubnis habe,<br />

Immigrationsfälle zu bearbeiten, nur bestimmte Fälle, welche vor Gericht kämen, müssten<br />

von einem Anwalt wahrgenommen werden. Weiter erklärte er, dass bis zu fünfundachtzig<br />

Prozent der Fälle ohne gerichtliche Entscheidungen auskommen würden.<br />

Aufmerksam hörte Handcook sich Bonnies Vortrag an. Bonnie hatte als geborene<br />

Amerikanerin die komplizierte Erläuterung des Problems vorgenommen.<br />

„So wie ich die Sache sehe, benötigt Mr. Holt für die Erledigung seiner<br />

Angelegenheiten hier in den USA mehr Zeit, als er für den freien Aufenthalt von neunzig<br />

Tagen hat,“ begann er das Beratungsgespräch. „Alleine schon für die Bearbeitung Ihrer<br />

geplanten Strafanzeige“, dabei wandte er sich direkt an Holt und Pauline, „ und die<br />

wahrscheinlich nötige Zivilklage benötigen Sie mehr als ein Jahr, vielleicht auch weniger. Der<br />

beste Weg wäre, Sie würden sich beim amerikanischen Konsulat in Berlin um ein Visa<br />

bemühen. Dann hätten Sie erst einmal genug Zeit.“<br />

„Das heißt,“ bohrte Holt nach, „ich müsste nach Deutschland reisen?“<br />

„Nein,“ antwortete Handcook. „Sie können es auch per Post erledigen. Sie müssen nur<br />

von Deutschland aus den Antrag einreichen. Wenn Sie Freunde oder Verwandte haben, wäre<br />

es doch möglich?“<br />

„Das ist nicht das Problem, wir haben noch gute Freunde in Deutschland. Aber es<br />

muss doch auch der Reisepass mit eingereicht werden?“<br />

„Natürlich, Ihren Pass müssen Sie schon beim Konsulat mit einreichen.“<br />

„Dann habe ich ja für die Zeit der Bearbeitung keinen Pass vorzuweisen, wenn ich hier<br />

in den USA einmal von der Polizei kontrolliert werde.“<br />

Handcook dachte einen Moment nach, bevor er auf die Feststellung einging. „Klar, ein<br />

paar Wochen werden Sie keinen Pass bei sich haben können. Wir machen es so, Sie machen<br />

vom Pass, alle Seiten, eine Farbkopie, die wir hier notariell beglaubigen. Diese Kopie tragen<br />

Sie dann bei sich. Dazu bekommen Sie von uns eine Bestätigung, dass Sie Ihren Reisepass im<br />

Zuge eines Immigrationsvorganges bei amerikanischen Behörden eingereicht haben. Wir<br />

sagen nur nicht bei welcher ... und ... gelogen ist es ja auch nicht.“<br />

„Und Sie meinen, das reicht aus?“<br />

„Eigentlich schon. Sie gehen ja nicht zu amerikanischen Behörden, wo Sie sich<br />

ausweisen müssen. Das Einzigste, was Ihnen passieren kann, Sie werden von der Polizei beim<br />

Auto fahren angehalten. Aber das machen die nur, wenn Sie im Straßenverkehr auffallen.<br />

Wenn Sie also angepasst fahren und Ihr Auto ist auch sichtbar in Ordnung, kontrolliert man<br />

Sie sicherlich in den nächsten zwanzig Jahren nicht.“<br />

Im Auto, während der Weiterfahrt nach Palm Bay, erklärte Bonnie noch einmal<br />

Pauline die wesentlichsten Besprechungspunkte in aller Ruhe, sodass auch Holt alles<br />

verstehen konnte. Sie sagte, dass alles in Ruhe in den nächsten Tagen erledigt werden könnte.<br />

Sie wolle das Formular für die Visumbeantragung aus dem Internet herunterladen und Holt<br />

später beim Ausfüllen helfen. Alle Kopien und Postunterlagen könnten sie beim US-Mail<br />

Service in Rockledge erledigen.<br />

Bonnie hatte Pauline und Holt geraten das Hausangebot aus Palm Bay, mal näher<br />

188


anzuschauen. Palm Bay lag südlich von Rockledge, ungefähr 27 Meilen entfernt. Bonnie<br />

erwähnte, dass Palm Bay flächenmäßig größer als Rockledge sei, jedoch nicht so dicht<br />

bebaut. Sie beschloss, auf der US 1, auf der sie sich gerade befanden, weiter zu fahren und<br />

dann erst in Palm Bay westlich in Richtung I 95 abzubiegen und mit der Suche nach 411<br />

Holin Ave. zu beginnen.<br />

Die US 1 war eine ältere „State Road“. Sie verläuft von Norden, aus dem Bundesstaat<br />

Georgia kommend, in Nord-Süd-Richtung, mehr oder weniger entfernt von der Atlantikküste,<br />

quer durch den Bundesstaat Florida. Bis zum Bau der amerikanischen Autobahnen, in den<br />

vierziger und fünfziger Jahren, den Interstate Highways, waren die durchnummerierten US<br />

Roads, die einzigsten Bundesstaaten. Die Interstate Nummer 95, kurz auch I 95 genannt, lag<br />

am Ortseingang zu Palm Bay ungefähr fünf Meilen westlicher, parallel zur US 1. Aus dem<br />

Straßenatlas von AAA, dem amerikanischen Automobilklub, war zu erkennen, dass Palm Bay<br />

östlich am Atlantik begann und sich in Richtung West noch einige Meilen hinter der I 95<br />

hinzog. Die Tiefe der Ortschaft von zirka fünfzehn Meilen und einer Breite von zehn Meilen<br />

machte im Vergleich rechnerisch fasst dreißig Prozent der Fläche von Berlin aus. Der<br />

gravierernste Unterschied zu Berlin, mit seinen über drei Millionen Einwohnern, war, dass<br />

Palm Bay nur ein Prozent der Einwohnerzahl hatte.<br />

Nachdem Bonnie schon in Sichtweite der großen Straßenbrücken der I 95 war, wurde<br />

sie unruhig. Sie fuhr rechts auf eine Tankstelle und fragte sich beim Personal durch. Sie<br />

bekam eine befriedigende Auskunft. Das Gebiet, in der sich das gesuchte Haus befand, war<br />

erst in den letzten zehn Jahren bebaut worden und lag weiter westlich der I 95. Der<br />

Straßenatlas von AAA war siebzehn Jahre alt. In diesem gab es an der Stelle, wo sich jetzt das<br />

Haus befand, damals nur Everglades ähnliches Sumpfland.<br />

Die Zufahrtsstraße, quer zur I 95, in westlicher Richtung weiterführend, ging an zwei<br />

großen Einkaufszentren vorbei. Danach wurde die vierspurige Straße zweispurig. An einer<br />

Kreuzung, an der sich eine Post und eine weitere Tankstelle befanden, sollten sie in südlicher<br />

Richtung und dann weiter die dritte Straße hinter einer Schule rechts abbiegen. Die Holin Ave.<br />

war hier als Einbahn- und Kreisstraße ausgelegt, wobei die Ausfahrt direkt neben der Einfahrt<br />

in die Zugangsstraße mündete. Bonnie schaute auf den Tacho. Von Rockledge bis hier zum<br />

Haus waren es genau fünfunddreißig Meilen, also musste das Haus zehn Meilen von der US 1<br />

und fünf Meilen von der I 95 entfernt sein. Für Amerika waren es erträgliche Entfernungen.<br />

Kurz hinter der ersten Straßenbiegung fanden sie das gesuchte Haus. Es war im Bungalowstil<br />

mit hohem Mittelteil und zwei links und rechts angeordneten Seitenteilen. Im rechten<br />

Seitenteil war die Garage. Im Mittelteil befand sich im Zentrum der Eingangsbereich mit zwei<br />

hohen Säulen und einem kleinen Vordach. Die Seitenteile hatten jeweils zwei große Fenster<br />

mit kleinen weißen Flächengittern. Alles war, bis auf das große Garageneinwipptor, mit<br />

hellgrauem Holz verschalt. Das Haus stand inmitten eines Kiefernwäldchens. Vor dem Haus<br />

standen längs der Straßenfront vier Palmen, deren untere Wedel vertrocknet zu Boden hingen.<br />

Links und rechts der Auffahrt zur Garage und am schmalen Betonweg zur Eingangstür lag<br />

eine Menge Unrat. An der rechten Seite konnte Holt einen großen Garten erkennen, der mit<br />

Schrott und Unrat gespickt war. Wie kann man nur in einem solchen Dreck leben?, ging es<br />

Holt durch den Kopf. Er sah, als er sich zu Bonnie und Pauline umdrehte, wie diese<br />

angewidert auf den Schmutz starrten.<br />

In der Auffahrt stand schon ein Wagen, an deren Fahrertür gelehnt ein Mann im<br />

mittleren Alter stand und sie scheinbar erwartete. Er hatte die Blicke der Drei wohl gesehen<br />

und auch richtig gedeutet. Er ging sofort auf die Ankömmlinge zu, als diese noch dabei<br />

waren, aus dem Wagen zu steigen.<br />

„Mrs. Morter?“, dabei schaute er abwechselnd Bonnie und Pauline an. Bonnie trat vor<br />

und gab sich als die Ansprechperson zu erkennen.<br />

„Entschuldigen Sie bitte den Zustand des Hauses,“ begann er noch beim<br />

189


Händeschütteln. „Ich bin der Eigentümer. Mein Name ist Slam, Dave Slam. Ich musste den<br />

jetzigen Mietern leider kündigen, die bis zum Wochenende ausziehen. Es sieht alles schlimm<br />

aus, sie haben alles verkommen lassen und die Miete der letzten Monate auch nicht gezahlt.<br />

Erst vor drei Tagen habe ich den Gerichtsbeschluss bekommen, dass ich die Leute<br />

heraussetzen kann. Ich tue es nicht gerne, aber ich kann mein Eigentum nicht so verkommen<br />

lassen.“<br />

Der Eigentümer erklärte ausführlich die derzeitige Mietsituation. Es war ihm<br />

anzusehen, dass er diese als unangenehm empfand. Bei den ausziehenden Mietern habe es<br />

sich ursprünglich um ein Pärchen gehandelt, dessen Haushalt sich innerhalb von drei Jahren<br />

um drei weitere Mieter vergrößerte. Die Kinder kamen in jährlicher Reihenfolge und der<br />

Vater hatte vor sechs Monaten das Weite gesucht. Die nun alleinstehende Frau sei total<br />

überfordert und in Depressionen verfallen und schon wieder hochschwanger. Ihr<br />

untergetauchter Mann habe in den letzten Monaten Autos und andere technische Geräte<br />

repariert und alle ausgebauten Teile nebst Unrat liegen lassen. Im Haus sehe es leider auch<br />

nicht viel besser aus.<br />

Mr. Slam hatte sich wohl schon bei der Mieterin angemeldet. Nach einem kurzen und<br />

energischen Klopfen öffnete eine blass und krank aussehende junge Frau. Sie trat schweigend<br />

beiseite, nahm einen Säugling aus einem alten Wäschekorb und setzte sich auf ein zerrissenes<br />

Sofa, um dem Kind die Flasche zu geben. Zwei weitere kleinere Kinder saßen inmitten eines<br />

großen Haufens schmutziger Wäsche am Fußboden. Überall lagen Spielzeug, Essensreste und<br />

schmutzige Wäsche herum. Ein Bild der Tristesse und des Elends.<br />

Bonnie und Pauline schauten sich an. Keiner brauchte etwas zu sagen, sie verstanden<br />

sich in dieser Situation als Mütter auch ohne Worte. Holt schnürte es den Hals zu. Überall<br />

Schmutz und der aufdringliche Gestank von Erbrochenem und Fäkalien. Als Holt zum<br />

Hauseigentümer schaute, hob dieser nur entschuldigend die Schultern. Er fühlte sich sichtlich<br />

auch nicht wohl.<br />

Holt kannte aus seiner Vergangenheit, in der Wohnungsbrache, solche Mieter und<br />

solche Wohnungen. Damals, in Berlin, war er von Amts wegen dazu verpflichtet gewesen,<br />

unverzüglich das Jugendamt über solche Zustände zu informieren. Wenn er es nicht getan<br />

hätte, wäre er selbst strafbar geworden. Holt konnte sich nicht vorstellen, dass es in den USA<br />

nicht auch solche Bestimmungen zum Schutz der Kinder geben würde. Er wollte Bonnie<br />

danach später befragen.<br />

Die beiden Frauen wollten sich diesen Anblick und Gestank nicht mehr zumuten, sie<br />

traten vor die Tür. Holt stieg über den Müll und schaute sich die einzelnen Zimmer des<br />

Hauses hinsichtlich der Größe, Lage und des Schnittes an. Aus Sicht der Architektur war<br />

dieses Haus vorzüglich gebaut. Die übrigen drei Zimmer und die Küche waren ebenfalls<br />

zugemüllt und schmutzig. In der Küche stapelte sich scheinbar das Geschirr der letzten drei<br />

Wochen. Der Weg zur Garage, durch eine Tür in der Küche, war nicht passierbar. Hinter der<br />

Tür musste etwas großes Sperriges stehen oder liegen.<br />

Der Hauseigentümer war immer dicht hinter Holt geblieben, so traten sie auch wieder<br />

ins Freie, nachdem Holt zur Frau „bye“ gemurmelt hatte.<br />

Mr. Slam schaute Holt erwartungsvoll an, der auch gleich fragte, „Wann sagen Sie,<br />

können wir in das Haus?“<br />

„Anfang der nächsten Woche. Am kommenden Wochenende lasse ich alles Gerümpel<br />

wegschaffen und das Haus erst einmal grob säubern.“<br />

„Okay!“, antwortete Holt zögernd. „Wir werden uns noch einmal das Haus am<br />

kommenden Montag anschauen und uns dann entscheiden. Der Schnitt und äußere Anschein<br />

ist gut, aber ich glaube, es muss noch einiges gemacht werden.“<br />

Der Eigentümer nickte bestätigend. Holt zählte einige Punkte auf, die er in der<br />

Schnelle erkannt hatte. Der total versiffte Teppichboden, die vom Nikotin gelben Wände, die<br />

verrotteten Küchenschränke, ein Loch in der Garagentür und der Metallschrott um das Haus.<br />

190


Während Bonnie, zusammen mit Pauline, mit dem Eigentümer den nächsten Termin<br />

vereinbarte, ging Holt noch einmal um das Haus herum. Der Garten schien für die Hunde<br />

groß genug zu sein. Im hinteren Teil stand ein Metallschuppen, welcher zur Hundehütte<br />

umfunktioniert werden konnte. Alleine der auf dem Grundstück gelagerte Schrott hätte für<br />

eine Hochofenfüllung ausgereicht.<br />

Nachdem der Eigentümer abfuhr und alle drei wieder in Bonnies Auto saßen, sagte<br />

Pauline spontan, „Hans, in diesen Schweinestall bekommst du mich nicht. Bonnie kann den<br />

Termin wieder canceln.“<br />

Holt, der im hinteren Teil saß, musste lachen. „Pauli, wenn wir am kommenden<br />

Montag uns das Haus noch einmal anschauen, wird es schon ein anderes sein und wenn ich da<br />

eine Woche drin war, wirst du es nicht mehr erkennen. Glaube es mir, die Hütte, ist prima,<br />

wir machen was draus, so wie in Bello Horizonte.“<br />

Bonnie sagte zu alledem nichts, denn Holt hatte Deutsch gesprochen. Aber an den<br />

Gesten und einigen Worten hatte sie Holt dennoch verstanden. Sie wandte sich zu Pauline, um<br />

ihr in Englisch zu sagen, sie solle es Holt nur machen lassen; es würde alles Gut werden.<br />

Zu Hause bei Bonnie besprach Holt mit Pauline die Situation. Bonnie war in der Küche und<br />

bereitete das Abendessen. Holt hatte Pauline davon überzeugen können, in das Haus<br />

einzuziehen, wenn mehr Geld zur Verfügung stand. Bonnie hatte ihnen ein<br />

Überbrückungsdarlehen von fünftausend Dollar angeboten, das würde erst einmal reichen,<br />

hieß aber, dass irgendeine Verdienstmöglichkeit eröffnet werden müsste. Der Vermieter hatte<br />

von sechshundertfünfzig Dollar monatlicher Miete gesprochen. Dazu kamen noch die<br />

Nebenkosten. Die Lage des Hauses, in einem Land ohne eine wesentliche Infrastruktur an<br />

öffentlichen Verkehrseinrichtungen, erforderte ein eigenes Auto. Die vielen gelben Busse, die<br />

Holt immer gesehen sah, waren nicht Teil einer allgemeinen Verkehrsinfrastruktur, sie waren<br />

nur Teil des in den USA und aus Hollywoodfilmen weltweit bekannten Systems der<br />

Schulbusse. Wer in den USA reisen wollte, nahm entweder den Flieger, fuhr mit der<br />

Eisenbahn, der Amtrak, oder nutzte die Überlandlinien der Busgesellschaft Greyhound. Diese<br />

hielten jedoch nicht an jedem Briefkasten. Es blieb in Florida also nur der private Verkehr mit<br />

einem Auto.<br />

Nach dieser Besprechung waren sich beide darüber einig, dass gleichzeitig an drei Fronten<br />

gekämpft werden musste. Front „Job“, Front „Haus“ und Front „Auto“. Im Land der<br />

unbegrenzten Möglichkeiten sollte dies aber keine größere Schwierigkeit bedeuten. Die<br />

Bemühungen bezüglich eines geeigneten Hauses waren schon so weit gediehen und standen<br />

theoretisch bereits vor einem baldigen Abschluss. Autos gab es auch mehr als genug. Alle<br />

tausend Meter befand sich an den größeren Straßen, meistens an Kreuzungen, ein „Car<br />

Dealer“. Auf den Höfen dieser Geschäfte standen tausende von Autos, ausgepreist mit<br />

verlockenden Konditionen, die nur auf ihre Käufer warteten. Bonnie hatte einen guten<br />

Kontakt zu einem Mazda-Händler. Nach einer telefonischen Vorabinformation teilte sie<br />

Pauline mit, dass der Händler mehrere gute und preiswerte Gebrauchtwagen habe. Am<br />

nächsten Vormittag könnten sie zusammen hinfahren und sich die Autos einmal anschauen.<br />

Holt hatte sich inzwischen um Bonnies Computer gekümmert, der wieder einmal durch die<br />

Versuche alles im System umzustellen, nicht mehr richtig funktionierte. Als Pauline ihm<br />

erzählte, dass sie bereits am nächsten Tag ein Auto zu guten Konditionen haben könnten, war<br />

er sehr erfreut.<br />

Der Mazda-Händler stellte sich als ein riesengroßer Handelsbetrieb dar, der neben Autos der<br />

Marke Mazda auch deutsche Fahrzeuge vertrieb. Bereits neben dem Haupteingang stand eine<br />

Flotte Daimler Benz und BMWs zum Blickfang. Diese waren schön anzusehen, jedoch als<br />

Importfahrzeuge für Pauline und Holt unerschwinglich. Der Mitarbeiter, den Bonnie kannte,<br />

191


eilte auf die Ankömmlinge zu und nahm Bonnie erst einmal für ein längerdauernden Small<br />

Talk in Beschlag. Holt schaute sich in der großen Halle um. Hier standen nur die teuersten<br />

Neuwagen. Tolle Geschütze, aber superteuer. Durch die vertönte hintere Glasfront konnte er<br />

auf dem hinteren Abstellplatz eine riesige Anzahl gebrauchter Mazdas sehen. Holt ging auf<br />

den Platz. Alle hatten ein Preisschild im Fenster, aus dem das Baujahr, technische Daten, die<br />

gefahrenen Meilen, der Endpreis, die Höhe einer Anzahlung, die Höhe der monatlichen<br />

Raten, die Laufzeit der Ratenzahlungen und der Zinssatz für ein vom Dealer gewährtes<br />

Darlehen ersichtlich waren. Schön übersichtlich und beeindruckend fand Holt. Die in zwei<br />

Blöcken aufgeteilten abgestellten Fahrzeuge waren sämtliche der 3er- und 6er-Serie von<br />

Mazda.<br />

Während Bonnie noch immer mit dem Mitarbeiter sprach, war Pauline hinter Holt auf<br />

den Platz gekommen. Sie schaute sich zuerst die Preisschilder und dann erst das Auto an. Holt<br />

tat es in umgekehrter Reihenfolge. Zuerst musste ihm das Auto aus visueller und äußerlich<br />

technischer Hinsicht gefallen. War es so, ließ er sich herab, auf das Preisschild zu schauen.<br />

Nach zwanzig Minuten hatten sie ihr Auto ausgesucht. Es war ein Mazda 626, drei Jahre alt,<br />

zwölftausend Dollar wert. Nur wegen der Höhe der Anzahlung und der monatlichen Raten<br />

musste noch einmal Bonnie zurate gezogen werden. Diese war wegen der gleißenden<br />

Helligkeit und Temperaturen über fünfunddreißig Grad Celsius in den Verkaufsräumen<br />

geblieben.<br />

Pauline bat Bonnie, beim Verkäufer nachzufragen, ob der Wagen auch ohne<br />

Anzahlung zu erwerben sei. War er. Bei einer Anzahlung von dreitausend Dollar wäre eine<br />

Rate in Höhe von hundertfünfzig Dollar, mit einer Laufzeit von achtundsechzig Monaten<br />

fällig gewesen und ohne Anzahlung, eine Rate von hundertfünfundsechzig Dollar bei einer<br />

Laufzeit von achtzig Monaten. Holt schienen hundertfünfundsechzig Dollar im Monat<br />

erschwinglich, nur die lange Laufzeit von über sieben Jahre machte ihm ein wenig<br />

Kopfzerbrechen. Er fragte beim Verkäufer nach, ob der Wagen auch vorher mit einer höheren<br />

Summe abzahlbar sei. Auch das war möglich, aber nur gegen einen geringen Aufschlag, da<br />

der Dealer seinen Gewinn aus den Zinsen des Restbetrages auch noch gerne eingefahren<br />

hätte.<br />

Als Käufer des Autos kam nur Pauline in Frage, da sie die für den Kauf erforderlichen<br />

amerikanischen Papiere hatte. Während der Mitarbeiter den Kaufvertrag vorbereitete, schaute<br />

sich Holt noch einmal „seinen“ Wagen an. Bei der ersten Besichtigung hatte er die stark<br />

abgefahrenen Vorderreifen nicht wahrgenommen. Mit diesen würde man in Deutschland<br />

durch keinen TÜV kommen. Die Hinterreifen waren noch in Ordnung. Beim Ersatzreifen im<br />

Kofferraum handelte es sich um einen speziellen Reifen, der auf eine Felge gezogen war, die<br />

nur den Gebrauch vom Ort der Panne bis zur nächsten Werkstatt erlaubte.<br />

Holt reklamierte beim Verkäufer die Vorderreifen. Nachdem sich dieser die abgefahrenen<br />

Reifen selbst näher angeschaut hatte, sagte er sofort zu, dass diese auf Kosten des Hauses<br />

ausgewechselt werden. Die Art, wie das Auswechseln erfolgen sollte, war für Holt schon fast<br />

erheiternd. Der Verkäufer gab an Pauline als Käuferin eine Kostenübernahme des Dealers<br />

nebst einer Wegbeschreibung zu einem Reifenhaus, welches Vertragspartner des Dealers war.<br />

Da solch ein Vorgang nur weniger als eine halbe Stunde dauerte, war der Verkäufer der<br />

Meinung, dass der neue Besitzer dies bei der nächsten, erweiterten Probefahrt wohl selbst<br />

machen könnte. Die erste Ratenzahlung war erst in sechs Wochen fällig, da man sich jetzt in<br />

der Mitte eines laufenden Monats befand und man dem Käufer die erste Belastung auch nicht<br />

so kurzfristig zumutete. Über dieses Entgegenkommen waren Pauline und Holt sehr erfreut.<br />

Bonnie meinte, das wäre guter Service und in Amerika so üblich.<br />

Nach insgesamt neunzig Minuten fuhr Pauline mit einem cremefarbenen Mazda 626,<br />

mit abgefahrenen Vorderreifen, stolz vom Hof. Holt saß auf dem Beifahrersitz und schaute im<br />

Rückspiegel, wie Bonnie in ihrem Wagen, nun allein, hinter ihnen her fuhr. Der Car Dealer<br />

192


hatte zwischen Rockledge und Melbourne an der US 1 seinen Sitz, der Reifenonkel ein paar<br />

Meilen südlicher in Richtung Palm Bay, direkt an der Intra Costal, 43 dem längst zur<br />

Atlantikküste liegenden Binnengewässer.<br />

Die Reifenfritzen hatten alle notwendige Technik und kannten ihr Metier. Der Wagen<br />

kam sofort auf eine freie Hebebühne. Mit Pressluftschraubern waren die Radmuttern, wie<br />

beim Formel-I-Rennen, in wenigen Sekunden gelöst. Der Wechsler nahm das Rad von der<br />

Achse und legte es mit einem Schwung auf die danebenstehende Werkbank. Auf dieser<br />

speziellen Bank wurden die Reifen blitzschnell von der Felge gelöst, die neuen Reifen<br />

aufgezogen und mittels kleiner Bleibeschwerungen ausgewuchtet und wieder an der Achse<br />

verschraubt. Der gesamte Vorgang hatte für beide Reifen neun Minuten gedauert, bis die<br />

Hydraulik der Hebebühne den Wagen mit einem leichten Plumpsgeräusch auf den Boden<br />

setzte.<br />

Holt war sichtlich beeindruckt. Er hatte den Reifenwechsler gefragt, wo die nächste<br />

Bar sei, wo man einen Kaffee bekommen könnte. Der hatte nur erstaunt gefragt, warum er<br />

sich die Mühe machen wolle, zu Fuß die zwei Meilen zu laufen, wo doch der Wagen in<br />

einigen Augenblicken wieder fahrbereit sein würde. Er hatte diese „paar Augenblicke“ als<br />

maßlose Übertreibung angesehen, denn er hatte noch das langwierige Reifenwechseln in<br />

Costa Rica in Erinnerung.<br />

Am nächsten Montag fuhren sie mit dem neuen Auto ohne Bonnie zum neuen Haus. Der<br />

Landlord hatte am Wochenende tatsächlich das Haus entrümpelt. Von der jungen Mutter mit<br />

den drei Kindern war nichts mehr zu sehen. Holt stellte sich die Frage, was diese wohl jetzt in<br />

ihrem Elend, ohne ein eigenes Dach übern Kopf, machen würde. Schnell verdrängte er<br />

ärgerlich das aufkommende Schuldgefühl, ihr Elend durch seine Wohnungssuche vergrößert<br />

zu haben. Das Gerümpel war noch nicht abgefahren, es lag rechts vom Haus, direkt an der<br />

Straße auf dem Rasen. Ein riesiger Berg. Slam werkelte laut im Haus herum, die Fronttür<br />

stand sperrangelweit offen. Er war dabei, die alten Küchenschränke abzumontieren. Die<br />

Unterschränke hatte er bereits entfernt. Hinter der Spüle war die Außenwand durch Termiten<br />

angefressen, im Wandgebälk hatten sie sich wohnlich eingenistet. Tausende von fleißigen<br />

Tierchen, die in zwischen in der ganzen Küche herumkrabbelten. Als Slam die Beiden<br />

eintreten sah, unterbrach er seine Tätigkeit, wischte sich an einem alten Lappen die Hände ab.<br />

Danach schüttelte er Pauline und Holt die Hand.<br />

„Haben Sie sich entschieden, möchten Sie das Haus?“, wollte er wissen, wobei er Pauline<br />

erwartungsvoll anschaute. Er hatte mitbekommen, dass Pauline als Amerikanerin wohl die<br />

zukünftige Mieterin sein könnte, nicht Holt, den er wegen seines harten deutschen Akzentes<br />

schon beim ersten Treffen als Ausländer eingeordnet hatte.<br />

Holt erwiderte jedoch auf die an Pauline gerichtete Frage. Er war ein wenig sauer,<br />

nicht für voll genommen zu werden. „Wir werden das Haus anmieten, wenn Sie für die<br />

Kosten der notwendigen Verschönerungs- und Renovierungsarbeiten aufkommen. Ich meine,<br />

nur für das Material, denn die Arbeiten erledigen wir selber.“<br />

Slam dachte einen Moment nach. „Okay, ich reiße noch die Schränke hier raus, damit<br />

sie heute noch abgefahren werden können. Sie bekommen von mir das Geld für die neuen<br />

Schränke, für Farbe und für Kleinmaterial. Einverstanden?“<br />

Holt war in die Hocke gegangen und hatte sich noch einmal die Auslegeware<br />

angeschaut. Diese war voller Flecken, ausgefranst, teilweise zerrissen und schmutzig. Sie<br />

musste ausgewechselt oder durch Fußbodenfliesen ersetzt werden. Slam hatte missmutig<br />

zugesehen, wie Holt den Fußboden inspizierte. Ihm schwante nichts Gutes, als er Holts Blick<br />

auf den Boden sah.<br />

„Mr. Slam, wir werden das Haus nehmen, wenn Sie den Fußbodenbelag entfernen<br />

lassen.“<br />

193


„Um Gottes willen, wissen Sie, was die Auslegeware kostet. Sie machen mich zum<br />

armen Mann. Der Quadratyard dieses Materials kostet über zwanzig Dollar.“<br />

Holt wusste, dass ein Quadratyard ein bisschen weniger als ein Quadratmeter war. Er<br />

rechnete im Kopf grob die Fläche aus und kam auf hundert bis einhundertzwanzig<br />

Quadratmeter. Slam würde für das Haus zirka zweitausend Dollar, alleine für die relativ teure<br />

Auslegeware ausgeben müssen. Er verstand es, weil Slam zusammenzuckte.<br />

„Ich kann es billiger machen,“ antwortete er. „Wir legen gar keinen Wert auf<br />

Auslegeware, Fliesen sind doch viel besser und auch viel billiger.“ Dabei hatte er an Alfi und<br />

Betti gedacht. „Im Home Depot habe ich schöne Fliesen bereits von vier bis acht Dollar<br />

Quadratyard gesehen. Mit Kleber und Fugenmasse könnte es auf sechs Dollar kommen.“<br />

Slam war sich im Klaren darüber, dass er keinen Mieter für dieses Haus bekommen<br />

würde, ohne nicht vorher Geld investieren zu müssen. Die Idee von Holt, das Haus zu<br />

verfliesen, war nicht von der Hand zu weisen. Sauberer und viel billiger. Gedanklich setzte er<br />

sich ein Limit, wie viel er zu investieren gedachte.<br />

„Gut, Sie suchen bei Home Depot die Fliesen aus, werden Sie aber nicht teurer als<br />

sechs Dollar pro Quadratyard. Können Sie denn Fliesen legen?“, wollte er wissen.<br />

„Kann ich,“ antwortete Holt. „Ich renoviere das Haus selbst und baue auch die neuen<br />

Küchenmöbel mit allen notwendigen Anschlüssen ein. Was ist mit der AC? Sie scheint nicht<br />

richtig zu arbeiten.“<br />

Draußen waren es ungefähr vierzig Grad Celsius, im Haus nur geringfügig weniger, da<br />

es im Schatten erträglicher war.<br />

„Das mit der AC macht die Lieferfirma durch Servicevertrag, ich habe sie schon<br />

informiert. Noch in dieser Woche kommt ein Monteur, der die AC wartet und gegebenenfalls<br />

repariert.“<br />

Als Schmankerl hatte er sich noch eine Überraschung aufgehoben. „Natürlich werde<br />

ich auch die Waschbecken und die Toiletten auswechseln. Ich habe einen firmeneigenen<br />

Monteur, der wird schon morgen anmarschiert kommen.“<br />

Holt hatte den Zustand der Bäder wohl bemerkt. In den Waschbecken und Toiletten<br />

hatten sich breite braune Ablagerungen gebildet. Er hatte dies aufgrund der Unsauberkeit der<br />

ausgewiesenen Familie als entfernbaren Schmutz angesehen. Slam erklärte ihm, dass das<br />

Wasser hinter dem Haus aus einer eigenen Bohrung käme. Das Grundwasser in Florida sei<br />

überall sehr eisenhaltig und müsste durch spezielle Filter geleitet werden. Ohne Filter sei das<br />

Wasser nicht genießbar. Im Zuge der Sanierung würde er den Lieferanten der Firma<br />

beauftragen, die Pumpe zu überholen und neue Filter einzusetzen. Das wäre eigentlich<br />

Aufgabe der Mieter, aber die letzten Mieter hätten sich um das Wasser nicht gekümmert.<br />

Pauline und Holt vereinbarten mit Slam einen Termin, um den Mietvertrag zu unterzeichnen.<br />

Für die Zeit der Renovierung war zusätzlich noch Mietfreiheit vereinbart. Auf der Rückfahrt<br />

zu Bonnie besprachen sie noch einmal die neue Situation. Pauline war der Meinung, dass nur<br />

das Geldverdienen an einer weiteren wichtigen Stelle ihrer nächsten Pläne stand.<br />

*<br />

Bonnies Zeitung war eine Goldgrube. Im Jobteil fand Pauline sechsundzwanzig<br />

Arbeitsangebote. Sie listete diese nach Branche und Arbeitsort auf, danach rief sie bei<br />

ungefähr zehn Inserenten an, die sie ad hoc erreichen konnte. Nach zwei Stunden hatte sie<br />

zwei Angebote ausgefiltert. Diese zeigte sie Holt, der sich die von Pauline handschriftlich<br />

gefertigten Notizen durchlas.<br />

„Ich meine das Angebot vom Ramadan Inn Hotel hört sich gut an, wird gut bezahlt, du<br />

würdest dort Managerin sein und hättest einige Leute unter dir.“ Holt hielt die<br />

Aufzeichnungen in der Hand und schaute Pauline an.<br />

194


„Ja, das ist vertraute Arbeit für mich, aber lies hier.“ Dabei deutete sie auf die<br />

Anzeige. „Hier steht, auch Nachtschicht. Das ist Mist, so etwas möchte ich mir in meinem<br />

Alter nicht mehr zumuten.“<br />

„Na, so alt bist du ja doch noch nicht. Was ist mit der anderen Anzeige?“<br />

„Da steht nichts von Nachtschicht. Die Bezahlung ist nicht so gut wie beim Hotel,<br />

auch Management.“<br />

Holt schaute sich die zweite Anzeige an. „Ist Payless Car Rental eine große Firma? Ich<br />

habe noch nie etwas von dieser gehört.“<br />

„Es ist ein mittelgroßer Autoverleih,“ antwortete Pauline, „diese gibt es in fasst allen<br />

Bundesstaaten. Hier in Florida habe ich schon ungefähr fünf gesehen. Kannst du dich an die<br />

Reihe der Verleihfirmen am Paseo Colon in San José erinnern? Die lagen alle zwischen dem<br />

Hochhaus, in der Saving Money lag und dem Tuchladen neben der Straße, die zum Madschu<br />

Pichu ging.“<br />

Holt konnte sich wieder erinnern, sie hatten dort einmal einen Jeep gemietet, mit dem<br />

sie dann in das Bergland von Monte Verde gefahren waren. „Mittelgroß ist gut, das ist doch<br />

ein Riesenladen. Wo liegt der?“<br />

Pauline tippte auf den ausgebreiteten Straßenatlas. „Hier an der US1 in Melbourne.<br />

Die Lage ist günstig. Der Verleih liegt zwischen Rockledge im Norden und Palm Bay im<br />

Süden, genau in der Mitte von Melbourne. Besser kann eine Lage gar nicht sein.“<br />

„Na, dann ruf doch Mal an und mach einen Termin aus. Wir könnten gleich morgen<br />

früh hinfahren.“<br />

Pauline rief dort an, und der Inhaber war selbst am Apparat. Nach fünf Minuten beendete<br />

Pauline das Gespräch. Sie strahlte übers ganze Gesicht. „Es ist ein Franchiseunternehmen, hat<br />

achtzehn Autos in der Flotte, ein eigenes Büro in einem Hotelkomplex und wir könnten<br />

morgen früh dort hinfahren.<br />

Der Autoverleih lag wirklich günstig. Vor dem Geschäft befand sich ein großer Parkplatz, auf<br />

dem einige Autos standen. Das Büro befand sich in einem seitlichen Vorbau des Hotels. Als<br />

sie in das Büro traten, glaubte der Inhaber zuerst, er hätte Kunden. Er schob die Liste der<br />

Flotte über den Tresen und sagte, „Führerschein, Visa Card und Formular ausfüllen.“ Auf<br />

eine Begrüßung verzichtete er.<br />

Nachdem Pauline sich vorstellte und auf ihr Anliegen zu sprechen kam, wurde der<br />

Inhaber freundlicher, gab beiden die Hand und bat sie, an einem Couchtisch mit dort<br />

stehenden Sesseln Platz zu nehmen. Mit einer Thermoskanne Kaffee, Milch und Zucker auf<br />

einem Tablett kam er aus dem Nebenraum zurück.<br />

„Entschuldigen Sie bitte die Unaufmerksamkeit von mir. Ich muss den ganzen<br />

Scheißkram aufarbeiten, die mein betrügerisches Personal zurückgelassen hat. Die ganze Zeit<br />

geht drauf nur, um zu sehen, wo und wie ich abgezockt wurde.“<br />

Holt schaute Pauline an. Sie hatten sofort verstanden, in welcher Situation sich der<br />

Inhaber befand. Gary, so stellte er sich vor und so stellte es sich später auch heraus, war ein<br />

betrogener Betrüger. Jetzt jedoch stellte er sich als Opfer gewissenloser Arbeitnehmer vor.<br />

Pauline erklärte, was sie bisher in ihrem Leben gemacht hatte und warum sie gerade hier nun<br />

Arbeit suchte.<br />

Gary hatte interessiert zugehört. Als Pauline auf Costa Rica zu sprechen kam, wurde<br />

er unruhig, und unterbrach sie. „Payless Car Rental in San José gehört mir.“<br />

„Was,“ fragte sie erstaunt, „der Laden am Paseo Colon ist Ihrer?“<br />

„Ja, dieser hier, der am Paseo Colon und noch einer am Pazifik, in Jako,“ antwortete er<br />

stolz. „Immer wenn ich in Costa Rica war, wurde ich vom Personal betrogen. Am Schluss<br />

habe ich nur noch Miese eingefahren und die Autos vergammelten auf dem Parkplatz.“<br />

Pauline kam nun zur entscheidenden Frage. „Was kommt noch zu den tausend Dollar<br />

195


hinzu? Sie sagten, dass ich am Umsatz sowie am Verkauf von Versicherungspolicen beteiligt<br />

werden kann. Also achtzehn Autos sind nicht viele, die bekomme ich schon jeden Tag vom<br />

Hof.“<br />

Man sah es Gary an, dass er angestrengt überlegte. Trotzt der AC, bildeten sich auf<br />

seiner Stirn kleine Schweißperlen.<br />

„Für die Vermietung jedoch nichts. Dafür gibt es ja das Gehalt, Sozialversicherung<br />

und die Beiträge für die Krankenkasse. Also machen wir es so, für die Versicherungspolicen<br />

kann ich Ihnen zehn Prozent des Versicherungsbetrages als Bonus anbieten, das sind im<br />

Schnitt noch einmal zwischen fünfzig bis achtzig Dollar.“<br />

„In der Woche meinen Sie?“<br />

„Nein, nein, das ist im Monat,“ antwortete er schnell.<br />

„Gary, mein Mann und ich setzten uns mal drüben an die Bar“, dabei nickte Pauline<br />

mit dem Kopf zur Restaurantbar, die durch die Glasfenster des Büros zu sehen war, „und<br />

besprechen Ihr Angebot. In einer halben Stunde teilen wir Ihnen unsere Entscheidung mit.“<br />

Beim Heraustreten auf den Abstellplatz schaute sich Holt die dort stehenden fünfzehn<br />

Autos der Flotte genauer an. Bis auf drei Ausnahmen waren alles amerikanische<br />

Mittelklassewagen. Chevrolet, GM, Ford und Chrysler. Als etwas größere Autos hatte Gary<br />

einen Royal Crown, einen Ford Mustang und einen Cadillac. In der Bar sagte er zu Pauline, es<br />

müsste geklärt werden, wer die Autos aus technischer Hinsicht in Stand hält. Eine Werkstatt<br />

wahrscheinlich. Aber hier könnte ja er ins Spiel kommen. Man müsste Gary schmackhaft<br />

machen, dass ein Techniker die kleineren Reparaturen und Pflegearbeiten viel billiger<br />

erledigen könnte. Er wäre so ein Techniker.<br />

Pauline grinste. „Ich soll dich mit anbieten? Da kommt doch nur Schwarzarbeit in<br />

Frage und ich weiß nicht, ob Gary da mitspielt. Die Behörden sind hier ganz streng, er könnte,<br />

wenn so ein Arbeitsverhältnis auffliegt, schnell mächtigen Ärger bekommen.“<br />

„So schlimm kann es aber nicht sein,“ warf Holt ein, „bei über acht Millionen illegalen<br />

Einwanderern.“<br />

Gary hörte sich das Angebot an. Zuerst lehnte er es strikt ab, jemanden ohne Papiere<br />

einzustellen. Als Pauline ihm erklärte, dass Holt mit auf ihrer Steuerkarte arbeiten könnte,<br />

dachte er nach.<br />

„Okay, Sie bekommen hundertfünfzig Dollar die Woche mehr, wenn Sie sich um die<br />

kleineren Reparaturen, das Einparken der Autos, die Fahrten zur Werkstatt und die Reinigung<br />

selbst kümmern. Ich will nicht wissen, wie Sie es machen oder durch wen. Wenn eine<br />

Kontrolle kommen sollte, dann spielt Ihr Freund einen Kunden oder den hilfswilligen<br />

Ehemann. Alles andere ist mir dann egal, wenn die Autos sauber sind und fahren.“<br />

Holt war im Land der unbegrenzten Möglichkeiten angekommen und Gary hatte<br />

neben einer engagierten Managerin einen billigen Lohnsklaven bekommen.<br />

Es sah so aus, als ob alles ins Lot käme. Holt und Pauline hatten Arbeit, ein neues Haus und<br />

ein Auto. Was sollte nun noch passieren? Bonnie hatte Wort gehalten und Geld verauslagt.<br />

Damit wurden die ersten Möbel gekauft, nicht in Geschäften sondern bei „Garage Sale“, eine<br />

spezielle Form des privaten Verkaufes von Hausrat und sonstigem Krimskrams. Es hatte sich<br />

gelohnt, die ersten und wichtigsten Möbel standen in Bonnies Garage, bereit abgeholt zu<br />

werden. Nur ein „richtiges“ Bett konnte Holt nicht finden. Die amerikanischen Betten waren<br />

ziemlich gewöhnungsbedürftig. Beim Bestellen der neuen Küchenschränke und des übrigen<br />

Renovierungsmaterials hatte Holt die große Abteilung der Baumaterialien und das Holzlager<br />

bei Home Depot gesehen. Dagegen waren die Baumärkte in Deutschland kleine Kioske.<br />

Langsam keimte bei ihm der Entschluss, einige Möbel, darunter auch das Bett, selbst<br />

anzufertigen. Die Preise für Handkreissägen, Bohrmaschinen, Stichsägen, Stechbeitel und<br />

Bohrersätze waren supergünstig. Den ganzen Satz bekam er für hundert Dollar, dazu gratis<br />

196


ein Maßband. Beim ersten Messversuch musste Holt fluchen. Nur Inches und Fuß, keine Spur<br />

von einem metrischen System. Überall in der Welt wurde metrisch gemessen, nur bei den<br />

Amis nicht. So ein stures Volk! An die Meilen und an Fahrenheit hatte er sich schon gewöhnt,<br />

die Umstellung auf Inches machte ihn ärgerlich. Er beschloss ganz privat für sich, doch<br />

metrisch zu messen. Aber wie?<br />

Er fragte einen Verkäufer in der Abteilung „Messeinrichtungen“ oder so ähnlich. Der<br />

hatte schon einmal etwas von einem metrischen System gehört, in der Schulzeit aber. Dann<br />

fiel ihm ein, dass ein Kunde ihm einmal ein Maßband und einen „Zollstock“ zurückgebracht<br />

hatte, der nach dessen Meinung die falschen Maße angezeigt hätte. Diese Ware war in einer<br />

großen Kiste verschwunden und sollte zur nächsten Inventur ausgesondert werden. Der<br />

freundliche Mann zog tatsächlich eine große Kiste unter einem Regal hervor und kramte darin<br />

herum. Dann zog er ein Maßband und einen Zollstock hervor und zeigte diese Holt. Auf den<br />

ersten Blick sah Holt auch nur Inches, doch nachdem er sich die andere Seite der Messgeräte<br />

anschaute, erfreute es sein Handwerkerherz. Vertraute Millimeter, Zentimeter und Meter. Der<br />

vorherige Käufer hatte sich nicht die Mühe gemacht, einmal die Rückseite anzuschauen. Was<br />

danach kam, war eine Prozedur, die länger dauerte als der gesamte vorherige Einkauf. An<br />

beiden Teilen fehlten die Originalverpackungen und die Preisschilder. Im Computer war die<br />

Ware nicht mehr vorhanden, da es sich ursprünglich mal um einen Restposten handelte. Die<br />

noch vorhandenen neuen Teile waren originalverpackt und zeigten nach außen Inches. Der<br />

Verkäufer meinte, auf der Rückseite würden sicherlich metrische Maße stehen, denn die<br />

Amerikaner wären ein praktisches Volk. Skeptisch ging Holt durch die Kasse und bezahlte<br />

das Maßband mit der angeblichen metrischen Skala auf der Rückseite. Noch auf dem Weg<br />

zum Auto zerriss Holt die Verpackung und schaute auf die Rückseite des Maßbandes. Dort<br />

war nichts, nun hatte er zwei nutzlose Maßbänder mit Inches. Wütend ging er zur<br />

Reklamationsstelle und hielt dem Angestellten die Inches unter die Nase. Die Amerikaner<br />

erweisen sich dennoch als praktisches Volk. Der herbeigeeilte Verkäufer bekam einen roten<br />

Kopf, nahm das verhasste Maßband aus Holts Hand und verschwand zwischen den Regalen.<br />

Kurze Zeit später kam er mit den zwei „unverkäuflichen“ Teilen in der Hand zurück, die er<br />

Holt kommentarlos in die Hand drückte. Holt verschwand glücklich, ehe es sich der<br />

Verkäufer oder der Mann an der Reklamation noch einmal anders überlegen konnten. Was<br />

liegt nun in der Kiste?, dachte Holt, als er vom Hof fuhr. Es sollte ihm egal sein, ab jetzt<br />

konnte er wieder alles metrisch vermessen, sein Bett, Palm Bay, Florida, die ganze Welt.<br />

Die Arbeit im Autoverleih machte richtigen Spaß. Pauline hatte sich die Preissätze angeschaut<br />

und nur mit dem Kopf geschüttelt. Keine Staffelungen, keine Rabatte, nichts, womit man<br />

einen Kunden ködern konnte. Miete für drei Tage und du kannst den vierten Tag umsonnst<br />

fahren! So in dieser Richtung. Miete in der Woche mindestens drei Tage und du bekommst<br />

am Wochenende einen Tag gratis dazu! Nachdem sie Gary ihre neuen Ideen verklickert hatte,<br />

stimmte dieser zögernd zu. Am ersten Wochenende standen nur noch die drei teuren Autos<br />

auf dem Hof. Nachdem Pauline auch dafür die Sätze veränderte, indem sie für ein zweites<br />

Wochenende einen „kostenfreien“ Tag einbaute, waren alle Autos vom Hof.<br />

Holt stellte die Autos, welche schwieriger zu vermieten waren, für die Kunden besser<br />

sichtbar, gleich neben den Eingang zum Büro. Sie waren poliert, gesäubert und mit<br />

Duftplättchen versehen. Und es klappte. Nachdem die Sonderfälle weg waren, wurde auch der<br />

Rest vermietet. Die zurückgegebenen Wagen wurden von den Kunden an der Rückgabebucht<br />

abgestellt. Nachdem Holt sich immer davon überzeugte, dass noch alle wesentlichen<br />

Bestandteile des Autos, wie zum Beispiel der Motor, vorhanden und keine Schäden sichtbar<br />

waren, wurde die Rückgabeabwicklung frei gegeben. Bei einigen Kunden sah das Auto innen<br />

aus, als ob darin ein Krieg geführt worden war. Voll von Unrat und „vergessenen“ Utensilien.<br />

Nachdem er behandschuht den Wagen freigeschaufelt hatte, suchte er unter den Sitzen, im<br />

Handschuhfach und im Kofferraum nach vergessenen Gegenständen. Er fand eine Menge von<br />

197


Gegenständen, angefangen von Gebissen, Handys, Fotoapparaten, Brieftaschen mit Geld,<br />

Visa Cards und Ausweispapieren über Lebensmittel bis hin zu losen Geldstücken. Auch<br />

unappetitliche Sachen, wie gebrauchte Kinderwindel, Pariser und verdorbene, angebissene<br />

Burger. Wertgegenstände wurden im hinteren Büro eingelagert. Bei Papieren wurden die<br />

Eigentümer benachrichtigt, falls Adressen oder Telefonnummern vorhanden waren, sofern<br />

diese nicht schon von alleine zurückkamen. Das eingesammelte lose Kleingeld, es machte in<br />

manchen Tagen bis zu fünf Dollar aus, gab Holt nicht heraus. Dieses Geld berechnete er als<br />

„Sauereigebühr“ und zog es ersatzlos ein.<br />

Nach drei Wochen hatten sie den Laden im Griff. Gary ließ sich immer weniger sehen.<br />

Anfangs kam er noch, um das Bargeld und die Schecks abzuholen, später kontrollierte er nur<br />

noch die Umsätze am Computer. Auf dem Rückweg wurde der Tagesumsatz entweder durch<br />

Holt oder Pauline bei der Bank am Autoschalter abgegeben.<br />

Sie wohnten immer noch bei Bonnie. Am Tage waren sie in der Arbeit, abends und am<br />

Wochenende im Haus. Slams Haushandwerker hatte in der Zwischenzeit die Wand in der<br />

Küche ausgebessert, die alten Toiletten und Waschbecken heraus gerissen, während Holt und<br />

Pauline alle Zimmer neu strichen. Frank, der Handyman, war eine gestrandete Figur. Er kam<br />

aus New York und war wegen Unterhaltsrückständen in Florida untergetaucht. Das FBI war<br />

ihm schon mehrmals dicht auf den Fersen, wie er bereitwillig erzählte. Unterhaltsverzug war<br />

in den USA eine Bundesstraftat, für die das FBI zuständig war. Nicht das die Bundespolizei<br />

sich die Beine wund lief, sie werteten nur die legalen Arbeitsplatzinformationen über die<br />

Sozialversicherungsnummer aus, dann hatten sie den Arbeitgeber und kurze Zeit später auch<br />

den Sünder. Das wusste Frank und auch Slam. Für einen Hungerlohn konnte er bei Slam<br />

arbeiten. Er war auch kein begnadeter Handwerker. Frank schien für Holt recht ungeschickt<br />

zu sein. Noch bevor er die Unterstellschränke in der Küche einbaute und die<br />

Wasseranschlüsse installierte, konnte er sich die „reparierte“ Wand anschauen. Für diese<br />

Arbeit hätte ein deutscher Handwerksmeister seinem Gesellen den Hammer an den Kopf<br />

geworfen, glaubte jedenfalls Holt. Das von den Termiten herausgefressene Stück war zwar<br />

ersetzt worden, sah jedoch aus wie eine Patchworkdecke. Wie es innerhalb der Mauer aussah,<br />

konnte niemand mehr sehen und das schien auch gut so zu sein. Holt stellte den Unterschrank<br />

vor den Schandfleck und sagte auch nichts zu Frank. Als er gerade einmal oben auf der Leiter<br />

stand und die obere Deckenhälfte im Wohnraum mit einem Farbroller abrollte, hörte er ein<br />

polterndes Geräusch.<br />

„Shit, Shit, Shit!”, brüllte Frank laut.<br />

Holt hackte die Farbrolle ein und stieg von der Leiter, um nachzuschauen, was los sei.<br />

Auf dem Gang stieß er fasst mit Pauline zusammen, die in einem anderen Zimmer<br />

herumwerkelte. Im Master Bath Room fanden sie Frank, der sich die Haare raufend, in das<br />

Toilettenabflussrohr starrte. Die Situation sah grotesk aus. Frank war beim Abmontieren des<br />

Toilettenbeckens eine Rohrzange in das Abflussrohr gefallen. Ungefähr ein Meter tiefer lag<br />

sie, umgeben von angesetzten Restfäkalien, am Knie des Rohres. Holt sah zu, wie Frank sich<br />

auf den Boden packte und dieser versuchte, mit seinen zu kurzen Armen mit der Hand an die<br />

Zange zu kommen. Sein Gesicht lag mit der Wange bereits auf den scheußlichen<br />

Ablagerungen. Er war nicht zu beneiden. Holt legte seinen Arm um Paulines Schulter und zog<br />

sie aus dem Raum, um nicht vor Frank brüllend lachen zu müssen. Mit der anderen Hand<br />

hatte er sich den Mund zugehalten. Kurze Zeit später erschien Frank um Holt mitzuteilen,<br />

dass er für heute die Arbeit beenden wolle, er habe ja nun keine Zange mehr. Morgen würde<br />

er mit einem Magneten oder so das verloren gegangene Werkzeug herausholen. Dann<br />

verschwand er, eine Wolke Gestanks hinter sich lassend.<br />

Am nächsten Morgen, es war Wochenende, erschien Frank erst gar nicht. Holt schaute<br />

sich noch einmal das Bad an. Mit einem Spachtel entfernte er die angeklebten Ablagerungen,<br />

reinigte mit einer Stahlbürste die Anflanschplatte und den erreichbaren Teil des Fallrohrs.<br />

198


Danach spülte er alles mit Wasser ab. Schlagartig hörte auch der penetrante Gestank auf.<br />

Nachdem das Wasser abgeflossen war, konnte er am Knie die Zange sehen. Sie lag günstig.<br />

Mit einem Stück Zaundraht, an deren Ende er eine Hakenschlaufe eindrehte, war die Zange<br />

bereits beim ersten Versuch, gerettet. Eine Stunde später war auch das Toilettenbecken mit<br />

Spülkasten angeschlossen, und die Toilette wieder nutzbar. Leider konnte er am Montag<br />

Franks Gesicht nicht sehen, da er mit Pauline wieder im Autoverleih war. Nachmittags war<br />

Frank schon wieder weg.<br />

Nach drei Wochen war Umzugstag. Pauline hatte fürs Wochenende bei U-Hall einen<br />

kleineren Kastenwagen geordert. Die bei Bonnie gelagerten Möbel und persönlichen Sachen<br />

waren bis zur Mittagszeit, nach zwei Fahrten, im neuen Haus. Das selbst gebaute Bett war erst<br />

am Vorabend fertig geworden. Während Holt das Bett fertig stellte, hatte Pauline bereits an<br />

allen Fenstern Gardinen angebracht. In der letzten Woche waren auch die AC und die<br />

Wasserpumpe ausgewechselt worden. In den zwei vergangenen Wochen konnte die AC nicht<br />

genutzt werden. Während dieser Zeit hatten alle Türen und Fenster offen gestanden. Holt und<br />

Pauline standen während des Fliesens oft kurz vor einem Hitzschlag. Die Hitze hatte aber<br />

auch einen Vorteil. Die Farbe trocknete bereits am Pinsel oder auf der Rolle und der<br />

Fliesenkleber war bereits nach wenigen Minuten fest. Jeden Abend, nach vollendeter<br />

Tagesarbeit waren die Wände bereits trocken und die Fliesen trittfest.<br />

Nur aus Costa Rica kamen schlechte Nachrichten. Der bereits zugesagte Ankauf aller<br />

Kasinolizenzen nebst verbliebener Software und zwei kleineren Computern, durch einen<br />

amerikanischen Interessenten, verzögerte sich. Der beauftragte Freund John, ein ehemaliger<br />

Rechtsanwalt aus L.A., hatte vor der Abfahrt den Mund zu voll genommen und er nutzte auch<br />

einen Computer selbst. Das war nicht das Schlimmste. Die Besitzerin des Hundezwingers<br />

verlangte pünktliche Zahlung der fünfhundert Dollar. Sie ließ sich auf die Stundung eines<br />

Teilbetrages nicht ein. Zusätzlich gab sie vor, dass die Kosten für den Tierarzt gestiegen seien<br />

und sie wolle dafür noch einmal zweihundert Dollar pro Hund haben. Das war eine glatte<br />

Abzocke. Sie nutzte die Abwesenheit von Holt und Pauline schamlos aus. In der letzten E-<br />

Mail hatte sie den Verkauf der Hunde angedroht. Pauline bat John, bei Caroline vorbei zu<br />

fahren, um diese ein wenig zu beruhigen. Am nächsten Tag rief John an. Die Tica hatte die<br />

Hunde bereits vor drei Wochen verkauft. Pauline war geschockt, sie wagte nicht, Holt diese<br />

Hiobsbotschaft zu überbringen. Holt, der wusste, dass Pauline gerade mit John gesprochen<br />

hatte, erkannte am Gesichtsausdruck und Verhalten Paulines, dass etwas Schlimmes passiert<br />

sein musste.<br />

„Was ist los Pauli?“, fragte Holt behutsam.<br />

„Die Caroline hat unsere Hunde verkauft,“ antwortete sie mit Tränen in den Augen.<br />

Holt schloss die Augen und senkte den Kopf. Dann legte er seine Arme um sie,<br />

schaute in ihr Gesicht und sprach, „Pauli, vielleicht sollte es so sein. Sie sind sicherlich bei<br />

guten Menschen. Hier ist es viel wärmer als in Bello Horizonte, sie hätten das Klima<br />

bestimmt nicht so gut vertragen.“<br />

An das zu heiße Klima für die Hunde hatte sie bereits auch schon gedacht. Für<br />

Menschen, die westlich der I 95 wohnten, war es trotzt AC in den Autos, den Häusern oder im<br />

Freien schon fasst unerträglich. Wie hätten Alfi und Betti diese drückende Hitze ertragen<br />

sollen? Der Gedanke, dass die Hunde in einer verträglicheren Klimazone leben konnten,<br />

verringerte den Schmerz, aber beseitigte ihn nicht. Holt schaute auf den in der Hitze<br />

flimmernden Garten und die kleine Wellblechhütte, die nun nicht zur Hundehütte umgebaut<br />

werden brauchte, wie auch der ganze Garten auf einen Schlag nutzlos war, wie dieses Haus in<br />

Palm Bay.<br />

*<br />

199


Aus Deutschland kam auch eine schlechte Nachricht. Karin teilte mit, dass das amerikanische<br />

Konsulat eine Lohn- oder Einkommensbescheinigung benötige, um ein Visum zu erteilen.<br />

Holt, der bereits seit drei Jahren nicht mehr in Deutschland lebte, konnte keine aktuelle<br />

Bescheinigung vorlegen. Damit war der Traum, ein Visum für sechs weitere Monate zu<br />

bekommen, geplatzt. In knapp drei Wochen lief die Zeit für den visumfreien Aufenthalt in<br />

den USA ab. Was war nun zu tun? Karin versprach, den Pass auch ohne Visum sofort<br />

zurückzuschicken.<br />

Am Wochenende kam Bonnie zu Besuch. Als sie von Pauline den Stand der Dinge erfuhr,<br />

war auch sie erschrocken. Sie war der Meinung, dass Holt Asyl beantragen könnte, da sie ja<br />

unter Lebensgefahr aus Costa Rica geflohen waren.<br />

Holt kannte die allgemeinen Bestimmungen zur Gewährung von politischem Asyl in<br />

demokratischen und westlich orientierten Staaten. Als Deutscher in den USA Asyl zu<br />

bekommen, war etwa so leicht, wie eine Geschlechtsumwandlung oder Übertritt zum<br />

Christentum in Saudi Arabien. Für die Amerikaner galt Deutschland als sicheres und<br />

demokratisches Land, aus dem keiner aus politischen oder rassistischen Gründen fliehen<br />

musste. Zu begründen, dass Sozialdemokraten und ehemaligen Kommunisten die<br />

Bundesregierung stellten und dadurch eine politische Entfaltung in Richtung konservativer<br />

Werte nicht möglich sei und für Parteigänger anderer Richtungen höhere Ämter verwehrt<br />

waren, reichte nicht aus. Holt konnte sich jedoch erinnern, dass einem Mitglied der<br />

Scientology Kirche aus dem katholischen Bayern, in den USA Asyl, wegen Verfolgung durch<br />

deutsche Behörden, gewährt worden war. Aber er konnte weder eine Mitgliedschaft noch eine<br />

Verfolgung in Deutschland nachweisen. Anders sah es jedoch bei seinem gewagten Konstrukt<br />

aus. Er könnte die Verfolgung durch die korrupten Behörden in Costa Rica, die Versagung<br />

der Hilfe durch die deutsche Botschaft und die derzeitige linke, für Belange von<br />

Auslandsdeutschen desinteressierte, Bundesregierung in Berlin als Begründung anführen,<br />

jedoch mit verschwindend geringen Erfolgsaussichten. Das Einzigste, was ihm die<br />

Antragstellung auf Asyl einbringen konnte, würde Zeit sein, die er dringend zur Lösung seiner<br />

Probleme benötigte. Die Asylverfahren in den USA konnten bis zu zwei Jahren und mehr<br />

dauern. Diese Zeit müsste ausreichen.<br />

Bonnie und Pauline hörten sich seine Argumente an. Sie waren beide der Meinung,<br />

dass die fortschrittlichen USA ihm mit Sicherheit Asyl gewähren würde. Holt hatte da seine<br />

Zweifel, jedoch auch ein ganz wenig Hoffnung, als er an den Bayern dachte. Bonnie lud aus<br />

dem Internet von der Website der INS, Form I-589 und den Antrag auf Asyl, in englischer<br />

Sprache, herunter und druckte diesen aus.<br />

Das achtseitige Formular erinnerte Holt stark an die Fragebogen in der<br />

untergegangenen DDR. Die INS wollte alles, wirklich alles und scheinbar auch Unwichtiges<br />

wissen. Die speziellen Fragen über die Gründe und Umstände, die zur Antragstellung geführt<br />

hatten, gaben auf dem Stück Papier nur wenig Raum zum Ausfüllen. In den nur drei bis vier<br />

Zentimeter breiten leeren Spalten konnte Holt seine Gründe nicht ausreichend darlegen. Er<br />

entschloss sich, eine ausführliche Begründung zu formulieren. Dieses Schreiben legte er in<br />

dem englischsprachigen Anschreiben bei. Als Adressat wählte er für das INS zuständige US<br />

Departement of Justice, zu Händen des Generalstaatsanwaltes John Ashcroft.<br />

Mittlerweile war nun schon der 21. Juli. Am 22. April war er eingereist. Seine visumfreie Zeit<br />

in den USA ging heute zu Ende, glaubte er. Da die neunzig Tage nicht mit drei Monaten<br />

identisch waren, hatte er jedoch Zweifel. Er rechnete nach: Heute war sein letzter legaler Tag.<br />

Aber bedeutete es, dass der Antrag nicht schon heute eingegangen sein musste? Die Post von<br />

Florida nach Washington DC ging so um die zwei Tage, also ging sein Antrag zwei Tage zu<br />

spät ein. Er hatte unter Umständen gegen das Recht verstoßen, aber da achtundneunzig<br />

200


Prozent aller Amerikaner Einwanderer und Nachkommen von Einwanderer waren, glaubte er,<br />

dass diese zwei Tage ihm nicht schaden könnten. Wie sollte er sich täuschen!<br />

*<br />

Auch wenn die Situation nicht besonders gut aussah, so war sie jedoch nicht hoffnungslos.<br />

Die Arbeit bei Payless Car Rental machte immer noch Spaß, brachte Geld ein und war auch<br />

hinsichtlich der Kunden interessant. Holt hatte im Computersystem die Visaabrechnungen der<br />

letzten Zeit, die noch durch die betrügerischen Vorgänger gemacht wurden, überprüft.<br />

Zwischen den Abbuchungen bei den Kunden und den Gutschriften auf das Betriebskonto gab<br />

es Unstimmigkeiten. Innerhalb der Kontenbewegungen gab es Umbuchungen, dessen Sinn<br />

Holt nicht verstand. Es war ein Hin und Her, am Schluss gingen Zahlungen auf Konten,<br />

dessen Inhaber nicht erkennbar waren. Holt sprach Pauline darauf hin an. Diese schaute sich<br />

die Zahlungsbewegungen auf dem Computerausdruck an. Sie versprach, mit Gary darüber zu<br />

reden, damit wenigstens Klarheit bezüglich der Zahlungsausgänge geschaffen werden konnte.<br />

Gary war erstaunt, er schaute sich die lange Ausgangsliste und die Kontonummern genauer<br />

an.<br />

Dann deutete er auf ein Konto. „Das ist mein Konto, darauf habe ich wöchentlich die<br />

Überschüsse eingezahlt. Es ist auch ein Firmenkonto. Aber die anderen Konten kenne ich<br />

nicht.“<br />

So waren im Dezember letzten Jahres an drei Konten mit unbekannten Inhabern<br />

ungefähr dreitausend Dollar geflossen. Im Januar waren es eintausendsiebenhundert und im<br />

Februar zweitausendachtzig Dollar.<br />

„Ich muss die ganze Buchhaltung durch einen externen Buchprüfer nachvollziehen<br />

lassen,“ meinte er. „Das auch noch, ich komme aus dem Schlamassel nicht mehr raus. Ein<br />

Buchprüfer kostet eine Menge Geld, was ich zurzeit nicht habe, auch wenn das Geschäft jetzt<br />

wesentlich besser läuft.“<br />

Pauline hatte eine Idee. „Gary, wir haben eine gute Freundin, die hat für ihren Mann<br />

viele Jahre die Buchhaltung gemacht. Dieser war Car Dealer in New York. Ich glaube, dies<br />

könnte sie auch für weniger Geld machen. Bonnie heißt sie, ist bereits in Rente und hat Zeit.<br />

Wenn du möchtest, kann ich ja mal mit ihr darüber reden.“<br />

Pauline durfte mit Bonnie reden. Sie war bereits nach einer Stunde im Büro und<br />

unterhielt sich angeregt mit Gary. Als sie ging, hatte Gary eine versierte Buchhalterin<br />

geheuert. Bonnie sagte zu, am kommenden Wochenanfang ihre Tätigkeit aufzunehmen.<br />

Es gab auch witzige Erlebnisse. Eines Tages hörte Holt Pauline mit Kunden sprechen. Durch<br />

die halb offene Tür vom Nebenraum des Verkaufsbüros schaute er herüber, konnte jedoch<br />

niemanden sehen. Er war sich ganz sicher, dass es keine Stimme aus dem Telefon war,<br />

welche geantwortet hatte. Neugierig schaute er um die Ecke. Er sah Pauline hinter dem<br />

Tresen und auf der anderen Seite sah er nur zwei Hände, die sich am Rand der leicht<br />

überstehenden Tresenplatte festhielten. Sonst war nicht mehr zu sehen. Im ersten Moment<br />

glaubte er, dass der Kunde zusammengebrochen sei. Als er in das Büro trat, konnte er zwei<br />

erwachsene Kleinwüchsige sehen. Der Eine hatte sich auf den Sessel gesetzt, seine kurzen<br />

Beine baumelten herunter. Bis zum Fußboden waren noch mindestens zwanzig Zentimeter.<br />

Der Andere stand auf den Zehenspitzen, hielt sich am Tresen fest und verhandelte mit<br />

Pauline. Holt erkannte sie sofort. Es waren zwei bekannte Hollywoodschauspieler. Er hatte<br />

schon mehrere Filme gesehen, in denen sie immer als gemeinsamer Part, oftmals fiese Rollen<br />

böser Kobolde spielten. Sie wollten das größte Auto, was noch auf dem Hof stand, um zum<br />

Autorennen nach Daytona Beach zu fahren. Pauline erleichterte den Beiden das Anmieten,<br />

indem sie um den Tresen herumging und die Papiere am Couchtisch ablegte. Der noch<br />

stehende kleine Mann war dankbar und setzte sich an den kleinen Tisch. Holt ging wieder<br />

201


zurück an den Computer. Als er nach fünfzehn Minuten aus den großen Glasfenstern schaute,<br />

sah er gerade den Crown Royal vom Hof fahren. Am Steuer saß der etwas größere Mann.<br />

Holt konnte nur den Kopf sehen, der mit einer knallroten Baseballkappe bedeckt war. Aber<br />

wo zum Teufel steckt der Andere?, überlegte Holt. Er konnte es sich gut vorstellen, dass dieser<br />

unten am Fußboden vor dem Fahrer saß und auf Kommando, dessen das Gas- oder<br />

Bremspedal mit den Händen regulierte. Aber er war sich nicht sicher.<br />

Gregory war ein Schwarzer, der für fast jedes Wochenende den Ford Mustang<br />

anmietete. Angefahren kam er immer mit einer Schrottlaube, die dann das Wochenende auf<br />

dem Kundenparkplatz stand. Der Mann hatte Ähnlichkeit mit Denzel Washington, er war<br />

freundlich, sauber und hatte gute Manieren. Holt, der immer den Mustang vorfuhr und<br />

Gregory auf die obligatorischen Punkte hinwies, kam mit diesem ins Gespräch. Gregory war<br />

Steinsetzer und arbeitete für die Stadt Melbourne im öffentlichen Dienst. Er verdiente gutes<br />

Geld und hätte sich schon lange selbst einen Mustang leisten können, wollte es jedoch nicht,<br />

da er noch bei seiner Mutter wohnte und diese die Hosen anhatte. Mama hatte ihm den Kauf<br />

eines so teuren Autos verboten. Da sie ihn an den Wochenenden fast nie zu Gesicht bekam,<br />

hatte er sich für die Mietvariante entschieden. Als Holt ihn fragte, warum er sich denn nicht<br />

einen billigeren Wagen kaufen oder mieten könnte, antwortete dieser grinsend, weil Lissi<br />

dann nicht zu ihm in das Auto einsteigen würde, denn für sie käme nur ein Mustang in Frage.<br />

Holt musste einmal mit dem Mustang für Gregory zu einer bestimmten Adresse<br />

fahren, an dem sich besagte Lissi aufhielt. Als er sie sah, war er beeindruckt und verstand,<br />

warum Gregory alles für seine Flamme tat. Selten hatte er so eine ebenmäßige Schönheit<br />

gesehen, so schön sie auch war, so oberflächlich schien sie auch zu sein. Aber das sollte<br />

Gregorys Problem bleiben. Jedenfalls, als sie Holt zum Büro zurückfuhren, saß Lissi am<br />

Steuer, obwohl Gregory Pauline hoch und heilig versichert hatte, dass nur er den Wagen<br />

fahren würde. Ob Lissi überhaupt eine Fahrerlaubnis hatte, wollte Holt nicht wissen, ging<br />

aber davon aus, dass Gregory nicht so dumm sei, sich durch Lissi in Ärger hineinreiten zu<br />

lassen.<br />

Bonnie machte mit ihrer Überprüfung Fortschritte. Nach drei Wochen intensiver Arbeit hatte<br />

sich schon ein größerer Betrag angesammelt, der „abgezweigt“ worden war. In einer Zeit von<br />

ungefähr zwei Jahren, hatten die diebischen Elstern bei Gary, sage und schreibe<br />

zweiundzwanzigtausend Dollar unterschlagen. Dabei hatte Bonnie erst die Hälfte der<br />

kritischen Zeit durchforstet. Die Vorvorgänger waren noch bescheiden geblieben, jedoch die<br />

unmittelbaren Vorgänger hatten kräftig zugelangt. So zeichnete sich jedoch das zu erwartende<br />

Ergebnis der Überprüfung ab.<br />

Zum sich abzeichnenden Betrug kamen noch andere Betrügereien durch Kunden. Holt<br />

hatte bei einem Chevrolet vor einer Woche alle Reifen wechseln lassen, da diese kein Profil<br />

mehr hatten. Die abgefahrenen Reifen hatte er noch im Lager stehen, um sie Gary zeigen zu<br />

können, falls dieser mit seiner Entscheidung nicht einverstanden wäre. Eines Morgens stand<br />

der Chevy vor dem Büro und die Papiere lagen im Briefkasten. Das kam öfters vor, dass<br />

Kunden in der Nacht den Wagen zurückbrachten, die Papiere in den Briefkasten warfen, um<br />

dann am nächsten Tag nachmittags abzurechnen. Holt fuhr den Wagen zum Standplatz und<br />

säuberte ihn. Als er sich bückte, um die Kotflügel zu überprüfen, sah er auf einen<br />

abgefahrenen Reifen. Zuerst glaubte er, die Kunden hätten eine Panne gehabt und den im<br />

Kofferraum befindlichen Ersatzreifen mit dem Pannenreifen umgetauscht. Dann sah er aber<br />

die ganze Bescherung. Alle Reifen waren ausgetauscht worden. Im Kofferraum fehlte der<br />

Ersatzreifen und der Wagenheber. Vom Radio und CD-Spieler war nur noch eine Abdeckung<br />

vorhanden. Selbst die Sicherheitsgurte waren ausgetauscht worden. Holt dachte sich, dass ein<br />

Diebstahl, oder die Vorgabe, der Wagen sei den Mietern gestohlen worden, billiger und<br />

einfacher gewesen wäre.<br />

Gary war mächtig wütend, als er über den Vorfall informiert wurde. Da der Name und<br />

202


die Anschrift des Kunden bekannt waren, rief er das nächste Sheriffbüro an und erstattete erst<br />

einmal telefonisch Anzeige. Der Sheriff reagierte schnell. Bereits am Nachmittag fuhr ein<br />

Polizei-Pick-up vor. Auf der Ladefläche lagen vier komplette Reifen, ein Wagenheber und<br />

Krimskrams. Die Täter waren bekannte „Kunden“ des Sheriffs. Er hatte sie sofort besucht.<br />

Die Truppe, bestehend aus vier Kubanern, lag abgefüllt und unter Drogen in einer alten<br />

ehemaligen Garage voll Diebesgut von den ausgeschlachteten Leihautos.<br />

*<br />

Pauline beabsichtigte ihre ehemalige Arbeitskollegin Alzina, in St. Augustine zu besuchen.<br />

Direkt von der Arbeit aus ging die Fahrt am Freitag, vormittags, los. Als der letzte Wagen<br />

zum Wochenende vermietet war, packten beide die Akten zusammen und verließen das Büro.<br />

Es gab bis zum Montagmorgen nichts mehr zu tun, Bonnie wollte noch bis kurz nach dem<br />

Mittagsessen weitermachen.<br />

St. Augustine lag hundertfünfzig Meilen nördlich von Melbourne und war über die I 95 leicht<br />

zu erreichen. Die Stadt gilt als die älteste dauerhafte Besiedlung auf dem heutigen Gebiet der<br />

USA, sie war bereits 1565 von den Spaniern gegründet worden. Holt konnte später in einem<br />

kleinen Museum in der Fußgängerzone lesen, dass hier 1566 das erste Kind europäischer<br />

Abstammung auf dem Festland der heutigen USA geboren wurde. Das Kind soll Martin<br />

geheißen haben.<br />

Alzina lebte seit einem Jahr mit ihrem Mann Ramiro etwas außerhalb der Stadt, in einem<br />

sogenannten „Suburban“. Vorher hatten sie ein paar Jahre in West Palm gelebt. In den Jahren<br />

um 1990 herum war Alzina Paulines Arbeitskollegin, sie hatten zusammen in Palm Beach, im<br />

„Tower“ gearbeitet. Alzina und Ramiro kamen ursprünglich aus Portugal. Bereits vor dem<br />

Bürgerkrieg hatten sie sich in Angola kennen gelernt. Ramiro war Kolonialsoldat und Alzina<br />

hatte als Näherin in Luanda gearbeitet. Nachdem sie nach dem Krieg Angola verlassen<br />

mussten, erlebten sie mit ihren zwei Töchtern eine Odyssee durch das westliche Afrika, durch<br />

Brasilien bis nach Portugal, indem damals gerade die Marxisten regierten. Irgendwann in den<br />

70er Jahren endete ihre Suche nach einer neuen Heimat in Florida. Jedes Mal, wenn sie von<br />

Afrika sprachen, bekamen sie Tränen in den Augen. Beide meinten, in Angola hätten sie ihre<br />

schönste Zeit des Lebens verbracht. Aus den beiden kleinen Töchtern waren erwachsene<br />

Frauen geworden. Sonia, die Älteste, lebte mit ihren zwei Kindern und portugiesischem<br />

Ehemann, der Manager bei irgendeiner EU-Verwaltung war, in Brüssel. Die jüngere Tochter<br />

Sandra war bei den Eltern geblieben und erst vor ein paar Jahren, angeblich wegen besserer<br />

Arbeitsmöglichkeiten, nach Asheville, Nord Carolina, gezogen, wo sie nun mit Mann und<br />

zwei kleinen Mädchen lebte. Sandra war gerade mit ihrer Familie zu Besuch in St. Augustine,<br />

als Pauline und Holt eintrafen.<br />

Für deutsche Verhältnisse war das Haus ihrer Gastgeber riesig. Alzina konnte alle ihre Gäste,<br />

ohne Probleme, im Haus verteilt unterbringen. Es hätte wahrscheinlich noch für weitere Gäste<br />

gereicht. Holt kannte Alzina und Ramiro bereits vom vorletzten Besuch aus Palm Beach. Er<br />

konnte wahrnehmen, dass sich Alzina wirklich über den Besuch freute. Ramiro war zwar auch<br />

freundlich, wirkte jedoch ein wenig angespannt. Die Enkelkinder, oder etwas anderes,<br />

schienen den Mann zu nerven. Während das ältere Enkelkind, es hieß wie ihre Tante auch<br />

Sonia, bereits im Haushalt ihrer Großeltern zur Hand ging, wo sie es konnte, verbreitete die<br />

kleinere Cayenne überall dort, wo sie auftauchte, Chaos und Unruhe. Ramiro versuchte streng<br />

sein jüngstes Enkelkind zu disziplinieren, was ihm offensichtlich nicht gelang. Anstatt Ruhe<br />

und familiäre Idylle herrschten zumindest bei Ramiro und der kleineren Enkeltochter, Ärger<br />

und Frust. Holt hatte den sich entwickelnden Zoff amüsiert beobachtet. Der Vater der Kleinen<br />

203


hielt sich aus dem Chaos zurück. Zuerst glaubte Holt, dass dieser es aus familiärer<br />

Rücksichtsnahme tat, bis er erkannte, dass er nur pure Angst vor seinem Schwiegervater hatte.<br />

Ramiro mochte seinen Schwiegersohn nicht, er gab sich auch keine Mühe, diese Abneigung<br />

zu verbergen. Beide gingen sich aus dem Wege, wo sie es auch nur konnten. Bei den<br />

gemeinsamen Essen wechselten sie kein Wort. Holt sprach Pauline darauf hin an, als sie<br />

einmal alleine waren.<br />

„Du hast es richtig bemerkt,“ erklärte sie Holt, „Ramiro mag Don nicht ... und das hat<br />

seine Gründe.“<br />

„Na, dann erzähl mal, ich werd’s auch nicht rausposaunen, was ich weiß,“ forderte<br />

Holt Pauline auf, den Tratsch zu verbreiten.<br />

„Ramiro hatte sich immer als Schwiegersohn einen Portugiesen oder zumindest einen<br />

Mann mit portugiesischer oder spanischer Abstammung gewünscht, es hat aber leider nicht<br />

geklappt.“<br />

„Na, wenn Don nicht ein Latino ist, bin ich Kongolese.“<br />

„Hans, Don ist Indianer vom Stamme, der Cayenne, zumindest ist, er ein Halbblut. Er<br />

sieht zwar wie ein Latino aus, ist aber mit Bestimmtheit keiner.“<br />

„Wie kann der Alte so borniert sein, einen Indianer abzulehnen, das ist doch jetzt bei<br />

den Amis wie ein Adelspass.“<br />

„Da gibt es noch eine klitzekleine Kleinigkeit und wenn du so einen Schwiegersohn<br />

hättest, wärst du auch nicht darüber glücklich.“<br />

„Hat er im Knast gesessen?“<br />

„Schlimmer!“<br />

„Na Pauline, was kann noch schlimmer sein?“<br />

Pauline schaute Holt zögernd an, der erkennen konnte, dass diese mit sich rang, ob sie<br />

Holt ein Geheimnis anvertrauen konnte, was sich doch für Holt auf einen fremden,<br />

unbekannten Menschen bezog. Dann kam sie damit heraus.<br />

„Don ist bi, er hat seit längerer Zeit einen Freund, der HIV ist.“ Sie schwieg einen<br />

Moment, damit sich bei Holt die Überraschung legen konnte. „Zuerst hatte es Sandra durch<br />

einen Zufall erfahren. Don hatte sich untersuchen lassen. Er wollte wissen, ob er Aids hat.<br />

Obwohl durch das Labor alles vertraulich behandelt wurde, ist das Untersuchungsergebnis aus<br />

Versehen oder in purer Absicht per Post abgeschickt worden. Sandra hat den Brief geöffnet.<br />

Du kannst dir vorstellen, was dann passiert ist?“<br />

Holt konnte es. „Ach du dickes Ei! Ich nehme an, da hing der Haussegen aber mächtig<br />

schief.“<br />

„Die Ehe stand kurz vor dem Scheitern. Alzina und Ramiro haben auch Wind von der<br />

Sache bekommen. Während Alzina noch mäßigend auf die Beiden einwirken konnte, ist<br />

Ramiro ausgerastet. Er hat vor dem Rest der Familie Don als schwule indianische Sau<br />

bezeichnet, die in seinem Hause nichts zu suchen habe. Nachdem eine Untersuchung bei<br />

Sandra ergeben hatte, dass sich diese nicht bei Don infiziert hatte und dieser hoch und heilig<br />

versprach, das Verhältnis zu seinem Liebhaber abzubrechen, hat Sandra wegen der Kinder auf<br />

die angedrohte Scheidung verzichtet. Ramiro hat es aber nicht vergessen, was vorgefallen<br />

war. Er traut Don nach wie vor nicht.“<br />

„Und Sandra?“<br />

„Einige Monate glaubte Sandra an Dons Versprechen. Als sie aber Indizien dafür fand,<br />

dass Don sich wieder mit dem Mann traf, hat sie diesen dazu gezwungen, mit ihr nach<br />

Asheville zu ziehen. Sie glaubt, dass mit einer räumlichen Trennung der Beiden das Problem<br />

gelöst sei.“<br />

„Ist das Problem nun gelöst oder hat Don dort einen anderen Liebhaber gefunden?“<br />

„Nein, er hat keinen neuen Liebhaber, ... der alte ist nachgezogen.“<br />

*<br />

204


Pauline und Holt stellten sich ahnungslos, sie wollten die Situation nicht verschlimmern. Holt<br />

stellte fest, dass Don wohl mit dem Problem zu kämpfen hatte. In Anwesenheit von Ramiro<br />

blieb er stets still oder sehr zurückhaltend. Erst wenn sich Ramiro verzogen hatte, taute er<br />

etwas auf. Am letzten Abend des Besuches fragte Sandra, wieweit es mit Holts Antrag auf<br />

eine Greencard gediehen sei. Pauline erklärte, dass der Antrag nach Wochen wieder<br />

unbearbeitet zurückgekommen sei, weil er an die falsche Annahmestelle geschickt wurde. Für<br />

Anträge aus dem Bundesstaat Florida war die zentrale Annahmestelle, für die südlichen und<br />

westlichen Bundesstaaten, in Texas zuständig. Die Annahmestelle in Washington DC hatte<br />

den Antrag nicht automatisch weitergereicht, sondern an den Absender zurück geschickt.<br />

Pauline wusste teilweise aus eigenen Erfahrungen und aus Berichten in den Zeitungen, dass<br />

gerade die Bundesstaaten Florida, Texas und Kalifornien die meisten Zuwanderer hatte.<br />

Sandra kannte auch diese Situation und war der Auffassung, dass es in North Carolina, fasst<br />

keine Zuwanderer gab. Don, der bisher schweigend zuhörte, dachte nach und machte sich<br />

bemerkbar.<br />

„Wie wäre es, wenn ihr nach Asheville zieht, dann ist doch wieder Washington DC<br />

zuständig.“<br />

Pauline entgegnete sofort, „Don, was sollen wir in Asheville? In Florida haben wir<br />

Arbeit und ein Zuhause. Was haben wir in North Carolina? Nichts!“<br />

„Das stimmt Pauline,“ entgegnete Don, „aber es gibt auch Arbeit und<br />

Wohnmöglichkeiten in Asheville. Viel mehr Möglichkeiten als hier in den von Ausländern<br />

überlaufenen Florida. Bei meiner Suche nach einer Arbeit habe ich nicht einmal eine Woche<br />

benötigt. Sandra hatte schon vorher einen neuen Job.“<br />

Don war von seiner eigenen Idee begeistert und steckte Sandra mit an, die dann an<br />

Pauline gewandt diese zu überzeugen versuchte.<br />

„Don hat recht Pauline. In Asheville gibt es Arbeit wie Sand am Meer. Für die<br />

Haussuche haben wir nicht einmal drei Wochen gebraucht. Dabei haben wir mehr als zwanzig<br />

Häuser besichtigt, die wegen der Kinder für uns aber zu klein waren. Don hat bereits bei der<br />

vierten Anzeige einen Job gefunden. Schaut euch doch einmal im Internet die Anzeigen in der<br />

Asheville Tribune an. Ihr werdet sehen, Asheville ist die Zukunft für euch.“<br />

Vor Begeisterung hatte sie leuchtende Augen und rote Wangen bekommen. Selbst<br />

Pauline schien angesteckt zu sein.<br />

Am nächsten Tag, bei der Rückfahrt nach Palm Bay, sprachen sie über den Vorschlag, nach<br />

Asheville zu ziehen. Holt meinte, dass nach einer eingehenden Lektüre der Anzeigen und ein<br />

paar Telefongesprächen noch einmal über diese Idee gesprochen werden sollte. Pauline<br />

räumte ein, dass die Tatsache, dass Sandra mit ihrer Familie bereits in Asheville lebte, einen<br />

Neubeginn erleichtern würde.<br />

Die Anzeigen in der Asheville Tribune waren umfangreich. Es gab offensichtlich viel Arbeit<br />

und noch mehr Häuser. Pauline war der Meinung, wenn sie schon umziehen würden, müsste<br />

zuerst der Job stimmen. Sie machte sich die Mühe, bei ungefähr zehn interessanten Anzeigen<br />

einen Telefonanruf zu riskieren. Sie hatte sich vorher die Anzeige ausgedruckt und diese auf<br />

einen Notizblock geklebt. Auf diesem Block schrieb sie sich wichtige Eckpunkte, die sie<br />

telefonisch erfuhr. Bereits nach vier erfolgreichen Anzeigen gab sie die weitere Suche auf.<br />

„Hans, es gibt tatsächlich Jobs wie Sand am Meer. Bei den ersten vier Angeboten<br />

wurde ich bereits gefragt, wann ich mich vorstellen kann oder wann ich anfange. Wir wissen<br />

noch nicht einmal genau, ob wir nun wirklich umziehen wollen. Lass uns noch ein paar<br />

Wochen warten, bis wir eine Entscheidung treffen.“<br />

Holts anfängliche Begeisterung für Dons Idee hatte sich wieder ein wenig gelegt. Hier hatten<br />

205


Asheville lag in einem Talkessel, am Shenandoah River. Ein weiterer Fluss, der<br />

Swannanoah River, mündete hier in den French Broad River. Neben den drei Flüssen gab es<br />

eine Menge kleinerer Seen und Hochebenen, die zwischen den Gebirgsketten lagen. Die<br />

meisten Namen der geografischen Punkte kamen aus dem Indianischen. Als sie den Abzweig<br />

in Richtung Stadtmitte fuhren, verinnerlichte sich Holt noch einmal die Informationen über<br />

die Stadt Asheville. Links und rechts der Schein tausender Lampen. Vorne, in Fahrtrichtung,<br />

erhellte das Lichtermeer der Stadt den Himmel. Sie fuhren in einen Tunnel ein. Nach Austritt<br />

aus dem Tunnel, die dritte Straße rechts, dann auf der Seitenstraße weiter, zwei Abzweige<br />

danach nach links abbiegen und dann das vierte Haus auf der linken Seite. Das war es. Genau<br />

um neun Uhr abends hielten sie vor dem Haus.<br />

Die Kinder waren noch wach und hatten auf den Besuch gewartet. Don war im Dienst, er<br />

hatte Nachtschicht. So hatte er es jedenfalls Sandra erzählt. Ob es stimmte, wusste sie nicht<br />

oder sie wollte es auch nicht wissen. Das Haus war ein älteres Gebäude. Es hatte ein<br />

Steinfundament mit aufgesetztem, soliden Holzaufbau. Hinter dem Haus, zur Straße<br />

abgelegenen Seite, lag eine große Terrasse, von der eine breite Holztreppe in den Garten<br />

führte. Diese Terrasse lag über dem zum Garten abgesenkten Bodenniveau, war aus Balken<br />

und Brettern gebaut und wurde von den Hausbewohnern „Deck“ genannt. Mehrere kleinere<br />

Zimmer lagen scheinbar ungeordnet im Haus. Zur unteren Steinfundamentebene führte eine<br />

mittelalterlich erscheinende Steintreppe zum Partyraum und zur Garage.<br />

In der Küche befand sich ein großer Ecktisch mit mehreren bequemen Stühlen und<br />

einer einladenden Eckbank, an dem alle kurz nach dem Eintreffen noch einmal Platz nahmen.<br />

Sandra hatte noch extra Abendessen warm gehalten. Auf der breiten Ecklehne der Sitzbank<br />

lagen die Wochenendausgaben der Asheville Tribune und des Asheville Citizen mit ihren<br />

ausführlichen Anzeigenteilen. Obwohl Pauline und Holt müde waren, warfen sie noch einen<br />

ersten Blick auf die Immobilien- und Jobangebote. Sandra hatte bereits ein paar interessant<br />

erscheinende Angebote mit einem Kugelschreiber angekreuzt. Holt zählte die<br />

Immobilienangebote kurz nach. Es waren sechsunddreißig, bei den Jobangeboten waren es<br />

über zwanzig. Nach etwa zwanzig Minuten, als Sandra aus dem Kinderzimmer zurückkam,<br />

legten sie die Zeitungen beiseite und besprachen die familiäre Situation Sandras.<br />

Wie es schien, hatte sich Don nur ein paar Monate, bezüglich seiner Veranlagung,<br />

zurückgehalten. Sein Liebhaber war einfach nachgezogen und hatte sich unverblümt ins<br />

Bewusstsein Sandras zurückgemeldet. An einer Straßenkreuzung war ihr auf der Gegenseite<br />

ein Auto mit einer Floridawerbung aufgefallen. Als sie am Auto vorbei fuhr, erkannte sie den<br />

Insassen, es war Dons Liebhaber. Vor Schreck fuhr sie rechts zum Straßenrand hinüber, um<br />

zu halten. Dabei kam sie noch glimpflich an einem Blechschaden vorbei. Der rechts neben ihr<br />

Fahrende konnte gerade noch abbremsen, als die unter Schock stehende Sandra ihn schnitt.<br />

Das war vor zehn Tagen gewesen. Sie hatte sich hintergangen und missbraucht gefühlt und sie<br />

hatte sie sich geweigert, darüber mit Don zu sprechen, um von ihm eine Erklärung zu<br />

verlangen.<br />

Don erschien kurz nach dem Frühstück. Er sah übernächtigt aus und hatte Ringe unter<br />

den tief liegenden Augen. Er schien zu ahnen, dass Sandra Bescheid wusste. Nach ein paar<br />

höflichen Fragen an Pauline und Holt über ihr Wohlergehen verzog er sich in das eheliche<br />

Schlafzimmer, welches von Sandra nicht mehr genutzt wurde. Erst am späten Nachmittag<br />

erschein er wieder auf der Bildfläche, um etwa zehn Minuten später beim Nachbarn zu<br />

verschwinden, dem er angeblich beim Umbau half.<br />

In der Zwischenzeit hatte Pauline mehrere Telefonate geführt. Zwei Jobangebote waren sehr<br />

interessant. Die Biltmore- Gruppe suchte für ihr Luxushotel Biltmore Personal im<br />

Counterbereich. Eine Großhandelskette aus der Kosmetikbranche beabsichtigte in Asheville,<br />

eine neue Dependance aufzubauen. Dazu wurde noch eine leitende Managerin gesucht. Die<br />

207


Personalchefin, der aus St. Petersburg in Florida stammenden Firma Beauty Concept, war<br />

bereit, Pauline auch am Wochenende zu treffen. Das Biltmore konnte erst am Montag einen<br />

Termin anbieten. Mit zwei erfolgsversprechenden Angeboten im Hintergrund war Pauline<br />

bereit, sich auch die Wohnungsangebote genauer anzuschauen. Sie war mit Holt<br />

übereingekommen, sich nicht mehr auf ein einzelnes Haus, sondern auch auf ein Appartement<br />

zu konzentrieren. Die Hunde, die einen Garten oder Auslauf benötigten, waren nicht mehr<br />

Gegenstand ihrer Sorgen, also müsste auch eine Wohnung ausreichen.<br />

Die zu besichtigenden Häuser lagen überwiegend in waldiger Gegend, von der Stadtmitte<br />

etwas abgelegen. Sie waren alle ansehnlich und boten sicherlich allen Komfort, aber sie<br />

erschienen Holt und Pauline zu groß. Zur Stadtmitte näher gelegene und kleinere Häuser gab<br />

es im Moment nicht in den Angeboten. Zwei Appartementhäuser, nicht weit von Sandras<br />

Haus entfernt, boten einzelne Appartements an. Mittelbar an der Tunnel Road gelegen, lagen<br />

sie nur dreihundert Meter auseinander. Das erste Appartementhaus hatte zwei Einheiten zu<br />

vermieten, die etwas zu verwohnt und auch für ihre Größe ein wenig überteuert erschienen.<br />

Die Managerin dieser Anlage konnte eine Einheit auch nicht über einen Monat reservieren.<br />

Bei der zweiten Anlage handelte es sich um ein ehemaliges Militärhospital, welches nach dem<br />

Vietnamkrieg in drei große Appartementhäuser umgewandelt wurde. Die vierstöckigen<br />

Häuser lagen in U-Form zueinander. Im mittleren Haus des „U“ befanden sich auch die<br />

Verwaltung und der große Klubraum. Die Dame in der Verwaltung war nicht die Managerin,<br />

sondern nur die Stellvertretung, aber sie hatte ausreichend Befugnisse, Verbindliches zusagen<br />

zu können. Zurzeit standen drei Einheiten leer, darunter im linken Flügel, ein im vierten<br />

Stockwerk gelegenes Appartement. Dieses bestand aus einem großen Wohnzimmer, einer<br />

kleinen aber netten eingebauten Küche, einer großen Innentoilette mit Bad und einem großen<br />

Schlafzimmer, welches mit einem großen Atelierfenster versehen war. Aus diesem Fenster<br />

konnte man das links liegende Hauptgebäude, das über hundert Meter weiter<br />

gegenüberliegende rechte Gebäude, die Erholungszone der Anlage mit dem Swimmingpool<br />

und die nahen mit Buchen und Eichen bewaldeten Ausläufer der Blue Ridge Mountains<br />

sehen. Ein herrlicher Ausblick, der schon alleine als Grund zur Anmietung ausreichte.<br />

Ein weiterer Vorteil war die großzügige Bauweise der breiten Flure und der großen<br />

Fahrstühle, die zur Hospitalzeit ganze Krankenbetten aufnehmen mussten. Selbst die Türen<br />

waren breiter. Die solide Bauweise verhinderte im ganzen Gebäude den normalen Schall eines<br />

Mehrfamilienhauses. Alle Gebäude waren mit einem großen unterirdischen Verbindungsgang<br />

untereinander verbunden. Jedes Haus hatte einen eigenen Wäscheraum mit Automatenwaschund<br />

Trockenmaschinen, nebst Bügelmöglichkeiten. Trockenen Fußes konnte man in der<br />

Winterzeit oder bei schlechtem Wetter vom Appartement in die Verwaltung, Poststation oder<br />

dem Klubraum kommen. Die Abstellplätze für die Autos lagen direkt vor dem Eingang und<br />

der große Müllcontainer befand sich direkt neben dem zweiten Nebenausgang, der auch einen<br />

eigenen Fahrstuhl besaß.<br />

Als Pauline und Holt sich das ganze Gebäude und die drei frei stehenden Einheiten<br />

angeschaut hatten, waren sie sich spontan einig, das im linken Flügel liegende Appartement<br />

anzumieten. Die Managerin war bereit, für eine Anzahlung von einhundert Dollar das<br />

Appartement für sechs Wochen zu reservieren. Noch auf der Rückfahrt zu Sandras Haus<br />

waren sie über ihre spontane Entscheidung zufrieden. In drei Stunden hatte Pauline das<br />

Personalgespräch bei Caren, der Personalchefin von Beauty Concept.<br />

Nicht weit von der Tunnel Road entfernt lag, direkt am Ufer des Shenandoah River, ein<br />

relativ neues Einkaufzentrum, eine typische amerikanische Mall. Die bekannten Geschäfte der<br />

überall in den USA vertretenen großen Handelsketten bildeten ein riesiges, ausgeweitetes<br />

„U“, in deren Mitte der große Kundenparkplatz mit einigen Restaurants lag. Bei McDonalds,<br />

dort auch in dieser Mitte vertreten, wollten sie sich treffen. Bereits beim Eintreten vermuteten<br />

208


sie in einer, im hinteren Bereich des Restaurants wartenden, jüngeren, elegant gekleideten<br />

Frau die Personalchefin der Firma. Sie war es auch. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, ließ<br />

Holt die Frauen alleine und entfernte sich in den vorderen Bereich des Hamburgerladens, wo<br />

er sich einen Kaffee bestellte.<br />

Nach dem dritten Kaffee und ungefähr neunzig Minuten später kamen die Frauen zu<br />

seinem Tisch. Sie strahlten und schienen beide sehr zufrieden zu sein. Pauline fragte Holt, ob<br />

er Lust hätte, sich jetzt gleich ihre neue Arbeitsstelle anzuschauen. Das hatte er und er war<br />

voller Neugierde. Der Weg führte zu Fuß über den Parkplatz zur linken Seite des Zentrums.<br />

Dort lag zwischen einem Postzentrum und einem Laden der Spielzeugkette Toy a Rus ein<br />

noch leer stehendes Geschäft mit einer vierzig Meter breiten Glasfensterfront. Hier sollte die<br />

erste Dependance der Firma in North Carolina entstehen. Zwei weitere, in Hickory und<br />

Charlotte, waren noch geplant. Die Firma war bisher nur im benachbarten Tennessee, in<br />

Knoxville, wo auch ein Schulungscenter war, vertreten. Pauline sollte hier den ersten Laden<br />

aufbauen. Der Start sollte in sechs Wochen, am 1. September 2001 sein.<br />

Caren, die Personalchefin, hatte Pauline noch am Ende des Gesprächs verbindlich<br />

zugesagt, dass sie den Job bekommt. Sie verstand die Situation eines möglicherweise<br />

überhasteten Umzuges von Florida nach North Carolina und sie wollte Pauline die nötige<br />

Sicherheit geben, den Schritt auch zu wagen.<br />

Über die Schnelligkeit, die Pauline vorlegte, war Sandra überrascht. Bereits am Sonntag<br />

Nachmittag waren die Grundvoraussetzungen für den Umzug erledigt. Pauline beschloss, den<br />

Termin beim Biltmore aus Sicherheitsgründen dennoch wahrzunehmen und gleich nach dem<br />

Interview mit dem Personalchef nach Palm Bay zurückzufahren. Sandra hatte am Tag keine<br />

Zeit, da sie bei einer Bank arbeitete. Nur Don hatte seinen „Day Off“, es war Pauline<br />

unangenehm sich mit Don über private Probleme in seiner Ehe unterhalten zu müssen. Don<br />

hatte bereits angekündigt, von seiner Sicht aus, über seine Ehe mit Pauline sprechen zu<br />

wollen. Weder Holt noch Pauline waren daran interessiert, Partei ergreifen zu müssen. Die<br />

geplante Abfahrt kam also gelegen, dem aus dem Wege zu gehen. Holt hatte vorgeschlagen,<br />

auf dem Rückweg nicht den bekannten Hinweg zu nutzen, sondern in South Carolina, vor<br />

Columbus südwestlich abzubiegen und über Georgia, auf Nebenstrecken zurückzufahren.<br />

Den Abstecher zum Biltmore hätten sie sich sparen können. Der Personalchef war zwar daran<br />

interessiert, eine Fachkraft wie Pauline, zu bekommen, konnte jedoch eine verbindliche<br />

Zusage, bezüglich der Nachtschicht, nicht machen.<br />

Bei Newberry verließen sie die Interstate in Richtung Augusta. Noch vor Augusta<br />

suchten sie sich ein Restaurant für das Mittagsessen. Bei der Suche stießen sie, wie durch<br />

Zufall, auf die US 1. Das Restaurant lag direkt an dieser Hauptstraße. Nach dem Essen<br />

beschlossen sie, dem Verlauf der US 1 in südlicher Richtung zu folgen. Irgendwann mussten<br />

sie dann bei Jacksonville wieder auf die I 95 stoßen. Bereits im südlicheren Georgia stießen<br />

sie auf deutsch klingende Ortsnamen wie Neu Bern, Neu München, Neu Braunschweig und<br />

auf „Wiglitwigli“. Auf dem Reklameschild war ein lachendes und glückliches Schweinchen<br />

mit Ringelschwanz abgebildet, welches froh auf seine Verwurstung wartete. Wiglitwigli war<br />

eine Lebensmittelkette, nur in Georgia. Nach ungefähr zehn weiteren Wiglitwiglis überquerten<br />

sie hinter Folkston die Grenze zu Florida und es gab keine Schweineschwänzchen mehr, aber<br />

dafür immer mehr Lianen an den großen Tropenbäumen links und rechts der US 1, die bis<br />

zum Boden herab hingen. Kurz vor Jacksonville bogen sie von der US 1 auf die I 95 ab.<br />

An der I 95, noch vor Daytona Beach, suchten sie ein „Crackerbarrel“ für das<br />

bevorstehende Abendessen. Diese Handelskette hatte neben dem Restaurant immer ein<br />

Geschäft mit „hausgemachten“ Lebensmitteln und Süßigkeiten und war nur zwischen dem<br />

Mittleren Westen und der Ostküste der USA vertreten. Man konnte sich mit verbundenen<br />

Augen in jedem Restaurant dieser Kette bewegen, wenn man sich eines dieser Restaurants<br />

209


genau eingeprägt hatte. Sie hatten alle den gleichen Schnitt, die gleiche Ausstattung und das<br />

gleiche Angebot. Wenn man die Binde abnehmen würde, könnte man an der Wand das<br />

gleiche Bild mit dem alten Ehepaar, er mit einem „Vatermörder“ um den Hals und Degen an<br />

der Seite, sie mit hoch geschlossener Bluse und Dutt, zu sehen bekommen. Neben dem Bild<br />

ein altes Bügeleisen, ein Messingtopf und eine Sense mit Dreschflegel. Das Restaurant war<br />

auf „antik“ getrimmt, es war anheimelnd rustikal. Das Essen war nach Holts Meinung<br />

zwischen sehr Gut bis toll. Dabei dachte er an die Rindsrouladen mit Kartoffelbrei und sauren<br />

Gürkchen, die er stets im Crackerbarrel aß. Was anderes zu bestellen, würde ihm nicht in den<br />

Sinn und einem Sakrileg gleichkommen.<br />

Nach dem Crackerbarrel lagen es noch ungefähr drei Stunden Fahrt vor ihnen. Bereits<br />

bei Melbourne wurde es dunkel und heftiger Regen zwang zum Fahren im Schritttempo, erst<br />

auf den letzten Meilen kamen sie wieder schneller voran. Kurz vor Mitternacht bogen sie in<br />

die Holin Av. ein. Über Palm Bay lag eine drückende Schwüle. Die Erde hatte sich mit<br />

Regenwasser voll gesogen. Tausende kleinere Kanäle und Flüsschen waren bis kurz vor der<br />

Oberkante mit schwarzem brackigem Wasser gefüllt, welche einen dumpfen, verwesenden<br />

Geruch von abgestorbenem Leben verströmten. Am nächsten Morgen, nach dem Aufstehen,<br />

erschien beiden die Fahrt, wie ein erlebter Traum. Strahlende Sonne lag über Florida, als sie<br />

nach Melbourne zur Arbeit fuhren.<br />

*<br />

Bonnie hörte sich das Ergebnis der Wochenendreise an. Sie wünschte Pauline und Holt zwar<br />

alles Gute, war aber traurig wegen des beabsichtigten Umzuges. Nachdem sie sich ein wenig<br />

gefangen hatte, taute sie auf und unterstützte von ganzem Herzen die Umzugsabsicht. Es<br />

waren ja noch fast sechs Wochen Zeit. Diese musste genutzt werden, um mit Gary und Mr.<br />

Slam klarzukommen.<br />

Gary machte es durch sein Verhalten seinen Beschäftigten nicht schwer, zu kündigen.<br />

Nachdem Bonnie eine Übersicht der Verluste der zwei letzten Jahre erstellt hatte, war es<br />

offensichtlich, dass drei Umstände ein weiteres Beschäftigungsverhältnis bei Gary unmöglich<br />

machten. Gary war zwar von seinen Beschäftigten betrogen worden, nachdem er diese aber<br />

erheblich zur Ader gelassen hatte. Die Betrügereien waren wohl mehr als „ungesetzliche“<br />

Wiedergutmachung der Angestellten, zu verstehen. Weiter hatte Gary aus den laufenden<br />

Einnahmen heraus private Abbuchungen getätigt, die zwar als Geschäftsausgaben bezeichnet,<br />

aber keine darstellten und auch nicht als private Entnahmen verbucht wurden. Das war ein<br />

Fall für die Steuerbehörden. Letztlich hatte Gary nagelneue Autos geleast, jedoch nur alte in<br />

die Flotte gestellt. Wo die neuen Autos abgeblieben sind, konnte Bonnie aus den Unterlagen<br />

nicht erkennen. Aus den Gesprächen heraus hatte Holt jedoch entnommen, dass sein Boss<br />

diese Autos offensichtlich nach Costa Rica verschifft hatte. Diese fuhren jetzt wohl für die<br />

Dependance am Paseo Colon.<br />

Bonnie schied als Erste aus. Den versprochenen Bonus bekam sie auch nicht. Diesen<br />

Umstand machte sich Pauline zu eigen, um ihn als Kündigungsgrund vorzubringen. Bei der<br />

zweiten Freitagsbesprechung nach ihrer Rückkehr aus Asheville teilte Pauline Gary mit, dass<br />

sie zum Ende August den Job quittieren wollten. Gary tat entsetzt und warf Pauline<br />

Undankbarkeit vor. Diese blieb cool und hielt ihm das Ergebnis der Untersuchung Bonnies<br />

unter die Nase.<br />

„Gary, du bist zwar von deinen Angestellten beschissen worden,“ sagte sie, „aber erst,<br />

nachdem du sie betrogen hast. Das Gleiche hast du auch mit Bonnie gemacht. Oder hast du<br />

ihr den Bonus von tausend Dollar gezahlt?“<br />

210


Gary zog den Kopf ein, der wurde deutlich rot. „Äh ... mmhh ..., na ja, ich kann den<br />

Bonus nicht zahlen, es kommt zu wenig Geld rein.“<br />

„Quatsch kein Blech Gary, alle Autos sind schon seit Wochen kontinuierlich<br />

vermietet. Kosten sind dir zusätzlich kaum entstanden, seitdem Michael die technischen<br />

Angelegenheiten mit übernommen hat.“<br />

„Ich ... äh ... , ich muss noch eine Menge Geld an die Steuer nachzahlen, damit hatte<br />

ich nicht gerechnet.“<br />

„Gary, es wird noch viel mehr Geld werden, was du nachzahlen musst. Seit Jahren<br />

ziehst du an der Steuer vorbei Geld ab und verschiebst Autos nach Costa Rica. Glaubst du,<br />

das, was Bonnie entdeckt hat, kann kein Steuerfahnder entdecken?“<br />

Gary wurde blass. Pauline schmiss die Unterlagen auf den Tisch, die sie gerade in der<br />

Hand gehalten hatte. „Am 25. August ist unser letzter Arbeitstag!“<br />

Mit dem „Slamlord“ 44 war es noch einfacher. Bonnie riet, die letzte Miete für August nicht<br />

mehr zu zahlen, sondern diese mit der Mietkaution zu verrechnen. Sie empfahl, die<br />

Kündigung mit den Schlüsseln per Einschreiben zu schicken, nachdem sie alle ihre Sachen<br />

weggeschafft hatten und das Haus besenrein war. Irgendwelche rechtlich negative Reaktion<br />

war nicht zu erwarten, da dem Hauseigentümer kein Schaden, sondern nur Gutes durch<br />

Pauline und Holt wiederfahren war. Es war zwar zu erwarten, dass dieser erbost sein würde,<br />

aber ein Umzug in ein anderes Bundesland aus arbeitsrechtlichen Gründen, ist auch in den<br />

USA kurzfristig ohne negative Folgen für die Mieter statthaft.<br />

Holt meinte, die bereits angeschafften Möbel und der noch spärliche Hausrat müssten<br />

auf einen 7, 5t-Transporter passen. Nach Feierabend fuhren Pauline und Holt die US 1 bis<br />

Rockledge hoch und wieder bis Palm Bay herunter und hielten vor Häusern der Konkurrenz,<br />

die auch Transporter anboten. Die Firma U-Haul 45 , auf Umzüge spezialisiert, hatte für das<br />

Wochenende um den 25. August herum noch einen Transporter frei, den Pauline sofort<br />

reservierte. Das Beste bei der Anmietung war, sie brauchten den Wagen nicht mehr<br />

zurückzubringen, sie konnten diesen bei einer U-Haul- Niederlassung in Asheville abgeben,<br />

ohne einen Dollar mehr zahlen zu müssen.<br />

Bereits Anfang August kam der Rückschein des Schreibens an den Generalstaatsanwalt John<br />

Ashcroft, abgestempelt von einem Supervisor am 31. Juli, zurück. Der „General“ hatte also<br />

meine Beschwerde erhalten, dachte Holt zufrieden. Auch von der Immigration war nun<br />

während ihrer Abwesenheit in Asheville vom Texas Service Center eine Antwort auf den<br />

Asylantrag eingegangen, die darin bestand, dass das Rückschreiben mit offiziellem<br />

Eingangsstempel der Behörde USINS ohne Kommentar zurückkam. Da der Asylantrag nun<br />

offensichtlich bei den richtigen Behörden eingegangen war, hatten diese auch das Anrecht zu<br />

erfahren, wo Holt abgeblieben ist. Er informierte die Behörde und nannte bereits die<br />

zukünftige Wohnung in 48 Riceville Road Apt B406 in Asheville. Als er die Umzugsmeldung<br />

bereits bei der Post abgegeben hatte, fiel ihm siedend heiß ein, dass durch den Umzug nach<br />

North Carolina ein anderes Service Center für ihn zuständig sein könnte. Nun hieß es weiter<br />

abwarten.<br />

Der Ausstieg bei Gary verlief wie erwartet. Er machte Schwierigkeiten und wollte den letzten<br />

Lohn nicht mehr auszahlen. Damit hatte Pauline gerechnet. Sie hatte beabsichtigt, die letzten<br />

Bareinnahmen in Höhe des noch fälligen Lohnes einzubehalten und erst dann abzurechnen,<br />

wenn Gary sich als ehrlich herausstellen sollte. Doch das Schicksal wollte es anders. Zwei<br />

Kunden, die reservierten und immer die Leihwagen am letzten Tag der Woche abholen<br />

wollten, kamen nicht. Die anderen Kunden hatten nur von Kreditkarten abbuchen lassen.<br />

Dadurch ging die Hälfte des letzten Lohnes verloren. Pauline und Holt waren dennoch froh,<br />

als sie die Schlüssel des Geschäftes an der Hotelrezeption abgaben. Holt hätte zwar am<br />

211


liebsten noch einen Satz neuer Reifen ab- oder einen Motor ausgebaut, aber Pauline verwies<br />

ihn darauf, dass sie es nicht übertreiben sollten, denn Gary hatte Holt ja auch die Möglichkeit,<br />

wenn auch einer illegalen, Arbeit gegeben. Also lieber Schwamm drüber!<br />

Bonnie organisierte am Abend vorher eine Abschiedsparty. Alle Freunde, die Pauline und<br />

Holt kannten, kamen. Es wurde gut gegessen und noch besser getrunken. Mit vielen guten<br />

Ratschlägen versehen, konnten sie nun eine neue Etappe ihres Lebens beginnen. Vor Bonnies<br />

Haus stand ein halb gefüllter 10t Transporter. U-Haul hatte ihren reservierten Wagen nicht<br />

herausgeben können. Der Vormieter hatte einen Unfall damit gebaut. Dafür bekamen sie<br />

einen größeren Transporter zum gleichen Preis. Nur, Holt hatte so einen großen Wagen noch<br />

nie gefahren und Pauline weigerte sich, diesen auch nur eine Meile zu fahren.<br />

Ganz früh am Morgen setzte sich Holt mit dem „Riesentransporter“ in Bewegung. Pauline<br />

folgte im Mazda. Im Rückspiegel sah Holt, bis zum Abzweig auf die Hauptstraße, dass<br />

Bonnie hinterher winkte. Ihr kleiner Hund Ruby saß traurig daneben.<br />

Die Fahrt in Richtung Norden ging zügig voran, aber bereits hinter Daytona Beach blinkte<br />

Holt verabredungsgemäß rechts und fuhr auf eine Raststätte. Pauline hielt den Wagen gleich<br />

dahinter. Fragend schaute sie Holt an. Der grinste und wollte ihr die Wagenschlüssel geben,<br />

was sie jedoch ignorierte.<br />

„Ab jetzt fährst du bis zur Grenze nach Georgia.“ Holt hielt ihr die Schlüssel weiter<br />

unter die Nase.<br />

„Hans, du spinnst wohl? Ich soll in diese Riesenschüssel? Schau,“ sagte sie und wies<br />

auf ihre Beine, „ich komm doch gar nicht an die Kupplung ran. Du kannst machen, was du<br />

willst, ich fahre damit keinen Schritt.“<br />

Sie drehte sich um und stampfte in Richtung Raststätte davon. Holt folgte ihr lachend. Er<br />

hatte es nicht ernst gemeint. Wider Erwarten fuhr sich der Transporter ganz leicht. Es war<br />

noch ein neuerer Wagen, mit bequemem Fahrersitz, Autoradio und funktionierender AC.<br />

Obwohl er noch nicht ermüdet war, hatte er Kaffeedurst. Nach der kurzen Pause ging es<br />

weiter, sie hatten sich verabredet, bis kurz vor oder hinter Savannah zu fahren und dort auch<br />

zu übernachten. Dort lag auch die Staatsgrenze zwischen Georgia und South Carolina.<br />

Ungefähr zehn Meilen vor der Interstate- Kreuzung kam der erste Hinweis zur Abfahrt nach<br />

Savannah und der US 204. Bis zur großen Kreuzung an der I 16 waren es noch fünf Meilen.<br />

Pauline sagte, dass an den Kreuzungen der Interstates die meisten und preisgünstigsten<br />

Motels zu finden wären. Ihre Aussage stimmte. Direkt an der Kreuzung lag ein großer<br />

Raststättenkomplex, mit ungefähr zehn Motels, Geschäften und ebenso vielen Restaurants.<br />

Wegen der guten Erfahrung mit den Motels der Kette „Red Roof Inn“, hielten sie auf dem<br />

Parkplatz des Hotels. Es waren noch einige Zimmer frei.<br />

Nachdem sie sich geduscht und ein wenig erholt hatten, gingen sie etwas spazieren. Am<br />

späten Nachmittag des Tages hatte sich die Luft wahrnehmbar abgekühlt. Im Schatten der<br />

Bäume umrundeten sie die Geschäfte, bevor sie in einem nett erscheinenden Restaurant zu<br />

Abend aßen. Von der Hotelbar rief Pauline noch einmal Sandra an und teilte ihr mit, dass sie<br />

am nächsten Tag, ungefähr so gegen acht Uhr abends in Asheville ankommen würden. Sandra<br />

war erfreut, bei ihr lagen auch schon einige Papiere für Pauline, unter anderem ein<br />

Mietvertrag und der Anstellungsvertrag der neuen Firma.<br />

Früh morgens wurde Holt durch das laute Gezwitscher vieler Vögel wach. Ein Schwarm von<br />

kleinen Papageien hatte direkt vor dem Zimmerfenster, in einem mächtigen Baum Quartier<br />

bezogen. Sie machten einen großen Rabatz und stritten sich um das Futter. Ein gut meinender<br />

Hotelgast hatte seine alten Sandwichs aus dem Fenster geworfen und eine Horde wilder Vögel<br />

hatte sich um diese Delikatesse regelrecht geprügelt. Den Tumult steigerte noch ein<br />

212


graufelliges Eichhörnchenpärchen, als dieses in die zankende Meute hineinfuhr, um sich den<br />

Rest der Beute zu holen. So etwas hatte Holt bislang noch nicht gesehen. Die scheinbar um<br />

ihr Futter geprellten Zwergpapageien griffen die Eichhörnchen beherzt an und schlugen diese<br />

gemeinsam in die Flucht. Holt war auf den Balkon getreten und hatte hinter sich die Tür nicht<br />

ganz geschlossen. Als er sich umdrehte und zu Pauline schaute, saß diese aufrecht im Bett und<br />

schaute mit aufgerissenen Augen ins scheinbare Chaos.<br />

Der weitere Tag verging ohne weiteren Aufruhr. Nur bei Columbia, bereits in South Carolina,<br />

war der Verkehr zeitweise etwas stärker, sie kamen gerade zur Rush Hour. Die sechsspurige I<br />

26 war voll ausgelastet, bei einer Abzweigung zur Stadt war es zu einem Unfall gekommen.<br />

Zwei Spuren der nördlichen Richtung waren gesperrt. Bis sich alles bei der Verengung<br />

eingefädelt und dreihundert Meter weiter wieder entzerrt hatte, verging fast eine Stunde. Die<br />

letzte Rast vor Asheville wollten sie in Höhe von Spartanburg machen. Aber sie fanden<br />

keinen geeigneten Rastplatz, sodass sie über die Grenze nach North Carolina bis nach<br />

Hendersonville fuhren. Da es bis Asheville nur noch etwas mehr als fünfzig Kilometer waren,<br />

dachte Holt daran, durchzufahren. Kurz vor einer Haltebuchtausfahrt sah er im Rückspiegel<br />

Pauline rechts blinken, sodass er doch abbog. Pauline hielt neben dem Transporter und ließ<br />

das Fenster der Beifahrerseite herunter.<br />

„Hans, ich kann nicht mehr, ich bin ausgetrocknet wie eine Backpflaume. Lass uns bei<br />

der nächsten richtigen Raststätte kurz halten.“<br />

Holt nickte und sagte, „Okay, fahr du jetzt voran und halte dort, wo du es möchtest.“<br />

Pauline fand offensichtlich keine geeignete Raststätte. Erst als sie von der I 26 in den<br />

Autobahnring von Asheville abbogen, war es Holt klar, dass Pauline entweder die vielen<br />

Hinweisschilder nicht gesehen oder ihre Meinung inzwischen geändert hatte. Nach zwanzig<br />

Minuten bogen sie von der Tunnel Road ab und fuhren in die Straße ein, in der Sandra lebte.<br />

Vor ungefähr zehn Minuten war es richtig dunkel geworden. Genau die richtige Zeit, ein<br />

kühles Bier zu trinken und an Sandras Küchentisch Platz zu nehmen.<br />

213


Begrenzte Möglichkeiten<br />

Am Vormittag wurde der Transporter entladen. Die breiten Eingänge und der ehemalige<br />

Krankenhauslift erleichterten das Entladen. Ein netter Nachbar, der im Erdgeschoss des<br />

Hauses wohnte, gab Holt eine Transportplatte. Diese bestand aus einer ungefähr achtzig Mal<br />

achtzig Zentimeter großen Holzplatte, unter der vier Schwenkräder angeschraubt waren. Auf<br />

diese Platte wurden die schweren Gegenstände gestellt und durch den Gang in den Fahrstuhl<br />

gerollt. Nach bereits zwei Stunden war der Transporter entladen und die neue Wohnung zur<br />

Hälfte mit Möbeln und Hausrat zugestellt. Nach Auffassung von Holt war die Angelegenheit<br />

fasst geräuschlos vor sich gegangen. Die exzellente Bauweise des Hauses mit den großen<br />

Dimensionen hatte alle Anstöße und lauten Geräusche verhindert, die Rollen der Platte liefen<br />

wie geschmiert und leise.<br />

Bereits zur Kaffeezeit war alles eingeräumt. Man konnte sehen, dass noch Möbel gebraucht<br />

wurden. Bereits am Tag darauf erledigte sich ein Teil der Suche. Neben dem Seitenaufgang<br />

stand ein sehr gut erhaltenes Sofa, auf dem ein Zettel steckte. „Take it!“, was Holt auch tat, er<br />

wuchtete das Sofa in den Fahrstuhl und brachte es alleine in das Appartement. Pauline war<br />

überrascht und schaute sich das gute Stück an.<br />

„Was hast du dafür bezahlt und von wem hast du das Sofa?“, wollte sie wissen.<br />

„Nüscht!“, antwortete Holt. „Das Ding stand unten am Container mit diesem Zettel<br />

dran, von dem ich hoffe, es richtig verstanden zu haben. Take it heißt doch hoffentlich so<br />

etwas wie Zum Mitnehmen oder so?“<br />

Ganz sicher war er sich nicht, aber im schlimmsten Fall würde er das Sofa sofort<br />

wieder zurückstellen, bevor der Eigentümer nach der Polizei brüllte. Pauline lachte, als sie<br />

den Zettel las.<br />

„Ja, das heißt so etwas wie, du kannst es mitnehmen.“<br />

Benjy, der nette Nachbar, sollte sich als wertvoller Zeitgenosse entpuppen. Er arbeitete hinter<br />

dem Zaun als Hausmeister im neuen Militärhospital. Eine Arbeit, die ihn ganz ausfüllte und<br />

die er teilweise auch noch auf sein Domizil ausweitete. Er bekam mit, dass Holt sich das Sofa<br />

genommen hatte, und erklärte ihm, dass er am folgenden Tag noch ein paar Regale und<br />

kleinere Möbelstücke vom Hospital mitbringen könnte. Nur einen Couchtisch hatte er nicht<br />

und auch keinen Fernseher.<br />

An Holt hatte er einen Narren gefressen. Als er mitbekam, dass dieser Deutscher war,<br />

geriet er ganz aus dem Häuschen. In den Jahren von 1980 bis 1988 war er bei den US-<br />

Streitkräften in Heidelberg stationiert. Es muss seine schönste Zeit im Leben gewesen sein.<br />

Als Holt und Pauline seine Einladung annahmen, ihn auf einen Drink zu besuchen, kamen<br />

diese aus dem Staunen nicht heraus. Benjy musste die Andenkenläden von Heidelberg<br />

leergekauft haben. Seine ganze Wohnung schien aus deutschem Krimskrams zu bestehen. An<br />

der Wand hing eine Kuckucksuhr, daneben eine deutsche Fahne und viele Wimpel von<br />

Fußball- und Schützenvereinen aus dem Heidelberger Raum. Verschämt erklärte er Pauline,<br />

dass er ja auch ein richtiger Deutscher sei. Benjy hieß eigentlich Bernhard und beim<br />

Familiennamen hatte sein Opa ein „ü“ zum „ue“ gemacht und einfach vom „Mann“ ein „n“<br />

weggelassen. Nun hieß er Rueman, so wie der bekannte Actor, mit dem er eventuell verwandt<br />

sei. Holt dachte nach, sollte Benjys Großvater „Rühmann“ geheißen haben, dann hätte dieser<br />

auch noch das „h“ unterschlagen, um mit Heinz Rühmann verwandt gewesen zu sein. Aber<br />

Benjy war glücklich wegen seiner deutschen Vorfahren und froh darüber, dass nun in seinem<br />

Haus echte „Krauts“ wohnten.<br />

Der letzte freie Sonntag bescherte Pauline und Holt einen wunderschönen Spätsommertag. Sie<br />

konnten die Umgebung genießen und sich nun in Ruhe die Anlage anschauen. Rund um die<br />

Häuser waren breite bunte Blumenbeete angelegt. Die Büsche waren ordentlich geschnitten<br />

214


und die Wege zwischen den Häusern mit Kies ausgeschüttet und frisch geharkt. Trotzt der<br />

Umwandlung in ein Appartementhaus strömte die Anlage immer noch nach all den Jahren den<br />

Hauch eines großen gepflegten Krankenhauses oder Sanatoriums aus. Nicht das es nach Lysol<br />

oder Krankenhaus roch, es hatte mehr den äußerlichen Charakter einer riesigen Genesungsbeziehungsweise<br />

Erholungsanlage. Der zum Hospital angrenzende Zaun hatte zwei Türen, die<br />

nie verschlossen waren. Das neue Hospital bestand aus modernen, mit vielen Glasfassaden<br />

versehenen Behandlungsräumen und Krankenstationen. Große Freitreppen führten in die<br />

einzelnen Gebäude, deren breite Korridore den Weg nach innen bahnten. Insgesamt befanden<br />

sich ungefähr zwanzig Einzelhäuser und eine Verwaltung auf dem Gelände. Vor der<br />

Verwaltung befand sich ein riesiges Rondell, in dessen Mitte sich ein metallener Flaggenmast<br />

stand. Jeden Tag wehte dort die amerikanische Fahne. Exakt um sechs Uhr erklang ein<br />

Trompetensignal und diese wurde eingezogen. Alle Patienten, sofern sie auf den Beinen<br />

waren, und Besucher standen still, das Gesicht zur Fahne gewand. Personen in Uniform legten<br />

die Hand an den Mützenschirm und salutierten. Der unverkrampfte Patriotismus der<br />

Amerikaner imponierte Holt. Er versuchte sich so eine Zeremonie auch auf einem deutschen<br />

Militärlazarett vorzustellen, was nicht ganz gelang. In seinen Vorstellungen sah er die<br />

deutschen Soldaten, die in jeder freien Minute in Zivil waren, weil sie sich ihrer Uniform<br />

schämten. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass die vielen „Zivis“, die einen Dienst beim<br />

Militär aus Gewissensgründen ablehnten, der deutschen Nationalfahne solchen Respekt<br />

erweisen könnten.<br />

Hinter dem Rondell führte eine Zufahrtsstraße zur Hauptstraße, der Tunnel Road. Über einen<br />

Zebrastreifen, mit zusätzlicher Ampelanlage, konnte man hier gemächlich die stark befahrene<br />

Straße überqueren. Schräg gegenüber lag das griechische Speiserestaurant „Asheville Grille“.<br />

Holt glaubte zuerst, es handle sich beim Namensgeber um ein kleines Krabbel- und Springtier<br />

aus dieser Gegend, bis er erkannte, dass es sich bei dieser „Grille“ um den bekannten<br />

Feuerplatz handelte, an dem die Amis ihre Bouletten und Steaks brutzelten. So einfach war es<br />

mit der Namensgebung. Der Wirt hieß Nikos Papadokulus oder ähnlich und sprach bis auf<br />

„Kali mera“ und „ti kanes“ keine weiteren Worte Griechisch. Holt, der Nikos mit seinem<br />

griechischen Wortschatz beeindruckte, erntete nur fragende und verständnislose Blicke. Aber<br />

so war Amerika, von einem Heinz Rühmann erwarten zu müssen, dass dieser Deutsch konnte,<br />

war genauso fehl am Platze, wie von einem Amerikaner namens Aristoteles zu erwarten, dass<br />

dieser Griechisch sprechen müsse. Aber es war schön in Nikos Kneipe. Die Bedienung sehr<br />

freundlich und flink und auf der Speisekarte standen tatsächlich noch griechische Gerichte.<br />

Diese waren zwar zum Teil mächtig amerikanisiert, aber erinnerten immer noch ein wenig an<br />

die Speisen im fernen „Elasa“.<br />

Bereits am zweiten Abend eine Kneipe zu finden, die beiden gefiel, hielt Holt für ein<br />

gutes Omen.<br />

Am Montag wurde es für Pauline ernst. Mit ein wenig bangem Herzens fuhr sie mit Holt zur<br />

neuen Arbeitsstätte. Da dieser sich jedoch dort für überflüssig hielt, wollte er zuerst zurück<br />

nach Hause fahren. An der Ausfahrt zur Hauptstraße fiel ihm ein Straßenschild auf, das mit<br />

Pfeilrichtung zur linken Seite auf die AB-Tech hinwies. Aus den Broschüren der<br />

Stadtverwaltung und des Tourismusbüros hatte Holt entnommen, dass es sich bei der AB-<br />

Tech um die Technische Universität des Ashville Buncombe County handelte. Na, den Laden<br />

schaue ich mir doch einmal an, dachte er und lenkte zur linken Seite hinüber. Die weitere<br />

Beschilderung war vorbildlich. Bereits nach zehn Minuten fuhr er in einer Seitenstraße links<br />

zum Campus ab und hielt auf dem großen Parkplatz vor der Universitätsverwaltung. Aus dem<br />

Haus kamen Studenten heraus und mehr gingen im Moment hinein. Im Gedränge der<br />

kommenden Studenten fiel Holt nicht auf, er ließ sich mit dem Strom treiben. In der<br />

Haupthalle blieb er vor dem Anschlagportal stehen, an dem die Lehrpläne und Kurse<br />

215


angeschlagen waren. Es handelte sich überwiegend um technische Kurse, aber auch<br />

Ökonomie, Literatur und Sprachen wurden vermittelt. Das Institut für Sprachen bot zum<br />

Beispiel für ausländische Studenten und Immigranten Englisch als zweite Sprache in drei<br />

Vorkenntnisstufen an. Die Kurse liefen drei Monate und würden am 3. September beginnen,<br />

an den ersten zwei Tagen des Monats sollten sich Interessenten im Sekretariat zur Einstufung<br />

anmelden. Diese Kurse seien kostenfrei. Holt wurde neugierig. Zögernd ging er in Richtung<br />

des Sekretariats, das sich im rechten Flügel der Verwaltung befand. Vor der Tür zum<br />

Sekretariat stand ein langer Tisch, an der drei Mitarbeiter des Instituts saßen. Als ein Platz frei<br />

wurde, setzte sich Holt und schaute eine ältere Frau erwartungsvoll an. Diese sprach Holt in<br />

einem klaren und langsamen Englisch an.<br />

„Mein Name ist Gey, ich bin hier die Mutter aller Studenten und werde daher<br />

Mamagey genannt. Kannst du mich verstehen?“<br />

Holt konnte es. Er dachte kurz nach und stellte sich ebenfalls in Englisch vor. „Ja ich<br />

verstehe Sie Mam. Mein Name ist Hans. Kann ich hier auch Englisch lernen?“<br />

„Warum solltest du hier nicht Englisch lernen, wenn du es möchtest?“<br />

„Weil ich kein Student mehr bin, dazu bin ich wohl schon zu alt.“<br />

„Niemand ist zu alt um etwas zu lernen.“<br />

„Ist es denn möglich. Ich lebe erst seit drei Monaten in den USA und habe noch keine<br />

richtigen Papiere.“<br />

„Deine Papiere sind uns egal. Wir brauchen nur ein paar Angaben zur Person und wo<br />

du wohnst und dann kann es für dich am Mittwoch losgehen, wenn du es möchtest.“<br />

Holt hatte alle Antworten verstanden und sein Wortschatz reichte auch aus, um sich<br />

mit Mamagey zu verständigen, obwohl ihm doch einige Redewendungen und Worte fehlten.<br />

„In welche Stufe werde ich kommen?“, wollte er wissen.<br />

Mamagey dachte kurz nach und antwortete, „Du wirst zu den Fortgeschrittenen, zu<br />

Rose kommen.“<br />

Holt war erschrocken, Zu den Fortgeschrittenen!, schoss es ihm durch den Kopf. Er<br />

schaute die Frau an und fragte zögernd, ob sie sich bei der Einstufung nicht doch geirrt habe.<br />

Mamagey lachte und sagte, wenn er sich zu überfordert fühle, könnte er jederzeit bei den<br />

Babys anfangen. Holt meinte, dass er aus dem Babyalter heraus sei und wohl die Rose nerven<br />

müsse.<br />

Er schaute sich in der Halle ein wenig um. Die angehenden Studenten standen in Gruppen<br />

herum und unterhielten sich angeregt. Die überwiegende Sprache, die er hörte, war Spanisch.<br />

Daneben aber auch Russisch und Chinesisch vermeinte er herauszuhören, aber niemand<br />

sprach Deutsch. Als er aus dem Gebäude heraus trat, überkam ihm Zweifel, ob er nicht doch<br />

zu schnell gehandelt hatte. Er würde fünfmal in der Woche vormittags von neun bis dreizehn<br />

Uhr büffeln müssen. Aber das Gute war, er würde Pauline jeden Tag zur Arbeit fahren können<br />

und danach noch pünktlich zum Kurs kommen. Nachmittags würde er einkaufen, kochen und<br />

die Wohnung sauber machen, bevor er Pauline um halb fünf von der Arbeit abholte.<br />

Eigentlich ideal.<br />

Gegenüber der Tunnel Road lag eine große Mall auf dem sich auch unter anderem die<br />

Supermarktkette Baylo befand. Eigentlich hätte Holt die kurze Strecke laufen können, aber da<br />

er nicht wusste, was ihn dort erwartete und er auch die ganze Mall einmal abfahren wollte,<br />

nutzte er das Auto. Von der Haustür bis zum Parkplatz waren es nur vier Minuten, davon<br />

hatte er alleine zwei Minuten vor der Kreuzungsampel gestanden. Der Laden war riesig, wie<br />

alles in den USA. Gleich links hinter dem Haupteingang befand sich ein Service Center, an<br />

dem es Briefmarken, Postkarten, Videos, Packpapier und Informationen gab. Holt zählte die<br />

Kassen durch. Er kam auf vierzig, davon war, jetzt zur Sauregurkenzeit des Tages, nur die<br />

Hälfte besetzt. Ganz links, in der Nähe des Service Centers standen drei merkwürdige Kassen,<br />

216


dessen Funktion er auf den ersten Blick nicht verstand. Als er sah, dass ein Kunde seine Ware<br />

aus dem Korb nahm, diese an einem Infrarot-Lesegerät einscannte und danach eine Visa Card<br />

in den Automaten einführte, begriff er den Zweck dieser eigentümlichen Kasse: Es war eine<br />

Selbstbedienungskasse! So etwas ist in Deutschland nicht möglich, dachte er. Die Kunden<br />

würden zu betrügen versuchen und um das zu verhindern müsste eine Kontrolle eingeführt<br />

werden. Dann könnte man ja gleich wieder eine Kasse voll besetzen.<br />

Im rechten Flügel fand Holt den „Frischemarkt“, der hier „Fresh Market“ hieß. Es gab<br />

wirklich alles, jede Gemüseart, Obst und Südfrüchte. In einer Ecke fand er eine ihm vertraut<br />

vorkommende Pflanze, nur wesentlich kleiner als in Deutschland, die ordinäre<br />

„Mecklenburgische Ananas“, auch Kohlrübe oder Wruke genannt. Hier hießen diese Zwerge<br />

„Rudebagas“, wovon Holt ein paar einpackte. Dazu müsste er Gänsefleisch, Hammel oder<br />

Kassler kaufen. Aber wie hieß den das alles auf Englisch? Gänse hießen „Goose“, das fiel ihm<br />

noch ein, aber Hammel, eventuell „Ham“? Nein, das war das Fleisch vom Rind auf den<br />

amerikanischen Burger. Also hin zur Fleischtheke und selbst nachschauen, vielleicht würde er<br />

etwas erkennen. Die Theke war „nur“ etwa fünfzig Meter lang. Nach zehn Metern war er<br />

schon erschlagen, dabei hatte er nur die erste Hälfte vom Schwein hinter sich. Hinter dem<br />

Rind kam Geflügel. Alles war für mögliche Analphabeten schön mit den Bildern der<br />

Opfertiere versehen, die am obersten Träger der Theke angebracht waren. Darauf konnte er<br />

wohl vertrauen, aber zu welchem Tier gehörte Kassler? Schwein, natürlich. Aber wo zu<br />

Teufels Namen lag dieses Schweineteil? Ein wenig irritiert entschloss sich Holt, doch zuerst<br />

beim Geflügel nach Frau Goose zu suchen. Gänse gab es nicht, oder die hießen hier anders<br />

oder sie sahen auch anders aus. Anstatt eine Gans zu finden, fand er nur „Ducks“, keine<br />

„Dogs“, die offensichtlich alle mit Donald verwand und viel zu klein waren. Dann sah er<br />

Teile einer Gans, die schönen Oberschenkel, die hier seltsamerweise „Turkey legs“ oder<br />

„Drumpsteaks“ hießen. Egal, er packte vier dieser Gänseteile, die offensichtlich aus der<br />

Türkei kamen, ein. Um die nächste Ecke fand er noch rötlich schimmernde Kartoffeln aus<br />

Ohio, die er auch im Einkaufswagen verstaute. Er hatte fasst alles, bis auf Butter, Aufschnitt<br />

und Brot. Butter und Aufschnitt waren kein Problem, aber die Suche nach Brot artete zur<br />

Depression aus. Zwanzig Meter Brottheke, davon fasst die Hälfte Dunkles, auf welches Holt<br />

zielstrebig zumarschierte. Bereits, als er die Brotpackungen in die Hand nahm, merkte er den<br />

Unterschied zum Brot in Deutschland. Er konnte den Daumen bis zum Zeige- und<br />

Mittelfinger zusammendrücken. Dazwischen war kein Widerstand, scheinbar nur Luft. Alle<br />

zweiunddreißig dunkle Brotsorten waren amerikanisches „Puffbrot“ ohne Halt und Biss. Als<br />

einzigste Alternative bot sich nur schwarzes und klebriges Pumpernickel in Alufolie an, die<br />

Packung für acht Dollar.<br />

Nachdem Holt seine Beute in der Küche verstaute, bereitete er das erste Abendessen in<br />

Asheville vor. Es sollte Gänseklein auf gedünsteten Kohlrübenschnitzeln mit überbackenen<br />

Kartoffeln geben. Als Nachtisch Himbeerpudding mit Vanillesoße. Alles wurde abgerundet<br />

mit einem kalifornischen Rosé. Er wurde noch rechtzeitig fertig, um Pauline abzuholen. Im<br />

Auto versprach er ihr eine schöne Überraschung. Pauline war ausgehungert und noch mehr<br />

gespannt. Holt ließ sie erst gar nicht bis zur Küche kommen, sondern platzierte sie an den<br />

eingedeckten Tisch. Das Abendessen war ein voller Erfolg, Holt konnte mindestens zehn<br />

Pluspunkte verbuchen. Als er den Hauptgang vor Pauline stellte, schlug diese begeistert die<br />

Hände zusammen.<br />

„Oh, wie schön, Putenkeulchen mit Mohrrübchen und Kartöffelchen!“<br />

Was für Pute und wo waren die Mohrrüben?, dachte Holt ein wenig irritiert, freute<br />

sich aber zu sehen, wie Pauline zulangte. Erst beim Essen korrigierte sie sich teilweise.<br />

„Ich dachte, es wären Mohrrüben, das sind ja Steckrübchen. Die passen aber sehr gut<br />

zu Putenfleisch.“ Sie kaute ein wenig auf einen Knochen herum und ergänzte, „Dazu hätte<br />

auch schön Kassler gepasst.“<br />

217


„Hab ich nicht gefunden!“, grummelte Holt. „Und das ist keine Pute, das ist Gans.“<br />

„Hans, das ist keine Gans, das sind Putenkeulen. Was stand auf der Packung drauf?“<br />

„Gänse aus der Türkei!“<br />

„Wie wurde da Türkei geschrieben?“<br />

„Na, t, u, r, k, e und y. Zusammen turkey.“<br />

Pauline lachte laut auf. „Turkey ist nicht Türkisch sondern das ist die Pute. Du hast<br />

doch Putenschenkel gekauft. Die sind noch viel besser als die mageren Schenkel einer Gans.<br />

Freue dich doch, wir haben das beste Essen seit langer Zeit.“<br />

Holt hatte wieder etwas dazu gelernt, also die Türken waren in Wirklichkeit nur Puten<br />

und Pauline konnte Wruken nicht von Mohrrüben unterscheiden.<br />

Die Entscheidung, an der AB-Tech einen kostenlosen Englischkurs zu besuchen, fand<br />

Paulines ungeschmälerte Zustimmung. Sie freute sich und war erleichtert, dass Holt sich nicht<br />

überflüssig vorkam, sondern das Heft des Handelns selbst in die Hand nahm. Er konnte nichts<br />

Weiteres machen, als auf die Bearbeitung seines Antrages zu warten, bis eines Tages in weiter<br />

Ferne eine Entscheidung getroffen wurde. Wie diese ausfiel, stand in den Sternen. Die<br />

Angelegenheit mit einer Zivilklage gegen Schulz und Konsorten hatten sie in Anbetracht der<br />

Zahlungen an einen Anwalt erst einmal auf Eis gelegt. Aber warum sollte man diesen<br />

Gangstern das Feld so einfach weiter überlassen? Man konnte ihnen doch das Leben ein<br />

wenig schwerer machen, zumindest soweit es sich auf die USA bezog. Ross nutzte doch die<br />

Stewardess Mary mit ihren Verbindungen zur Fluglinie weidlich aus. Er war illegal über die<br />

USA eingereist und schmuggelte von Costa Rica aus in Richtung USA Drogen und Hightech<br />

zurück von den USA nach Costa Rica. Holt wusste nichts Genaues, nur das, vor dem<br />

Erscheinen Ross immer damit geprahlt hatte. Also sollte man versuchen, den Brunnen der<br />

Bereicherung trocken zu legen. An wen konnte man sich hier in den USA wenden? In Frage<br />

kam nach Meinung Holts nur die Bundespolizei FBI, die für grenzüberschreitende<br />

Verbrechen zuständig war. Oder ist es die Immigration oder die Border Control? Er war sich<br />

nicht schlüssig und sprach mit Pauline darüber.<br />

„Hans, wir sollten uns einmal bei der ganz normalen Stadtpolizei erkundigen. Die<br />

werden uns schon sagen, wer für unsere Freunde zuständig ist,“ meinte Pauline. „Morgen<br />

willst du doch noch Schulhefte kaufen. Schräg gegenüber ist eine Polizeistation. Frag dort<br />

mal nach.“<br />

„Pauli, ich mit meinen Englischkenntnissen. Wenn ich dort erscheine, nehmen die<br />

mich fest, weil sie es so verstehen, dass ich dort ein Geständnis ablegen will.“ Holt meinte es<br />

nicht so ernst, aber ein wenig mulmig war ihm schon beim Gedanken, bei der Polizei<br />

hereinzuspazieren und Erkundigungen einzuziehen.<br />

Nachdem er am nächsten Morgen seine ABC-Utensilien im Auto verstaute, betrat er frohen<br />

Mutes die Polizeistation. Am Empfang saß eine äußerst korpulente Schwarze in blauer<br />

Uniform, die in einem Haufen Papier herumwühlte und ihn beim Nähertreten erwartungsvoll<br />

anschaute. Holt wagte sich und fragte, ob sie Deutsch verstehe. Verstand sie nicht. Dann<br />

fragte er, ob er einem Detective in einer privaten Angelegenheit sprechen könne. Konnte er<br />

nicht, sie hatten hier nur Streifenpolizisten. Dann fragte er, ob er den Chef sprechen könne.<br />

Konnte er nicht, der Chef war gerade in Raleigh. Nun stand er ratlos vor dem Tresen und<br />

dachte nach, Was nun?<br />

Die Dame in Blau hatte wohl seine Unbeholfenheit mit der staatlichen Autorität und<br />

seinen Status als „Stranger“ mitbekommen. Als ein Polizist am Tresen vorbei ging und die<br />

Dame in Blau freundlich mit Hällooh Bäsz begrüßte, sprach sie ihn an und zeigte auf Holt und<br />

sagte etwas zum Polizisten, der sich umdrehte und ihn mit einem Armwinken aufforderte,<br />

mitzukommen. Der Polizist ging voran, Holt folgte ihm in ein großes Büro. Draußen an der<br />

Glastür stand Pol. Serg. John Breithufer und wies folglich den vorangehenden Polizisten als<br />

218


den Mann mit den breiten Hufen aus, was sich ziemlich Deutsch anhörte oder auch Bayrisch.<br />

Breithufer winkte Holt hinein und wies auf den Gästestuhl. Er konnte nur ein paar<br />

Worte Deutsch von seiner Oma, wie Hühnersuppe und Handfeger, die tatsächlich aus Bayern<br />

kam, er selbst nur aus einigen Hollywoodfilmen Heil Hitler, Halt oder ich schieße und<br />

Scheiße. Das war zur Aufnahme einer Anzeige oder einer Beratung zu wenig. Breithufer hatte<br />

jedoch ein gutes Ohr und viel Fantasie, dass er Holts Anliegen richtig verstand. Er kratzte sich<br />

mit einem Bleistift hinter dem Ohr und dachte laut nach, was Holt nur zum Teil verstand.<br />

Dann kam seine offizielle Entscheidung: Für Straftaten und Vergehen, die<br />

grenzüberschreitend waren, die mit Drogen, Flugsicherheit und Technik im Zusammenhang<br />

standen, war entweder die DEA oder das FBI zuständig. Eine DEA-Dienststelle, der<br />

amerikanischen Drogenfahndung gab es nicht in Asheville, aber ein Büro der Bundespolizei.<br />

Das lag in Down Town, gegenüber der Stadtverwaltung. Er gab Holt ein Merkblatt, auf dem<br />

die Telefonnummern und die Adressen aller Polizeibehörden vom Buncombe County standen.<br />

Obwohl er Pauline vor erst einer Stunde abgesetzt hatte, schaute er noch einmal dort vorbei.<br />

Sie war mit Caren beschäftigt, kam aber zur verschlossenen Tür, hinter der er draußen<br />

wartete. Nachdem sie geöffnet hatte, drückte er ihr das polizeiliche Merkblatt in die Hand und<br />

bat, noch in der normalen Dienstzeit beim FBI einmal anzurufen, was Pauline versprach.<br />

Abends erzählte Pauline Holt, dass sie beim FBI angerufen hatte. Irgendein Mitarbeiter habe<br />

sich offensichtlich ein paar Stichpunkte gemacht und Pauline gesagt, dass sich das FBI bei ihr<br />

melden würde, wenn es mehr Zeit habe. Im Moment waren alle Agenten mit Verbrechern<br />

beschäftigt, sofern es sich nicht um ein akutes Schwerverbrechen handle, möge sie<br />

Verständnis haben. Pauline hatte Verständnis und Holt, der im Geiste die Anzeige bereits<br />

zerknüllt im Papierkorb sah, schwieg. Eine Woche später sollte dieses Bemühen Schnee von<br />

gestern sein, die USA waren in ihren Grundfesten erschüttert und das FBI jagte fortan nur<br />

dunkelhäutige, arabisch erscheinende Menschen. Davon ahnten Pauline und Holt noch nichts.<br />

Das sich anbahnende Unheil sollte auch tief in ihr Leben eingreifen.<br />

*<br />

Bei Pauline gab es im Moment nicht viel zu tun, sie hatte einen Tag frei bekommen um am<br />

kommenden Morgen nach Knoxville in Tennessee, zu einem dreitägigen Betriebslehrgang, zu<br />

fahren. Von Asheville bis nach Knoxville waren es ungefähr einhundertzwanzig Meilen und<br />

der Weg führte durch die südlichen Ausläufer der Blue Ridge Mountains. Caren hatte Pauline<br />

erzählt, dass es eine wunderschöne Stecke sei.<br />

Die Firma hatte für alle ihre Mitarbeiter in einem Hotel Zimmer reserviert und auch die<br />

Kosten übernommen. Caren hatte eingewilligt, dass Holt diese drei Tage mitkommen und<br />

auch im Hotel übernachten konnte. Dieser war sehr erfreut darüber, etwas von Tennessee zu<br />

sehen. Die meiste Zeit wollte er dazu nutzen, sich die Umgebung näher anzuschauen,<br />

während Pauline im Lehrgang saß.<br />

Nach dem Frühstück, kurz nach halb neun Uhr, war Pauline mit ihrer Wäsche zum<br />

Waschraum ins Tiefgeschoss gefahren. Holt hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, im<br />

örtlichen Radio, die Morgensendung zu hören. Ein Moderatorenpärchen alberte herum und<br />

unterhielt die Zuhörer. Alle halbe Stunde wurden die laufenden Sendungen für fünf Minuten<br />

Nachrichtenzeit unterbrochen. Beim Aufräumen in der Küche hörte Holt, dass der<br />

Nachrichtensprecher davon berichtete, dass in einem Turm des World Trade Center in New<br />

York ein Flugzeug eingeschlagen sei. Man könne derzeit noch nicht sagen, ob es sich um ein<br />

kleineres Sportflugzeug oder ein von der Fluglinie abgekommenes größeres Privatflugzeug<br />

handelte. Von Weitem könne man aus dem Turm Qualm entweichen sehen. Holt kannte die<br />

Gewohnheiten beim Sender CNN und war sich sicher, dass diese live darüber berichteten. Er<br />

219


ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Als erstes Bild sah er die<br />

Zwillingstürme des World Trade Centers in der Skyline von New York. In der Tat kam aus<br />

einem Turm im oberen Bereich Qualm.<br />

Pauline kam mit dem Wäschekorb in die Wohnung und schaute erstaunt auf Holt, weil<br />

dieser bereits am Morgen vor dem Fernseher saß, was er sonst nicht tat.<br />

„Ich habe eben im Radio gehört, dass ein Flugzeug ins World Trade Center gerast sei.“<br />

Dabei deutete er auf den Bildschirm. Pauline stellte den Korb ab und setzte sich neben Holt<br />

auf das Sofa.<br />

„Die wissen nicht, wie groß das Flugzeug ist, sie vermuten ein kleines.“ Holt sah sich<br />

das Bild genauer an. „Siehst du da die vielen kleinen rechteckigen dunklen Flächen am<br />

Turm.“ Er zeigte mit dem Finger am Bildschirm darauf. „Das sind Fenster. Der Qualm<br />

kommt mindestens aus drei übereinanderliegenden Etagen. Wenn man davon ausgeht, dass<br />

eine Etage mindestens vier Meter im Anspruch nimmt, steht eine Fläche von ungefähr<br />

fünfzehn Mal fünfundvierzig Meter in Flammen. Das schafft kein kleines Sportflugzeug ...<br />

glaube ich jedenfalls.“<br />

Pauline betrachtete das Bild genau und schloss sich Holts Meinung an. Hier musste<br />

eine größere Maschine eingeschlagen sein. Es war gerade neun Uhr und drei Minuten. Auf<br />

dem Bildschirm erschien ein weiteres Flugzeug. Holt dachte einen kurzen Moment an ein<br />

Beobachtungsflugzeug oder sogar an ein Löschflugzeug. Das Flugzeug verschwand kurz<br />

hinter dem qualmenden Turm, erschien wieder und zog eine elegante Kurve. Dann flog es<br />

direkt auf den anderen, nicht getroffenen Turm zu. Nach wenigen Sekunden schlug es mit<br />

einem Feuerball ein. Holt und Pauline hatten angesichts dieses Szenariums die Luft<br />

angehalten. Fassungslos und ungläubig schauten sie sich an. Holt fand als Erster wieder<br />

Worte.<br />

Er flüsterte fasst, „Pauli, das ist kein Unfall, das ist Absicht.“ Nach einer Pause des<br />

gemeinsamen Entsetzens ergänzte er, „Das ist ein Anschlag ... das ist ein entsetzlicher<br />

Terroranschlag.“<br />

Die Stimme des Kommentators bei CNN überschlug sich. Dann auch dort<br />

fassungsloses Schweigen. Das Gesamtbild von CNN änderte sich mit einem Mal und der<br />

Sender sollte diesen Rahmen über Wochen beibehalten und alle anderen Fernsehsender der<br />

USA schlossen sich an. In der oberen Hälfte erschien der Aufmacher, America Under Attac!<br />

Aus dem Fenster konnte Holt auf der Tunnel Road sehen, dass fasst alle Fahrzeuge mitten auf<br />

der Straße anhielten und einige Leute fassungslos ausstiegen und miteinander sprachen. Dann<br />

fuhren sie wieder ab und die Straßen erschienen menschenleer. Die Zeit verging, wie gebannt<br />

saßen Holt und Pauline vor dem Fernseher. Sie hatten die Welt herumvergessen und waren in<br />

Gedanken in New York. Eine Stunde später nach dem zweiten Einschlag berichtete der<br />

Sender über zwei weitere Terroranschläge. Ein Flugzeug war in Washington DC in das<br />

Pentagon gerast und ein weiteres auf ein Feld bei Pittsburgh, in Pennsylvania abgestürzt. Alle<br />

waren große Boing 737, mit jeweils mehreren hundert Menschen an Bord.<br />

Der Sender berichtete von der Evakuierung der Twin Tower und das nun einige<br />

hundert Feuerwehrmänner und Polizisten versuchten, die noch Eingeschlossenen zu befreien<br />

und Opfer zu bergen. Immer wieder wurde die Szene des zweiten Einschlages mit dem<br />

riesigen Feuerball gezeigt. Dazwischen die beiden brennenden Türme. Um 09:59 zoomte die<br />

Kamera mit einem Mal den Südturm näher. Der Turm sackte in sich zusammen, von oben<br />

nach unten, Etage für Etage und dabei wurden Staubwolken aus dem kollabierenden Turm zu<br />

allen Seiten herausgepresst. Es sah aus, als ob ein Kartenhaus zusammenbricht. Holt erinnerte<br />

es dabei an den Film Independence Day. Dann wurde ihm bewusst, gerade jetzt, in diesem<br />

Moment, sterben wahrscheinlich hunderte Menschen. Die Türme mussten voll sein von<br />

Bergungsleuten und noch nicht geretteten Opfern, die es nicht von alleine schaffen konnten,<br />

sich in Sicherheit zu bringen.<br />

220


Genau dreißig Minuten später kollabierte der Nordturm. Auch dieser stürzte in sich<br />

zusammen wie ein Kartenhaus. Holt konnte es nicht fassen, dass Stahl und Beton mit einem<br />

Mal wie Lehmhütten in sich zusammen und auseinanderfielen. Neben dem Twin Tower<br />

wurden noch weitere dicht danebenstehende Türme beschädigt. Kleinere stürzten in sich<br />

zusammen. Die Fernsehaufnahmen aus einem Helikopter zeigen das Inferno eines sich im<br />

Kriege befindlichen Landes. Doch wer waren die Angreifer? Der Antwort sollte man Tag für<br />

Tag ein wenig näher kommen und diese sollte in einen Krieg gegen Afghanistan und dem Irak<br />

münden, der noch mehr Opfer abverlangte.<br />

Am nächsten Morgen fuhren sie übernächtigt nach Knoxville. Eine richtige Freude, die Fahrt<br />

durch die wunderschöne Gegend zu genießen, wollte nicht aufkommen. Sie sprachen über die<br />

Anschläge und ihre Gedanken waren bei denen, die nicht mehr leben durften sowie deren<br />

Freunde und Angehörige.<br />

Sie kamen noch rechtzeitig an, um im Hotel einzuchecken und sich frisch zu machen.<br />

Nicht weit vom Hotel entfernt, in der Dependance der Firma in Knoxville, in einer Mall, fand<br />

nach Mittag der erste Tag des Meetings statt. Holt wollte sich Knoxville anschauen, blieb<br />

jedoch in der großen Bibliothek in der Mall hängen. Die in der Bibliothek ausgelegten<br />

Zeitungen berichteten Unisono über die Ereignisse in New York, Washington DC und dem<br />

Feld von Virginia. Amerika hielt den Atem an. Erst zierten vereinzelt schwarze<br />

Trauerschleifen, angebunden an den Antennen, die Autos. Im Laufe des Tages wurden es<br />

immer mehr. Am Abend gab es offensichtlich in den USA keine Autos mehr, die nicht mit<br />

dem Trauerflor bestückt waren. Holt demonstrierte seine Anteilnahme und Solidarität mit den<br />

Opfern ebenfalls durch das Anbringen dieses kleinen Stückchen Stoffes an seinem Wagen.<br />

Eigentlich war es kein Erwerb gewesen. Ein junges Mädchen an der Kasse der Bibliothek<br />

hatte eine große Rolle schwarzen Stoffbandes und eine Schere vor sich liegen. Jeder Kunde,<br />

der eine Zeitung oder ein Buch kaufte, bekam unaufgefordert ein Stück Trauerband mit der<br />

Quittung ausgehändigt. Es begann eine Welle des Patriotismus über die USA zu schwappen,<br />

die in einzelnen Aspekten kuriose und für Holt befremdliche Züge annahm. Eine ebenfalls in<br />

der Mall gelegene chemische Reinigung brachte eine Nachricht im Schaufenster an, dass sie<br />

ab jetzt die US-Fahnen unentgeltlich reinigen würde. In den Geschenkartikelgeschäften<br />

wurden die kleinen Anstecker mit den Stars and Stripes ebenfalls unentgeltlich abgegeben.<br />

Schon kurze Zeit später erschien der Anstecker United We Stand!, Vereint stehen wir<br />

zusammen oder Vereint Widerstehen!<br />

Pauline beendete pünktlich den ersten Tag ihres Meetings. Zu Beginn hatten sie nur eine<br />

Trauerminute des Gedenkens eingelegt, dann ging das normale Leben scheinbar weiter in<br />

Knoxville, in Tennessee, in den USA, in der Welt, obwohl man sich fragte, ob nach solchen<br />

bestialischen Angriffen auf die Zivilisation das Leben normal weitergehen konnte. Nicht das<br />

so schnell vergessen und verdrängt wurde, nein, die Probleme und Sorgen des Alltages waren<br />

näher als die Trümmer des World Trade Centers, sie standen im Vordergrund. Änderungen im<br />

alltäglichen Leben, kamen nur langsam und noch unsichtbar vor, wurden mehr und<br />

eindringlicher, bis sie auch Pauline und Holt erreichten.<br />

Trotzt der politischen Ereignisse bot die Situation in Knoxville für Pauline im<br />

Firmenbereich und für Holt beim Herumfahren in der Umgebung Abwechslung. Am zweiten<br />

Tag fuhr Holt an einen in der Nähe gelegenen See, der von einem kleinen Nationalpark<br />

umgeben war. Direkt am See lag ein Erholungszentrum, das jetzt wie ausgestorben war und<br />

keine Besucher hatte. Holt setzte sich direkt am See auf einen Felsen und schaute auf das<br />

Wasser. Hier hatten noch vor einigen hundert Jahren Indianer gelebt und gefischt. Nach dem<br />

Aushang an der Rezeption sollten es Dakotas gewesen sein, die bis zum amerikanischen<br />

Bürgerkrieg hier lebten und dann später irgendwo weiter im Westen, in einer Reservation als<br />

Nation verkümmerten. Er schloss die Augen und vermeinte das Kriegsgeschrei der Indianer<br />

221


zu hören. Als er die Augen öffnete und seinen Kopf ein wenig zurückdrehte, sah er den Grund<br />

des Geschreis. Es waren zwei Kleinkinder, die aus einem gerade angekommenen Auto<br />

krabbelten und von ihren Eltern wieder eingefangen wurden. Das waren die Indianer von<br />

heute.<br />

Am Sonnabendnachmittag ging es nach Asheville zurück. Am Abend vorher hatte Holt auch<br />

einige Kolleginnen von Pauline kennen gelernt. Sie waren eigentlich alle nett, aber nach Holts<br />

Geschmack ein wenig überdreht. Sie waren aus der Branche, zumindest hatten sie bislang viel<br />

mit Beauty zu tun gehabt, aber geholfen hatte es meistens auch nichts. Die einzigste Frau in<br />

dieser Truppe, neben Pauline, war Caren, die in der Tat eine hübsche Frau war, welche die<br />

vielen Angebote ihrer Firma zum Aufpeppen der Schönheit am wenigsten benötigte. Das<br />

behielt er aber für sich, selbst Pauline brauchte seine Meinung zur Schönheit und Pflege<br />

dieser nicht unbedingt zu wissen. Die Rückfahrt verlief ein wenig gelöster als die Hinfahrt, als<br />

sie noch unter der Wirkung der Terroranschläge gestanden hatten. Bewusst nahmen sie die<br />

Schönheit der Landschaft wahr.<br />

In Asheville hatte sich in den drei Tagen ihrer Abwesenheit einiges geändert. Die<br />

Flaggen im Hospital und vor der Anlage standen auf Halbmast. Benjy hatte an der Fahrerseite<br />

seines Autos eine kleine amerikanische Flagge angebracht. Einige andere Autos hatten auch<br />

so kleine Dinger. Eine Woche später hatte Benjy sogar an der Beifahrerseite noch eine Fahne<br />

und nach etwas über drei Wochen nach den Anschlag, auch innen am Rückfenster. Eigentlich<br />

war Holt zum Lästern zumute, aber hinsichtlich der Ernsthaftigkeit, mit der Benjy, seinen<br />

Patriotismus zum Ausdruck brachte, verzichtete Holt auf irgendeine unpassende Bemerkung.<br />

Er hatte mitbekommen, dass sich überall im Lande Bürgerwehren bildeten, die nach<br />

braunhäutigen Mitbürgern Ausschau hielten und diese argwöhnisch beobachteten. Am<br />

Militärhospital hatte sich auch so eine Bürgerwehr gebildet. Benjy war dort Mitglied, er hatte<br />

seine alte Militäruniform herausgekramt und trug nun diese nun demonstrativ. Holt erinnerte<br />

sich an die Berichte, die sich mit der Zeit nach Pearl Harbour 1940 beschäftigten. Damals,<br />

nach dem Angriff der Japaner, hatten sich auch Heimwehren gebildet, die alle Asiaten, egal<br />

ob mit oder ohne Staatsbürgerschaft, unter Generalverdacht stellten und tausende<br />

amerikanische Bürger japanischer Abstammung landeten unschuldig im Internierungslager.<br />

Holt hoffte inständig, dass sich solche Missstände bezüglich der Araber nicht wiederholen<br />

würden.<br />

Inmitten dieser gespannten Atmosphäre kam für Holt Post aus Arlington, Virginia. Es war ein<br />

Brief mit der äußeren Beschriftung IMPORTANT INFORMATION ENCLOSED. Im Couvert<br />

lag ein maschinengeschriebener Ausdruck des US Immigration and Naturalisation Asylum<br />

Office, in dem Holt mitgeteilt wurde, dass sein Antrag auf Asyl unter der Nummer A-<br />

79509101 bearbeitet würde. Zum Interview sei er am 15. November eingeladen. Ausführlich<br />

wurde er darüber belehrt, von allen Dokumenten, die seinen Status als Asylsuchenden<br />

bestätigten, drei Exemplare mitzubringen. Falls er Englisch nicht ausreichend verstand, war er<br />

verpflichtet, sich auf seine Kosten einen Dolmetscher zu besorgen. Vom Übersetzen<br />

ausgeschlossen waren Verwandte und Ehefrauen, Verlobte und persönlich nahestehende<br />

Personen. Eindringlich wurde auf die Rechtsfolgen des Nichtbeibringens von Beweisen,<br />

Zeugenaussagen oder eines vertretenden Anwaltes, hingewiesen. Der gesamte Text war nicht<br />

gut zu lesen, es war schlicht eine Androhung von staatlichen Gewaltmaßnahmen im Falle<br />

einer Zuwiderhandlung.<br />

Problematisch waren für Holt die entstehenden Kosten, um nach Arlington zu fahren,<br />

dort zu übernachten und den Dolmetscher zu bezahlen. Am billigsten war noch die Fahrt mit<br />

dem Auto. Von Asheville bis Arlington waren es zirka fünfhundert Meilen. Geld für das<br />

Benzin war nicht problematisch. Schwieriger wurde es bei den Übernachtungskosten.<br />

Arlington lag zwar in Virginia, war dennoch ein Vorort von Washington DC, nur wenige<br />

222


Meilen entfernt. Die Hotelkosten in der Bundeshauptstadt oder in den angrenzenden<br />

Ortschaften lagen erheblich über den Durchschnitt aller Hotelkosten in den USA. Die billigste<br />

Übernachtung, die Holt im Internet finden konnte, lag bei einhundertfünfundachtzig Dollar.<br />

Noch schlimmer war es mit den Kosten des Übersetzers. Es war schon schwer, einen<br />

Übersetzer der deutschen Sprache zu finden. Einige Büros, die Deutsch anboten, nahmen für<br />

die Stunde zwischen siebzig bis zweihundertvierzig Dollar. Alle kontaktierten<br />

Übersetzungsbüros stellten den Kunden jedoch mindesten einen halben Tag in Rechnung,<br />

zwischen zweihundertvierzig bis neunhundertsechzig Dollar, da sie ab dem festgelegten<br />

Termin um 7:45 präsent sein mussten. Wann der Antragsteller seine Befragung hatte, war<br />

nicht vorher zu bestimmen, es konnte bereits um 8:00 aber auch erst um 12:30 sein. Die<br />

Interviews des INS lagen zwischen 7:45 und 13:00.<br />

Pauline war erstaunt darüber, dass sie von der Befragung ausgeschlossen und auch nicht<br />

übersetzen durfte. Holt verstand zwar den Grund, aber war damit nicht glücklich. Die<br />

Immigration befürchtete offenbar, dass durch beim Antragsteller involvierte Personen, es mit<br />

der Wahrheit nicht so genau nehmen. Das war natürlich nicht von der Hand zu weisen.<br />

Unverständlich war auch, dass das INS nicht eigene Dolmetscher hatte. In Florida war es ganz<br />

normal, dass alle Landes- wie auch Bundesbehörden spanisch sprechendes Personal hatten.<br />

Konnte ein zugereister Latino sich nicht verständlich machen, wurde ihm auf Kosten des<br />

Staates ein Dolmetscher gestellt. Aber es war auch kein Wunder, wenn man sich die<br />

Familiennamen der Beamten genauer anschaute.<br />

Über fünfundsiebzig Prozent aller Staatsbediensteten trugen spanische Familiennamen wie<br />

Ramez, Castro oder Gonzales. Es war auch bekannt, dass die Einwanderer aus Lateinamerika<br />

überall eine starke Lobby hatten, dass viele Rechtsanwälte für die Latinos die Fälle im „Pro<br />

Bono Verfahren“ 46 , also unentgeltlich, annahmen oder das eingebürgerte Sponsoren sich um<br />

ihre nachziehenden Landsleute kümmerten, indem sie die Kosten der Einbürgerung und die<br />

Lebenshaltungskosten der ersten Zeit in den USA übernahmen. Um einen Deutschen<br />

kümmerte sich niemand, er hatte keine Lobby und wurde wegen seiner hellen Hautfarbe auch<br />

nicht bevorzugt.<br />

Frust breitete sich bei Pauline und Holt aus. Im Glauben an die, fälschlicherweise verbreitete<br />

Auffassung in den USA, dass sich die Abgeordneten des Senats oder die Vertreter der<br />

Wahlkreise um die Belange ihrer Wähler kümmerten, schrieb Pauline an den für Asheville<br />

zuständigen Representative Mr. Sichelbrenner, der zudem auch noch Vorsitzender eines<br />

Komitees im Senat war. Holt hatte beim Lesen des Familiennamen Sichelbrenner einen<br />

„Migrationshintergrund“ mit Beziehungen zu Deutschland vermutet. Das muss aber bereits<br />

vor mehreren hundert Jahren gewesen sein, als noch fasst alle Einwanderer nach Nordamerika<br />

aus Europa und damit auch aus Deutschland kamen. Besagter Herr Sichelbrenner meldete sich<br />

nicht, er ignorierte Paulines Bittgesuch, einmal nach Holts Antrag zu fragen. Ein weiterer von<br />

Pauline auch angeschriebener Representative, diesmal mit den schönen englischen Namen<br />

Charles M. Worcestershire, hüllte sich ebenfalls in Schweigen. Letztlich schrieb Pauline an<br />

einen Senator, Mr. Bull Leahy, der auch nicht reagierte. Alle drei Politiker hatten schöne<br />

Webseiten, auf denen sie sich als die Vertreter des amerikanischen Volkes anpriesen und ihre<br />

Erfolge im Kampf um Demokratie und Gerechtigkeit aufzählten.<br />

Holt hatte im Internet eine amtliche Webseite entdeckt, die sich mit Problemfällen bei der<br />

Einbürgerung oder Erlangung eines rechtlichen Bleibestatus beschäftigte. Ein Mister Steven<br />

Short war Leiter des Büros, welches Pro Bono- Fälle an Rechtsanwälte weiter gab. Alle<br />

kleinen und großen Probleme, die man hatte, konnte man auf dieser Website in das Feld<br />

„Contact“ eingeben. Es wurde versprochen, dass alle Fragen beantwortet werden würden, nur<br />

223


wann es sei, das stand dort nicht. Diese Mail wurde ebenfalls nie beantwortet.<br />

Der Sprachkurs machte Holt richtig Spaß. In seiner Gruppe waren die meisten Teilnehmer<br />

Latinos. Sie kamen unter anderem aus Kolumbien, Nicaragua und Kuba. Holts Nachbarin zur<br />

rechten Seite, Felicitas, war aus Kolumbien. Ihm gegenüber am langen Tisch saß ein Türke<br />

und weiter links zwei Russen. Auch ein Chinese war vertreten. Holt wunderte sich über den<br />

Türken und die Russen. Der Türke war anfänglich sehr verschlossen und sprach auch in den<br />

Pausen nicht mit Holt. Als er jedoch ein deutsch-englisches Wörterbuch auf den Tisch legte<br />

und darin nachschlug, war es Holt klar, dass dieser Deutsch verstehen musste. Er sprach ihn<br />

einfach auf Deutsch an und bekam auch auf Deutsch eine Antwort. Yussuf war bereits als<br />

kleines Kind mit seinen Eltern aus der westlichen Türkei nach Köln gekommen. Dort hatte<br />

sich seine Familie, im Gegensatz zu den meisten eingewanderten Türken aus den ländlichen<br />

Gebieten Anatoliens, dem deutschen Leben angepasst. An der Ruhruniversität hatte er<br />

Germanistik studiert und dort auch seine deutsche Frau kennen gelernt. Eine Erbschaft machte<br />

Yussufs Frau zur Eigentümerin eines Feriencampus bei Asheville. Die amerikanische Tante<br />

hatte ihrer deutschen Nichte ein ansehnliches Anwesen vererbt. Diese Ferienanlage wurde bis<br />

auf die fünf Wintermonate von den Schulen der Umgebung genutzt, die für diese Nutzung<br />

auch viel Geld ausgaben. Die Erbin konnte als Eigentümerin einer wertvollen Immobilie ohne<br />

Probleme in den Staaten leben, ihr türkischer Ehemann ebenfalls. Nun, wo die Belegung des<br />

Campus spärlicher wurde, hatte die Ehefrau den bilingualen Yussuf an die AB-Tech beordert,<br />

um aus diesem einen triolingualen amerikanischen Businessmann zu machen.<br />

Nachdem sich Holt und Yussuf mehrmals in den Pausen intensiv unterhielten, sprachen sie<br />

auch im Unterricht Deutsch miteinander. Der schräg gegenübersitzende Russe Alexander<br />

hörte scheinbar aufmerksam zu. Holt konnte an seiner Reaktion erkennen, dass der<br />

hinreichend Deutsch verstand, um das Gespräch zu verfolgen. Als er während eines Dialoges<br />

zwischen Holt und Yussuf bei einer passenden Gelegenheit lachte, zog Holt auch ihn in das<br />

Gespräch mit hinein. Zu seiner Überraschung antwortete Alexander auf Russisch, was Holt<br />

auch teilweise verstand. In der Folgezeit entspann sich oftmals zwischen den Beiden ein<br />

Gespräch, in dem Holt den Russen auf Deutsch ansprach und dieser auf Russisch antwortete<br />

oder auch in umgekehrter Richtung. Rose hatte diese sonderbare Konversation mitbekommen<br />

und sich zuerst darüber amüsiert. Als es ihr zu viel wurde, ermahnte sie ihre fremd<br />

sprechenden Schüler, sich in Englisch zu unterhalten, was auch befolgt wurde.<br />

Holt verbarg seine Neugierde nicht. Er fragte Alexander, den er nachfolgend in der russischen<br />

Kurzform mit Sascha ansprach, was ihn denn in den USA verschlagen hätte. Zuerst versuchte<br />

er es mit einer Schwindelei, und er erklärte, unbeabsichtigt seine Greencard in der Lotterie<br />

gewonnen zu haben, als er nur so zum Spaß an der Lotterie teilnahm. Da Holt skeptisch blieb<br />

und es Sascha auch zu erkennen gab, lenkte dieser ein und erzählte einige Wochen später eine<br />

glaubhaftere Geschichte. Ob diese vollkommen der Wahrheit entsprach, bezweifelte Holt,<br />

jedoch schien sie der Wahrheit, wohl dem Gefühl nach, am nächsten zu kommen.<br />

Sascha gab vor, bis zum Untergang der Sowjetunion beim Militär Sportoffizier im<br />

Range eines Oberst gewesen zu sein. In der Zeit der gorbatschowschen Glasnost und<br />

Perestroika begleitete er die offiziellen Militärsportler auch in das westliche, kapitalistische<br />

Ausland, im Auftrage des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU. Während dieser<br />

Begleitungen bekam Sascha Kontakt zu westlichen Geheimdiensten. Zu welchen, wollte er<br />

Holt auch nicht auf die Nase binden, jedoch sprach die Tatsache seines Aufenthaltes in den<br />

USA für das CIA. Kurz und gut, Sascha nahm den Auftrag von Michail Gorbatschow sehr<br />

ernst und brachte Glasnost in seine Tätigkeit, was bei den Amerikanern Wohlwollen und<br />

Dankbarkeit erzeugte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Sowjetarmee<br />

stand Sascha eine Zeit ohne Job da. Mütterchen Russland hatte für Sportoffiziere keine<br />

224


Verwendung mehr. In dieser Situation wandte er sich an seine neuen Freunde um Hilfe. Diese<br />

wurde ihm auch gewährt. Im Jahre 1995 bekam er eine Greencard geschenkt, die er nach<br />

offiziellen Angaben in der Greencard Lotterie gewonnen haben sollte. Er war als Tennis- und<br />

Fitnesslehrer im Countryclub Asheville angestellt, jedoch mit dem Nachteil, nicht ausreichend<br />

Englisch zu sprechen, um seine verwöhnten amerikanischen Ladys unterhalten zu können.<br />

Daher landete er bei Rose im Lehrgang.<br />

Bei einer Gelegenheit außerhalb des Lehrganges, bei dem ein wenig Alkohol<br />

getrunken wurde, taute Sascha noch mehr auf. Er hatte erfahren, dass Holt vorher viele Jahre<br />

in Berlin lebte und das sie beide die gleichen Plätze und Sehenswürdigkeiten, darunter auch<br />

Kneipen, kannten.<br />

„Michail,“ begann er in einem Mix von Russisch, Deutsch und Englisch, „wenn du<br />

eines Tages einmal in Berlin in Schwierigkeiten kommen solltest, kannst du dort meine<br />

Freunde Bakunin und Greif aufsuchen. Du musst dich nur auf mich berufen, nicht auf Sascha,<br />

sondern auf Oberst Alexander Wolkow von der Sportzentrale der Armee.“<br />

Holt musste lachen, Hilfe von Russen in Berlin. „Sascha, warum sollte ich in Berlin in<br />

Schwierigkeiten kommen, mehr als ich hier in den USA jetzt schon drin stecke?“<br />

„Das weiß man nie so genau. Es kann nicht schaden Freunde zu haben. Die Beiden<br />

waren meine Freunde und ich habe ihnen den Arsch mehrmals gerettet.“ Er schwieg einen<br />

Moment, „Und umgekehrt auch.“<br />

„Warum sollten zwei Russen mit einem Mal meine Freunde sein?“, wollte Holt<br />

wissen.<br />

„Weil meine Freunde auch deine Freunde sind! Der Eine ist übrigens kein Russe.<br />

Greif ist Deutscher, er war bei unserer deutschen Bruderorganisation auch Offizier.“<br />

„Du meinst, er war bei der Stasi?“<br />

Wolkow musste laut lachen. „Da, Towaritsch Michail, der Greif war bei der Firma,<br />

aber er ist ein guter Kerl.“<br />

Holt konnte sich keinen guten Kerl bei der Stasi vorstellen, er hielt die Aussagen von<br />

Sascha für Aufschneiderei unter Alkoholeinfluss.<br />

Die dritte interessante Person des Lehrganges kam aus São Paulo, Brasilien. Antonio war<br />

Einkaufschef von Volvo Lateinamerica. Er hatte sich als Autoingenieur hochgearbeitet. Zuerst<br />

leitete er den Einkauf einiger Zusatzteile, dann wurde er stellvertretender Einkaufsleiter, bis<br />

der Leiter des Einkaufs aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden musste. Antonio folgte,<br />

ein Mann der Portugiesisch, Spanisch und Schwedisch sprechen konnte, jedoch kein Wort<br />

Englisch. Im Vorstand der Firma war man der Meinung Antonio in die USA zum<br />

Sprachlehrgang schicken zu müssen. Auch er landete bei Rose im Lehrgang, zusammen mit<br />

Yussuf, Alexander und Holt. Während seine Kurskameraden die Freizeit privat nutzten, holte<br />

Antonio seinen Laptop heraus, ging auf die Website seiner Firma, loggte sich ein und begann<br />

zu arbeiten. Von Asheville aus leitete er weiter den Einkauf seiner Firma. Als Holt ihn dabei<br />

einmal beobachtete, war er beeindruckt. Bereitwillig beantwortete Antonio Holts Fragen. In<br />

einer kurzen Pause von fünfzehn Minuten hatte Antonio den Einkauf von Zulieferteilen im<br />

Werte von fünfundzwanzig Millionen Dollar genehmigt. Langsam erkannte Holt, sein<br />

Lehrgangskamerad schien einer der wichtigsten Männer Brasiliens zu sein. Aber warum war<br />

er gerade in Asheville?<br />

Auch diese Frage beantwortete Antonio bereitwillig. Im Auftrage der amerikanischen<br />

Autoindustrie hatte die AB-Tech einige Technologien der Autobranche weiterentwickelt, so<br />

auch in einer Angelegenheit, bei der Volvo beteiligt war. Von São Paulo aus hatte Antonio die<br />

Neuentwicklung eines Fahrzeugteils im Auftrage des Produzenten überwacht und durch<br />

Anregungen erweitert. Bei dieser Tätigkeit war er bereits zweimal an der AB-Tech gewesen<br />

und hatte die Mitarbeiter des Institutes und die Stadt kennen gelernt. Aus diesen Kontakten<br />

heraus wurde die Idee der Teilnahme am Englischkurs geboren. Gleichzeitig konnte er sich<br />

225


noch um die Weiterentwicklung eines Auftrages seiner Firma kümmern. Für Antonio und<br />

seine Firma war dieser Mix ideal.<br />

*<br />

Holt konnte rechnen, was er wollte, er bekam die Kosten für den „Ausflug“ nach Arlington<br />

nicht zusammen. Rose hatte im Kursus die Veränderung bei Holt mitbekommen. Der<br />

anfänglich lustige und aufgeschlossene Holt wurde verschlossener. Eines Tages, nach<br />

Beendigung der täglichen Stunden, bat Rose, Holt möchte noch ein wenig bleiben. Sie gingen<br />

zusammen in die Cafeteria. Nachdem sich Rose eine riesige Portion Torte und Kaffee für<br />

beide geholt hatte, bat sie Holt, zu erzählen, was ihn bedrückte. Es war ihm unangenehm seine<br />

Sorgen ausbreiten zu müssen. Gleichzeitig kam ihn in den Sinn, dass Rose bereits seit Jahren<br />

mit Immigranten zusammenarbeitete, beziehungsweise diese in Englisch unterrichtete. Da<br />

müsste sie im Laufe der Zeit einiges in Erfahrung gebracht haben, was Holt auch nützen<br />

könnte, so hoffte er jedenfalls, als er anfing, seine Misere zu erzählen. Rose hörte aufmerksam<br />

zu, auch wenn sie sich ausschließlich nur mit ihrer Riesentorte zu beschäftigen schien.<br />

Nachdem sie den letzten Happen in den Mund geschoben hatte, nahm sie noch einen kräftigen<br />

Schluck, wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und gab dann ihr Statement ab.<br />

„Hans, welcher Idiot hat dir erzählt, dass es hier in North Carolina eine vollständige<br />

Einwanderungsbehörde gibt? Wir haben in Charlotte und Raleigh nur ein paar normale<br />

Richter, die sich mit Immigrationsfällen beschäftigen, wenn diese anhängig geworden sind.<br />

Das heißt jedoch nicht, dass es hier richtige Immigrationsrichter gibt, welche die sogenannten<br />

Interviews durchführen. Bei der INS in Charlotte gibt es nur Amtshilfe für die INS-Zentrale,<br />

wenn die Fingerabdrücke genommen werden, mehr wird nicht gemacht.“<br />

Holt war erschüttert und fluchte insgeheim auf Don und Sandra. Aber die konnten es<br />

ja als Amerikaner nicht so genau wissen. Es stimmte ja, dass es in Charlotte eine INS gab,<br />

jedoch das diese nur für die Fingerabdrücke zuständig war. Er erklärte Rose, warum er gerade<br />

nach North Carolina gezogen war.<br />

„Du hättest gleich nach Washington D.C. ziehen sollen,“ ergänzte sie ihre<br />

Feststellung, „dann wärst du gleich an der richtigen Stelle gewesen. Aber ich will mich<br />

einmal bei den Leuten erkundigen, vielleicht kann ich in Erfahrung bringen, ob du nicht<br />

wenigstens nach Atlanta zur Befragung fahren kannst. Das ist doch wesentlich näher.“<br />

Bereits am Anfang der folgenden Woche hatte Rose die Antwort. Diese war negativ.<br />

Es ging kein Kamel durchs Nadelöhr, Holt musste nach Arlington oder sich von dort die<br />

Genehmigung einholen, in Atlanta oder zurück in Florida, Miami, befragt zu werden. In der<br />

Hoffnung, eine positive Antwort zu erhalten, stellte er den Antrag auf terminliche und örtliche<br />

Verlegung des Interviews. Ausführlich begründete er seine finanzielle Situation, da er keine<br />

staatliche Unterstützung in Anspruch nahm und nur auf Kosten Paulines lebte.<br />

Draußen wurde es scheinbar winterlich, obwohl der Indian Summer erst Einzug hielt. Überall<br />

wurden bereits Ende November die Geschäfte zu Weihnachten geschmückt. Die Wälder<br />

färbten sich erst Gelb, dann wurden die Blätter Rot und Rotbraun. Die Farbenpracht war<br />

überwältigend. Aus der immer kahler werdenden Kastanie vor dem Atelierfenster konnte Holt<br />

nun das Nest der Eichhörnchen sehen. Diese schienen auch den Herbst zu genießen. In einer<br />

Astgabelung, zwei Meter vom Fenster entfernt hatten sie ein Vorratslager für den Winter<br />

angelegt.<br />

Eines Morgens kam Post aus Arlington. Die INS hatte sehr schnell reagiert. Als er den<br />

Umschlag mit dem Wichtig-keitshinweis öffnete, schlug sein Herz bis zum Halse. Es war eine<br />

Einladung zur Befragung am 12. Dezember, wieder in Arlington. Der gleiche Text, ergänzt<br />

mit einer besonderen Notiz auf der Rückseite. Dort stand, sollte der Antragsstelle dieser<br />

226


zweiten Vorladung nicht nachkommen, müsste er mit Abschiebehaft und Ausweisung<br />

rechnen.<br />

Holt war perplex. Konnten die Leute beim INS kein Englisch lesen? Warum hatten sie<br />

seinen Antrag einfach ignoriert? Holt erzählte Rose vom Rückschlag. Diese meinte, dass sich<br />

die Post überschnitten haben müsste, er würde wohl baldigst die erwartete positive Antwort<br />

bekommen. Diese traf auch innerhalb der nächsten Wochen nicht ein. Eines abends besprach<br />

er mit Pauline die Situation. Man kam überein, letztlich noch einmal an einen<br />

Verantwortlichen beim INS zu schreiben. Eine Frau Belvedere, Direktorin des Arlington<br />

Asylum Office antwortete bereits nach ein paar Tagen. Sie schien Holts Brief auch nicht<br />

gelesen zu haben beziehungsweise nicht zu begreifen, was er wollte. Sie teilte ihm mit, dass<br />

ihr Büro keine Gebühren erhob. Sie erläuterte, dass der Antragsteller die Vorladung nur aus<br />

gutem Grund, good cause, fernbleiben könne, er selbst habe jedoch so einen guten Grund<br />

nicht angeführt. Sie hoffe, dieser Hinweis wäre nutzvoll und sie erwarte ihn zum Interview<br />

am 12. Dezember. Gleichzeitig mit diesem Antwortschreiben war eine „Einladung“ vom INS<br />

zum Abnehmen der Fingerabdrücke in Charlotte in der Zeit vom 12. bis 20. Dezember<br />

eingegangen.<br />

Holt war nun wirklich ratlos. In den Medien war verbreitet worden, dass man inzwischen die<br />

Attentäter der Anschläge identifiziert habe. Es waren alles Araber, die zuletzt, bevor sie in die<br />

USA zur Durchführung ihres Verbrechens gekommen sind, in Deutschland lebten. Ihr<br />

Anführer, ein fanatischer Mann namens Atta und zwei weitere Komplizen hatten an der<br />

Technischen Universität in Hamburg studiert. In Florida hatten die Terrorristen alle<br />

praktischen Flugunterricht an kleineren Flugzeugen, für größere Flugzeuge, zum Beispiel der<br />

Boing-700er Serie, theoretische Stunden an den Simulatoren. Seltsames war dort den Lehrern<br />

erst nach den Anschlägen eingefallen, ihre Schüler hatten wenig Interesse für den Start und<br />

gar keine für die Landung gezeigt. Besonderen Wert hatten sie nur auf das Fliegen von<br />

Schleifen und Kurven, sowie Durchführung von Kursänderungen gelegt. Rückwirkend war<br />

der Grund selbst dem größten Deppen verständlich.<br />

Auf dem gesamten Gebiet der USA wurden die Personalien aller Antragssteller auf eine<br />

Greencard oder Asyl überprüft. Bei diesen Überprüfungen gingen dem FBI einige hundert<br />

Personen ins Netz, die sich zwischenzeitlich bereits in der Abschiebehaft befanden. Die<br />

Fahnder schienen übersehen zu haben, dass ihre unerwünschten Gäste alle keine Greencard<br />

beantragt hatten, sondern nur mit einem simplen Visa oder sogar visafrei eingereist waren, um<br />

die Anschläge zu verüben. Der Präsident erklärte, die USA befinden sich im Krieg gegen den<br />

Terrorismus. Um diesen Krieg effizienter durchzuführen, wurde geplant, alle wichtigen<br />

Behörden aus den Bereichen Schutz, Überwachung und Grenzkontrolle in eine neue<br />

Superbehörde zusammenzufassen. Diese Behörde sollte mit viel mehr Rechten, welche die<br />

Bürgerrechte einengten, ausgestattet werden und Homeland Security heißen. Das alles hörte<br />

sich nicht gut an.<br />

An der AB-Tech ging der Lehrgang seinem Ende zu. Eine besondere Beeinträchtigung der<br />

ausländischen Studenten war Holt nicht aufgefallen, abgesehen davon, dass einige Studenten<br />

aus dem arabischen Raum argwöhnisch vom Lehrpersonal und den Mitstudenten beobachtet<br />

wurden. Am Tag, als Holt theoretisch in Arlington vor einem Immigrationsrichter sitzen<br />

sollte, schrieb er zusammen mit seinen Kurskommilitonen an der Abschlussklausur. Zunächst<br />

konnte er sich nicht auf das frei gewählte Thema konzentrieren. Doch der Zorn und die<br />

Enttäuschung über das Verhalten der Behörden in Arlington beflügelten seine Energie. Er<br />

schrieb zum Thema, Die USA – ein Schmelztiegel der Nationen und der Demokratie, seine<br />

Empfindungen und eigenen Erkenntnisse nieder. Es war ihm egal, ob Mamagey oder Rose<br />

ihm seine Arbeit wegen angeblichem Antiamerikanismus um die Ohren hauen würden. Drei<br />

227


Tage später, am letzten offiziellen Schultag, erlebte er eine große Überraschung. In der Aula<br />

waren die drei Fortgeschrit -tenenklassen zusammengefasst und die Benotungen wurden<br />

Klassenweise bekannt gegeben. Alle Kursteilnehmer waren aufgeregt, sie wussten, dass das<br />

Ergebnis der Abschlussklausur auf dem Zeugnis stehen würde. Die ersten zwei Klassen hatten<br />

bereits ihre Benotung erfahren. Nun war Holts Klasse dran. Die Namen der Studenten wurden<br />

nach dem Alphabet aufgerufen und die Noten bekannt gegeben. Der Buchstabe „H“, für Holt<br />

war bereits durch. Jetzt war bereits „Z“ an der Reihe, José Zamarõn. Was ist los, wo bleibt<br />

meine Arbeit?, dachte Holt irritiert und nervös. Sollte er mit seiner Meinung übertrieben und<br />

die bewertenden Lehrer verärgert haben? Durch das freudige Raunen seiner Kommilitonen<br />

hörte er scheinbar durch Watte, wie Mamagey von einer besonders wertvollen Arbeit sprach.<br />

Mamagey hob eine Arbeit in die Höhe und sprach, „Das Kollegium der Lehrer hat<br />

diese Abschlussarbeit unseres Studenten Maikel Cholz mit einem Prädikat ausgezeichnet. Er<br />

hat sich im Moment tiefster Bedrückung und Not, für die Werte unserer Nation bekannt,“ sie<br />

machte eine Pause und schaute zu Holt hinüber, der wie erstarrt dastand, „für Freiheit und<br />

Demokratie!“<br />

Die anwesenden Lehrer klatschten und die Studenten fielen mit ein. Von Holt wich<br />

mit einem Mal die Spannung. Er dachte, alles wird gut!<br />

Nichts wurde gut. Das INS meldete sich nicht mehr und Paulines Versuche, Holt halb illegal,<br />

wie bei Payless Car Rental, nun auch bei Beauty Concept unterzubringen, scheiterten. Caren<br />

sah sich nicht in der Lage, so etwas mit Pauline durchzuziehen. Die Bestimmungen aus<br />

Tampa waren zu strickt, sie hätten beim Herauskommen dieser Beschäftigungsart beide ihren<br />

Job verloren. Die Weihnachtsfeiertage waren traurig. Noch kurz vor Heiligabend gab es<br />

zweierlei Aufheiterndes. Benjy fuhr nun tatsächlich mit drei US-Fahnen am Auto, aber er trug<br />

inzwischen seine Uniform nicht mehr so oft. Unten am Müllcontainer hatte ein großer,<br />

stabiler, in länglicher Form gehaltener Karton gestanden. Holt hatte ihn beim Müllwegbringen<br />

entdeckt und begutachtet. Dabei stellte er fest, dass dieser die Dimensionen des Couchtisches<br />

hatte, den sie noch kaufen wollten. Er hatte die Breite, die Länge und auch die richtige Höhe.<br />

Daneben stand eine ebene Spanholzplatte, die ein wenig breiter war als der Karton. Nur zur<br />

Probe legte Holt die Platte auf den Karton und siehe da, er hatte einen wunderbaren<br />

Couchtisch. Kurze Zeit später waren beide Teile im Appartement. Holt wusste, wo die<br />

Tischdecken lagen und er holte eine, die er über die Spanplatte auf dem Karton ausbreitete.<br />

Die Weihnachtstischdecke hing zu allen Seiten lang genug herunter. Er stellte noch eine Vase<br />

mit einem großen Weihnachtsstern auf den Tisch und die Überraschung für Pauline war<br />

fertig. Als er mit ihr drei Stunden später das Appartement betrat, sah diese sofort die<br />

Überraschung und freute sich darüber. Im umgekehrten Falle hätte Holt wahrscheinlich über<br />

Stunden die Veränderung nicht wahrgenommen. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte<br />

Pauline nichts zu tun, ihr Laden war bis zum 2. Januar geschlossen. Nur einmal schaute sie<br />

nach dem Rechten.<br />

Das Jahr begann in der ersten Januarwoche mit starkem Schneefall. Im Radio wurden die<br />

Bürger aufgerufen zu Hause zu bleiben und die Kinder bekamen schneefrei. Holt hatte aus<br />

dem Fenster geschaut und die Höhe des Schnees abgeschätzt. Auf den breiteren<br />

Kastanienästen lagen ungefähr fünf Zentimeter. In der Stadt aber müssten sich wahre<br />

Schneeberge angehäuft haben, die nur mit Planierraupen und Schneefräsen zu beseitigen<br />

waren. Als er auf den Parkplatz trat und an der Seite des Weges die Schneehöhe selbst<br />

überprüfte, war er überrascht. Es waren höchstens vier Inches, was dann später auch durchs<br />

Radio kam. Vier Inches waren noch unter zehn Zentimeter. Was machten die Amis darum für<br />

ein Gewese? Er konnte diese Art der Panikmache und die Übertreibungen nicht verstehen. Es<br />

ging ihm so durch den Kopf, wenn die Russen früher beim oder nach so einem Schneefall die<br />

USA angegriffen hätten, hätten diese wohl wegen des „Unwetters“ bedingungslos kapitulieren<br />

228


müssen. In Anbetracht seiner eigenen Erlebnisse und des oft eigentümlichen Verhaltens der<br />

Menschen, kamen ihm die USA immer fremder vor. Er sprach mit Pauline darüber.<br />

„Pauli,“ sagte er einmal nach dem Abendessen, „was ist hier mit den Menschen los?<br />

Wegen solcher Kleinigkeiten wie diesem Schneenieseln machen sie so ein Gedöns, aber wenn<br />

du ein echtes Anliegen hast und Hilfe benötigst, reagieren sie überhaupt nicht. Ich kann die<br />

Amis nicht mehr verstehen.“<br />

„Ich auch nicht,“ antwortete sie. „Sie haben sich in den letzten Jahren, seit dem ich<br />

nicht mehr hier war, sehr zum Nachteil verändert. Früher gab es so etwas nicht.“<br />

„Doch, so etwas muss es schon früher gegeben haben. Es ist dir nur nicht aufgefallen,<br />

beziehungsweise du hattest ja mit den Behörden keine Probleme. Du hattest den Tom und<br />

einen guten Anwalt ... und so eine blöde Regierung wie jetzt gab es damals auch noch nicht.“<br />

Holt schwieg längere Zeit. „Was sollen wir nur machen? Hier haben wir doch keine Zukunft<br />

mehr,“ stellte er resignierend fest.<br />

„Ja Hans,“ bestätigte Pauline. „Hier haben wir wirklich keine Zukunft mehr. Ich kann<br />

dir auch nicht ad hoc sagen, was wir nun machen sollen. Aber hier in den Staaten bleiben,<br />

unter solchen Bedingungen, glaube ich, bringt nichts.“ Sie hatte Tränen in den Augen und<br />

verschwand ins Bad, aus dem Holt sie laut schnäuzen hörte.<br />

Ein paar Tage sprachen sie das Thema „Zukunft“ nicht mehr an. Holt ließ sich weniger in der<br />

Öffentlichkeit sehen. Beim Anblick jeden Streifenwagens oder Uniformierten zuckte er<br />

zusammen. Sein Unwohlsein nahm rapide zu, wie der Glaube an den „American Way Of<br />

Live“ abnahm. Nun saß er stundenlang alleine vor dem Computer und verfolgte die<br />

deutschsprachigen Nachrichten im Internet. Dabei stellte er gravierende Unterschiede zu den<br />

amerikanischen Nachrichten fest. Während sich die Amerikaner fasst ausschließlich mit sich<br />

selbst beschäftigten und die Berichterstattung Holt wie mit einer Schablone ausgestanzt<br />

erschien, meldeten die Deutschen noch Nachrichten aus dem Rest der Welt. Das Leben ging<br />

offenbar in Europa auch weiter. Dort keine Hektik, kein Aktionismus, auch wenn der<br />

deutsche Bundeskanzler seinen amerikanischen Freunden „uneingeschränkte Solidarität“<br />

versprach. Mit dem Mund ist der Gerhard ja immer vorne, dachte Holt. In ihm kam der<br />

Wunsch auf, dieses enttäuschende Land zu verlassen. Aber wohin? Zurück nach Deutschland?<br />

Alles, nur nicht das. Was blieb übrig? Es sollte zumindest an den neuen Ufern warm sein,<br />

wärmer als in Deutschland. Damit meinte Holt nicht nur das Klima, sondern auch das soziale<br />

Umfeld. In die engere Auswahl seiner Überlegungen kamen Griechenland, Italien und<br />

Spanien. Griechenland kannte er. Die Griechen waren verträglich, aber die kamen nicht zu<br />

Potte. Italien kannte er nicht, aber dafür einige Italiener. Mit denen konnte man auskommen,<br />

aber richtig warm war es nur im Süden, auf Sizilien. Inmitten der Mafia zu leben, schien auch<br />

nicht das Richtige. Es blieb also nur noch Spanien. Da kamen nur die Inseln im Mittelmeer<br />

oder vor der afrikanischen Küste in Frage. Nach Mallorca zu ziehen, würde gleich sein, als ob<br />

er in den Ruhrpott oder an den Rhein mit Sonnenschein umzieht. Der Gedanke daran brachte<br />

ihn zum Schütteln. Ein Leben im proletarischen, rheinischen Düsseldorf unter strahlender<br />

Sonne. Nein Danke! Die Möglichkeit, neu Fuß zu fassen, war auf die Kanarischen Inseln<br />

eingeschränkt. Holt war bereits zweimal in dieser Region, einmal auf Lanzarote und einmal<br />

auf Fuerteventura, aber jedes Mal in einer Urlaubs- und Erholungssituation. Die Inseln waren<br />

ihm zu karg und felsig, aber es gab auch grüne Gebiete auf diesen Inseln. Einen Vorteil hatten<br />

jedoch diese spanischen Inseln, sie gehörten mit Spanien zur EU und er würde keine<br />

Aufenthaltsgenehmigung und auch keine Arbeitserlaubnis benötigen.<br />

Am Abend besprach er mit Pauline das Ergebnis seiner Recherchen und<br />

Überlegungen. Pauline hörte aufmerksam zu.<br />

„Hans, wir hatten mal auf Teneriffa eine Eigentumswohnung und auf Gran Canaria<br />

war ich auch schon. Die Inseln gefallen mir, es ist immer warm und die Menschen dort sind<br />

auch nett. Ich glaube es ist eine gute Idee, wir sollten ernsthaft an einen Umzug zu den<br />

229


Kanaren denken. Schlimmer als hier kann es auch nicht sein.“<br />

Holt war erfreut, bei Pauline offene Scheunentore einrennen zu können. „Pauli kannst<br />

du dich noch an Marta und Bernd erinnern, die wir in Costa Rica in der Villa Belén kennen<br />

gelernt haben? Die müssten doch noch auf Gran Canaria leben.“<br />

„Ja, die Beiden leben in Playa del Inglés. Dort leben auch Uschi und Mathilda, die<br />

kennst du doch auch. Von Mathilda habe ich sogar noch die E-Mail-Anschrift und eine<br />

Telefonnummer.“<br />

„Na, das ist doch großartig,“ erwiderte er. „Wir kennen auf Gran Canaria mehr Leute,<br />

als ursprünglich hier in Asheville, und dazu sind es alles auch noch Landsleute. Wir sollten<br />

uns mal bei denen erkundigen, ob es sich lohnt, umzuziehen.“<br />

Die Erkundigungen verliefen mehr als positiv. Pauline hatte es tatsächlich geschafft,<br />

über Mathilda an die Telefonnummer von Uschi zu kommen, die nach wie vor mit Marta und<br />

Bernd in Kontakt stand. Alle Angerufenen schwärmten vom Klima und den allgemeinen<br />

Lebensumständen. Mathilda schoss den Vogel ab, sie sagte Pauline zu, dass diese im Falle<br />

eines Umzuges ihre Wohnung nutzen könne. Sie wollte noch einmal in ihrem Haus in Palm<br />

Beach, Florida, sein, bevor sie es verkaufte. Mathilda hatte dieses Anwesen von ihrem Ex-<br />

Mann, zusätzlich als Abfindung geschenkt bekommen. In der Zeit, in der sie sich in Florida<br />

aufhielt, könnte Pauline und Holt ihre Wohnung nutzen, sie bräuchten nur die laufenden<br />

Mietkosten in Höhe von etwa dreihundert Dollar tragen.<br />

Pauline hatte auf Drängen Holts noch einmal ein paar Tage später angerufen, um sich<br />

nach den Chancen auf dem dortigen Arbeitsmarkt zu informieren. Unisono bekam sie die<br />

Auskunft, dass man als Deutscher keine Schwierigkeiten habe, einen gut bezahlten Job zu<br />

bekommen. Diese Auskunft war Anlass, den Entschluss zu fassen, ihre Koffer in den USA zu<br />

packen und die Zelte abzubrechen.<br />

Am 15. Januar setzte sich Holt an den Computer und schrieb sich seinen Frust von der Seele.<br />

Das Schreiben war an den Direktor des INS in Arlington adressiert. Holt hielt der Behörde<br />

Ignoranz und Gleichgültigkeit vor.<br />

Am Ende des Briefes schrieb er, dass er in einem Land, in dem niemand den<br />

Menschenrechten die nötige Aufmerksamkeit schenkt, die nur auf dem Papier stehen, dass er<br />

dort nicht länger leben könnte und möchte. Aus diesem Grunde würde er seinen Antrag auf<br />

Asyl zurückziehen, denn die Vereinigten Staaten von Amerika wären nicht die richtige<br />

Adresse dafür. Spätestens am 31. Januar 2002 würde er die USA verlassen.<br />

Die letzten vierzehn Tage in Asheville vergingen wie im Fluge. Zwei nette Serviererinnen aus<br />

der Grille gaben Pauline einen Tipp, wie sie auf dem Flohmarkt von Asheville alle ihre<br />

überflüssigen Sachen verkaufen kann. Am letzten Wochenende standen Pauline und Holt<br />

frierend auf dem Markt und verscherbelten ihr restliches Hab und Gut. Nach Gran Canaria<br />

waren zehn große Umzugskartons unterwegs. In einem war die Computeranlage. Alles<br />

zusammen hatte um die vierhundert Dollar gekostet. Den Rest des Hausrats, den sie nicht<br />

verkaufen konnten, verschenkten sie. Die Mazdafirma in Melbourne wurde darüber in<br />

Kenntnis gesetzt, dass sie das Auto nach dem 31. Januar vom Flughafenhotel Asheville<br />

abholen können, die Papiere liegen im Handschuhfach und der Schlüssel steckt im Auspuff.<br />

Von der Appartementverwaltung bekamen sie nur nicht die Kaution zurück. Einen Teil der<br />

Möbel wurde neben den Müllcontainer gestellt und diese Möbelstücke waren bereits nach<br />

einer Stunde verschwunden. Holt schenkte dem immer freundlichen Patrioten Benjy sein<br />

Werkzeug und einige Andenken aus Deutschland, die er mit großer Freude annahm. Nach<br />

dem Säubern der Wohnung nahm die Verwalterin anstandslos die Wohnung ab. In der<br />

vorletzten Nacht schliefen sie noch einmal bei der traurigen Sandra. Die letzte Nacht<br />

verbrachten sie im Flughafenhotel. Nachdem sie ihr Gepäck abgegeben hatten, fuhr Holt die<br />

dreihundert Meter zum Hotel zurück. Er stellte schweren Herzens das Auto auf dem Parkplatz<br />

230


ab, verschloss alle Türen und verstaute die Schlüssel im Auspuff. Dann ging er hinüber zum<br />

Flughafen.<br />

Die Ausreise war wieder „neuamerikanisch“, sie mussten die Koffer umpacken, sich die<br />

Schuhe ausziehen und sich eine gründliche Filzung gefallen lassen. Dann saßen sie im<br />

Flugzeug. Als sie über Asheville flogen, sahen sie nicht mehr zurück.<br />

231


Auf Gran Canaria<br />

Der Flug ging von Asheville zuerst nach Raleigh, der Landeshauptstadt von North Carolina.<br />

Dort mussten sie in die Maschine nach Boston umsteigen. Nach einigen Stunden Wartezeit<br />

ging es weiter bis nach Madrid. Bereits in Madrid verspürten sie die Andersartigkeit der<br />

europäischen Welt. Im Gegensatz, zu Amerika, konnte man auf den Flughäfen Spaniens noch<br />

überall rauchen, was die Reisenden auch mit viel Vergnügen taten. Vor einem Monat war der<br />

Euro, die neue Gemeinschaftswährung der EU, eingeführt worden. Buntes Geld mit vielen<br />

Goldstreifen und abgebildeten Brücken, welche die europäischen Länder symbolisch<br />

miteinander verbinden sollten. Nach über vier Stunden Aufenthalt saßen sie im Flieger nach<br />

Gran Canaria. Die Maschine flog über Gibraltar. Aus dem Fenster konnte Holt den Felsen<br />

sehen, der majestätisch ins Meer ragte. An der anderen Seite lag schon Marokko. Der Flug<br />

ging immer an der Atlantikküste entlang, bis etwas nördlich von Agadir, dann bog, die<br />

Maschine in südwestlicher Richtung ab. Holt war bereits zweimal in Agadir gewesen.<br />

Obwohl er sich für die arabische Welt nicht erwärmen konnte, hatte er Agadir allerdings in<br />

guter Erinnerung. Bereits nach zehn Minuten waren aus der Ferne die Kanarischen Inseln zu<br />

sehen.<br />

Das Auschecken ging relativ schnell. In der Wartehalle sahen sie hinter der<br />

Absperrung bereits Mathilda stehen. Diese hatte sich die Mühe gemacht, die sechzig<br />

Kilometer von Maspalomas bis zum Flughafen Las Palmas zu fahren, um sie abzuholen.<br />

Pauline und Holt freuten sich, Mathilda wieder zu sehen. Zuletzt hatten sie die junge Frau, vor<br />

fasst drei Jahren, in Palm Beach besucht, als sie noch in Costa Rica lebten. Die junge Frau<br />

hatte schon vor Jahren einen älteren, betuchten Ami an Land gezogen, wie sie es lachend<br />

zugab. Nicht das sie berechnend war, ihr älterer Liebhaber war wohl wirklich ein guter Kerl,<br />

aber mit einer ausgeprägten Schwäche zu jüngeren Frauen. Er hatte sie sogar geheiratet, damit<br />

sie nicht immer alle drei Monate die USA verlassen musste. Als dann nach über zwei Jahren<br />

der Drang ihres Mannes zu einer anderen jüngeren Frau zu groß wurde, stimmte sie gegen<br />

eine großzügige Entschädigung in die Scheidung ein. Es war der beste Deal, den sie je<br />

machte, wie sie ehrlichen Herzens zugab. Nun beabsichtigte sie, das ihr durch die Scheidung<br />

zustehende Haus zu verkaufen. Das Geld benötigte sie zum Erwerb einer Immobilie auf Gran<br />

Canaria. Bislang hatte sie auf Gran Canaria nur in einem größeren Mietshaus, in einer<br />

möblierten Wohnung gelebt. Das war nichts für Mathilde, die größeren Komfort gewohnt war<br />

und auch beanspruchte.<br />

Die Fahrt ging über eine breite vierspurige Autobahn. Bereits nach einer knappen<br />

Stunde waren sie am Südzipfel der Insel angelangt, auf dem der übergeordnete Ort namens<br />

Maspalomas lag. Der davon wieder ganz südlich gelegene Ortsteil hieß Playa del Inglés,<br />

Strand der Engländer. Eigentlich hätte er Playa del Hollandés heißen müssen, denn die von<br />

den Einheimischen ausgemachten Engländer waren in Wirklichkeit Holländer. Holt war<br />

vorher noch nie auf Gran Canaria, Pauline allerdings schon, sowie auch auf der benachbarten<br />

Insel Teneriffa.<br />

Auf den ersten Blick machte Playa del Inglés einen sauberen und modernen Eindruck. Alle<br />

Straßen, die rostfreien Straßenabsperrungen, die Bürgersteige und die Gartenanlagen waren<br />

aus Fördermittel der Europäischen Union gebaut. So stand es jedenfalls auf den vielen<br />

Metallplaketten und auf der Werbung größerer noch im Bau befindlicher Projekte: Gefördert<br />

aus Mitteln des Strukturverbesserungsfonds der Europäischen Union. Danke Deutschland!<br />

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Holt nun etwas, was seine Regierung an Finanzmittel<br />

in die übrigen Länder der EU gepumpt hatte. Die Deutschen schienen bei den einheimischen<br />

Kanaren beliebt zu sein, jedenfalls die, welche Geld hatten. Weniger beliebt waren die<br />

übrigen Nationalitäten in der EU und gänzlich unbeliebt die „Inglés“. Warum, begriffen<br />

Pauline und Holt bereits in der ersten Woche auf Gran Canaria. Am Wochenende hatten sie<br />

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sich mitten in den Trubel der Touristenhochburgen gestürzt, um Amerika ein wenig zu<br />

vergessen. Dabei erlebten sie das „Komasaufen“ der Engländer. Blasshäutige, schlecht<br />

gekleidete Menschen, die so viel Alkohol tranken, bis sie bewusstlos zusammenbrachen. In<br />

der Zwischenzeit, zwischen dem extensiven Alkoholkonsum und dem Zusammenbruch,<br />

ergingen sie sich in Fluchen, Kotzen, Anpöbeln und Schlägereien. Es war wirklich nicht<br />

schön anzusehen. Das Ansehen der Engländer war auf dem Nullpunkt angekommen, aber sie<br />

brachten für ihre Sauforgien eine Menge Geld mit. Die Wirte litten und die übrige<br />

Bevölkerung verachtete sie.<br />

Mathildas Wohnung lag etwas nördlicher vom Strand, aber noch an der Hauptstraße,<br />

der Avenida Tirachana. Eigentlich war es ein größerer Komplex von drei Mietshäusern,<br />

umgeben mit einer höheren Mauer. Inmitten dieser Anlage gab es einen großen<br />

Kinderspielplatz, der eigentlich ein Bolzplatz war. Das Geschrei der Kinder hallte in der<br />

Häuserschlucht wider, verstummte erst nach Einbruch der Dunkelheit. Die Wohnung befand<br />

sich im dritten Stock mit noch zwei weiteren Wohnungen, sie hatte ungefähr sechzig<br />

Quadratmeter und einen großen Balkon, den man wegen der Hitze und des Lärms nicht<br />

nutzen konnte. Da es sich nur um eine Übergangslösung handeln sollte, fanden sich Holt und<br />

Pauline mit der Situation leichten Herzens ab. Vorgesehen waren ja sowieso nur maximal drei<br />

Monate, bis Mathilda aus den Staaten wieder zurück war.<br />

Am nächsten Tag flog Mathilda bereits ab. Sie waren alleine und konnten sich die Umgebung<br />

erst einmal richtig anschauen. Anfänglich glaubten sie, in einer deutschen Kolonie zu sein.<br />

Vielleicht in Deutsch-Süd-West-Afrika? Überall deutsche Beschilderung, deutsche Werbung<br />

und Deutsche und nochmals Deutsche. Es gab deutsche Zeitungen und alle deutschen Kanäle<br />

im Fernsehen. Playa del Inglés auf Gran Canaria war das, was in Berlin für die Türken<br />

Kreuzberg war. Eines der größten Einkaufs- und Amüsierzentren, die sogenannte Cita, war<br />

fest in deutscher Hand. Die Kneipiers, die Ladenbesitzer und die Gäste waren überwiegend<br />

Deutsche. Bezeichnenderweise befand sich am Hauptportal des Zentrums die Nachbildung<br />

des Brandenburger Tores. Willkommen in Klein Deutschland!<br />

Der Kontakt zu Uschi sowie Martha und Bernd war schnell hergestellt. Alle freuten sich,<br />

Pauline und Holt wieder zu sehen. Sie fragten aber auch nach, warum sie Costa Rica verlassen<br />

hatten. Ausweichend deutete Pauline jedoch nur an, betrogen worden zu sein. Sie wiegelte ab<br />

und ging dann immer auf andere Themen ein. Holt hielt sich in den Gesprächen zurück.<br />

Entweder merkten Marta und Bernd, dass die Neuankömmlinge nicht darüber sprechen<br />

wollten oder sie gaben sich mit den Antworten zufrieden. Anders war es mit Uschi, diese<br />

hatte das Gespür einer ausgebufften Bardame behalten und roch sofort den Braten. Sie sagte<br />

ihrem Besuch auf den Kopf zu, dass die Gründe ihrer Abreise wohl nicht die seien, die erzählt<br />

wurden. Holt fragte Uschi, ob sie sich noch an den langen Deutschen namens Mike erinnern<br />

kann, den sie in Costa Rica in der Villa Belén kennengelernt haben musste. Sie konnte sich<br />

noch gut erinnern. Dann erzählte er kurz die Geschichte. Uschi gab sich entsetzt, sie holte aus<br />

dem Kühlschrank eine Flasche hellen Schnaps und goss allen ein Glas ein.<br />

„Dann lass uns Mal einen kräftigen Schluck Wodka auf euere Abenteuer nehmen!“,<br />

waren ihre Worte zum Abschluss des Berichtes. „Ihr werdet sehen, hier ist es anders. Die<br />

Spanier halten sich an Recht und Gesetz. Die Einzigsten, die krumme Dinger drehen, sind die<br />

Ausländer.“ Sie grinste und leerte mit einem Zug ihr Glas.<br />

Nach ein paar Tagen hatten sie sich eingelebt. Pauline hatte beim Einkaufen festgestellt, dass<br />

die Grundnahrungsmittel teurer als in Costa Rica, jedoch billiger als in den USA waren.<br />

Außerdem bekam sie hier alle deutschen Lebensmittel, welche sie sich wünschte. Am Ende<br />

der Woche stellte sie fest, dass, wenn sie dort hinging, wo auch die Einheimischen einkauften,<br />

sie noch billiger zu ihren Waren kam. Sie rechnete nach, dass dort der Einkauf billiger war als<br />

233


in Costa Rica, aber dort gab es keine deutschen Lebensmittel. Das war nur ein kleiner<br />

Nachteil.<br />

Holt hatte sich bereits auf dem spanischen Arbeitsamt erkundigt, was er machen<br />

musste, um einen Job zu finden. Die Antwort und die Lösung waren verblüffend einfach. Er<br />

brauchte nur zu der Immigration gehen und eine Anmeldung als Arbeitssuchender ausfüllen.<br />

Dann bekam er eine Steuernummer und er konnte jede Arbeit aufnehmen, die angeboten<br />

wurde. Am zweiten Tag seiner Erledigungen hatte er bereits seine Steuernummer. Auf Fragen<br />

von Holt, wie es bei seiner amerikanischen Freundin aussieht, bekam er auch eine korrekte,<br />

amtliche Antwort. Bei Pauline sah es leider anders aus. Da sie nur amerikanische Papiere<br />

besaß, galt sie auch als Amerikanerin mit allen Vor- und Nachteilen. Sie durfte sich offiziell<br />

nur neunzig Tage innerhalb der EU aufhalten und keine Arbeit aufnehmen. Das war nicht gut,<br />

es musste eine Lösung gefunden werden. Am Abend zu Hause sprach er Pauline gezielt<br />

darauf an.<br />

„Sag mal Pauli,“ begann er das Gespräch, „wo sind eigentlich deine deutschen<br />

Papiere?“<br />

Pauline dachte nach und hob ihre Schultern. „Das weiß ich nicht. Damals, als ich den<br />

Tom heiratete, bekam ich zwar die Greencard, habe aber, soweit ich mich erinnern kann,<br />

meinen deutschen Pass behalten. Erst, nachdem ich eingeschworen wurde, bekam ich einen<br />

amerikanischen Pass. Wo der deutsche Pass abgeblieben ist, weiß ich nicht mehr.“<br />

„Hast du dich an das deutsche Konsulat gewandt und dich dort als Deutsche<br />

abgemeldet?“<br />

„Nöö, ich hatte mit den Deutschen nichts mehr zu tun. Ich kann mich noch erinnern,<br />

dass ich mit meinem neuen amerikanischen Pass, zusammen mit einer Freundin, nach<br />

Deutschland gereist bin. Damals hatte ich zum letzten Mal meine Mutter in Bayern besucht.“<br />

„... und was könnte aus dem Pass geworden sein? Er muss doch bei dir geblieben<br />

sein?“<br />

„Ja natürlich!“ Jetzt fiel es Pauline wieder ein. „Der Pass lag einige Jahre in einer<br />

Schublade, zusammen mit anderen deutschen Papieren, die ich nicht mehr benötigte. Als der<br />

Pass mir dann nach Jahren wieder einmal in die Hände fiel, war er bereits abgelaufen. Bevor<br />

ich dann mit Tom nach Costa Rica gezogen bin, habe ich aufgeräumt und allen alten Plunder<br />

entsorgt ... weggeschmissen.“<br />

Holt hörte aufmerksam zu. Dann sprach er mehr zu sich selbst als zu Pauline. „Du hast dich<br />

bei keiner deutschen Behörde an- oder abgemeldet. Die wissen gar nicht, dass du eine andere<br />

Staatsangehörigkeit erworben hast. Das deutsche Staatsbürger-schaftsrecht will zwar doppelte<br />

Staatsangehörigkeiten vermeiden, kennt jedoch Ausnahmen. Es ist gut möglich, dass du zu<br />

diesen Ausnahmen gehörst und nach wie vor Deutsche im Sinne des Gesetzes bist ... natürlich<br />

neben der amerikanischen Staatsangehörigkeit.“<br />

Pauline schreckte von ihrem Sitz hoch. „Ich bin Amerikanerin, ich will gar nicht mehr<br />

Deutsche sein!“<br />

„Pauli sei nicht blöd. Je mehr Pässe der Mensch hat, desto freier ist er. Stell dir doch<br />

einmal vor, das Flugzeug, in dem du sitzt, wird von Palästinensern gekapert. Wenn du dann<br />

nur einen israelischen oder amerikanischen Pass hast, besitzt du schlechte Karten. Mit<br />

ägyptischem oder deutschem Pass sieht es viel besser aus. Du hast beide Pässe bei dir und<br />

zückst schnell den Passenden, aber du darfst dich in der Aufregung nicht vergreifen.“<br />

Holt grinste Pauline an, die von seiner Ausführung hinsichtlich des Kidnappings<br />

überzeugt wurde. „Du meinst, ich sollte hier auf Gran Canaria oder irgendwann einmal in<br />

einem Flugzeug sagen, ich wäre Deutsche?“<br />

„Nein, nicht sagen, nur die deutschen Papiere vorlegen!“<br />

„... die ich nicht habe.“<br />

234


„Stimmt, jetzt hast du noch keine, aber in der nächsten Zeit. Bevor die neunzig Tage<br />

rum sind, musst du nach Deutschland fliegen und dort neue Papiere abholen.“<br />

„Und wie stell ich das an?“<br />

Wir lassen das von hier aus durch Andi prüfen. Wir rufen ihn an und fragen nach.<br />

Wenn es möglich ist, dass er es für dich erledigen kann, sollte er es als Anwalt auch machen.<br />

Musst du alles selbst erledigen oder dort beim Meldeamt persönlich erscheinen, fliegst du<br />

einfach hin.“<br />

„Und was soll ich dort sagen, warum ich keine Papiere mehr habe?“<br />

„Dann sagst du denen, dass deine Papiere wahrscheinlich gestohlen, verbrannt sind<br />

oder mitgewaschen wurden. Die schauen dann unter deiner letzten Meldeanschrift in<br />

Deutschland im Computer nach. Dort, bis du mit absoluter Sicherheit noch erfasst, denn in<br />

Deutschland geht niemand verloren. Dann kannst du sofort einen Personalausweis bekommen<br />

und auch einen Reisepass beantragen. Andi wird das schon machen, glaub es mir.“<br />

Andi freute sich, wieder von den Beiden zu hören. Am Telefon hörte er aufmerksam zu, was<br />

Pauline zu berichten hatte. Dann erklärte er, dass dies alles überhaupt kein Problem sei, sie<br />

solle mal ruhig nach Rostock kommen, er würde sie entweder von Hamburg oder von Berlin<br />

abholen. Sie könne bei ihm wohnen und sie hätten dann viel Spaß ohne Holt, der grimmig<br />

zuhörte.<br />

Eine Woche später saß Pauline im Flieger nach Berlin. Sie kam bereits nach sieben<br />

Tagen zurück. Bei sich hatte sie einen deutschen Personalausweis und eine<br />

Anmeldebestätigung des Meldeamtes Rostock. Pauline wohnte nun offiziell bei Andi als<br />

Untermieterin in der Langen Straße.<br />

Die begrenzten finanziellen Mittel, über die sie verfügten, reichten nicht für ein sorgenfreies<br />

Leben auf der Insel aus. Die Wohnung von Mathilda war zwar nicht sehr teuer, aber das<br />

normale Leben erforderte mehr Geld, als ihnen zur Verfügung stand. Man schaute sich<br />

deshalb nach einer Arbeit um. Die meiste Arbeit gab es natürlich im Tourismusbereich. Dort<br />

wurden Serviererinnen, Stripperinnen und Reinigungspersonal gesucht. Auch nach einer<br />

erfolgreichen Geschlechtsumwandlung wären diese Tätigkeiten nichts für Holt gewesen.<br />

Pauline dachte an eine Arbeit im Schönheitsbereich. Sie hatte ihre Fühler schon ausgestreckt,<br />

musste sie jedoch wegen der fehlenden deutschen Papiere bislang auf Eis legen. Nun sah die<br />

Sache anders aus. Als sie eines Tages Bernd in der Cita trafen, sagte dieser zu Holt, dass oben<br />

in der ersten Etage eine Kneipe durch einen Deutschen ausgebaut würde und das dieser noch<br />

gutes Personal suchen würde. Während Pauline bei Marta in einer anderen deutschen Kneipe<br />

sitzen blieb, ging Holt eine Etage höher. Als er die Treppe hoch kam, sah er bereits eine<br />

relativ große Baustelle, an der einige Leute beschäftigt waren. Ein großer kräftiger Mann,<br />

offensichtlich der Boss, beschimpfte gerade einen Mitarbeiter als Blödmann. Der Beschimpfte<br />

grinste nur und antwortete etwas, was Holt nicht verstand. Es herrschte ein rauer Ton, jedoch<br />

schien sich keiner der Anwesenden daran zu stören. Holt trat auf den vermeintlichen Boss zu,<br />

der ihn beim Näherkommen bemerkte und erwartungsvoll anschaute und dabei ungenierlich<br />

musterte. Holt kannte diesen Blick, der besagte Wer bist du?, Was hast du? und Was bringst<br />

du mir?<br />

„Sind Sie der Chef des Bauunternehmens, das hier herumwerkelt?“, begann er das<br />

Gespräch.<br />

„Wer will das warum wissen?“<br />

Holt stellte sich mit dem Namen vor und teilte dem gegenüberstehenden Mann mit,<br />

dass er einen Job suche. Dieser schaute Holt prüfend an, wobei er sich auch unverblümt Holts<br />

Hände anschaute.<br />

„Was kannst du, damit ich dich einstellen kann?“, fragte er fasst provozierend.<br />

235


Holt machte sich die Mühe, dem Mann etwas von sich zu erzählen, obwohl er diesen ordinär<br />

und unsympathisch fand. Er schien sich einen Witz aus Holts Lebenslauf zu machen. „So, so,<br />

Unternehmer warst du und jetzt bist du dir auch für eine körperliche Arbeit nicht zu schade.<br />

Kannst du Malern, Ausbessern und selbstständig Arbeiten ... so im Bereich GWS?“<br />

Holt wusste, was sich hinter dem Kürzel GWS verbarg. Gas, Wasser, Scheiße, die<br />

Grundarbeiten des ganz normalen Baubetriebes. Altbau oder Neubau.<br />

„Klar kann ich das. Ich habe sogar eine Auszeichnung dafür bekommen. Die<br />

Ehrenmedaille Denken bei der Arbeit,“ antwortete er trotzig, einen möglichen Job in weiter<br />

Ferne verschwinden sehend.<br />

Der Boss lachte laut und hieb Holt auf die Schultern. „Du gefällst mir. Ich heiße Jörn<br />

Kohlmeise, du kannst mich aber Jonny nennen. Ich nehme dich zur Probe, jeweils einen Tag<br />

lang. Wenn du eine Woche durchhältst, kannst du dann auch von Monat zu Monat bleiben.<br />

Hast du Arbeitspapiere?“<br />

Holt nickte. „Wann kann ich anfangen?“<br />

„Jetzt sofort.“ Er drückte Holt eine Schaufel in die Hand. Die übrigen vier<br />

Handwerker hatten ihrem Boss zugehört. Als sie Holt ratlos die Schaufel in der Hand halten<br />

sahen, brachen sie alle in ein lautes Gelächter aus. Kohlmeise scheuchte sie jedoch zur Arbeit<br />

zurück.<br />

„Ihr faules Volk, was gibt es hier zur glotzen? Schert euch an die Arbeit ihr Penner!“,<br />

dabei strahlte er Holt an. Er schien Holt sagen zu wollen, hier bin ich der Boss und es wird<br />

gemacht, was ich erwarte, dabei streckte er seinen Arm aus und zeigte mit dem Zeigefinger<br />

auf die einzelnen Mitarbeiter, die ab morgen Holts Kollegen sein würden.<br />

„Der Lange da, ist mein Cousin Udo, der Kleine da auf der Leiter, mein Bruder, dort,<br />

der da mit dem Malerpott ist ein Freund aus alten Tagen.“<br />

Schlagartig verstand Holt, warum Kohlmeise mit seinen Mitarbeitern so herumsprang.<br />

Das war hier eine Art familiärer Ton in einer Proletenfamilie. Na, so schlimm würde es bei<br />

ihm wohl nicht werden, da er ja nicht zur Familie gehörte. Nachdem er sich zum nächsten Tag<br />

hier auf der Arbeitsstelle verabredet hatte, ging er eine Etage tiefer, wo Pauline ihn<br />

erwartungsvoll anschaute.<br />

„Na Hans, hast du einen Job bekommen?“<br />

Holt nickte und erzählte das eben Erlebte. Pauline hörte aufmerksam zu, dann stellte<br />

sie die entscheidende Frage, „Was zahlt er dir?“<br />

Holt fuhr es durch die Knochen. Ich Idiot habe noch nicht einmal gefragt, was ich für<br />

die Arbeit bekomme!, schoss es durch seinen Schädel. Er druckste ein wenig herum, er konnte<br />

doch Pauline gegenüber nicht zugeben, danach nicht einmal gefragt zu haben. Das war<br />

wirklich peinlich, es zuzugeben. Nein, er würde eine Notlüge gebrauchen. „Ich glaube, er<br />

sprach von acht Euro die Stunde.“<br />

„Du glaubst? Was hat er gesagt brutto oder netto?“<br />

Warum musste ihn diese Frau mit solchen unangenehmen Fragen piesacken? Ein<br />

Glück, dass gerade Marta von der Toilette zurückkam und er von der Beantwortung der Frage<br />

ablenken konnte. Eine Antwort, die ihn auch sehr interessieren würde. Pauline bohrte nicht<br />

nach und vergaß auch am Abend danach zu fragen beziehungsweise sie war zu klug, Holt<br />

damit auf die Nerven zu gehen. Sie schien mitbekommen zu haben, dass ihr Familienesel Mal<br />

wieder etwas Entscheidendes vergessen hatte. So war er ja nun mal.<br />

Die Arbeit in Kohlmeises Gruppe war nicht einfach, aber für Holt leicht zu bewältigen.<br />

Kohlmeise behielt Holt den ganzen Tag im Auge, sagte jedoch nichts, bis auf ganz normale<br />

fachliche Anweisungen. Am Abend war Holt wie ausgelaugt, Kohlmeise scheinbar mit ihm<br />

zufrieden. Dieser nahm ihn beiseite und lästerte.<br />

„Ab morgen brauchst du dir natürlich nicht den Arsch so aufreißen wie heute. Du<br />

kannst zulangen, aber übertreiben wollen wir es ja auch nicht. Willst du eigentlich für null<br />

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arbeiten?“ Holt schaute seinen Boss irritiert an, der fortfuhr, „Du hast ja noch nicht einmal<br />

gefragt, was ich dir zahle. Also, wenn du nichts dagegen hast, zahle ich dir zunächst zehn<br />

Euro pro Stunde bar auf die Hand. Du kannst es dir überlegen, ob du ab nächsten Monat mit<br />

Steuerkarte für zwölf Euro oder ohne für fünfzehn arbeiten willst. Das liegt bei dir, du sagst<br />

mir bis dahin, wie es dir recht ist.“<br />

Holt war mehr als erstaunt. Er versprach Kohlmeise innerhalb der nächsten Tage seine<br />

Entscheidung bezüglich der Steuerkarte mitzuteilen, obwohl er die Antwort schon wusste.<br />

Natürlich ohne Steuerkarte. Pauline würde es auch so sehen, glaubte er.<br />

Kohlmeise schien ein guter Arbeitgeber zu sein, diesen Eindruck hatte Holt jedenfalls. Nach<br />

ein paar Tagen vereinbarte sein Chef mit ihm, ihn morgens von zu Hause abzuholen. Dieser<br />

kam sowieso immer an seinem Haus vorbei, da machte das Zusteigen keine großen Probleme.<br />

Nachdem die Arbeit in der Cita abgeschlossen war, wartete schon neue Arbeit. Insgesamt<br />

hatte Kohlmeise vier neue Aufträge angenommen. Damit er auch wirklich die Aufträge<br />

bekam, fing er immer am Anfang mit der gesamten Mannschaft an, dünnte jedoch das<br />

Personal nach einigen Tagen aus, um dann an einer weiteren Baustelle zu beginnen. Holt<br />

machte sich Gedanken darüber, wie lange diese Art der Arbeit gut gehen würde. Man konnte<br />

mit einem Hintern nicht auf mehreren Hochzeiten tanzen. Jetzt hatten sie zu zweit das Haus<br />

eines reichen Deutschen vollständig zu sanieren. Schon vor Wochen hatte Kohlmeise<br />

angefangen, nach und nach das Personal abzuziehen, bis der Auftraggeber aus Deutschland<br />

zurückkam und Krach schlug. Vier Tage wurde dann wieder in voller Besetzung gearbeitet,<br />

bis am fünften Tag bereits zwei Kollegen wieder zu einer anderen Baustelle abgezogen<br />

wurden. Der ursprünglich gute Ruf Kohlmeises wurde durch diesen selbst kräftig ruiniert. Die<br />

Tätigkeiten waren für Holt voraus nicht mehr planbar, sein Chef hetzte ihn manchmal am Tag<br />

zu drei verschiedenen Stellen.<br />

Irgendwann nach fasst drei Monaten hatte Udo, der Cousin, aus der Truppe Kohlmeises,<br />

Geburtstag. Bereits am Nachmittag wurden Batterien an Alkohol gekauft. Holt bekam die<br />

Einladung, doch um zwanzig Uhr im Haus Kohlmeises zu erscheinen. Kein Wort wurde<br />

gesprochen, ob sich diese Einladung auch auf Pauline bezog. Also erschien Holt, bewaffnet<br />

mit einer großen Schüssel Kartoffelsalat, alleine. Pauline war zwar ein wenig über die Art<br />

pikiert, hatte jedoch auch keinen großen Wert darauf gelegt.<br />

Zuerst begann es mit einem Begrüßungstrunk im großen Wohnzimmer, dann verzogen<br />

sich alle auf dem Dach, auf dem ein angefeuerter Grill stand. Holt hatte Kohlmeises Frau<br />

bislang noch nicht getroffen und auch nicht die kleine Tochter. Frau Kohlmeise führte das<br />

Regiment mit deftigen Schimpfworten, mit denen sie alle Anwesenden nach und nach, auch<br />

Holt, bedachte. Anfänglich glaube er, dass diese Art der Kommunikation künstlich aufgesetzt<br />

war, Frau Kohlmeise sich nur unter all den rauen Männern behaupten wollte. Als er einmal<br />

zur Toilette ging, hörte er wie die Kohlmeise im Kinderzimmer ihre kleine Tochter<br />

beschimpfte. Schlampe und Idiotin waren noch die harmlosesten Worte. Oben auf dem Dach<br />

hatten alle auf Bierkästen um eine riesige Tischlerplatte Platz genommen. Mit dem<br />

Alkoholkonsum stieg auch die Lautstärke der Unterhaltungen, welche sich nach und nach ins<br />

Gegröle und Geschreie steigerten. Frau Kohlmeise saß nun wieder zwischen ihrer Sippschaft<br />

und schrie mit. Es hätte ein Fest von Raubrittern des Mittelalters sein können. Ringsherum<br />

wurde kräftig gefurzt und gerülpst. Niemand störte sich daran. Als Kohlmeises Sohn besoffen<br />

vom Kasten fiel, ließ man ihn liegen, wo er gerade hingefallen war. Noch lange vor<br />

Mitternacht waren alle, einschließlich die Kohlmeise, so abgefüllt, dass Holt sich unbemerkt<br />

davon machte. Diese Geburtstagsparty war für ihn ein Albtraum. Als er die Avenida<br />

Tirachana hinunter ging, frische Luft einatmend, hörte er noch lange den Lärm der Meute.<br />

237


Am nächsten Morgen war Kohlmeises Familie pünktlich, aber verkatert bei Holt erschienen,<br />

um ihn zur Arbeit abzuholen. Diesmal ging es in die Berge, auf eine Finca. Dort lebte der<br />

größte Restaurantbesitzer von Playa del Inglés mit seiner deutschen Ehefrau. Die gesamte<br />

Anlage sollte neu verputzt und gestrichen werden. Nachdem Kohlmeise das Material und<br />

seine Leute ausgeladen hatte, verzog er sich mit der Madam ins Büro. Nach einer Stunde kam<br />

er wieder heraus, wies Holt und Udo an, den alten Putz, abzuschlagen, der sowieso in den<br />

nächsten Monaten von alleine abgefallen wäre. Mit den anderen Zwei verschwand er wieder<br />

in Richtung Maspalomas. Für zwei Arbeiter wäre es erst einmal Arbeit für eine knappe<br />

Woche. Jedoch am Abend, als Kohlmeise seine zwei Mitarbeiter abholte, wies er diese an,<br />

sich mindestens drei Wochen damit zu beschäftigen. Wie es sich herausstellte, hatten zwei<br />

Kunden Kohlmeise den Auftrag entzogen und ein weiterer dachte daran. Die unzuverlässige<br />

Arbeitsweise hatte sich rumgesprochen. Es sollte noch schlimmer kommen. Obwohl es auf<br />

dem Bausektor Gran Canarias eine Nachfrage für gute Bauleute gab, bekam Kohlmeise von<br />

diesem Kuchen nichts mehr ab. Während einer Auseinandersetzung mit einem potenziellen<br />

Kunden war er ausgerastet und hatte diesen geohrfeigt. Dass dieser ein Ratsherr von<br />

Maspalomas war, war sein Pech. Ein paar Tage später stand ein deftiger Artikel in der<br />

deutschsprachigen Zeitung, der Kohlmeises Ambitionen, der größte Bauherr zu werden, nicht<br />

gerade dienlich war. Ihm konnte diese „Schmähschrift“, wie er sie nannte, anfänglich nicht<br />

erschüttern. Dann blieben aber die Kunden aus. Nach fast einem Monat, nachdem er alle seine<br />

alten Aufträge abgearbeitet hatte und nur noch einige kleinere neuere Arbeiten anstanden,<br />

blies er zum Rückzug. Wie überall in der Wirtschaft gehen die zuerst, die zuletzt gekommen<br />

sind. In diesem Falle war es Holt.<br />

Am letzten Freitagabend fuhr Kohlmeise ihn alleine nach Hause. Dem schwante nichts Gutes.<br />

Vor Holts Haus stellte er den Motor ab, steckte sich eine Zigarette an und sprach ihn an.<br />

„Hans, du warst ein guter Arbeiter, ich kann dich jetzt aber nicht mehr gebrauchen,<br />

denn ich habe keine neuen Aufträge mehr. Mit dem alten Kram kann ich gerade mal meine<br />

Familie ernähren und Udo für noch einen Monat beschäftigen. Dann ist Sense.“<br />

Holt blieb sitzen und schaute Kohlmeise an. Er hatte ja seinen Wochenlohn noch nicht<br />

bekommen. Kohlmeise verstand den Blick, er griff in die Brusttasche und holte ein Bündel<br />

Geld heraus. Dann zählte er mehrere Hunderter ab und gab diese Holt. Den Rest steckte er<br />

wieder ein. Er zählte nach. Es waren zweihundert Euro mehr, als ihm zustanden, so eine Art<br />

Schmerzens- oder Arbeitslosengeld. Ohne ein weiteres Wort stieg er aus und schmiss die Tür<br />

hinter sich laut zu, was Kohlmeise immer genervt hatte. Als er bereits die Treppe zum Haus<br />

betrat, sah er, dass Kohlmeise mit seinem Auto immer noch dort stand. Kohlmeise war ein<br />

sehr guter Handwerker, zwar ein Prolet aus dem Ruhrpott, aber er hatte neben seiner<br />

schlechten Organisation trotzt allem ein gutes Herz. Davon konnte sich Holt jedoch nichts<br />

kaufen.<br />

Als Pauline von Holts Kündigung hörte, fiel sie in Panik. Ihre Bemühungen um Arbeit waren<br />

in den ersten Tagen wegen der fehlenden deutschen Papiere recht schleppend verlaufen.<br />

Nachdem sie aus Deutschland zurück war, sah es anders aus. Nicht weit vom Zentrum<br />

entfernt hatte Eva ihren Schönheitssalon, inmitten eines Fitnesscenters. Zwischen den vielen<br />

Foltergeräten befand sich der Eingang zum Salon. Während sich die Männer dabei<br />

versuchten, ein paar Muskeln heranzuzüchten, gingen die Frauen in der Zwischenzeit zu Eva<br />

um mit mehr oder weniger Erfolg ihr äußeres Erscheinungsbild aufzupeppen. Eva war eine<br />

ausgebildete Schönheitsrestauratorin aus Deutschland. Im Rheinland hatte sie mit großem<br />

Erfolg einen Schönheitssalon betrieben. Im Strudel einer Ehescheidung hatte sie, bis auf ein<br />

paar moderne Geräte der Gesundheitspflege, fast alles verloren. Nun versuchte sie auf Gran<br />

Canaria an den beruflichen Erfolg, den sie in Deutschland hatte, anzuknüpfen. Für sie<br />

arbeitete bereits eine Visagistin und die Stelle in der „Abteilung Finger und Füße“ war noch<br />

238


frei. Als Pauline sich vorstellen sollte, ging Holt mit, wobei er vorgab, sich die<br />

Krafttrainingsgeräte näher anschauen zu wollen. Eva hatte bereits auf Pauline gewartet, sie<br />

saß außerhalb ihres Salons an der Fruchtsaftbar neben dem Inhaber des Centers. Holt hatte sie<br />

zuerst für einen Gast des Fitnesscenters gehalten. Sie selbst war ein Kunstobjekt, ein Produkt<br />

ihrer eigenen Werbung. Makellose Figur, gut gestylt, braun gebrannt, ein „heißer Feger“.<br />

Später zeigte Eva Pauline ein paar Bilder aus der Zeit vor ihrer persönlichen Zeitrechnung.<br />

Pauline bemerkte einmal zu Holt, wenn er sie vorher gesehen hätte, wäre es nicht die Mühe<br />

wert gewesen, zweimal hinzuschauen. Sie habe nichtssagend ausgesehen. Jetzt war sie ein<br />

Blickfang. Trotzt ihrer künstlichen Schönheit war sie auf dem Teppich geblieben, sie war<br />

alles andere als arrogant oder eingebildet, sie war eine warmherzige und freundliche Frau.<br />

Pauline und Eva verstanden sich auf Anhieb. Pauline beschrieb ihren beruflichen Werdegang<br />

und beeindruckte Eva damit offensichtlich, die sofort eine Probe ihres Geschicks sehen<br />

wollte.<br />

Während Holt an der Bar bereits vor seinem zweiten Gemüsesaft saß, verschönerte<br />

Pauline die Hände ihrer wohl zukünftigen Chefin. Nach einem längeren Spaziergang zur<br />

nahen Playa und weiteren zwei Säften war Pauline mit ihrer Testarbeit fertig. Beide kamen<br />

zurück an die „Fruchtwasserbar“, wie Holt sie nannte. Eva hielt Holt ihre Hände vors Gesicht<br />

und strahlte.<br />

„Deine Frau hat goldene Hände. So gut kann ich es selbst nicht einmal machen, das<br />

heißt was,“ sagte sie nicht ohne Selbstbewusstsein, „ ... und ich bin in meinem Fach sehr gut.“<br />

Holt war davon überzeugt. Eva bot sich an, sie mit ihrem Auto nach Hause zu fahren.<br />

Als sie vor der Anlage hielt, schaute sie sich die Fassaden der Häuser an und schüttelte sich.<br />

„Erzählt bloß nicht, ihr wohnt hier?“<br />

Pauline bestätigte dies, sagte aber, dass es sich nur um eine Überbrückung handelte.<br />

Eva bat sie wieder einzusteigen, ließ den Motor an, wendete und fuhr in Richtung Cita die<br />

Hauptstraße hinunter. Hinter der Cita bog sie links ab und hinter einer Apotheke gleich wieder<br />

rechts. Hier hieß die Straße Avenida de Alemañia, also Straße Deutschland. Ungefähr<br />

zweihundert Meter weiter hielt sie vor einem weißen Haus, welches unter Palmen in einem<br />

großen Blumengarten stand, an. Neben dem Haus befand sich zur linken Seite ein weiteres,<br />

etwas kleineres, aber ebenfalls von Palmen und Blumen umgeben. Darauf zeigte sie.<br />

„Das Haus könnt ihr sofort anmieten. Ich kenne die Eigentümer, es sind Deutsche, die<br />

gerade in Düsseldorf sind. In der nächsten Woche kommen sie zurück. Nachher werde ich<br />

einmal anrufen und nachfragen, ob das Haus noch zu vermieten ist. Wenn ja, könnt ihr es<br />

vielleicht bereits morgen schon besichtigen. Der Verwalter wohnt hier in der Nähe. Seine<br />

Frau ist auch meine Kundin.“<br />

Sie schaute die Beiden strahlend an, die fassungslos das kleinere Haus beäugten. Das<br />

war ein Traum. Pauline hatte sich zuerst gefasst. „Und wie hoch soll die Miete sein?“<br />

Eva dachte etwas nach. “Ich glaube sechshundertundfünfzig Euro möbliert, jedenfalls soviel<br />

hat der letzte Mieter gezahlt. Der hatte sich im Haus eine Druckerei eingerichtet. Also war es<br />

gewerblich oder teilgewerblich. Bei normaler Vermietung müsste es weniger sein. Noch heute<br />

Abend weiß ich mehr.“<br />

Bereits vor den Heute-Nachrichten um neunzehn Uhr klingelte das Telefon. Eva teilte<br />

mit, das Haus in der Avenida de Alemañia wäre noch frei und die Vermieter möchten<br />

sechshundertfünfzig Euro haben. Mit dem Mietpreis wollten sie aber nicht heruntergehen, da<br />

es auf dem Wohnungsmarkt zurzeit eine starke Nachfrage gab. Der Verwalter würde ihnen<br />

am nächsten Tag nach dem Mittagessen das Haus zeigen, egal ob sie es nehmen oder nicht.<br />

Vor Aufregung konnten sie die Nacht nicht durchschlafen. Am Morgen waren sie ein wenig<br />

gerädert und die Zeit bis zum Mittag wollte nicht vergehen. Um dreizehn Uhr standen sie vor<br />

dem Haus, als der spanische Verwalter mit einem älteren BMW vorfuhr. Dieser zeigte stolz<br />

das Haus, als ob es sein eigenes wäre. Durch das Gittertor ging man einen mit Bougainville<br />

239


ewachsenen Gang zur Eingangstür. An den Hauswänden befanden sich große Keramikbilder<br />

mit folkloristischen, kanarischen Motiven. Hinter der Eingangstür lag zur rechten Seite das<br />

relativ große Wohnzimmer. Links lag die Küche und geradeaus das Bad. Hinter dem<br />

Wohnzimmer verlief ein schmaler Gang, von dem rechts ein Gästezimmer abging und<br />

geradeaus lag das Schlafzimmer.<br />

Beim Zurückgehen entdeckten sie die Glasschiebetür, die zu einer großen, in weiß<br />

gehaltenen Terrasse führte. Diese war durch eine Glaselementenverkleidung zum Garten, zur<br />

Straßenseite abgegrenzt. Auf der linken Seite der Terrasse befanden sich zwei große<br />

gemauerte Sitzgruppen. Alles war gefliest. Gleich hinter der Schiebetür rechts befand sich<br />

eine stählerne Wendeltreppe, die zur Dachterrasse führte. Von der leeren, mit einer<br />

Schiffsreling gleichen Umrandung versehenen Terrasse, hatte man einen wunderbaren Blick<br />

über Playa del Inglés, vom zweihundert Meter entfernten Strand, bis hin zu den Bergen. An<br />

der rechten Seite konnte man noch die Dachbebauung der Cita sehen und zur linken Hand das<br />

wuchtige Riu- Hotel. Gleich neben dem Haus stand eine kleine Ferienanlage mit einem<br />

Swimmingpool vorne im Garten. Das Haus schien perfekt zu sein.<br />

Zwischen der Besichtigung des Hauses und der Rückkehr der Eigentümer lag eine Woche. So<br />

lange hatten Pauline und Holt noch Zeit, eventuell wegen mangelnder Einkünfte einen<br />

Rückzieher zu machen. Doch in der Zwischenzeit hatte sich Pauline bei Eva eingearbeitet. Sie<br />

musste sich zwar um eigene Kunden kümmern, aber in der Anfangsphase übernahm sie Evas<br />

Kunden, welche durch die Anwesenheit Paulines ihre Schönheitspflege auf Hände und Füße<br />

ausdehnte. Bereits am Ende der ersten Woche hatte sie zu ungefähr dreißig Altkunden, neun<br />

neue Kunden, die im Synergieeffekt sich auch von Eva verschönern ließen. In der Hoffnung,<br />

dass nun auch Holt bald wieder einen Job finden würde, reichte das einkommende Geld für<br />

die Miete des Wunschhauses sowie für ein angenehmes, allerdings nicht überschwängliches<br />

Leben.<br />

Die Vermieter erschienen anfänglich als nette und seriöse, aber ein wenig raffgierige<br />

Menschen. Sie waren ehemalige Wirtsleute aus dem Raum Düsseldorf. Dort mussten sie<br />

innerhalb von mehr als vierzig Jahren Einiges beiseitegeschafft haben. Gegen Ende ihres<br />

Geschäftslebens waren sie gemeinsame Inhaber von vier besseren Restaurants, einer<br />

Metzgerei und einer Bäckerei. Bis auf das erste Restaurant wurden alle anderen Betriebe von<br />

den zwei Söhnen und Schwiegertöchtern geführt. Heinz Waterkotte kümmerte sich nach wie<br />

vor um Die Deutsche Eiche, obwohl er einen tüchtigen Geschäftsführer hatte, der an sich<br />

seine Anwesenheit überflüssig machte. Der Alte wollte immer noch mitreden. Waltraud<br />

Waterkotte hatte in all den Jahren das Geld zusammengehalten und die betriebliche<br />

Expansion geleitet. Ihr hatte es der Heinz auch zu verdanken, dass sie dieses Haus in Playa<br />

del Inglés vor ein paar Jahren für einen Appel und ein Ei erworben konnten, so wie sie es<br />

selbstgefällig ihren zukünftigen Mietern erzählten.<br />

Nachdem Pauline und Holt den geschäftlichen Lebenslauf ihrer Vermieter kannten,<br />

wurde ein „Schnäpperchen“ auf den Vertragsabschluss getrunken. Die Waterkottes gingen<br />

keinen Cent vom geforderten Mietpreis herunter. In Anbetracht ihrer Erzählungen, wie reich<br />

sie waren, zeigten sie sich ausgesprochen geizig. Pauline sagte stets zu Holt, von Reichen<br />

lernt man Sparen.<br />

Als einzigstes Entgegenkommen stellten die Waterkottes ein besseres Bett zur<br />

Verfügung. Nicht das sie extra ein neues Bett kauften, nein, sie hatten ein älteres aber<br />

breiteres in einem angrenzenden Schuppen. Holt war fasst erstaunt, dass dieses Bett nicht für<br />

eine Mieterhöhung herhalten musste.<br />

Ein Vorteil hatte die Lage des Hauses, es war zentral, nicht weit entfernt vom Strand, von der<br />

Cita, der Hauptstraße und von Marta und Bernd. Diese wohnten nur fünf Häuser weiter, kurz<br />

240


vor der Cita. Seit ihrer Ankunft hatten Pauline und Holt die Zwei bereits dreimal besucht.<br />

Marta war eine resolute Frau, die den Laden schmiss und Bernd war ein Teil des Inventars,<br />

nicht Ehemann. Sie kannten sich seit fasst zwanzig Jahren, waren aber nicht verheiratet. Das<br />

Haus, in dem sie wohnten, bestand eigentlich aus drei Häusern mit einem zentralen Platz in<br />

der Mitte, auf dem sich ein Swimmingpool befand. Zum Pool hin lagen die überdachten und<br />

mit Rosen und Bougainville umrankten Außenterrassen. Zwei der Häuser waren immer an<br />

Kurz- und Langzeitgäste vermietet und damit wurde das Geld für den Lebensunterhalt<br />

erarbeitet. Marta hatte die Vermietung an Pauline und Holt in Aussicht gestellt, wenn einer<br />

ihrer Mieter kündigen sollte. Aber das hatte bislang noch kein Mieter gemacht, es wäre auch<br />

ausgesprochen blöd gewesen. Marta unterschied sich als Düsseldorferin von den Waterkottes<br />

dadurch, dass sie selbst lebte und leben ließ. Ihre Mieter zahlten für ungefähr sechzig<br />

Quadratmeter möbliert nicht mehr als vierhundert Euro.<br />

Am Tage des Auszuges bei Mathilda kam auch die Nachricht von der spanischen Post:<br />

Die zehn Umzugskartons waren endlich nach sechzehn Wochen da. Zeitlich passte das ganz<br />

ausgezeichnet. Holt hatte Bernd gefragt, ob er den Fahrer eines Lastentaxi kenne. Dieser hatte<br />

nur gefragt, warum. Als Holt ihm erzählte, dass er damit die zehn Kartons von der Post<br />

abzuholen gedenke, antwortete dieser, dass die wohl in seinen Mercedes passen, wenn er die<br />

Rückbank zurückklappen würde. Holt nahm das Angebot an, aber der Mercedes war wirklich<br />

zu klein. Es musste dreimal gefahren werden, was an sich auch kein Problem war. Bis zur<br />

Post waren es nur achthundert Meter. Als Entschädigung für den Benzinverbrauch und die<br />

Mühe beim Anpacken luden sie die beiden neuen Nachbarn in ein bekanntes, sehr gutes<br />

Restaurant an der Tirachana ein. Ein Lastentaxi wäre wesentlich billiger gewesen, hätte aber<br />

nicht so viel Spaß gemacht, wie der Abend im Restaurant Cyclon.<br />

*<br />

Zur gleichen Zeit in Arlington. In seinem Büro saß ein Immigrationsrichter vor dem<br />

wöchentlichen Stapel der Asylanträge, welche aus formellen Gründen eingestellt werden<br />

mussten. Formelle Gründe waren fehlende Unterlagen, das Nichterscheinen zum Interview<br />

und die Verweigerung, Fingerabdrücke abzugeben. Über rechtliche Gründe, einer<br />

Zustimmung oder Ablehnung im Asylverfahren, hatte er nicht zu entscheiden.<br />

Heute lagen neunzehn Fälle vor. Die ersten zwei waren einfach. Einstellung des<br />

Verfahrens wegen mangelnder Mitwirkung. Zwei Kolumbianer hatten keine Unterlagen<br />

vorgelegt und waren zur Befragung nicht erschienen. Der dritte Fall war komplizierter. Der<br />

Antragsteller war zur Befragung erschienen, hatte jedoch seine behauptete, bisherige<br />

Staatsbürgerschaft nicht glaubhaft nachweisen können. Er hatte erzählt, aus Angola zu<br />

kommen, doch Teile seiner vorgelegten Papiere stammten aus Liberia und der Dolmetscher<br />

hatte auf einem Schreiben vermerkt, dass der Antragsteller die in Angola geläufige<br />

Landessprache nicht verstand und auch die portugiesische Sprache der ehemaligen<br />

Kolonialmacht nicht beherrsche. Die Indizien sprachen dafür, der Antragssteller kam aus<br />

einem sicheren Land und hatte daher keinen Anspruch auf Asyl. Er stellte auch dieses<br />

Verfahren ein.<br />

Als Nächstes kam der Fall A-79509101. In der vorderen Aktenablage der<br />

Umschlagseite lag der Antrag mit den Angaben des Antragsstellers, in der Akte selbst das<br />

zuletzt eingegangene Schreiben in dieser Sache. Nach einem Vermerk des Asylum Office war<br />

der Antragsteller bereits zur zweiten Vorladung nicht erschienen. Der Richter schaute sich die<br />

Angaben zur Person auf der linken Seite an. Ein Deutscher! Dieser beantragte Asyl, weil er in<br />

Costa Rica Opfer von Verbrechern geworden sei und ihm seine Heimatbehörden in<br />

Deutschland keine Unterstützung gewährt hätten. Interessant, was hat der Kerl noch<br />

angegeben? Er schaute sich das letzte Schreiben des Antragstellers vom 15. Januar näher an.<br />

Ihm stockte der Atem. Dieser Bastard beschimpfte sein Land und Vertreter seines Landes. Er<br />

241


machte sich über seine Heimat lustig, sie sei nicht die richtige Adresse für Leute, die Asyl<br />

suchten! Empört las er nochmals das Pamphlet durch. Wie konnte dieser Kraut es wagen,<br />

Forderungen zu stellen. Der Richter machte sich nicht mehr die Mühe, den weiteren<br />

Schriftverkehr dieser Akte durchzulesen, die Sache war für ihn klar. Die angeschwollenen<br />

Zornesadern an seiner Stirn signalisierten sein patriotisches Aufgebrachtsein. Er hatte die<br />

heiligste Pflicht, solche Individuen von seinem geliebten Heimatland fernzuhalten. Dieser<br />

undankbare Strolch kam aus dem Lande, aus dem die Terrorristen des 11. September 2001<br />

eingereist und in dem seine Großeltern verfolgt und ermordet worden waren. Mit leicht<br />

zitternder Hand griff er zu einem hellroten Formblatt, in der er auf der oberen linken Seite die<br />

Vorgangsnummer eintrug. Danach nur noch den Namen und das Geburtsdatum des<br />

Antragstellers. Obwohl dieser seinen Antrag offiziell zurückgenommen hatte und dieser Fall<br />

sich damit erledigt hätte, verfügte er die Einstellung des Vorganges, weil es mit dieser<br />

Einstellungsverfügung verbunden die Möglichkeit von rechtlichen Maßnahmen gab. Als<br />

Grund der Einstellung kreuzte er aus einer Reihe von Möglichkeiten nur zwei an. Diese<br />

waren, Einstellung wegen Nichterscheinens und Einstellung wegen Verstoß gegen die<br />

Einwanderungsbestimmungen. Besagter Antragsteller hatte von der Einreise bis zum Termin<br />

der Antragstellung die visafreie Frist zur Genehmigung des Aufenthaltes in den USA, um<br />

zwei Tage überschritten. Nun kam das Beste. Unten auf dem Formblatt waren mehrere<br />

Möglichkeiten der staatlich gebotenen Reaktion verzeichnet. Hier kreuzte er die Rubriken<br />

Verweigerung der Einreise in die USA im Falle einer beabsichtigten Einreise und Festsetzung<br />

und Abschiebung im Falle des Aufgreifens innerhalb der USA an. Zufrieden lehnte er sich<br />

zurück. Er hatte seinem Heimatland im Kampf gegen seine Feinde wieder einen Dienst<br />

erwiesen, seinen Freunden im Countryclub konnte er am nächsten Wochenende berichten,<br />

dass er ein guter Amerikaner war.<br />

Die Akte landete auf dem Stapel, die zur Eingabe in das neue Computersystem des<br />

bald neu gebildetem Departement of Homeland Security vorgesehen waren. Im fernen<br />

Spanien bemühte sich ein ahnungsloser Holt gerade, sein Leben neu einzurichten.<br />

*<br />

Frank schaute durch die breiten Glasfenster des Restaurants zum Pool, in dem die Gäste der<br />

Anlage planschten. Sein Blick ging an der Reihe der Häuser vorbei hinunter zur<br />

Uferpromenade. Dort promenierten gerade ein paar Urlauber, die mit Ferngläsern bewaffnet,<br />

sich einen Flugzeugträger am fernen Horizont anschauten. Der Atlantik war ruhig, die Sonne<br />

brannte vom Himmel auf den Sandstrand vor dem Cliff.<br />

Vor sich hatte er eine Flasche Wodka, dessen Flüssigkeitsspiegel innerhalb der letzten Stunde<br />

von „voll“ auf „halb voll“ oder, je nach Ansichtssache, auch als „halb leer“ bezeichnet „fasst<br />

leer“ gesunken war. Finsterer Miene betrachtete er seinen Schwager, der am Pool erschien<br />

und mit einem Gast scherzte.<br />

Dieser elende Heuchler! Zu allen Gästen ist er scheißfreundlich, nur ich bin ein<br />

persönlicher Blitzableiter dieser Tunte. Dabei habe ich nichts getan, was den Unmut Carls<br />

herauf beschworen haben konnte. Bereits vor einem Monat habe ich es ihm erzählt, dass die<br />

automatische Bewässerungsanlage nicht funktionierte, dass Teile ausgewechselt werden<br />

müssten. Carl hat nur geantwortet, dafür ist jetzt kein Geld da, ich soll es reparieren, so gut,<br />

wie ich es kann. Das habe ich auch getan, alten Kram mit alten Teilen repariert. Nun ist eine<br />

Hauptleitung geplatzt und hat die Erdgeschosse von drei Appartementhäusern unter Wasser<br />

gesetzt. Ein Scheißschaden ... und das wird mir von Carl nun in die Schuhe geschoben, dachte<br />

er grimmig. Er erinnerte sich an die Auseinandersetzung am Morgen, als Carl ihn angeschrien<br />

hatte.<br />

242


„Du Nichtskönner, wegen deiner Unfähigkeit sind mir drei Wohnungen abgesoffen,<br />

die vermietet und für weitere vier Monate voll ausgebucht waren. Ich habe einen Schaden von<br />

über zwanzigtausend Euro, die werd ich dir vom Lohn abziehen!“<br />

Frank hatte Carl am Hemd gepackt und ihn zu sich gezogen. Wutverzerrten Gesichts<br />

hatte er Carl angebrüllt.<br />

„Was sagst du alte Pupe, du willst mir deine Scheiße ankreiden? Ich hab dir<br />

Blödmann, und auch deiner Schwester, bereits im letzten Monat gesagt, was gemacht werden<br />

muss. Aber du Pfennigfuchser warst zu geizig dazu. Und jetzt bin ich der Sündenbock für<br />

dein Versagen. Wenn du es dir einfallen lassen solltest, mir auch nur einen Cent in Rechnung<br />

zu stellen, haue ich dir mit ‚nem Hammer den Schädel ein ... egal ob du mein Schwager bist<br />

oder nicht.“<br />

Die in dieser Heftigkeit vorgebrachte Antwort hatte Carl noch mehr in Rage gebracht.<br />

„Du Dilettant bist gefeuert, schere dich aus meiner Anlage!“, schrie er mit schriller, sich<br />

überschlagender Stimme.<br />

„Deine Anlage!“, hatte Frank gehöhnt, „Du bist nur ein kleiner, aber schlechter<br />

Verwalter, dir gehört noch nicht einmal der Kitt in den Fenstern. Ich werde mit Schaffhausen<br />

sprechen und ihm erzählen, was für ein Mistkerl und Versager du in Wahrheit bist.“<br />

Nun saß er vor einer fasst leeren Schnapsflasche und es musste neuer Stoff her, um<br />

den immer noch vorhandenen Ärger runter zu spülen. Carl hatte den Schlüssel zum<br />

Vorratsraum, in dem auch der Alkohol stand, an sich genommen. Hier in der Anlage gab es<br />

nichts Trinkbares mehr, an das er leicht kommen konnte. In seinem Appartement hatte er auch<br />

nichts, da er sich ja immer hier an der Bar bediente, wenn ihm danach war. Er kramte an<br />

seinem Schlüsselring herum, in der Hoffnung, einen Zweitschlüssel für das Lager zu haben,<br />

den er aber nicht fand. Nur der Zündschlüssel des Volvos fiel ihm auf, den hatte er noch.<br />

Carls Volvo.<br />

Trunken stand er auf und überlegte, ob nicht doch das kleine Geschäft an der<br />

Zufahrtsstraße auf hätte. Nein, dazu war es bereits zu spät. In seinem Gedanken keimte die<br />

Idee auf, nach Maspalomas zu fahren, sich dort eine Kneipe zu suchen und sich restlos<br />

volllaufen zu lassen. Ein faszinierender Gedanke. Wankend ging er den Treppengang zum<br />

Parkplatz hoch. Der Volvo stand in der untergehenden Sonne und wartete auf ihn. Er stieg<br />

ein, startete den Motor und raste davon, eine Staubwolke hinter sich lassend.<br />

Mit neunzig Stundenkilometern raste er auf das Rondell, mit der Abzweigung zur<br />

Autobahn, zu, schoss an der richtigen Abfahrt vorbei, auf die alte, schlecht erhaltene Strecke<br />

am Ufer. Als er bereits einige hundert Meter auf dem Schotterweg fuhr, bemerkte er seinen<br />

Irrtum. Was soll’s, ich fahre einfach hier weiter, komm eh auf die Piste vorm Kaff.<br />

Krachend schlugen die Reifen an größere, auf der Piste liegende Felsbrocken. Eine<br />

Felgenblende verabschiedete sich mit einem dumpfen Bänng, als sie absprang. Der schwere<br />

Wagen raste auf eine Kurve zu. Die gerade untergehende Sonne blendete den Fahrer, der nur<br />

noch die weißen Begrenzungssteine am Straßenrand auf sich zu kommen sah. Wie<br />

Streichhölzer brachen diese ab. Der Wagen hielt sich noch ungefähr fünf Meter in der Waage,<br />

bevor er sich nach vorne neigte. Das Letzte, was Frank sah, waren die rasend schnell auf ihn<br />

zukommenden Felsen am Grunde der Schlucht, die hier im Volksmund auch „Todesschlucht“<br />

hieß. Den zerstörerischen Aufprall des Volvos erlebte er nicht mehr bewusst. Der<br />

honigfarbene grelle Schein der untergehenden Sonne wich dem tiefen Schwarz seines<br />

verlöschenden Lebens.<br />

*<br />

Pauline und Holt zogen ein Fazit: Sie hatten ein geräumiges und schönes Haus und brauchten<br />

kein Geld für Möbel ausgeben. Sie hatten ihren Hausrat und die Computeranlage aus<br />

Asheville bekommen. Sie waren beide gesund. Pauline war wieder einmal Doppelverdienerin<br />

243


und Holt hatte nichts. Obwohl sie sich nicht zur Einkommenssituation äußerte, verspürte Holt<br />

jedoch ihre Unzufriedenheit. Nachdem sie den Hausrat im Haus verteilt hatten und die<br />

Computeranlage eingerichtet war, obwohl diese von 115 Volt auf 230 Volt umgestellt werden<br />

musste, was ohne Probleme ging, fertigte Holt ein paar Suchzettelchen „Suche Job!“ an.<br />

Diese im DIN-A5 gehaltenen Blättchen verteilte er an alle Touristenanlagen, Hotels und Bars<br />

in Playa del Inglés. Er hatte sich als deutscher Handyman, seriös, schnell und gründlich<br />

empfohlen. Mehrere Tage vergingen ohne Resonanz. Dann kamen zwei Anrufe. Die<br />

Arbeitgeber verlangten jedoch gute bis sehr gute Kenntnisse der spanischen Sprache, da ihr<br />

Personal zu achtundneunzig Prozent aus Spaniern bestand und Neuzugänge mit diesen zu<br />

kommunizieren hatten. Dabei war es doch egal, ob die Gäste aus Deutschland, England oder<br />

Skandinavien kamen. Weil er sich jedoch als Haushandwerker bewarb, konnte er es nicht<br />

verstehen, warum er mit seinen Kollegen ein einwandfreies Spanisch sprechen musste. Also<br />

war es erst einmal nichts mit einem Job.<br />

Fasst vierzehn Tage später, nach der Flugzettelaktion, meldete sich der Rezeptzionist einer<br />

kleinen Hotelanlage, direkt an der Avenida Tirachana. Gut dachte Holt, gar nicht so weit von<br />

Zuhause. Am Telefon hatte es sich gut angehört. Der Mann war nett und schien kompetent zu<br />

sein, er störte sich auch nicht daran, als Holt seine mangelhaften Sprachkenntnisse, zumindest<br />

in der spanischen Sprache, angab. Sie waren um zweiundzwanzig Uhr verabredet. Auf die<br />

Frage Holts, warum erst so spät, erklärte der Mann bereitwillig, dass er der Nachtportier sei<br />

und erst jeden Abend um zehn Uhr anfangen würde. Das überzeugte Holt. Kurz vor<br />

zweiundzwanzig Uhr betrat er den Eingangsbereich der kleinen Hotelanlage Monte Carlo.<br />

Das Hotel machte einen sauberen und großzügigen Eindruck, sodass Holt zufrieden war, in<br />

keinem baufälligen Loch arbeiten zu müssen.<br />

Er trat auf einen kleinen untersetzten und älteren Mann mit spärlichen Haaren zu, der<br />

hinter der Rezeption saß und in einigen Papieren herum kritzelte. Dieser schaute auf und<br />

fragte im akzentfreien Deutsch, „Sind Sie Herr Holt?“<br />

Holt bejahte die Frage seines Gegenüber. Dieser stellte sich als Franz Haberland aus<br />

Hamburg vor. Der Mann war hier im Hotel nur aushilfsweise Nachtportier. Seine Hauptarbeit<br />

hatte er in der nahe gelegenen Ortschaft St. Agustin, in der Tourismusanlage Tampico. Holt<br />

war überrascht, dass es hier auf der Insel auch ein St. Agustin gab, nur dass dieses kein „e“<br />

am Ende des Namens hatte, wie die Schwester in Nordflorida, die Holt vor gar nicht zu langer<br />

Zeit besucht hatte.<br />

Die Anlage hatte bislang einen Haushandwerker, der sich jedoch vor einigen Tagen selbst aus<br />

dem Leben katapultierte. Dieser, nun tote Mann, war mit 2,5 Promille in ein Auto gestiegen,<br />

um über die Serpentinen nach Maspalomas zu fahren. Beim Versuch, eine imaginäre<br />

Abkürzung über eine tiefe Schlucht zu nehmen, war er ums Leben gekommen. Nun fehlte ein<br />

neuer Haushandwerker, der Schwester des Geschäftsführers der Ehemann und zwei Kindern<br />

im Alter von neun und dreizehn Jahren der Vater.<br />

Haberland erklärte Holt über eine Stunde die Struktur der Anlage. Er sprach vom Personal<br />

und von Carl. Letzterer war der österreichische, schwule Geschäftsführer, dessen<br />

Lebensgefährte der Koch des Restaurants war. Carls Schwester hatte die Bücher geführt und<br />

ihr verunglückter Mann die Pinsel und Schraubenzieher. Im Gegensatz zu den anderen<br />

Arbeitgebern legte Carl keinen übermäßigen Wert darauf, dass sein Handwerker ein perfektes<br />

Spanisch sprach, er sollte nur ausreichend Deutsch, wenn auch in österreichischer Mundart,<br />

verstehen, um seine Anweisungen perfekt zu erledigen. Dass Carl, neben den Anweisungen,<br />

auch in seinen Launen verstanden werden wollte, verschwieg Haberland diskret. Holt sollte es<br />

selber bald mitbekommen. Er vereinbarte, am kommenden Freitag, also bereits in zwei Tagen,<br />

zur Vorsprache im Tampico zur Mittagszeit zu erscheinen.<br />

244


Auf dem Inselplan schaute Holt sich erst einmal die Lage von St. Agustin an. Der Ort lag<br />

zirka zwanzig Kilometer von Playa del Inglés entfernt, direkt am Atlantik. Von der Cita ging<br />

jede halbe Stunde ein Bus dort hin, der erste bereits um fünf Uhr morgens. Die Fahrt dauerte,<br />

laut angeschlagenem Fahrplan, bis zum Rondell, wo er aussteigen sollte, fünfundzwanzig<br />

Minuten und kostete ein Euro und achtzig Cent.<br />

Pauline zeigte sich erfreut, dass Holt sich auf einen Job zubewegte. Marta hatte nur<br />

Gutes vom Tampico gehört und Bernd kannte sogar den Geschäftsführer mit seinem Schmusi.<br />

Weiter konnte er als langjähriger Insider der Tourismusszene berichten, dass der Eigentümer<br />

des Tampico ein exzentrischer Millionär aus Hannover sei. Holt würde also bei einem<br />

deutschen Sklavenhalter arbeiten. Am Freitag um die Mittagszeit fuhr Holt mit Pauline, die<br />

sich frei gemacht hatte, mit dem Bus nach St. Agustin, um Nägel mit Köpfen zu machen.<br />

Das Tampico lag fasst am Ende einer Sackgasse, die sich entlang der Küste zog und in einem<br />

Rondell endete. Ungefähr fünfzig Meter davor führte direkt an der hohen Außenmauer des<br />

Tampico ein Weg zur Uferpromenade, welche dort ungefähr zwanzig Meter über<br />

Meeresniveau sich ihren kurvigen Weg an der Bucht von St. Agustin entlang schlängelte. An<br />

der Uferpromenade führten alle hundert Meter steile Betontreppen zum Strand. Gegenüber<br />

dem Zugangsweg und dem benachbarten Strandausgang des Tampico lag so eine Betontreppe.<br />

Die letzten Stufen waren im Laufe der Zeit, durch die Gewalt der Brandung, teilweise<br />

zerstört. Der Rest des Treppenfußes führte unter dem überhängenden Kliff in eine kleine,<br />

zirka ein Meter Wasser tiefe Grotte. Hier waren zwei Holzboote und das Motorschlauchboot<br />

an einem einzementierten Stahlring angeschlossen. Von der Promenade aus konnte man nur<br />

einen Teil der Boote sehen, wenn man sich weit genug über das Absperrgitter beugte.<br />

Beim Bewerbungsgespräch war vonseiten des Arbeitgebers nur Carl anwesend. Erst<br />

nach einer halben Stunde erschien Egon, der Koch, der aber, was Personalfragen betraf, nichts<br />

zu sagen hatte. Nachdem er seine Neugierde befriedigen konnte, verschwand er auch wieder<br />

in seiner Küche.<br />

Carl war ein schlanker, sportlich gekleideter Mann um die Vierzig. Auf den ersten Blick hätte<br />

Holt diesen nicht als Homo erkennen können. Er zeigte keine weibischen oder tuntenhaften<br />

Züge, wie Holt eigentlich erwartete. In Anbetracht der Bemerkungen von Haberland glaubte<br />

er zunächst an eine mutwillige und bösartige Verunglimpfung. Er selbst sah zwar in der<br />

Tatsache, dass ein Mann homosexuell war, keine Verunglimpfung oder Abwertung, wollte<br />

jedoch mit Männern dieser sexuellen Ausrichtung persönlich nichts zu tun haben. Carl war<br />

modern gekleidet, hatte einen gepflegten Haarschnitt und war immer frisch rasiert. Egon war<br />

in seiner Art auch freundlich, nicht so aufgesetzt erscheinend wie Carl. Diese Freundlichkeit<br />

kam von Herzen, so jedenfalls empfand es Holt beim ersten, kurzen Gespräch und er sollte es<br />

auch später mehrmals selbst spüren können. Egon hatte Schulterlange weiche Haare, die er in<br />

der Küche unter einer Haube verbarg. Den Rest der Familie sollte Holt erst mehrere Tage<br />

später kennen lernen. Die Witwe war mit ihren Kindern in Österreich bei den Eltern. Carl war<br />

auf Gran Canaria geblieben.<br />

Carl fragte nach dem beruflichen Werdegang Holts und war überrascht, einen Juristen<br />

vor sich zu haben. Erst, nachdem Holt diesem erklärte, dass er mit dem ersten Beruf<br />

Maschinenschlosser sei und viele Jahre auch als Handwerker gearbeitet habe, war Carl<br />

zufrieden, der keinen berufsfremden Menschen einstellen wollte.<br />

„Es ist hier auf der Insel nicht unüblich,“ begann er Holt und Pauline zu erklären,<br />

„dass Akademiker in Handwerksberufen arbeiten. In Österreich und in Deutschland finden sie<br />

oftmals keinen Job mehr. Wer von denen aber handwerklich begabt ist und auch noch<br />

Kenntnisse besitzt, kann hier einen guten Schilling machen, wenn er nicht gerade als<br />

Handwerker ein Akademikergehalt erwartet.“<br />

245


„Nein, das ist mir schon klar,“ antwortetet Holt, „dass ich nicht so viel Geld verdienen<br />

kann, wie früher. Man ist ja auch bescheiden geworden, aber ein Hungerlohn mit nicht mehr<br />

gültigen Schillingen muss es ja auch nicht gerade sein.“<br />

„Ich halte mich an das spanische Gesetz und an die üblichen Mindestlöhne. Das heißt,<br />

ich zahle mehr als den Mindestlohn, natürlich in Euro.“<br />

„Und das wäre?“, Holt beugte sich im Stuhl nach vorne und schaute Carl abwartend<br />

an. Pauline hielt für Sekunden die Luft an.<br />

„Im Monat eintausendzweihundert Euro, exklusiv Sozialabgaben wie Renten- und<br />

Krankenkasse. Dazu kommen Überstunden, Sonntagszuschläge und Freitagszahlungen.“<br />

Holt schaute Pauline fragend an, die fasst unmerklich ihre Zustimmung durch ein<br />

angedeutetes Nicken kundtat. Carl hatte Paulines Zustimmung dennoch erkannt, daher wandte<br />

er sich nun direkt an sie.<br />

„Ihr Mann arbeitet drei Monate auf Probe, mit täglicher Kündigungsmöglichkeit<br />

beiderseits, danach mit einer Verlängerung auf ein halbes Jahr mit einer weiteren halbjährigen<br />

Laufzeit bis zu einem Jahr. Länger kann ich Ihren Mann jedoch nicht einstellen. Mein Boss<br />

will damit eine Unkündbarkeit nach dem spanischen Arbeitsrecht vermeiden.“<br />

Holt war diese Einschränkung auf ein Jahr unangenehm, da diese eine Unsicherheit im<br />

weiteren Leben bedeuten könnte. Er wandte sich an Carl.<br />

„Ein Jahr ist doch wohl ein wenig zu kurz. Ich glaube, da sollte ich mich doch um<br />

einen anderen, längerfristigen Job bemühen.“<br />

Carl hatte diese Gesprächsentwicklung erwartet, weil er diese Reaktion bei anderen<br />

Arbeitssuchenden bereits erlebt hatte. Er hatte sich dafür einen Plan vorbereitet, dennoch<br />

interessierte Arbeitnehmer an die Angel zu bekommen.<br />

„Ich habe jedoch einen Vorschlag, eine über ein Jahr hinausgehende Arbeit zu ermöglichen.“<br />

„Und wie läuft das?“, wollte Holt wissen.<br />

„Zum Ablauf des Jahres kündigen Sie den Arbeitsvertrag, machen eine Woche<br />

unbezahlten Urlaub und schließen wieder einen neuen Vertrag ab, so wie es im ersten Fall<br />

auch war.“<br />

Holt ergänzte den Vorschlag. „Natürlich dann wieder mit Probezeit, Verlängerung auf<br />

ein halbes Jahr und einer Laufzeit bis zu einem Jahr?“<br />

„Ja, aber da ich Sie ja dann schon kenne, wird auf eine weitere Probezeit verzichtet. Es<br />

wird sofort ein halbes Jahr mit der Verlängerung zum Jahr verabredet.“<br />

„Dann könnten wir theoretisch dieses Spielchen noch in zwanzig Jahren spielen?“<br />

„Ja!“, war die kurze Antwort Carls, der nach einem kurzen Schweigen aller<br />

Anwesenden ergänzte, „Wenn Sie dann immer noch Lust haben, hier zu arbeiten.“<br />

*<br />

Eigentlich wäre der Job für Holt einfach gewesen. Bis auf die Tatsache, dass sein Vorgänger<br />

ein fauler Hund gewesen sein musste und sich die Anlage in einem saumäßigen Zustand<br />

befand, stachen Holt zuerst das gespannte Verhältnis Carls zu den Hausdamen und<br />

Reinigungskräften ins Auge. Er behandelte diese von oben herab und herrschte sie oftmals<br />

ohne Grund unfreundlich an. In der Anlage gab es neben dem Tagesportier Haberland, noch<br />

eine Chef-Hausdame mit sechs untergeordneten Hausdamen, die eigentlich nur Putzfrauen<br />

waren. Im Restaurant arbeitete neben Egon noch Camilla, die Witwe des verstorbenen Frank.<br />

Carl stand über den Dingen. Er hielt sich in der überwiegenden Zeit, wenn er in der Anlage<br />

war, in der Rezeption vor dem Computer auf oder er befand sich auf „Dienstreisen“ oder<br />

Erledigungstouren nach Maspalomas oder Las Palmas. Alle schienen zufrieden, wenn der<br />

ständig herumschreiende Carl nicht anwesend war. Holt konnte es anfänglich egal sein, bis zu<br />

dem Tag, als Carl ihm testen wollte, inwieweit er zur bedingungslosen Unterordnung bereit<br />

246


war. Es sollte für Carl eine herbe Enttäuschung und für Holt der Anfang einer schier endlosen<br />

Frustserie werden.<br />

Die Vermietung der Anlage lief nicht so, wie es sich der Millionär aus Hannover versprochen<br />

hatte. Eines Tages, kurz, nachdem Holt seine Arbeit aufnahm, tauchte er unangemeldet auf.<br />

Holt sah, dass ein älterer Mann mit zornigem Blick die Rezeption verließ. Zuerst dachte er,<br />

einen unzufriedenen Gast gesehen zu haben. Dieser Mann rannte in der Anlage auf und ab,<br />

betrat belegte wie auch unbelegte Appartements und sprach in einer herrischen Art mit dem<br />

Personal, welche alle die Köpfe einzogen und versuchten, sich schleunigst aus der Schusslinie<br />

zu bringen. Holt hatte gerade am zentralen Platz in den Blumenrabatten einen Teil der<br />

maroden Bewässerungsanlage ausgewechselt. Um an das defekte Teil zu kommen, musste er<br />

vorher die Leitung freilegen. Hinter einem Berg Muttererde liegend hatte er im ausgehobenen<br />

Loch die leckende Leitung gekappt, um diese mit einem Verbindungsstück an einen neuen<br />

Teil der Leitung und den dazu gehörenden Spengler zu verbinden. Zwei Meter vor ihm, am<br />

Pool hatte der unbekannte Mann gerade Egon am Wickel, der mit Küchenabfällen auf dem<br />

Weg zu einem Müllcontainer war.<br />

„Müssen Sie gerade hier durch die ruhenden Gäste latschen!“, hörte Holt und er sah<br />

über seinen aufgeschütteten Berg von Muttererde einen bedrippelten Egon. „Nehmen Sie<br />

gefälligst einen anderen Weg.“<br />

Holt schaute sich die Umgebung des Pools an. Im Moment spielten nur zwei Kinder<br />

am anderen Ende, die Liegen waren nicht besetzt. Wo waren die ruhenden Gäste, von denen<br />

der Alte sprach? Egon war bereits in Richtung Müllcontainer entschwun-den, als der Alte den<br />

irritierten Holt sah.<br />

„Was machen Sie da?“<br />

In Holt kam Wut auf. Was bildete sich der alte Knacker ein? „Wer fragt das?“<br />

„Ich, sehen Sie das nicht!“, schnaufte der Mann. „Also, was machen Sie da?“<br />

„Das geht Sie, mit Verlaub gesagt, nichts an. Wer sind Sie eigentlich, dass Sie hier<br />

herumschreien?“<br />

Der Alte war einen Moment verblüfft. Holts Antwort hatte ihn offensichtlich die<br />

Sprache verschlagen. Er lenkte ein wenig ein. „Sie wissen nicht, wer ich bin?“<br />

„Nein!“, antwortete Holt.<br />

„Ich bin der Eigentümer dieser Anlage, mein Name ist Haribert Nickel.“<br />

„Herr Nickel“, Holt war versucht Pumpernickel zu sagen, „ich kenne Sie nicht. Man<br />

hat mir auch nicht gesagt, dass heute eine Inspektion vom Eigentümer fällig ist. Hätte ich das<br />

gewusst, hätte ich mir eine Krawatte umgebunden und wäre bei Ihrem Erscheinen mit einer<br />

Harke im Schulteranschlag in Hab-Acht-Stellung gegangen.“<br />

Trotzt seiner Unbeherrschtheit, schien der Alte Humor zu besitzen, beziehungsweise<br />

gute Paraden auf ungerechtfertigte Angriffe zu schätzen. Er zeigte ein wenig Freundlichkeit,<br />

als er im Ton eines Kommandeurs zu Holt sagte, „Machen Sie weiter Mann, ich bezahle Sie<br />

ja gut für Ihre Arbeit und nicht fürs Geschwätz.“<br />

Holt konnte es sich nicht verkneifen, noch hinterher zu rufen. „Aber nicht gut genug!“<br />

Der Alte ignorierte Holts Bemerkung. Er schien aber noch mehr aufgeladen zu sein,<br />

als er zur Rezeption ging und sich den gerade eintreffenden Carl zur Brust nahm.<br />

Die nachfolgende Besprechung, eigentlich ein längeres Abkanzeln Carls, hatte zur Folge, dass<br />

dieser gegenüber Holt wie umgewandelt war. Keine Freundlichkeit mehr in der Stimme,<br />

aggressives Auftreten und alle betrieblichen Mitteilungen wurden in kurzer Befehlsform<br />

geblafft. Zuerst glaubte Holt, er würde wegen seines Verhaltens gegenüber Pumpernickel, auf<br />

dessen Anweisung hin, abgestraft. Nach und nach bekam er mit, dass alle Mitarbeiter in der<br />

Anlage darunter zu leiden hatten. Selbst Egon, sein Schmusi, wurde zur Sau gemacht. Als<br />

sich Carl eines Tages nach Las Palmas verzog, sprach Holt den immer freundlichen Egon an.<br />

„Egon, was ist los, warum macht Carl mit einem Mal so einen Stress?“<br />

247


Egon überlegte einen Moment, ob er Holt in die Betriebsinterna der Führungsebene<br />

einweihen sollte. Dann beschloss er jedoch Holt gegenüber, ehrlich zu sein.<br />

„Der Nickel hat Carl für die schlechte Vermietung und den schlechten Zustand der<br />

Anlage verantwortlich gemacht ... und mit Kündigung gedroht.“<br />

Nun verstand Holt die Verstimmung, die Carl heimgesucht hatte. Er antwortete Egon,<br />

dass Carl doch wohl nicht für die Vermietung verantwortlich sei, da die doch durch die<br />

Reisebüros von Deutschland und Österreich aus erfolgen würde. Der Zustand der Anlage<br />

ginge wohl auf seine Kappe, da er seinen verstorbenen Vorgänger wohl aus familiären<br />

Gründen nicht an die Kandare genommen habe, dieser habe tatsächlich die Anlage<br />

verkommen lassen.<br />

Egon musste sich entweder aus Pietätgründen oder wegen der ihm bekannten<br />

Umstände noch nach dem Tode schützend vor Frank stellen.<br />

„Klar, der Frank hat es manchmal mit der Sauferei übertrieben. Aber Carl hat ihn<br />

oftmals ungerechtfertigt rund gemacht. Für die große Überschwemmung, als der Pool voller<br />

Schlamm war, konnte er nichts. Der Wasserrohrbruch an der Hauptleitung und die ganzen<br />

Schäden an den Häusern fünf, sechs und sieben, waren auch nicht seine Schuld.“<br />

Egon verschwieg aber aus Loyalität gegenüber Carl, zu sagen, wer eigentlich daran<br />

Schuld hatte. Holt wusste bereits bestens über die Ereignisse Bescheid, er hatte alles durch<br />

dem geschwätzigen Haberland erfahren.<br />

Zum großen Knatsch kam es am frühen Montagmorgen. Holt hatte, wie immer, bereits um<br />

sechs Uhr seine Tätigkeit aufgenommen. Es war noch dunkel, als er die Hauptwege der<br />

Anlage weisungsgemäß, wie jeden Morgen als erste Arbeit fegte. Im Licht der Wegelampe<br />

erschien überraschend Carl, der ohne zu grüßen Holt sofort anblaffte.<br />

„Warum beseitigen Sie nicht den Wasserschaden in der Acht, als hier den Besen zu<br />

schwingen?“<br />

Holt hatte sich bereits auf so eine Auseinandersetzung eingestellt und sie im Laufe der<br />

Woche erwartet, jedoch nicht schon am frühen Morgen des ersten Wochentages. Er war<br />

bereit, Carl ein paar Takte zu sagen und auch auf der Stelle den Job hinzuschmeißen, falls<br />

diese Reaktion notwendig sein würde. Selbst Pauline hatte bemerkt, das es besser sei, ein<br />

Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende zu akzeptieren.<br />

„Als erste Tätigkeit jeden Tages für mich haben Sie selbst die Reinigung der zwei<br />

Hauptwege angeordnet. Andere Tätigkeiten vor acht Uhr, die mit Geräusch verbunden sind,<br />

haben Sie ausdrücklich verboten, damit die Gäste nicht gestört werden. Im Haus acht muss<br />

ich im Erdgeschoss die Fliesen aufnehmen und den Beton aufmeißeln. Das macht Lärm!“<br />

„Sind Sie dämlich? Das Haus steht leer, niemand wird durch Ihre Arbeit gestört!“,<br />

schrie Carl den ruhig gebliebenen Holt an.<br />

„Abgesehen davon, dass ich nur den Bruchteil Ihrer Dämlichkeit aufzuweisen habe,<br />

werden alle Gäste der umliegenden Häuser sieben, neun und zehn wach, wenn ich vor acht<br />

Uhr mit der Reparatur beginne.“ Holt machte eine Pause und schaute Carl herausfordernd an.<br />

„Und wenn Sie mich noch einmal anschreien und beleidigen, bekommen Sie eins auf<br />

die große Fresse. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden? Jetzt lassen Sie mich meine Arbeit<br />

machen oder feuern Sie mich, aber stehen Sie mir nicht im Wege!“<br />

Carl hatte es die Sprache verschlagen. In seinem gestressten Hirn musste sich wohl die<br />

Erkenntnis durchgesetzt haben, sich nicht noch mehr mit Holt anzulegen, ohne tatsächlich<br />

Prügel zu beziehen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sich um und verschwand im<br />

Halbdunkel der langsam erlöschenden Nacht. Holt war gespannt, was nun geschehen würde.<br />

Zwei Stunden später wusste er es. Die Chefhausdame tauchte in der Acht auf und bat Holt, in<br />

die Rezeption zu kommen. Als sie gemeinsam zurückgingen, schwieg diese und Holt wollte<br />

auch nicht bohren, was los sei. Im Büro neben der Rezeption hatte sich ein blasser Carl hinter<br />

dem Schreibtisch verschanzt.<br />

248


Holt setzte sich ohne zu fragen auf den gegenüberliegenden Stuhl und schaute Carl<br />

erwartungsvoll an. Dieser räusperte sich und versuchte krampfhaft einen Anfang zu machen.<br />

„Äh ... mmh ... na ja, ... also es tut mir leid, dass ich heute Morgen so ausgerastet bin.“<br />

Er schaute zu Holt hinüber und erwartete eine Reaktion. Dieser aber schwieg weiter. „Der<br />

Alte aus Hannover macht Stress und lässt seinen Frust bei mir ab, er ist mit der Vermietung<br />

nicht zufrieden ... und mit dem Zustand der Anlage.“<br />

„Für den ich nichts kann. Innerhalb eines Monats kann nicht alles das erneuert und<br />

repariert werden, was in Jahren versäumt wurde,“ antwortete Holt.<br />

„Das weiß ich ja auch. Es ist nicht Ihre Schuld, das ist mir klar. Seien Sie jetzt bloß<br />

nicht beleidigt und hauen ab. Ich brauche Sie hier, Sie haben bislang gute Arbeit gemacht und<br />

so soll es auch weiter gehen.“<br />

Holt hatte befriedigt zugehört. Carl hatte ein Problem, wenn er jetzt gehen würde. So<br />

auf die Schnelle würde er keinen Ersatz finden. Diese Situation sollte er ausnutzen.<br />

„Nun ja, ich reiß mir hier den Arsch auf für Peanuts. Wenn Sie wollen, dass ich bleibe,<br />

sollten Sie meine Arbeit auch richtig honorieren. Für die Gartenarbeiten brauchen Sie einen<br />

richtigen Gärtner. Davon habe ich keine Ahnung. Ein Gärtner würde mich entlasten, sodass<br />

ich mich dann voll auf die anstehenden Reparaturen konzentrieren kann.“<br />

Carl nickte. „Ich habe schon mit dem Eigentümer gesprochen. Er hat zugesagt, dass<br />

ich einen Gärtner einstellen kann und Ihre Arbeit soll auch besser bezahlt werden. Als ich<br />

Herrn Nickel vorschlug, dass Sie fünfhundert Euro mehr bekommen sollten, ist der anfangs<br />

aus der Haut gefahren. Er sagte, dass Sie ein aufsässiger Zwerg seien, der schon überbezahlt<br />

ist. Aus irgendeinem Grund hat er jedoch schnell eingewilligt. Also wenn Sie bleiben, gibt es<br />

mehr Kohle.“<br />

„Sagen Sie dem Pumpernickel, dass ich zwar aufsässig, aber kein Zwerg bin und die<br />

Gehaltserhöhung akzeptiere.“<br />

Carl freute sich über den Pumpernickel und darüber, dass Holt nicht den Job<br />

hinschmiss. Holt war mit sich und der Entwicklung zufrieden. Erleichtert ging er zur Acht<br />

zurück, wo er den Betonfußboden mit lauten Hammerschlägen aufbrach.<br />

*<br />

Pauline hatte Arbeit, die ihr Spaß machte und eine ausgeglichene und freundliche Chefin;<br />

Holt hatte Arbeit, die ihn nicht erfreute und einen launischen unfreundlichen Chef. Abends,<br />

wenn sie zusammen spazieren gingen oder in einer der vielen deutschen Kneipen saßen, traf<br />

Pauline stets ihre neuen Kunden, mit denen sie mehr oder weniger freundschaftlich verkehrte.<br />

Holt traf aus St. Agustin manchmal ein paar Touristen, die sich nach Playa del Inglés verirrt<br />

hatten, diese hatten Holt in der Ferienanlage stets als unbedeutenden Hausmeister<br />

wahrgenommen. Es wurmte ihn, von einigen dieser Gäste von oben herab behandelt zu<br />

werden. Während Paulines Kunden darauf achteten und bemüht waren, mit ihr gut<br />

auszukommen, waren Holts Gäste nicht gewillt, diesen auf gleicher Augenhöhe zu behandeln.<br />

Der anfängliche, unterschwellige Frust brach offen aus, als einige Gäste der Anlage<br />

versuchten Holt als Kofferschlepper oder Hausboy für tausend kleine Dinge zu missbrauchen.<br />

Anfänglich hatte er freundlich darauf hingewiesen, dass er der Hausmeister der Anlage und<br />

nicht Kofferboy sei. Bei einigen gebrechlichen und älteren Urlaubern hatte er geschwiegen<br />

und dessen Wünsche erfüllt. Eigentlich ärgerte ihm nur die Art, mit der er „gebeten“ wurde,<br />

zu helfen: Hier, machen Sie mal, oder Bringen Sie meine Sachen ins Appartement elf. Das<br />

Wort „Bitte“ kannten die Wenigsten. Einige wollten ihm dann zwanzig Cent in die Hand<br />

drücken obwohl ein Danke ausgereicht hätte, welches im Jubel über den schönen Ausblick<br />

des blauen Atlantiks unterging. Holt versuchte sich zu erinnern, ob er die Bediensteten in den<br />

Ferienanlagen, in denen er in grauer Vorzeit Urlaub machte, auch so behandelt hatte. Seine<br />

Erinnerungen waren anderer Art, wenn er an den, fasst zahnlosen, Addi in Agadir dachte und<br />

249


die vielen anderen guten Geister, rund um die Welt, die Holt zu Diensten gewesen waren.<br />

Vielleicht lag es daran, dass hier im Tampico nur Deutsche und Österreicher verkehrten,<br />

vielleicht war das Vorurteil der Spanier doch zutreffend, dass die Deutschen arrogante<br />

Quadratköpfe sind. Vielleicht?<br />

Es hatte sich ein Ritus herausgebildet. Holt holte in der Woche Pauline abends vom<br />

Fitnesscenter ab. Danach gingen sie zu Fuß den Weg zur Avenida Tirachana hoch, um im<br />

Maxim, bei den beiden schwulen Berlinern, noch ein oder zwei Wernersgrüner zu trinken und<br />

dabei die Abendnachrichten im deutschen Fernsehen zu sehen. Neben ein paar Touristen und<br />

Einheimischen wurde diese Bar von Deutschen, Österreichern und Schweizern besucht, die<br />

alle fest auf der Insel wohnten. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Stammgäste eine nette<br />

Truppe von nicht angepassten Querköpfen, Eigenbrötlern und Aussteigern, die versuchten,<br />

ihren alten Vaterländern keine Träne nachzuweinen. Manchmal gelang es nicht ganz. Holt<br />

sah, wenn die alte Fußballmannschaft verlor, dass sie mitfühlten und Tränen in den Augen<br />

hatten, wenn die gegnerische Mannschaft in letzter Sekunde noch einen Ball im Tor ihrer<br />

Favoriten versenkte. Auch wenn Schreckensmeldungen aus Europa kamen, die Rede von<br />

Opfern aus Deutschland und die Bilder von tödlichen Busunfällen, Hausbränden oder<br />

Verbrechen im Fernsehen gezeigt wurden, rührte sich das unterdrückte Heimat- und<br />

Verbundenheitsgefühl, sie litten mit, waren in Gedanken wieder in der alten Heimat.<br />

Roland und Michael wechselten sich im Maxim am Tage ab, waren aber abends immer<br />

zusammen dort. Sie hörten aufmerksam zu, gaben Ratschläge, waren hilfsbereit gegenüber<br />

ihren Gästen. Dies nicht nur, weil sie sich davon mehr Einnahmen versprachen. Beide hätten<br />

auch eine Sozialstation oder die Schwulenberatung vom Prenzlauer Berg leiten können. Die<br />

offene Art, sie machten aus ihrer sexuellen Veranlagung auch kein Geheimnis, ohne damit<br />

Hausieren zu gehen, und die natürliche Anteilnahme am Schicksal ihrer oftmals auf Gran<br />

Canaria gestrandeten Gäste, zahlte sich aus. Das Maxim war bereits mittags brechend voll.<br />

Am Nachmittag zur Kaffeezeit gab es eine leichte Flaute, die ab achtzehn Uhr wie<br />

weggeblasen war. Pauline und Holt trafen erst immer kurz vor neunzehn Uhr ein, sie mussten<br />

anfangs in zweiter Reihe stehen. Pauline hatte mehr Glück. Irgendein Verehrer bot ihr immer<br />

seinen Platz an, während Holt keine bereitwillige Verehrerin fand, die ihm für seine müden<br />

Beine einen Sitzplatz anbot. Nicht dass er sich das erhofft hatte, aber manchmal fühlte er sich<br />

ausgelaugt wie ein altes nasses Handtuch. Michael hatte in den Gesprächen, die er mit Pauline<br />

und Holt führte, erfahren, dass Holt richtig und hart auf Gran Canaria arbeitete. Damit war er<br />

im Maxim, neben dem Schweizer Hans, der beim Nachbaritaliener als Koch arbeitete, der<br />

einzigste berufstätige männliche Stammgast. Fortan standen auf dem Tresen zwei<br />

Reserviertschildchen. Dieser Platz ist für – Hans - / - Pauline – reserviert! Die anderen<br />

Stammgäste hielten sich daran, um ihre Wirtsleute nicht zu verärgern und Hans nicht nach<br />

seiner schweren Arbeit stehen zu lassen. Im Gegensatz zu den Kneipen in der Cita, waren die<br />

Gäste im Maxim aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie schienen vernünftiger, gebildeter<br />

und oftmals richtig angenehm. Holt und Pauline fühlten sich hier wohl.<br />

Der Feierabend vom Alltag auf Gran Canaria war nicht nur der Aufenthalt im Maxim. Pauline<br />

und Holt hatten in den ersten Wochen einige Sehenswürdigkeiten entdeckt. Nicht weit von<br />

ihrem Haus fanden sie im Restaurant eines kleineren Hotels eine wunderbare Küche, die sich<br />

auf Fisch spezialisierte. Schon wegen der exorbitanten Seezunge waren sie mindestens einmal<br />

in der Woche dort. Gleich um die Ecke hatte „Elvis“ seine Kneipe mit guter deutscher und<br />

kanarischer Küche. Er lebte fasst zwanzig Jahre in Deutschland und hatte die deutsche Küche<br />

schätzen und lieben gelernt. Seine Küche war kein Abklatsch der deutschen, sondern die<br />

gelungene Symbiose rund um das Mittelmeer. Neben fantastischem Essen gab es gutes<br />

deutsches Bier, ein Grund mehr, bei Elvis desöfteren vorbeizuschauen.<br />

250


Auch neue Freundschaften wurden geschlossen. Uschi hatte sich öfters an Paulines<br />

Rockschöße gehängt, die zusammen mit Eva „Frauenabende“ gestaltete. Holt fühlte sich<br />

dabei nicht ausgegrenzt, er war vielmehr dankbar, dass Pauline von ihm nicht erwartete, sich<br />

an diesen Treffen zu beteiligen. Während eines solchen Treffens hatte Holt ein kleines<br />

Einkaufszentrum aufgesucht, in dem neben einigen Geschäften sich Das Bayrische Haus<br />

befand. Gastleute waren ein deutsches Ehepaar aus München. Diese hatten einen skurrilen<br />

Berliner, namens Harry, als Koch. Dieser arbeitete nur, wenn er Lust hatte, und das war nicht<br />

so oft. Aber wenn Harry den Kochlöffel schwang, zauberte er die schmackhaftesten Gerichte<br />

auf den Tisch, welche sich mit denen von internationalen Sterneköchen hätten messen<br />

können. Harry, aber auch seine sporadischen Arbeitgeber, kannten diese Gabe. Der Superkoch<br />

war froh, seinem Hobby nachzugehen und dabei noch etwas Geld zu verdienen. Die<br />

Münchner waren froh, einen echten Künstler und Publikumsmagneten zu haben, wenn auch<br />

nur sehr sporadisch. Als Holt zum ersten Mal an der Bar Platz nahm, war Harry alleine im<br />

Laden. Dieser bereitete irgendetwas an der Küchentheke vor und ließ sich auch nicht durch<br />

Holts Anwesenheit stören. Erst als Holt mit berlinischem Dialekt fragte, ob er sich hier in<br />

einer Wärmehalle befinde, hatte er Harrys ungeteilte Aufmerksamkeit.<br />

„Wenn du et eilig hast, wie uf de Galoppbahn in Hoppegarten, musst de eben weiter<br />

jehen,“ brummelte dieser. Er wischte sich seine Hände an der Schürze ab und kam an die<br />

Ecke, an der Holt saß.<br />

„Wat willst de?“<br />

Holt hatte sich vorher die Karte angeschaut. „Eine Berliner Boulette mit Senf und<br />

Brot, aber nur wenn die wirklich aus Berlin ist. Dazu ein Radeberger.“<br />

Harry schaute Holt eindringlich an. „Du hast wohl wat am Kopp. Wie soll ik hier<br />

echte Bouletten aus Berlin ham. Wenn die hier ankommen, sind die doch n’rüber. Ik kann dir<br />

nur meine Bouletten nach Berliner Art anbieten, mit Fleisch von glücklichen Sauen. Reicht<br />

dir datt?“<br />

Es reichte Holt. Harry taute auf und fing an, Holt auszufragen, wann, wieso, weshalb<br />

er auf dieser Scheißinsel sei. Die Antworten befriedigten Harry nicht so sehr, aber er musste<br />

sich um neu eingetroffene Gäste kümmern, die auch nach deutscher Spezialkost verlangten.<br />

Als Holt einige Stunden später, mit leicht onduliertem Gang, zu Hause eintraf, wartete<br />

Pauline bereits unruhig. Holt erklärte Pauline, sie müsse auch mal den Harry kennen lernen,<br />

was sie dann auch versprach. Beim Frauentreff hatte Eva einen belgischen Millionär<br />

kennengelernt, der in den USA lebte. Eigentlich hatten alle drei Frauen zusammen den Mann<br />

kennengelernt, der inmitten einer Clique von Geschäftsleuten am Nachbartisch saß. Uschi<br />

hatte sich sofort bemüht, diesen „aufzureißen“, was offensichtlich nicht gelang, da der nur<br />

Augen für die schöne Eva hatte. Pauline hatte den ungleichen Wettkampf amüsiert verfolgt.<br />

Wer in diesem Kampf siegen würde, war ihr bereits in den ersten Momenten klar.<br />

In den nachfolgenden Tagen berichtete Pauline über das Techtelmechtel von Eva und dem<br />

Amerikaner aus erster Hand. Holt nannte den Mann in Gedanken schlicht Adam. Adam fuhr<br />

schwere und schwerste Geschütze auf, denen Eva nicht widerstehen konnte und wollte.<br />

Beeindruckt von der massiven Gewalt des Reichtums, kapitulierte sie bereits nach wenigen<br />

Tagen und zog in das Chalet von Adam. Bereits nach vierzehn Tagen hatte ihr alter Citroën<br />

ausgedient, sie fuhr ein metallfarbenes Cabriolet Mercedes SL 600. Als Holt im Fitnesscenter<br />

auftauchte, um Pauline nach Hause zu holen, stach ihm bereits das vor dem Eingang stehende<br />

Auto ins Auge. Eine halbe Stunde später saß er auf der knappen Reserverückbank dieses<br />

Fahrzeuges, als Eva die staunenden Freunde nach Hause fuhr. Aus dem Gespräch konnte Holt<br />

entnehmen, dass sie ihren Adam wohl wirklich mochte, nicht nur wegen des vielen Geldes,<br />

oder besser, auch wegen des vielen Geldes.<br />

251


Ein weiteres Erlebnis sollten beide nicht so schnell vergessen: Sie lernten Maxl kennen. Eines<br />

schönen Tages, als sie an der Avenida Tirachana in einem Café saßen, hatten sie einen<br />

sonderbaren Tischnachbarn, mit dem sie auf eine noch sonderbarere Art ins Gespräch kamen.<br />

*<br />

Maxl machte wirklich keinen guten Eindruck, er war verkatert, unzufrieden und leicht<br />

verstört. Die Welt, die „ihn“ nicht verstand, verursachte Pein und Last. Er wusste alles, er war<br />

abgeklärt, angewidert und ohne Illusionen. Alles, was um ihn herumgeschah, hatte er<br />

vorausgesehen, es gab keine Überraschungen mehr und nichts Neues. Im Widerspruch zu<br />

seiner verdüsterten Stimmung erklärte er einen nachdenklichen Holt.<br />

„Es gibt nichts Herrlicheres, als das Leben .... Rosi ist ein Teil des Lebens, meines<br />

Lebens .... herrliche Brüste, einen knackigen Arsch ... Mann, dieses Prachtweib!“<br />

Er schaute Holt an. Dieser erkannte sofort die Unstimmigkeit seiner Stimmungslage<br />

zum Gesagten. Maxl erschien ihm zwiespältig, fasst geisteskrank. Nachdem dieser einige<br />

Sekunden in sein Glas stierte, setzte er seinen merkwürdigen Monolog fort.<br />

„In meinem Leben haben Frauen immer bedeutende, aber unterschiedliche Rollen<br />

gespielt. Die Zeit hat diese wechselnden Rollen wie Sand in einer Uhr zerrinnen lassen. Viele<br />

habe ich vergessen, ich kann mich nicht einmal mehr an die Gesichter erinnern, eher daran,<br />

dass sie verschiedene Körpermerkmale hatten. Du weist schon, groß, breit und so weiter.“<br />

Maxls Stimmung verdüstert sich mehr und mehr. Holt fühlt sich unwohl. Das ist ein<br />

echter Selbstmordkandidat, dachte er.<br />

„Meine Mutter war auch so ein Prachtweib, mit prallen Titten und einem festen Arsch.<br />

Ich habe sie geliebt, aber sie war doof, so schrecklich doof.“<br />

Pauline hatte schweigend zugehört und wurde wegen der deftigen Worte. Maxl sprach<br />

laut, alle Gäste im Bayrischem Haus hatten, gewollt oder ungewollt, zugehört. Harry, der<br />

Berliner Koch, der im Moment nichts zu tun hatte und am unteren Ende des Tresens saß,<br />

grinste. Holt vermeinte es ihm anzusehen, was dieser gerade dachte: Du beknackter Bayer,<br />

hast selbst Schuld an deinen Problemen! Holt war kein Kind von Traurigkeit, diese Worte<br />

waren ihm nicht fremd. In seinen Jugendjahren hatte er sie, wie alle Gleichaltrigen, oft und<br />

unpassend, am falschen Ort, gesprochen. Er schaute zu Pauline, die seinen Blick sofort zu<br />

deuten wusste. Sie wandte sich an Maxl.<br />

„Ssssch.... Maxl, nicht so laut. Die Leute schauen schon zu uns rüber!“<br />

„Ah, bah ... die können mich mal. Aber ist schon gut. Durch meine jahrelange Arbeit<br />

als Fernfahrer ist mein Gehör ein bisserl beeinträchtigt. Ich saß direkt auf den großen<br />

Motoren, die haben einen schönen Krach gemacht. Nach ein paar Jahren bin ich ein wenig<br />

taub geworden, das ist nie ganz weggegangen. Ihr müsst es mir nur manchmal sagen, das ich<br />

zu laut bin. Ich höre schlecht und spreche dann automatisch auch lauter, weil ich annehme,<br />

die Anderen können mich nicht richtig verstehen.“<br />

Pauline und Holt hatten Maxl vor zwei Tagen im Straßencafé an der Avenida Tirachana<br />

kennengelernt. Da hatte ein Franz-Josef-Strauß-Verschnitt am Nachbartisch gesessen. Runder<br />

Kopf, braun gebranntes Gesicht, kurze grau melierte Haare, Schnauzer, stuckige Figur, eben<br />

wie der bekannte, verstorbene Politiker Strauß. Er war aufgeschlossen und hatte erklärt, dass<br />

er seinen Spontanentschluss, mal vierzehn Tage auszusteigen nicht bereue. Er sagte, dass er<br />

aber bereit sei, sofort wieder in den Flieger zu steigen und nach Gran Canaria zu fliegen,<br />

wenn ihn das Leben dort wieder ankotzen sollte. Es schien ein wenig übertrieben zu sein, zu<br />

dick aufgetragen, aber im weiteren Gespräch bekamen Pauline und Holt den Eindruck, dass es<br />

Maxl ernst war mit dem Aussteigen. Holt gewann den Eindruck, dass das Aussteigen nicht<br />

nur temporär begrenzt schien, das Maxl mehr meinte. Es war nicht sehr deutlich, aber dieses<br />

schwache Signal verlief wie ein roter Faden im Gespräch mit Maxl. Von der Zeit und dem<br />

252


Geld her, war es kein Problem für Maxl, er war in einem Atomkraftwerk bei München<br />

Mitarbeiter des Sicherheitsteams. Was er im Einzelnen dort machte, blieb Holt ein Rätsel, er<br />

fragte auch nicht nach und wollte nicht neugierig erscheinen. Maxl sagte jedoch, dass er in<br />

Zeitblöcken arbeitete und zwischen diesen Blöcken immer mehrere Wochen Freizeit habe.<br />

Holt hatte Maxl erzählt, welche Wege sein Leben in den letzten Jahren genommen<br />

hatte. Berlin, Costa Rica, USA, die Insel. Er hatte nicht im Einzelnen die Beweggründe<br />

erwähnt, nur die chronologische Abfolge, die Maxl wie ein Abenteuer erschien. Er war<br />

sichtlich beeindruckt. Aus seinen Worten konnte Holt entnehmen, dass dieser in den letzten<br />

Jahren nicht aus seiner näheren Umgebung herausgekommen war. Maxl gewann wohl den<br />

Eindruck, dass Holt ihn für einen Mann hielt, der über den nächsten Kirchturm nicht<br />

herausgekommen war. Er lächelte, als wollte er meinen: Sieh her, du schaust zwar einen<br />

Bayern aus den Bergen, aber einen Bayern, der die Welt gesehen hat.<br />

„Ich war über zwanzig Jahre als Fernfahrer tätig. Ich habe zwar nicht die ganze Welt<br />

gesehen, aber ich kenne jede Fernstraße in West- und Südeuropa und im Nahen Osten. Bis<br />

nach Saudi-Arabien, Kuwait und einmal bis nach Indien bin ich gekommen. Ich würde die<br />

Meilensteine und Hinweisschilder heute noch, ohne auf die Karte schauen zu müssen,<br />

wiederfinden und auf Anhieb Schaat el Aariff’e finden.“<br />

„Schaat el Aariff’e, wo ist das?“<br />

„Ein kleines Kaff in den Bergen, zweihundert Kilometer nordöstlich von Teheran. Da<br />

bin ich einmal im Winter auf einem Gebirgspass stecken geblieben. Der Diesel war in der<br />

Kälte ausgeflockt. Ich war dort drei Tage Mutterseelalllein bei dreißig Grad Minus. Am<br />

zweiten Tag habe ich Motorengeräusche gehört. Bis die bei mir waren, verging noch ein<br />

ganzer Tag. Ich glaubte, nicht mehr lebend rauszukommen.“<br />

„Offensichtlich hast du es geschafft. Bayrisches Unkraut vergeht wohl nicht so<br />

leicht?“<br />

Holt grinste Maxl an und haute diesem auf die Schulter. Man konnte es ihm ansehen,<br />

wie seine Gedanken in der Vergangenheit weilten. Dann schaute er auf und fuhr fort.<br />

„Ein Panzer der Armee, mit sieben Lastkraftwagen im Schlepp und ich dann als achter, hat<br />

uns aus der Scheiße geholt. Das haben die Perser immer im Winter, jede Woche einmal<br />

gemacht. Bist du am Anfang der Woche stecken geblieben, war es ganz schön schwer. Einige<br />

Fahrer sind erfroren. Ich musste bloß drei Tage warten.<br />

Das Lustigste war, als ich nach Teheran in eine Fernfahrerkneipe kam, haben die dort<br />

Versammelten vom Tode eines Deutschen gesprochen, der im Gebirge verschollen und<br />

erfroren sein soll. Einige wussten sogar mehr und haben meinen Laster beschrieben, einen<br />

knallroten Truck mit einem großen gelben Stern an den Seitenwänden. Das war ich! Als ich<br />

den Leuten zu verstehen gab, dass ich wohl am Leben sei, haben wir – In schalaah – herzlich<br />

und lange auf meinen Tod getrunken. Vielleicht stimmt es doch, dass Todgesagte länger<br />

leben.“<br />

Er machte eine längere Pause, seine Miene verfinsterte sich merklich und er fuhr fort.<br />

„Aber, ich glaube, meine Zeit ist abgelaufen.“<br />

Diese melancholische Bestimmtheit erschreckte Pauline und Holt, die sich genötigt<br />

sahen, dem sofort zu widersprechen. Holt versuchte ganz vorsichtig, Konkretes aus Maxl<br />

heraus zu bekommen. Er fragte sich, was daran übertrieben und was real war.<br />

„Maxl, wie kommst du darauf, dass deine Zeit abgelaufen sei? Vorahnungen lasse ich<br />

nicht gelten. Du scheinst mir kein esoterischer Typ zu sein. Du stehst doch mit beiden Beinen<br />

im Leben. Es stimmt zwar, dass wir alle unsere Bestimmung, unser festgelegtes Schicksal<br />

haben, aber wir wissen es Gott sei Dank nicht.“<br />

Holt war sich dieser Worte im Innersten dennoch nicht sicher, er gab vor, besser<br />

gesagt, er zwang sich selbst, an diese imaginäre Bestimmung zu glauben, obwohl er nicht<br />

daran glauben konnte. Zutiefst frei vom religiösen Glauben, sehnt er sich dennoch manchmal<br />

253


nach etwas Unbestimmten, Übergreifenden und Allbeherrschenden, aber einen Gott, so wie es<br />

die großen Religionsgemeinschaften sahen, der hatte keinen Platz in seinen Gedanken.<br />

„Du hast erst gesagt, es gibt nichts Neues mehr, alles ist immer dasselbe. Maxl, es<br />

stimmt nicht. Die alten griechischen Philosophen haben gesagt Panta Rei, alles fließt, immer<br />

verändert sich was, in der Natur, im Menschen, nur die Wahrnehmung ist verschieden. Aus<br />

irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, nimmst du diese Veränderungen, eben Neues, nicht<br />

mehr wahr oder du sperrst dich, sie wahrzunehmen.<br />

Pauline tat die offensichtliche Hoffnungslosigkeit Maxls leid. Sie wusste nicht, was sie<br />

darauf sagen sollte und legte tröstend ihre Hand auf seinen Arm und deutete noch oben.<br />

„Wenn es etwas da oben gibt, wird dieses Etwas schon wissen und es auch wollen,<br />

dass du uns erhalten bleibst. Ich bin nicht sehr gläubig, aber ich weiß, dass man sein Leben<br />

nicht wegwerfen oder so leicht aufgeben sollte.“<br />

„Wer sagt, dass ich mein Leben wegwerfen will?“<br />

„Es hat sich so angehört, zumindest bist du im Glauben, dein Leben neigt sich dem<br />

Ende zu. Du glaubst alles getan zu haben und siehst nun Aufgabenlosigkeit oder Leere. Maxl,<br />

es ist nicht so. Sagen wir es mal ein wenig zynisch: Jeder Mensch ist zu etwas Wert, zu etwas<br />

zu gebrauchen, sei es als abschreckendes Beispiel.“<br />

Pauline und Holt schauten Maxl lachend an. Maxls Gesicht, erst in tragisch-komischer<br />

Mine erstarrt, löste sich und machte einem verlegenen Lächeln Platz. Aber er widersprach<br />

nicht, noch bestätigte er die Worte.<br />

Holt war mit dem Thema noch nicht am Ende. Er wollte Maxl zu verstehen geben,<br />

dass viele Menschen am Leben hingen, aber deren Zeit durch das vorgenannte Schicksal,<br />

durch Krankheit oder Einwirkungen der Natur oder anderer Menschen, abgelaufen war. Ob<br />

sie es wollten oder nicht. Dabei dachte er an die vergangenen zwei Jahre. Zweimal war er<br />

dem Tod von der Schippe gesprungen und nun hatte er es wieder mal vor, selbst Schicksal zu<br />

spielen, wobei der Tod, sein eigener oder der seines Feindes, nicht ausgeschlossen war.<br />

„Zweimal sind wir in Costa Rica dem Tod entgangen. Es war ganz schön eng für uns.“<br />

Maxl hob den Kopf und schaute Holt mit großen Augen an. Ungläubigkeit machte sich<br />

auf seinem Gesicht breit. Holt vermeinte, es zu erkennen.<br />

„Wir hatten in Costa Rica unser ganzes Geld einem Deutschen, dem wir blind wie<br />

einem Sohn vertrauten, in die Hände gegeben. Er sollte für uns eine Firma im Bereich des<br />

Internets aufbauen. Er verstand etwas davon und hatte uns den Eindruck vermittelt, es auch zu<br />

können. Nur ob er es auch für uns wollte, das hatten wir nie gefragt. Wir nahmen es an, und<br />

das war unser, fasst tödlicher Fehler. Kurz gesagt, er hat uns beschissen, gründlicher ging es<br />

nicht, mit viel Raffinesse und hoher krimineller Energie. Als wir es erkannten, war es bereits<br />

zu spät. Wir fingen an, uns zu wehren, zu Anwälten zu gehen, einen Bodyguard zu heuern<br />

und Abwehrmaßnahmen einzuleiten, um wenigsten den Schaden einzugrenzen. Da wurde er<br />

rabiat und hat uns Mörder auf den Hals geschickt.“<br />

„Mann, was ist denn da gelaufen?“<br />

„In Zentral- oder Lateinamerika kannst du schon für wenig Geld, sagen wir mal<br />

hundert Dollar, einen Killer finden. Das Leben anderer hat wenig Wert. Je ärmer die Länder,<br />

so niedriger der Killerlohn. In Costa Rica haben sich Kolumbianer angeboten, für fünfzig<br />

Dollar einen Menschen aus dem Wege zu räumen.“<br />

„Oh Gott, für fünfzig Dollar ein Menschenleben? Ich habe so etwas immer für eine<br />

Story aus den Hollywoodfilmen gehalten.“<br />

„Nein, es ist wahr. Ein Menschenleben ist manchmal noch weniger Wert. In San José<br />

haben Straßenräuber einem Gringo die Hand mit einer Machete abgehackt, um schnell an<br />

seine scheinbar wertvolle Rolex zu kommen. Das arme Schwein ist verblutet und die Uhr war<br />

nicht einmal fünfzehn Dollar wert.“<br />

Maxl erschauderte und schaute Holt ungläubig an. Er fragte sich, ob Holts<br />

Bemerkungen Aufschneiderei sei oder ob er wirklich die Wahrheit sprach.<br />

254


„Was haben sie dann mit euch gemacht? Wie seid ihr diesen Anschlägen entkommen?<br />

Holt erzählte einem sichtlich interessierten Maxl die Geschichte seiner Abenteuer in<br />

Costa Rica.<br />

„Damals hatte ich .... „<br />

Maxl hörte gespannt und aufmerksam zu. Nachdem Holt seine Geschichte beendet hatte,<br />

wollte er nur noch eines wissen: „Wenn du dein Vermögen nicht mehr zurück bekommst,<br />

willst du sie dann umbringen?“<br />

„Lust dazu habe ich, richtige Mordlust und ich möchte diese Situation auskosten,<br />

meine Rache befriedigen. Sagen wir mal, ich möchte ihm mit Genuss den Hals<br />

durchschneiden“, antwortete Holt.<br />

Maxl schaute Holt nur durchdringend an.<br />

*<br />

Holt trug sich mit dieser Idee schon seit Wochen. Seit dem Treffen mit Maxl hatte er nichts<br />

anderes gedacht, als die Angelegenheit in Costa Rica zu bereinigen. Vordergründig war nicht<br />

der Trieb nach Rache, sondern der Trieb nach Vergeltung, nach Wiedergutmachung, das<br />

Verlangen nach Gerechtigkeit. Auch wenn Maxl ein wenig sonderlich erschien, hatte er<br />

jedoch gut zugehört und sich bestimmt auch Gedanken über das Gesagte gemacht. Sicherlich<br />

wusste Maxl nicht genau, was der Wahrheit entsprach und was Fantasie war.<br />

Tage später, bei einem anderen Treffen hatte er Holt gefragt, was er denke, was er, Maxl, an<br />

seiner Stelle machen würde. Holt hatte nur mit den Schultern gezuckt und geantwortet, dass er<br />

es nicht wüsste.<br />

„Weißt du was ich machen würde? Ich würde dem Kerl doch ganz einfach den Hals<br />

durchschneiden. "<br />

Holt schaute Maxl erstaunt an, meint er das ernst, was er da gerade sagt? "Maxl, es ist<br />

einfach gesagt, einem Menschen den Hals durchzuschneiden, aber dieses wirklich zu tun, ist<br />

nicht ganz einfach. Ich habe dir zwar gesagt, dass ich es möchte, aber der Wunsch ist nur<br />

Vater des Gedankens."<br />

Maxl lenkte ein wenig ein, relativierte seine vorherige Aussage. "Nein, nicht gleich<br />

durchschneiden, aber Angst machen solltest du dem Kerl schon, ... mörderische Angst. Ich<br />

würde mich nicht zügeln lassen."<br />

„Maxl, es kommt ja nicht darauf an, Recht zu haben, viel wichtiger ist es ja, auch recht<br />

zu bekommen. Da muss man die Realität schon ernst nehmen und keinen Racheträumen<br />

hinterher laufen, oder sehe ich das falsch?“<br />

"Nein, du siehst es schon richtig."<br />

Holt schwieg einen Augenblick und trank einen Schluck Bier. "Aber wie soll ich das<br />

machen? Meine speziellen Freunde wissen, wann ich einreise, ich stehe ja im Computer der<br />

Immigration. Der Lump, der mich beschissen hat, hat einen Informanten bei der Behörde. Für<br />

zwanzig Dollar geben die alle Informationen raus, verraten dich, geben deine Daten weg, alles<br />

ist möglich!“<br />

„Dann musst du einen Weg finden, der an der Immigration vorbei geht. Denkbar in der<br />

Nacht. Du wirst schon einen Weg finden!“<br />

„Vielleicht, ich sehe eine Möglichkeit, vielmehr mehrere Möglichkeiten, aber nur eine,<br />

die mir geeignet erscheint. Als ich in Costa Rica lebte, berichteten Leute, mit denen ich<br />

zusammen gekommen war, dass sie illegal im Lande seien. Ich kann mich erinnern, dass ein<br />

Mann, der in der Sache auch verstrickt ist, irgendwie illegal nach Costa Rica kam und das<br />

Land auch wieder illegal verlassen hat. Meiner Erinnerung nach erzählt er mir, über Porto<br />

255


Limon eingereist zu sein, also über dem Seeweg. Auch der Schulz, mein Spezi, betrat illegal<br />

das erste Mal Costa Rica auch vom Seeweg her."<br />

Maxl schaute Holt an, rührte in seinem bereits kalt gewordenen Kaffee und zögerte. Er<br />

hob die Schultern, ließ sie wieder sacken und sprach scheinbar in seine Kaffeetasse hinein:<br />

"Du bist ein rechtstreuer Mensch, aber warum kannst du nicht von den Ganoven lernen?<br />

Macht es doch so wie sie. Was sie können, kannst du doch auch, oder nicht? Weißt du wie<br />

deine Freunde damals eingereist sind oder hast du erfahren, was sie tun mussten? Mache es<br />

ihnen einfach nach!"<br />

Holt ging das Gespräch mit Maxl, der die Insel inzwischen verlassen hatte, lange nicht aus<br />

dem Kopf. In seinem Kopf reifte ein Gedanke, erst zaghaft, dann immer heftiger, bis er<br />

anderen Gedanken keinen Raum mehr ließ.<br />

*<br />

An den Wochenenden gingen Pauline und Holt desöfteren nach Faro Maspalomas. Faro<br />

bedeutet „Turm“, gemeint war der Leuchtturm am südwestlichen Ende der Insel. Ihr Weg<br />

führte auf der Uferstraße, am Cliff vorbei, hinunter zum Badestrand. Dort lag das Zentrum für<br />

die Wasserratten. Eine Kneipe neben der anderen, Andenkenläden und eine öffentliche<br />

Bedürfnisanstalt, welche für ihre Dienste horrende Beträge verlangte. Man konnte den<br />

Hauptweg durch die Dünen zum Ufer nehmen oder auf der zweihundert Meter langen<br />

Uferpromenade entlang, zwischen Unmengen von Touristen, etwas nach West laufen und<br />

dann erst, über die Dünen zum Ufer. Dieser Weg ähnelte einer Saharaquerung mehr als einem<br />

Spaziergang zum Ufer in Playa del Inglés. Nach einer Durst treibenden Wüstendurchquerung<br />

beschlossen Pauline und Holt, in Zukunft den kürzeren Hauptweg zu nutzen. Dann ging es in<br />

Richtung West, immer im seichten Ufergewässer, ungefähr noch sechs Kilometer. Direkt an<br />

der Südspitze war der Strand voll von tausenden Badegästen und Sonnenhungrigen. Weiter<br />

westlich wurden es weniger Menschen. Reihe an Reihe standen die Liegen und<br />

Sonnenschirme, Kilometer um Kilometer, in einer Breite von bis zu zweihundert Meter, direkt<br />

bis zum Wasser.<br />

Von einer natürlichen Umgebung konnte man nicht reden. Die frische Seebriese und<br />

die Möglichkeit, etwas länger laufen zu können, waren wichtiger als die Menschenmassen.<br />

Am Ende der Wanderung wartete eine vorzügliche Belohnung als Ziel, die Strandanlage Faro<br />

Beach Hotel. Hier gab es für Pauline einen großen Pool mit Liegezone und für Holt die mit<br />

Palmenblättern überdachte Strandbar. Hier bediente ein junger Holländer, der durch seine<br />

Schnelligkeit und Sprachbegabung auf ganz Gran Canaria bekannt war. Hannes, so hieß der<br />

Barkeeper, konnte zudem von den Lippen ablesen und jede Mimik bei der Bestellung richtig<br />

interpretieren.<br />

Bevor man aber zum Badestrand von Faro kam, musste man eine ungefähr zweihundert Meter<br />

lange FKK-Zone passieren. Hier hatten sich die Schwulen und Transvestiten niedergelassen.<br />

Holt und Pauline mussten sich beim Passieren dieser Strecke immer zusammen reißen, um<br />

nicht in Lachkrämpfe auszubrechen. Direkt am Weg und etwas erhöht auf den Dünen standen<br />

die „Schwertkämpfer“ mit freiem, geputztem und verziertem Gemäch. Sie reckten ihre<br />

Penisse, Lanzen gleich, in den blauen Atlantikhimmel. Was es da nicht alles zu sehen gab,<br />

Glöckchen an den Hoden, Lederbänder um das Glied, Piercing durch Vorhäute und<br />

Bauchfalten. Holt, der ja auch so ein gutes Stück sein Eigen nannte, war sich bis dahin gar<br />

nicht bewusst gewesen, was man alles für Verzierungen daran anbringen konnte. Das<br />

fehlende Schamgefühl der Eigentümer dieser Schaustücke und die der oftmals schwulen und<br />

weiblichen Bewunderer fand keine Grenze. Vereinzelt versuchten Mütter mit kleinen<br />

Kindern, diese von der Zurschaustellung abzulenken, was nicht immer gelang. Mama, was hat<br />

256


der Onkel dort an seinem Pullermann?, waren Reaktionen kindlicher Neugierde, die von den<br />

rotköpfigen Müttern nicht befriedigt werden konnte.<br />

Danach verengte sich der Strand zum Badestrand von Faro. Bereits nach der letzten<br />

großen Düne war die Strandbar in der Ferne zu sehen. Noch ein paar Kilometer weiter und<br />

Holt hätte wohl auch in der vor Hitze flimmernden Luft eine kühle Blonde, einer Fata<br />

Morgana gleich, sehen können. Das kühle Bier, welches Hannes seinen ausgedursteten Gästen<br />

ohne Aufforderung vor die Nase stellte, war mit einem zisch weg. Das Zweite wurde bereits<br />

langsamer getrunken, erst nach dem Dritten kehrte innere Ruhe ein. Die Strandbar erinnerte<br />

Holt an San Andrés, der kleinen kolumbianischen Karibikinsel. Dort war er mit Pauline<br />

bereits zweimal im Lord Pierre abgestiegen. Zur Karibik hin hatte das Hotel auf dem Wasser<br />

liegend eine Bar, ähnlich wie die im Faro. Der Unterschied lag nur darin, dass man in der<br />

Karibik nicht so viele Deutsche antraf. Die Gemeinsamkeit: Beide Bars wurden vom gleichen<br />

Ozean umspült, auch wenn der Atlantik vor der mittelamerikanischen Küste bis zu den Inseln<br />

Karibisches Meer hieß.<br />

*<br />

Pauline nahm die zuerst unterschwellige Wesensveränderung bei Holt wahr. Anfänglich<br />

glaubte sie als Ursache dafür die Arbeit im Tampico, später verengte sie die mögliche<br />

Ursache auf das launische Verhalten Carls. Holt hatte mal so nebenbei erzählt, dass Carl es<br />

sich gelegentlich nicht nehmen ließ, sein Personal herunter zu putzen. Holt wurde mehrmals<br />

ungerechtfertigt angegriffen, einmal, weil er den neuen Gärtner verteidigte, dem inzwischen<br />

schon wieder gekündigt worden war. Carl hatte einen Diplomingenieur aus Sachsen<br />

eingestellt, der von Gärtnerei nichts verstand, aber er war billig. Dieser machte seine Arbeit so<br />

gut er es konnte und war so schnell wie eine mitteleuropäische Wanderschnecke. Die<br />

langsame Arbeitsweise hatte Carl in rasende Wut versetzt. In Gegenwart Holts hatte er den<br />

Pseudogärtner angeschnauzt und ihm mit Rauswurf gedroht. Als Holt sich einmischte und<br />

Carl darum bat, sich auch hinsichtlich der zuhörenden Gäste im Ton zu mäßigen, wurde<br />

diesem auch mit Rausschmiss bedroht. Holt hatte Carl nur stehen lassen und sich um seine<br />

Arbeit gekümmert. Er hatte es aufgegeben, von Carl ein souveränes und höfliches Verhalten<br />

zu erwarten.<br />

Als Holt auch privat zu Hause gereizt reagierte und bei jeder kleinen Angelegenheit aus der<br />

Haut fuhr, machte Pauline sich Gedanken. Sie sprach mit Eva darüber, die meinte, es würde<br />

sich schon wieder geben. Er habe vielleicht doch mehr Stress in der Arbeit, als er zu Hause<br />

darüber berichtete. Die gelegentlichen Besuche im Maxim hellten Holts Stimmung ein wenig<br />

auf, aber nie auf längere Zeit. Bislang hatte er die plumpen Annäherungsversuche des<br />

schweizer Kochs aus der Nebenkneipe bei Pauline mit Humor und Gelassenheit zur Kenntnis<br />

genommen. Eines Abends hatte dieser den Bogen wohl für Holt überspannt, zumal Pauline<br />

auf das Anbaggern auch noch zum Spaß mit einstieg. Der Schweizer hatte Holt nicht wahrgenommen,<br />

der hinter den breiten Schultern eines anderen Gastes halb verdeckt stand, als er<br />

Pauline frech fragte, wo sie denn ihren Hausmeister gelassen habe. Holt platzte der Kragen, er<br />

schob sich am breiten Gast vorbei und packte den überraschten Mann am Kragen.<br />

„Ich bin hier du blöder Löffelschwinger!“<br />

Der Schweizer war vor Schreck erstarrt und zog den Kopf in den Kragen, den Holts<br />

Hände hielten. Pauline erwartete Böses, schnell stellte sie sich schützend vor Holts Opfer,<br />

indem sie seine Hände vom Kragensaum wegdrückte. Holt in seiner Wut versuchte Pauline<br />

beiseite zu drücken, um dem Schweizer wieder an den Kragen zu gehen. Pauline, die sich<br />

standhaft weigerte, zuzulassen das er eine Prügelei anfing, wurde durch den immer wütender<br />

werdenden Holt zur Seite geschleudert. Nur ein Gast, der schnell zugriff, konnte Pauline vom<br />

Sturz bewahren. Nun war sie stocksauer und brüllte den verdutzten Holt an.<br />

257


„Hans, was machst du, bist du übergeschnappt? Du benimmst dich wie ein Rüpel!“<br />

Der Rüpel schaute mit aufgerissenen Augen auf eine Szene, die er in Gang gesetzt hatte.<br />

Langsam klang seine Wut ab. Pauline hatte sich ihre Tasche von Roland geben lassen, der<br />

ebenfalls verständnislos das Treiben beobachtete. Pauline ließ einen sprachlosen Holt stehen<br />

und eilte aus dem Maxim. Die anderen Gäste wandten sich wieder ihren Gesprächen oder dem<br />

Trinken zu. Der immer noch vor Holt stehende Koch war auch verlegen. Holt legte seine linke<br />

Hand, bereits beim Umdrehen, auf dessen Schulter und murmelte, kaum hörbar, Tut mir leid,<br />

dann eilte er hinter Pauline her. Auf der Avenida Tirachana holte er sie ein, diese schwieg und<br />

sprach auch an diesem Abend kein Wort mehr.<br />

Die Stimmung zu Hause wurde auch in den nächsten Tagen und Wochen nicht besser. Nach<br />

fasst zwei Monaten nach dem Vorfall fasste Pauline sich ein Herz und sprach Holt auf die<br />

nicht mehr zu akzeptierende Situation an. Eindringlich forderte sie von ihm eine Änderung<br />

und sprach auch davon, ihn zu verlassen. Dieser war sichtlich erschüttert und bat um ein<br />

wenig Geduld, er wolle diese Situation auch nicht mehr. Schweigend ging er in die Nacht,<br />

kam nach einigen Stunden wieder, stocknüchtern und in sich gekehrt. Pauline wurde wach,<br />

hatte jedoch nicht zu erkennen gegeben, ansprechbar zu sein. Erst nach einigen Stunden, kurz<br />

vor dem Morgengrauen, schlief sie erschöpft und resigniert ein. Bevor Holt am nächsten<br />

Morgen zur Arbeit ging, sprach er davon, sich mit ihr am Abend eingehend unterhalten zu<br />

müssen. Er sah blass und übernächtigt aus.<br />

Holt musste an die Worte Maxls denken, Warum machst du es nicht auch so, wie die<br />

Ganoven? Er hatte sich ein Szenarium zusammengelegt. Auf Unterstützung von staatlicher<br />

Seite zu hoffen, war Illusion, aber für Geld könnte man sich Unterstützung kaufen. Aber<br />

woher das Geld nehmen? Er hatte es nicht mehr, das hatte Schulz. Man könnte jedoch<br />

angeheuerten Ganoven dieses Geld schmackhaft machen. Geld, welches rechtlich Holt<br />

gehörte und welches er doch in Anteilen geldgierigen und zwielichtigen Menschen als<br />

Gegenleistung anbieten könnte. Doch würden diese darauf eingehen? In stillen Minuten, wenn<br />

sich die Zeit dafür bot, hatte er seine Gedanken zu Papier gebracht. Diese lasen sich nach<br />

einiger Zeit wie das Inhaltsverzeichnis eines Romans oder Drehbuchanweisungen für einen<br />

Film. Als er sich noch einmal die Zusammenfassung seiner Gedanken durchlas, kam ihm eine<br />

Idee. Aus diesem Stoff könnte doch ein Tatsachenbericht oder in leichter Abwandlung, ein<br />

Roman geschrieben werden. In den nachfolgenden Abenden schrieb er immer wieder seine<br />

Gedanken nieder und entwickelte daraus Kurzinhalt eines Buches. Im Internet hatte er sich<br />

über den Aufbau eines Romans schlaugemacht. Die Zeitform, die Erzählform und die Figuren<br />

einer Handlung, angefangen vom Helden bis zum Bösewicht, waren wichtig für das Gelingen.<br />

Dann schien ihm der Zufall zur Hilfe zu kommen.<br />

Abgesehen von einigen negativen Momenten, zeigten sich die Gäste der Anlage oftmals als<br />

ganz normale Urlauber. Holt machte es sich zu eigen, mit den Gästen zu plaudern, wenn er in<br />

der Nähe dieser arbeitete oder wenn er Pause machte. Während seiner bisherigen Tätigkeit<br />

hatte er mit drei Gästen näheren Kontakt. Ein Gast aus Strausberg zeigte die Verhaltensmuster<br />

eines ehemaligen höheren Stabsoffiziers. Als der eines Tages am Pool lag und Holts<br />

Morgengruß freundlich erwiderte, antwortete dieser mit einer scherzhaften Bemerkung,<br />

welche jedoch voll ins Schwarze traf.<br />

„Wie geht’s Ihnen Herr Oberst?“<br />

Der Angesprochene schwieg verblüfft, nachdem er sich erholt hatte, fragte er, „Woher<br />

wissen Sie, dass ich Oberst bin ... äh ... war?“<br />

Holt erzählte dem Mann, dass er selbst einmal Offizier gewesen sei, zwar nur in der<br />

Reserve, aber er könne am Verhalten eines gestandenen Mannes einen Offizier von einem<br />

Zivilisten unterscheiden. Der Oberst fühlte sich am Bauch gepinselt. Bereitwillig erzählte er<br />

258


Holt aus seinem militärischen Leben. Kretschmann war bis 1989 tatsächlich bei der NVA<br />

gewesen, zuletzt als Stabsoffizier in der NVA-Führung in Strausberg. Im Frühjahr 1990<br />

wurde er noch vom DDR-Abrüstungsminister Eppelmann in den vorzeitigen Ruhestand<br />

versetzt, da die westlichen „Okkupanten“ bereits signalisierten, auf seine Dienste in der neuen<br />

gesamtdeutschen Bundeswehr zu verzichten. Er war darüber nicht traurig; es wäre ihm ein<br />

Graus gewesen, seinem ehemaligen Feind dienen zu müssen. Holt versuchte heraus zu<br />

bekommen, ob dieser Mann tatsächlich ein verbohrter Kommunist war, entdeckte jedoch nur<br />

einen Mann mit Prinzipien, der nicht in der Lage war, sein Weltbild je nach Bedarf zu ändern.<br />

Die zweite Person, die er näher kennenlernte, war eine allein angereiste Frau, die sich<br />

in der Anlage langweilte und einem Techtelmechtel mit Holt nicht abgeneigt war. Holt<br />

ignorierte die offensichtlichen Angebote geflissentlich und lenkte Gespräche, in eine andere<br />

Richtung, mit Fragen nach dem Wohlergehen des in Deutschland verbliebenen Ehemannes<br />

oder der erwachsenen Kinder. Das hatte Erfolg, sie merkte wohl, dass Holt sich nur<br />

unterhalten wollte, und richtete ihr Augenmerk auf Egon. Armer Egon, dachte er, als die<br />

Dame heftig bei Egon anfing, zu baggern.<br />

Der Dritte im Bunde war ein Professor aus Süddeutschland. Professor Bilke war sehr<br />

neugierig bezüglich Lebensläufe von Menschen, die ihm über den Weg liefen. Holt gehörte<br />

dazu. Beim Streichen des metallenen Absperrgitters, welche das Appartement von der<br />

Uferpromenade trennte, sah Holt, dass die Gäste in den Liegestühlen auf der Terrasse Platz<br />

nahmen. Entsprechend der Anweisung der Geschäftsleitung durfte das Personal nur Arbeiten<br />

ausführen, wenn die Gäste nicht anwesend waren. Holt wollte gerade seine Sachen packen<br />

und weiter ziehen, als er vom Professor angesprochen wurde.<br />

„Sie stören uns nicht. Ihre Arbeit macht ja keinen Lärm und meine Frau riecht gerne<br />

frische Farbe. Sie können ruhig weiter arbeiten.“<br />

Holt blieb. Der Professor schaute lange Zeit schweigend zu, wie Holt das Geländer mit<br />

einer Drahtbürste bearbeitete und danach mit rotbraune Rostschutzfarbe stricht.<br />

„Sie haben auch schon bessere Zeiten gesehen, stimmst?“, begann er das Gespräch.<br />

„Wer hat nicht schon einmal bessere Zeiten erlebt,“ antwortete Holt.<br />

Das nun folgende Gespräch dauerte mehr als zwei Stunden. Der Professor war<br />

aufgestanden und dem arbeitenden Holt innen am Gitter gefolgt, bis dieser bereits am<br />

benachbarten Appartement anlangte. Holt erfuhr, dass Bilke viele Jahre Assistenzprofessor im<br />

Fachbereich Germanistik an der Universität in Würzburg lehrte und nun als Lektor an einem<br />

renommierten Verlag in Frankfurt am Main arbeitete. Die Aufgeschlossenheit des Mannes<br />

gefiel Holt. Er überwandt sich und erzählte ihm, was er in den letzten Jahren erlebt hatte und<br />

das er diese Erlebnisse in Kurzform bereits niedergeschrieben habe. Bilke hatte aufmerksam<br />

und gespannt zu gehört.<br />

„Wenn Sie Ihre Abenteuer bereits in schriftliche Form gesetzt haben, sollten sie diese<br />

weiter ausarbeiten und daraus eine Erzählung machen.“ Er schaute Holt abwartend an.<br />

„Das ist für mich nicht so einfach,“ antwortete Holt, „ich habe bislang nur<br />

Klageschriften und juristische Sachverhaltsbeschreibungen zu Papier gebracht. Prosaisches<br />

oder künstlerisches Schreiben ist mir fremd, ich ...“<br />

„Ach was,“ fiel Bilke Holt ins Wort, “versuchen Sie es nur. Wie haben Sie das<br />

geschrieben? Mit der Hand, der Schreibmaschine oder im Computer?“<br />

„An meinem Computer.“<br />

„Na, dann machen Sie mir doch einfach eine Kopie davon und geben Sie mir diese<br />

mit. Wenn ich zu Hause bin, werde ich mir das einmal anschauen und Ihnen per E-Mail<br />

zurück senden.“<br />

Holt war froh, es kümmerte sich zum ersten Mal seit Jahren jemand für seine<br />

Probleme, Pauline ausgenommen, denn es waren auch die ihrigen.<br />

259


Die Ernüchterung, mehr noch, die Enttäuschung kam etwas später. Bilke war wieder<br />

abgereist, einige Wochen waren vergangen, dann traf Post ein. Der Professor hatte ihm eine<br />

Diskette geschickt. Abends zu Hause öffnete er gespannt die Datei auf der Diskette.<br />

Lieber Herr Hans Holt,<br />

ich befürchte, Sie halten Schreiben für einfacher, als es ist.<br />

*<br />

Ich habe schon einigen Menschen Texte lektoriert [das Substantiv dazu heißt: Lektorat. – Sie<br />

schrieben: Lektoriat.], wissenschaftliche und belletristische, ein Jahr habe ich einschlägig in<br />

einem Verlag gearbeitet. Dann wurde mir die Arbeit zu dumm.<br />

Sie meisten Menschen, denen ich einen Text lektorierte, versicherten mir anschließend, sie<br />

hätten sehr viel daraus gelernt. Ich hoffe, Ihnen möchte es auch so ergehen. Dann hätten sich<br />

für mich die drei Tage Arbeit gelohnt, die ich für Ihre Diskette aufgewendet habe.<br />

Warum vernachlässigt Ihre Intelligenz schlichteste logische Selbstverständlichkeiten?<br />

Beispiel: ‚Steuerflüchtige und Verbrecher‘. Hier sind für mich gereiht: Äpfel und Obst.<br />

Solche Schludrigkeit kann ich nicht vereinbaren damit, daß Sie juristisch ausgebildet sind.<br />

Sollten während sich abspulender Lebenszeit in Ihrem Alter schon solche Erosionen<br />

eingetreten sein?<br />

Jedes Wort, lieber Herr Holt, ist wichtig. Was Sie einfach nur dahinschreiben, rächt sich<br />

gnadenlos.<br />

Ihre Präpositionen stinken zum Himmel. Wer denn will überzeugend plädieren oder ein<br />

Urteil überzeugend begründen können mit solchen Präpositionen wie den Ihren?<br />

Ein Jurist der „durch“ sagt, wo er „vermutlich wegen“ sagen müßte, ist für mich ein<br />

Vergewaltiger von Sachverhalten bzw. Tatbeständen. Ein Erzähler, der sich gleiches leistet,<br />

ist seiner Aufgabe nicht besser gewachsen.<br />

Ob einer denkt oder nicht - an seinen Präpositionen sollt ihr ihn erkennen.<br />

Sie plaudern munter und kaum unterbrechbar. Ich habe Ihnen gern zugehört. (Und am<br />

andern Tage festgestellt, daß Sie das Gitter unten, neben der Tür, gerade dort nicht<br />

gestrichen haben, wo man es zwar nicht sieht, wo es aber vor allem, wenn nicht allein,<br />

darauf angekommen wäre: an den beiden Tropfkanten des unteren Querprofils und an dessen<br />

Unterseite, wo die Wassertropfen hängen bleiben. Üben Sie sich in Subversivität gegenüber<br />

Ihren Arbeitgebern?)<br />

Nicht angenommen hätte ich, daß sich so viel Behördendeutsch einschleichen würde, wenn<br />

Sie schreiben: ‚zur Anwendung kommen‘; ‚zum Einsatz gelangen‘, ‚auf Grund einer<br />

Tatsache, daß‚ [Sie schreiben gern: „das“]. Zudem tragen Ihre vielen Passivkonstruktionen<br />

in Ihre Texte eine Starre hinein, die vermeidbar wäre.<br />

Ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie Ihrem Projekt sprachlich nicht gewachsen wären. Weise<br />

Sie aber darauf hin, daß sehr viel mehr Mühe, Sorgsamkeit und Konzentration erforderlich<br />

sein werden, als Sie bisher leisten mögen, wenn Sie Ihr Projekt bewältigen wollen. So viel<br />

zum Stilistischen. Nun zum Inhaltlichen.<br />

Ihrem Helden hat die „Machtübernahme“ von Rot-Grün nicht behagt. Ihr Wort<br />

„Machtübernahme“ diffamiert unsere deutsche Demokratie, denn jenes Wort ist durch den<br />

Januar 1933 eindeutig besetzt. Ich hoffe, Ihre persönliche Antipathie gegen Rot-Grün ist<br />

nicht ganz so ausgeprägt wie die Ihres Helden.<br />

260


Ich wähle, seitdem das möglich ist, auf Landesliste PDS und im Wahlkreis SPD. In den zehn<br />

Jahren, die ich als Assistent an der Universität arbeitete, habe ich mich vorzüglich mit<br />

Literatur der DDR beschäftigt. Ich nehme an, daß nicht einmal mehr Ihnen, wiewohl Sie sich<br />

erst 1970 aus der DDR abgesetzt haben wollen, noch geläufig ist, was der Kulturpolitik der<br />

DDR der „Bitterfelder Weg“ bedeutete.<br />

Für Sie scheint es kein Problem zu sein, auf welche Weise Ihr Held nach der „Wende“ sein<br />

Geld verdient hat. Für Sie scheint die Arbeit eines Maklers eine Arbeit wie viele andere zu<br />

sein: Optimal bescheißen, damit das eigene Konto lacht.<br />

Ich schätze die Arbeit jener Herren, die sich in den ersten Jahren nach 1989 auf dem<br />

Territorium der alten DDR makelnd und markelnd getummelt haben, etwas anders ein, als es<br />

dem Selbstverständnis Ihres Helden entspricht. Für mich ist jener Held ein Raubritter, dem<br />

es recht geschieht, daß er sein in der alten DDR errafftes Geld als Glücksritter in Mittel-<br />

Amerika wieder los wird.<br />

Ihr Roman, lieber Herr Holt, ist für mich die Story eines betrogenen Betrügers oder ein<br />

unfreiwilliges Beispiel für ausgleichende Gerechtigkeit. Welche Instanz auch immer dafür<br />

sorgen möchte. Ich habe kein Verständnis für die Wehleidigkeit des Helden in Costa Rica<br />

(„Ignoranz der Behörden“ usw.) und für das Mitgefühl, das sein Autor Holz offenbar für<br />

solch einen Helden aufzubringen vermag.<br />

Es scheint den Autor nicht einmal zu stören, daß sich der Held in den USA einem FBI als<br />

Denunziant anbiedern will.<br />

Mein Rat, lieber Herr Holt: Vermeiden Sie konsequent den Hinweis, an dem Ihnen allerdings<br />

sehr viel zu liegen scheint: „Erlebtes wird zum Roman“. Der Hinweis ist Ihrem geplanten<br />

Roman sehr viel weniger förderlich als Sie annehmen.<br />

In jedem Roman steckt vom Autor Erlebtes. Das weiß jeder Leser eines Romans. Insofern ist<br />

der Hinweis überflüssig, daß Selbst-Erlebtes zu einem Roman werden solle. Andererseits gibt<br />

es heute sehr viele Leser, die kein Verständnis mehr aufbringen dafür, daß ein Roman ein<br />

autonomes literarisches Gebilde ist. Sie gieren nach Reportagen, nach Tatsachenberichten.<br />

Solche Leser hindern Sie geradezu an einer Lektüre Ihres Textes, wenn Sie ausdrücklich<br />

darauf hinweisen: „Erlebtes wird zum Roman“.<br />

Ich schlage vor: Stellen Sie einerseits Ihre Vita hin und andererseits den Text eines Romans.<br />

Lassen Sie bewußt offen, wie groß die Entsprechungen sind. Tilgen Sie vielmehr im<br />

konzipierten Roman überflüssige Hinweise auf Ihre reale Vita. Beispiel: Plötzlich und<br />

einmalig taucht die Behauptung auf, ihr Held habe einen Sohn aus erster Ehe. Diese Figur<br />

hat im Romantext keinerlei Funktion. Also hinaus damit. Sie beeinträchtigt die Kohärenz, um<br />

nicht zu sagen die Autonomie eines Textes, der geschrieben sein will.<br />

Wie Sie das Problem der moralischen Anfechtbarkeit Ihres Helden lösen, ist Ihr Problem. Ich<br />

kann Sie nur darauf hinweisen, daß da ein Problem besteht.<br />

Ich glaube, ich würde mich dafür entscheiden, das Leben solch eines miesen Helden<br />

mitleidlos und ohne jede moralische Bewertung herunter zu erzählen:<br />

Leser, was kann ich dafür. Solche Typen wie den Michel, die gibt es halt.<br />

Von solch einem Standpunkt aber sind Sie weit entfernt. Als Leser hat man den Verdacht, daß<br />

das schäbige Selbstmitleid des Helden die Kehrseite desjenigen Mitleids ist, das der Autor für<br />

seinen Helden aufbringt.<br />

Lieber Herr Holt, Sie sehen, ich habe mich konsequent daran gehalten, zwischen Ihnen und<br />

jenem Helden zu unterscheiden. Ich habe selbst in solchen Fällen „Holt“ geschrieben, wenn<br />

ich bei mir selbst annahm, Ihr Held wäre mit Herrn Holt fast identisch.<br />

261


Falls Sie tatsächlich einen Roman schreiben wollen, empfehle ich auch Ihnen eine<br />

entsprechende Haltung. Allerdings will ich nicht verkennen, daß sie Ihnen weit schwerer<br />

fallen muß. Nehmen Sie sich jene Haltung vor. Sie durchzuhalten, ist nicht zuletzt eine Frage<br />

von Training.<br />

Ich hoffe, lieber Herr Holt, daß ich Ihnen nicht mit germanistischem Jargon auf die Nerven<br />

gefallen bin, sondern Ihnen handfeste Vorschläge unterbreitet habe.<br />

Mit freundlichen Grüßen und in der Hoffnung, bald wieder einmal von Ihnen zu hören. Am<br />

liebsten auf einer Diskette.<br />

Mein Internet ist noch nicht wieder in Ordnung. Man sagt mir, ich bräuchte ein neues<br />

Modem. Ich selbst kann mir da nicht helfen, muß mich nach jemand umsehen, der etwas<br />

davon versteht.<br />

Nochmals: mit freundlichen Grüßen<br />

Ihr<br />

Christian Ludwig Bilke<br />

Später: 28.November 2002:<br />

Lieber Hans Holt,<br />

mittlerweile [Sie würden schreiben: “zwischenzeitlich”] bin ich beinahe davon überzeugt,<br />

daß Sie ein Hochstapler sind. Ihre Schriftlichkeit ist unsäglich. Sie läßt mir kaum einen<br />

anderen Schluß mehr.<br />

Die meisten Ihrer Dateien habe ich anlektoriert. Drucken Sie sich meine Datei aus und<br />

vergleichen Sie sie mit Ihren Texten.<br />

Durchgehend mochte ich nicht in jedem Fall sagen, was Sie beachten sollten. Dafür reichten<br />

meine Geduld und mein Interesse nicht mehr. Vergleichen und verlängern Sie. Sie haben es<br />

verdammt nötig.<br />

Ich nehme an, mit drei Tagen Arbeit habe ich mich revanchiert für die Viertelstunde<br />

Plauderei am westlichen unteren Tor vom “Tampico”, die Sie mir gewährt haben.<br />

Jetzt wären Sie wieder dran.<br />

Ob Sie es riskieren, ist Ihr Problem<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Das Gelesene musste Holt erst einmal verdauen. Wie hatte er sich mal wieder in einem<br />

Menschen getäuscht. Der Bilke ist ein verkappter Kommunist und ich habe es in meiner<br />

Naivität nicht erkannt, ging es durch seinen Kopf. Eines musste Holt diesem Mann aber<br />

neidlos lassen, er konnte sich fabelhaft ausdrücken.<br />

... mittlerweile bin ich beinahe davon überzeugt, daß Sie ein Hochstapler sind. Ihre<br />

Schriftlichkeit ist unsäglich...<br />

Holt musste zweimal lesen. Nein, dort stand wirklich schwarz auf weiß ... unsäglich<br />

...<br />

Für Sie scheint die Arbeit eines Maklers eine Arbeit wie viele andere zu sein:<br />

Optimal bescheißen, damit das eigene Konto lacht. ...<br />

Bilke hatte seine CD offensichtlich nicht richtig gelesen oder nicht die Zusammenhänge<br />

verstanden. Nirgendwo hatte er geschrieben, Makler gewesen zu sein, er hatte lediglich mit<br />

dem Makler Panzer zusammengearbeitet. Für den Salonbolschewiken Bilke waren jedoch<br />

alle Makler mit Betrügern gleichzusetzen. Er unterstellte ihn, Holt, betrogen zu haben. Das<br />

262


sagte er ja auch ein paar Zeilen weiter. ... Für mich ist jener Held ein Raubritter, dem es<br />

recht geschieht, daß er sein in der alten DDR errafftes Geld als Glücksritter in Mittel-<br />

Amerika wieder los wird. ... ist für mich die Story eines betrogenen Betrügers oder ein<br />

unfreiwilliges Beispiel für ausgleichende Gerechtigkeit. ...<br />

... Und dieser PDS-Wähler Bilke freute sich, dass er sein „errafftes“ Geld wieder<br />

losgeworden war. Holt hätte es noch interessiert, wie Bilke über die beiseitegeschafften<br />

Millionen aus dem Schalk- Golodkowski- Imperium der Stasiseilschaften dachte, welche über<br />

eine österreichische Kommunistin irgendwo versandet waren. Aber das war ja nur Geld,<br />

welches der sozialistischen Weltrevolution dienen sollte und nicht dem schnöden Verbrauch,<br />

durch Opfer der DDR-Stalinisten. Dieser sich blind stellende Mistkerl!<br />

Er las noch einmal die beleidigende Antwort. Nun sah er es schon bereits aus den Augen des<br />

politischen Gegners. Bei der Passage ... Und am andern Tage festgestellt, daß Sie das Gitter<br />

unten, neben der Tür, gerade dort nicht gestrichen haben, wo man es zwar nicht sieht, wo es<br />

aber vor allem, wenn nicht allein, darauf angekommen wäre: an den beiden Tropfkanten des<br />

unteren Querprofils und an dessen Unterseite, wo die Wassertropfen hängen bleiben. Üben<br />

Sie sich in Subversivität gegenüber Ihren Arbeitgebern? ... musste er schon wieder lachen.<br />

Dieser krümelkackerische Pedant! Im Geiste sah er das von Wut verzerrte Gesicht Carls, der<br />

ein auseinanderfallendes Geländer inspizierte.<br />

*<br />

Das Gespräch mit Pauline verlief nicht gut. Er hatte Pauline klar zu machen versucht, dass er<br />

nach Costa Rica zurück müsse, um sein Vermögen wieder zu erlangen und um sich an Schulz<br />

zu rächen. Pauline hatte zunächst schweigend zugehört. Als Holt von Rache sprach, wurde sie<br />

unruhig und versuchte auf Holt mäßigend einzuwirken.<br />

„Hans, was hast du davon, wenn du dich an Schulz rächst. Wir bekommen keinen<br />

Cent zurück und du wirst danach als Mörder gejagt.“<br />

„Wer sagt, dass ich Schulz ermorden will?“<br />

„Du selbst!“<br />

„Nein, ich habe nur gesagt, dass ich am liebsten dem Schulz den Hals durchschneiden<br />

möchte, ich habe nicht gesagt, dass ich es tun werde.“<br />

Holt konnte Pauline nicht davon überzeugen, gegenüber Schulz nicht gewalttätig zu<br />

werden. Im Innersten wollte er ja seinen Feind aber nicht verschonen, er wollte nur echte<br />

Genugtuung. Aber hätte ihm diese ausgereicht, wenn er sich nur das zurücknimmt, was ihm ja<br />

sowieso gehört? Wo blieb da die Bestrafung? Vielleicht die Hand abhacken? Das war ihm zu<br />

grausam. Ein guter Schuss und schneller Tod entsprach seinen Vorstellungen von<br />

Genugtuung schon mehr. Aber das konnte er Pauline nicht sagen. Diese fühlte die<br />

Bereitschaft Holts, den moralischen Jordan zu überschreiten.<br />

„Hans, wenn du fährst, verspreche mir, keinen Mist zu bauen. Mach dich nicht<br />

unglücklich und bringe dich nicht in Gefahr. Ich liebe dich und möchte dich nicht verlieren.“<br />

Holt war gerührt. Beschwichtigend versprach er, niemanden zu töten und auch an<br />

seinen eigenen Schutz zu denken. Pauline erkannte, Holt nicht halten zu können, jedoch<br />

wollte sie im Vorfeld bereits die Weichen stellen, um Schlimmeres zu verhindern.<br />

*<br />

In der Erholungsanlage ging der Alltag weiter. Neue Gäste kamen und gingen. Neue Schäden<br />

entstanden und wurden ausgebessert. Carl meckerte rum und Holt machte seine Arbeit,<br />

freudlos, oftmals in Gedanken bereits jenseits des Ozeans. Ungefähr einen Monat vor Ablauf<br />

der Anstellungszeit teilte Carl einem bereits gleichgültigen Holt mit, den Vertrag nicht mehr<br />

263


um sechs, sondern nur jeweils um einen Monat verlängern zu können. Der Eigentümer aus<br />

Hannover habe vor, die Anlage eventuell an einen Spanier zu verkaufen. Dieser beabsichtige<br />

aber, keine Ausländer mehr zu beschäftigen. Um saubere, schnell kündbare Arbeitsverträge<br />

beim Verkauf vorlegen zu können, sollten ab sofort nur Verlängerungen für einen Monat<br />

vereinbart werden. Holt hatte nur mit den Schultern gezuckt und diese Meldung<br />

kommentarlos zur Kenntnis genommen. Das Gespräch fand in der Rezeption statt. Der<br />

Tagesportier Haberland hörte schweigend zu und tat so, als ob er in seine Unterlagen vertieft<br />

sei. Als Carl mit seinem Auto nach Maspalomas abgefahren war, sprach er jedoch Holt an.<br />

„Carl spinnt, er kann nach wie vor die Verträge um sechs Monate oder sogar um ein<br />

Jahr verlängern. Der Alte hat zwar mal gesagt, er könnte die Anlage eventuell an einen<br />

Spanier verkaufen, aber aktuell ist da rein gar nichts.“<br />

Holt war erstaunt. „Und warum zickt er mit mir rum und verlängert den Vertrag nur<br />

um einen Monat?“<br />

Haberland schaute Holt prüfend an, als erwarte er, Holt würde schon von alleine auf<br />

die Antwort kommen. Dann klärte er ihn auf, was dieser bereits geahnt hatte.<br />

„Sie haben Carl angepinkelt, wie ein kleiner Dorfköter, was er nicht vergessen kann<br />

und will. Noch benötigt er Sie, aber wenn er einen billigeren Servicio Tecnico bekommt, sind<br />

Sie weg vom Fenster. Der Neffe von Carmen sucht einen Job. Ich kenne den jungen Mann, er<br />

heißt José und ist ein guter Handwerker. José hat sich jedoch nur als Gärtner beworben. Diese<br />

Arbeit kann er auch, aber wenn er sich eingearbeitet hat, wird Carl Sie feuern<br />

beziehungsweise den Vertrag einfach nicht mehr verlängern. Herr Holt, Sie haben noch eine<br />

Galgenfrist von etwa drei Monaten, glaube ich jedenfalls.“<br />

Holt konnte sich erinnern, Carmen, eine Reinigungskraft, war vor ein paar Tagen mit<br />

einem jüngeren Mann erschienen, der ihn stark an den costa-ricanischen Alvaro erinnerte. Das<br />

musste der besagte José sein. Nun ja, wenn es so kommen soll, dann kommt es eben so. Holt<br />

war es einfach egal, ob er jetzt oder erst in einigen Monaten seine Koffer packen würde.<br />

Gehen wollte er ja sowieso erst in den nächsten Monaten.<br />

Wie von Haberland angekündigt, erschien José zum nächsten Ersten des Monats als neuer<br />

Gärtner. Nur zwei Tage vorher erklärte Carl, so nebenbei, dass übermorgen der neue Gärtner<br />

kommen würde. José erwies sich als netter, zuvorkommender Mann, der einen „grünen<br />

Daumen“ besaß. Innerhalb weniger Tage hatte er die größten Fehlentwicklungen in der<br />

Gartenanlage ausgemerzt. Es sah zwar wie nach einem Kahlschlag aus, war aber notwendig.<br />

Solche rigorosen Einschläge hätte Holt nicht gewagt. Angenehm waren auch die schnelle<br />

Auffassungsgabe und das technische Interesse Josés. Zwar wusste Holt, wohin der Zug fuhr,<br />

aber hinsichtlich seiner eigenen Pläne sah er in José keinen Konkurrenten, der ihm die Arbeit<br />

wegnimmt. Im Gegenteil, Holt erklärte José die technischen Anlagen ausführlich und wies auf<br />

mögliche Störungen und deren Ursachen hin. Es waren keine technischen Zeichnungen<br />

vorhanden. Holt hatte einen einfachen Schaltplan und den Verlauf der Frischwasser- und<br />

Altwasserleitungen, mit allen Verteilern und Absperrventilen, gezeichnet. Diese Pläne zeigte<br />

er José, auch wo er sie aufbewahrte. Die Wissbegierde des Mannes erfreute Holt. José wollte<br />

nicht nur Details über die Anlage wissen, sondern auch alles über die USA. Holt erzählte ihm<br />

aus seinem Leben in den Staaten und aus Deutschland. Die detaillierten Nachfragen und<br />

Ergänzungen zeigten Holt, dass er in José einen intelligenten und aufgeschlossenen, wie auch<br />

würdigen Nachfolger gefunden hatte. Zu seiner Überraschung, José besuchte die Abendschule<br />

in Playa del Inglés. Dort belegte er die Kurse Haustechnik und Englisch. Der Unterricht fand<br />

in der Nähe von Holts Haus statt. José bot Holt an, ihn zumindest an den drei Schulungstagen<br />

nach Hause zu fahren, was dieser dankbar annahm.<br />

Zur Überraschung des Personals, Holt eingeschlossen, hatte sich das Verhalten Carls zum<br />

Positiven geändert. Haberland war der Erste, der wieder den Grund erfuhr. Der Alte war mal<br />

264


wieder zu einer Inspektion hereingeplatzt und hatte eine durch José und Holt umgekrempelte<br />

Anlage vorgefunden. Die Vermietung lief gut, alle Appartements waren auf Monate<br />

ausgebucht und Carls Vertrag wurde um weitere drei Jahre verlängert. Grund genug für Carl,<br />

entspannter zu leben. Das Personal merkte diese Veränderung schlagartig. Als der Alte seinen<br />

Rundgang machte, hatte er Holt im Pumpenhaus besucht, der gerade dabei war, den großen<br />

Filterbehälter auszutauschen. Der alter Behälter war gerissen. Anfänglich konnte Holt den<br />

Riss mit Glasfieber abdichten. Diese Abdichtung war nur als Provisorium gedacht, bis zur<br />

Anschaffung des neuen Behälters. Nun waren mehr finanzielle Mittel für Ausbesserungen<br />

freigegeben und Holt hatte auf die Anschaffung eines neuen Druckbehälters bestanden.<br />

Gerade, als er die Anschlüsse auswechselte, erschien der Alte in der offenstehenden Tür.<br />

Durch das eindringende Sonnenlicht geblendet, konnte Holt nicht sofort erkennen, wer da<br />

eintrat. Er richtete sich mit dem Oberkörper auf, hielt die Hand schützend vor die Augen und<br />

erkannte im gleißenden Gegenlicht den Alten. Dieser betrachtete interessiert die ausgebauten<br />

und frei liegenden Teile der Filteranlage.<br />

„Tag Herr Holt,“ begann er das Gespräch, sich vielleicht an seine letzte<br />

Unfreundlichkeit gegen Holt erinnernd, „sind Sie mit den neuen Materialien zufrieden?“<br />

Holt bestätigte seine Zufriedenheit und erklärte dem fragenden Chef einige Details der<br />

Filteranlage, obwohl er wusste, dass dieser die Anlage bestens kannte. Haberland hatte<br />

berichtet, der Alte sei früher einmal Ingenieur für Wassertechnik gewesen, bevor er die<br />

höheren Sphären als Grundstücksverwalter und Makler erklommen hatte.<br />

Der Alte habe auch eine Neuerung in der Wasseranlage einbauen lassen, die er selbst<br />

erfunden hatte. Das Wasser im Pool wurde ständig abgepumpt, im Filter gereinigt und wieder<br />

in den Pool geleitet. Die Veränderung durch den Alten bestand darin, dass das Wasser, bevor<br />

es wieder in den Pool geleitet wurde, eine längere Umleitung nahm. Diese Umleitung ging<br />

über die Flachdächer der gesamten südlichen Anlage. Dort mündeten die Wasserrohre in<br />

breite, flache Schläuche. Das Wasser wurde durch eine Druckpumpe durch diese Schläuche<br />

gepresst, welches dann wieder im Sammelrohr zum Pool geleitet wurde. Die tropische Sonne<br />

erhitzte das Wasser in den schwarz gehaltenen Schläuchen auf über fünfundsechzig Grad<br />

Celsius. Im Poolwasser herrschte eine Durchschnittstemperatur von etwa dreißig Grad, für<br />

Holts Geschmack bereits zu warm.<br />

*<br />

Nun kannte Holt den Termin seiner Abreise, er hatte noch fasst zwei Monate Zeit. Vieles<br />

musste bedacht werden, wie die Reiseroute, finanzielle Mittel und technische Hilfsmittel,<br />

Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes und Auffrischung von Kontakten in Costa Rica.<br />

Der Plan war im Groben in seinen Vorstellungen bereits aufgestellt. Der Flug sollte zuerst<br />

nach Panama gehen, von dort wollte er illegal über die Grenze nach Costa Rica, am Besten<br />

über dem Seeweg. Hier bot sich die Küste zwischen Bocas del Toro in Panama bis nach<br />

Puerto Limon, in Costa Rica, an. An der Karibikküste müsste er einen Schmuggler finden, der<br />

ihn an Land in Costa Rica absetzte. In Puerto Limon würde er sich bei einem bekannten<br />

Schiffsversorger erst einmal eine Waffe besorgen und dann nach San José mit dem Bus<br />

weiterfahren. Der Aufenthalt in San José würde in der Sache nichts bringen, da sich seine<br />

„Freunde“ in Escazú oder Santa Aña aufhielten. Also sollte er irgendwo in dieser Gegend<br />

unterkommen, um herauszufinden, wo Schulz & Konsorten sich derzeit aufhielten.<br />

Pauline hatte sich damit abgefunden, Holt für einige Zeit oder sogar für immer zu verlieren.<br />

Ihre Stimmung war dementsprechend düster, was Holt die Abreisevorbereitungen auch nicht<br />

erleichterte. Zögerlich nahm Pauline dennoch an den unumgänglichen Vorbereitungen teil,<br />

um dadurch ein wenig Sicherheit für Holt zu erwirken.<br />

265


Das nötige Geld für die erste Zeit zusammen zu bekommen, fiel Pauline nicht schwer. Holt<br />

ging davon aus, für die Aktion nicht mehr als zwei Monate zu benötigen. Solange musste<br />

auch das mitzunehmende Geld ausreichen. Weiteres erhoffte er aus dem Safe vom langen<br />

Mike, der in diesem ständig über zwanzigtausend Dollar „Fluchtgeld“ als eiserne Reserve<br />

bunkerte. Dass er an diesen Safe und an die Safekombination herankam, daran zweifelte er<br />

hinsichtlich seiner geplanten Schritte keinen Augenblick. Die einzigste Unsicherheit sah er in<br />

einem möglicherweise veränderten Verhalten von Schulz, der unter Umständen sein<br />

„Fluchtgeld“ an einer anderen Stelle bunkerte. Aber eingeübte Lebensregeln sind starr. Dieses<br />

galt sicherlich auch für einen Ganoven.<br />

Als Hilfsmittel benötigte Holt einen Fernstecher, Fesselungsgeräte, Waffen und Tarnkleidung.<br />

Zur Verfügung stand ihm nur der Fernstecher, alles Andere musste er sich in Panama oder<br />

Costa Rica besorgen. Es war unmöglich, mit einer Waffe im Gepäck, sei es nur ein kleineres<br />

Messer, in ein Flugzeug zu steigen. Die Kontrollen an den Flughäfen hatten den sogenannten<br />

„amerikanischen“ Standard erreicht. Kein Metall, keine Flüssigkeiten und keine Chemikalien<br />

gingen unkontrolliert an den Sicherheitsleuten vorbei.<br />

Sein Äußeres musste verändert werden. Seine Gegner hatten ihn seit fasst drei Jahre nicht<br />

mehr gesehen. Die visuelle Erinnerung an ihn müsste bereits ein wenig verschwommen sein.<br />

Dort wollte er ansetzen. Sie hatten ihn sicherlich noch als ständig glatt rasierten Mann mit<br />

dunkelblonden, an den Schläfen angegrauten Haaren in Erinnerung. In Costa Rica würden sie<br />

einen schwarzhaarigen Mann mit ebenfalls schwarzem Bart wahrnehmen, der zudem noch im<br />

Ohr einen „Schwulenring“ tragen würde. Hinzu kämen eine Sonnenbrille und eine angeklebte<br />

kleinere Narbe an der rechten Gesichtshälfte. Holt war bereits dabei gewesen, sich zu<br />

verändern, als ihm siedend heiß einfiel, sein Bild im Pass sah anders aus. Den Bart konnte er<br />

sich inzwischen wachsen lassen, alle weiteren Veränderungen konnten erst nach der Ankunft<br />

in Panama City erfolgen. Sicherheitshalber würde er Haarfärbmittel und Narbenimitation<br />

bereits mitnehmen. Beim nächsten Spaziergang in das kleine Einkaufszentrum, in dem Harry<br />

arbeitete, wurde das Ohrloch gestochen und ein kleiner Ring eingezogen. Als Holt sich im<br />

Spiegel betrachtete, dachte er, den Ring, aber größer, solltest du dir durch die Nase ziehen<br />

lassen, du Abklatsch einer Schwuchtel!<br />

Der Februar war der letzte Arbeitsmonat. Als er den vorgelegten neuen Verlängerungsantrag<br />

nicht mehr unterzeichnete, war Carl perplex. Dieser hatte von Holt eine Verlängerung<br />

erwartet. Bis zum geplanten und bereits gebuchten Abflug waren es noch über drei Wochen.<br />

Holt erklärte sich bereit, ohne Vertrag und bar in die Kralle noch einen halben Monat zu<br />

arbeiten. Carl sagte zu, schien aber auch erleichtert zu sein, José nun als Haushandwerker<br />

nutzen zu können. Am letzten Tag gaben die Putzfrauen für Holt eine kleine Abschiedsparty,<br />

zu der „überraschend“ auch Egon, José und Carl erschienen. Carl hielt eine kurze Rede und<br />

drückte dem verdutzten Holt einen Briefumschlag mit hundert Euro in die Hand. Das<br />

Seltsamste und nicht von Holt Erwartete war, Carl entschuldigte sich bei Holt dafür, ihm das<br />

Leben manchmal so schwer gemacht zu haben.<br />

In der letzten Woche hatte sich Pauline freigenommen, was Holt gar nicht so gerne sah. Sie<br />

war ständig um ihn herum, ließ ihn keinen Moment aus den Augen, die rot und geschwollen<br />

waren. Sie weinte oft. Am letzten Abend trafen sie sich mit Martha, Bernd und Uschi in der<br />

Cita in der Kneipe Ponderosa um den Abschied zu feiern. Pauline hatte das organisiert.<br />

Keiner, bis auf Pauline, wusste, in welches Abenteuer sich Holt zu stürzen gedachte. Sie<br />

glaubten alle, Holt würde nach Costa Rica fliegen, um sich dort mit seinem Anwalt zu treffen<br />

und nicht so, wie Pauline befürchtete, mit seinem Tod.<br />

266


Ein Desaster<br />

Pauline brachte Holt nur bis zur Haustür, sie war sichtlich bedrückt. Holt umarmte sie kurz<br />

und drehte sich schnell ab, damit sie in seinen Augen die aufkommenden Tränen nicht sehen<br />

konnte. Dann ging er hinaus. Er schloss nicht die Tür, hörte jedoch auch kein Schließen.<br />

Bernd stand am Gartentor, er schaute über Holts Schulter, als dieser auf ihn zuging. Er hatte<br />

einen Abschied oder irgendeine Geste durch Pauline erwartet. Als er nichts wahrnahm,<br />

machte sich Erstauen in seinem Gesicht breit und er glotzte mit aufgerissenen Augen und<br />

leicht gesenkter Kinnlade auf das Bild hinter Holt. Dieser schaute auch über die Schulter<br />

zurück, doch niemand stand mehr in der Tür, sie war geschlossen.<br />

Bernd fuhr die Avenida de Alemañia entlang, in der Holt und Pauline genau ein Jahr<br />

zusammengewohnt hatten, parallel zum breiten Sandstrand von Maspalomas, in Richtung Riu<br />

Palace Hotel. Dann bog er auf die Avenida Tirachana nach Norden ab und fuhr über San<br />

Agustin, Holts alter Arbeitsstelle, auf die Autobahn, die direkt zum Flughafen führte. Noch<br />

einmal zogen die Erinnerungen des letzten Jahres an Holt vorüber. Wie hatte sich so ein Hass<br />

auf diese Insel oder auf den Umstand des Inseldaseins aufbauen können? Ihm war klar, dass<br />

er diese Insel, so oder so, nie wiedersehen würde. Ging sein Plan auf, würde Pauline<br />

nachkommen, nach San Andrés, wo er dann auf sie warten wollte. Ging der Plan schief,<br />

würde es für Pauline keinen Grund geben, irgendwohin zu fahren, nur um Holt zu beweinen.<br />

Sie hatte schon Tage vorher die Befürchtung geäußert, Holt wahrscheinlich nie wieder zu<br />

sehen und es ihm auch gesagt. Holt war bei den von Pauline sorgfältig gewählten Worten, wie<br />

durch einen Stromschlag zusammengezuckt und seine Gedärme hatten sich schmerzhaft<br />

zusammengezogen. Es war ihm bislang noch nie so direkt in den Sinn gekommen, beim<br />

Vorhaben möglicherweise sterben zu müssen.<br />

Während der Fahrt nach Las Palmas war Bernd schweigsam, er fühlte sich<br />

wahrscheinlich subjektiv für Holts Abreise verantwortlich, was ja objektiv nicht stimmte. Am<br />

Flughafen holte er das Gepäck aus seinem Auto, stellte es auf einen Kofferträger und haute<br />

Holt kumpelhaft auf die Schulter. Dann stieg er in den Wagen und fuhr ab. Holt vermeinte zu<br />

sehen, wie Bernd im Rückspiegel ihm nachschaute.<br />

Die Route der Maschine ging über Madrid und Miami nach Panama City. In Madrid sollte er<br />

umsteigen und in Miami war, nach Passieren der US-Immigration, ein Transitaufenthalt<br />

vorgesehen. Der Aufruf und das Einchecken erfolgten pünktlich. Die Maschine war<br />

ausgebucht, Spanier, rückreisende Amerikaner und einige Latinos. Beim Betreten des Fliegers<br />

hatte er sich von der Stewardess eine Zeitung geben lassen, der an Bord gezeigte Spielfilm<br />

war in spanischer Sprache. Nach dem Film erschien auf dem Videobildschirm die Flugroute<br />

der Maschine, so konnte er sehen, wo sich das Flugzeug gerade befand. Südlich von Grönland<br />

wurde er müde und schlief ein. Als er erwachte, war die Maschine im Landeanflug auf<br />

Miami. Holt erfasste eine Unruhe, dessen Ursache ihm bewusst war. Miami war ihm vertraut,<br />

aber er musste weiterreisen, hatte nicht die Möglichkeit in die USA einzureisen, also einen<br />

Fuß auf amerikanischen Boden, seiner gewünschten Wahlheimat, zu setzen.<br />

Miami war Ausgangspunkt der meisten Routen nach Lateinamerika und sein Flug ging<br />

über Panama City weiter nach Bogota. Die ersten Fluggäste stiegen in Miami ein. Die bis<br />

Miami Gekommenen waren der Rest der Passagiere aus Europa, die nach den neuen<br />

amerikanischen Immigrationsbestimmungen die Maschine, bis nach der Zwischenreinigung,<br />

bis zum Weiterflug verlassen mussten. Das erfolgte, indem alle Passagiere, wie bei einer<br />

normalen Einreise in den USA, die langen Gänge des internationalen Terminals entlang<br />

hetzten, bis fast zum Ausgang, dann allerdings noch unnötigerweise durch die US-<br />

Immigration, als ob sie in die Staaten einreisen wollten. Die Abfertigung durch die<br />

amerikanische Behörde war merkwürdig. Da die Transitreisenden, ohne Gepäck durch die<br />

Sperre gingen, erschien Holt diese Prozedur absurd und total überflüssig. Der<br />

267


Immigrationsbeamte registrierte seinen Namen, prüfte den Pass auf Echtheit, legte einen<br />

Transitschein ein und stempelte den Pass ab. Dann ging es wieder die langen Gänge des<br />

Terminals, in Richtung Abflughalle. Kurz vor dem Ausgang zum Flugfeld lag der<br />

Transitraum. Es war ein spartanischer und unfreundlicher Raum, der nur mit schlichten<br />

Tischen und wackligen Stühlen ausgestattet war. Im hinteren Bereich des Raumes befand sich<br />

ein Süßwaren- und Getränkeautomat, der nur „Quarter“ und Halbdollarmünzen schluckte,<br />

aber keine Wechselmöglichkeit von Banknoten anbot. Viele Transitreisende hatten weder<br />

amerikanisches noch passendes Kleingeld. Die anwesenden Kinder quengelten und nervten<br />

die Eltern, welche machtlos vor den Verheißungen des Automaten standen.<br />

Holt konnte aus dem Fenster des Transittraums das Rollfeld mit der Start- und<br />

Landebahn beobachten. An einem Verwaltungsgebäude vorbei, konnte er das Lichtermeer<br />

von Miami sehen. Ganz kurz kam ihm der Gedanke in den Sinn, was wäre wohl, wenn er hier<br />

einfach ausstieg? Ihm war natürlich klar, dass dies eine absurde Vorstellung war. Was sollte<br />

er allein ohne Pauline hier in den Vereinigten Staaten? Den Gedanken, es hätte auch anders<br />

kommen können, verdrängte er. Nach zwei langen Stunden wurden die Passagiere<br />

aufgefordert, die Maschine wieder zu betreten. Nachdem alle ihre Plätze genommen hatten,<br />

kamen die Neuzugänge aus Miami. Es waren überwiegend Panamenios und Kolumbianer. Die<br />

Lautstärke innerhalb des Flugzeuges hatte sich erhöht. Die meisten Europäer waren<br />

ausgestiegen und die frei gewordenen Plätze wurden nun von neuen Fluggästen<br />

eingenommen. Es wurde auch wuseliger und scheinbar enger. Als die Maschine abhob,<br />

konnte Holt noch einmal die breiten und erleuchteten Straßen Miamis sehen. An der<br />

Küstenlinie erkannte er die Florida- Keys und später die Meerenge von Florida, hinter der<br />

Kuba lag. Nach einer halben Stunde erschienen in der Schwärze der Nacht, dort wo unten sein<br />

musste, kleine Lichter. Sie waren wahrscheinlich gerade über Kuba. Danach schlief er wieder<br />

ein, wurde jedoch durch eine plötzlich einsetzende Unruhe der übrigen Fluggäste geweckt.<br />

Durch den Bordlautsprecher kam die Durchsage, dass sich das Flugzeug im Landeanflug auf<br />

Panama City befand. Zuerst erfolgte diese Durchsage in spanischer Sprache, die er inhaltlich<br />

nur durch Bruchstücke erahnte, danach in Englisch.<br />

Das Auschecken verlief wider Erwarten schnell. Mit seiner Maschine waren gleichzeitig noch<br />

zwei andere gelandet. An den Gepäckkarussells herrschte großer Andrang. Holt wusste nicht,<br />

an welchem Karussell seine Koffer ankommen sollten. Nachdem er unter Zuhilfenahme eines<br />

sich offenkundig langweilenden Zollbeamten die zuständige Gepäcksabfertigung fand, stand<br />

bereits der große Koffer vom Band genommen in der Halle und er musste nur noch auf seinen<br />

kleinen Koffer warten, der irgendwann auf dem Laufband erschien. Mit seinem Gepäck<br />

steuerte er die Zollabfertigung an, wurde jedoch durchgewunken. Holt hatte die<br />

„Zufallsampel“ nicht wahrgenommen, bei ihm hatte wahrscheinlich die Ampel „Grün“<br />

angezeigt. Der Immigrationsbeamte blätterte in seinem Pass, suchte eine leere Seite und setzte<br />

den Eingangsstempel für Panama aufs Papier. „So, nun bin ich in Panama,“ dachte Holt.<br />

In der Eingangshalle war alles ruhig. Wo waren die vielen Leute abgeblieben? Sie<br />

hatten sich zerstreut, verschiedene Ausgänge benutzt oder waren noch im<br />

Abfertigungsbereich. Holt schaute sich nach einem Informationsschalter um, fand aber<br />

keinen. An einer Wand klebten Hinweise von Bus- und Taxiunternehmen. Über dem<br />

Ausgangstor hing ein riesiges Schild, auf dem die Fahrpreise der örtlichen Taxis nach Panama<br />

City angezeigt wurden. Holt entnahm, nach Panama City waren fünfundzwanzig Dollar zu<br />

zahlen. Das erschien ihm sehr hoch, da er den Flughafen in Nähe der Innenstadt vermutete.<br />

Als er auf den Taxistand zutrat, fuhr ein Taxi heran und hielt vor ihm. Holt beugte sich<br />

herunter zum Autofenster und sagte zum Fahrer, „fünfzehn Dollar bis zur Innenstadt". Der<br />

Chauffeur machte ein erstauntes, unzufriedenes Gesicht, war jedoch wegen der mangelnden<br />

Kundschaft bereit, für den angebotenen Betrag in die Innenstadt von Panama City zu fahren.<br />

268


Während der Fahrt bekam Holt mit, dass an jeder Ein- und Ausfahrt der Autobahn ein<br />

Polizeiauto stand. Daraufhin angesprochen erklärte der Chauffeur, dass die Panamenios es<br />

nachts sehr streng mit der Sicherheit nehmen würden. Auch erkannte Holt, dass der<br />

ursprünglich veranschlagte Fahrpreis wahrscheinlich gerechtfertigt war, denn der Flughafen<br />

lag sehr weit von der Stadt entfernt. Auf seine Frage, welches Hotel er empfehlen könnte,<br />

welches auch nicht zu teuer sei, fuhr ihn der Taxifahrer zum Hotel Latino. In der Dunkelheit<br />

konnte Holt nicht erkennen, in welchem Stadtteil dieses Hotel lag. Es war eine halbe Stunde<br />

nach drei Uhr nachts, nur wenige Lampen der Straßenbeleuchtung brannten, dennoch machte<br />

die Umgebung keinen abenteuerlichen oder sogar gefährlichen Eindruck.<br />

Das Hotel Latino war, wie Holt feststellte, und das auch mit einer Portion Humor, ein<br />

„Stundenhotel“. Die schwarze Empfangsdame schaute nach seinem Eintritt nochmals zur Tür,<br />

in der Erwartung, dass nun seine Begleiterin für die Nacht, erschien. Holt enttäuschte sie, er<br />

war allein, ein europäischer Tourist, kein Freier, der sich hier im Hotel stundenweise<br />

aufzuhalten gedachte. Die Übernachtung kostete pro Nacht sechzehn Dollar, ohne Damen.<br />

Holt hatte nur einige Hundertdollar-Banknoten aber noch kleinere Scheine in Euro. Die<br />

Empfangsdame erklärte ihm, im Moment den Hundertdollarschein nicht wechseln zu können.<br />

Zur Sicherheit hinterlegte er für drei Tage Übernachtung vierzig Euro. Er sah erstaunt, wie sie<br />

die Scheine mehrfach wendete und argwöhnisch betrachtete. Sie hatte noch nie europäisches<br />

Geld gesehen. Nach eingehender Kontrolle war sie wahrscheinlich der Auffassung, dass es<br />

sich hier doch um echtes Geld handeln müsste. Holt hatte müde und auch erleichtert. Sein<br />

Zimmer lag in der obersten Etage des Stundenhotels, also wahrscheinlich über der aktiven<br />

Arbeitszone. Vom Treiben der anderen „Gäste“ hatte er in den folgenden Tagen nichts<br />

mitbekommen, nur am folgenden Abend, als er aus der Stadt zurückkam, sah er zwar in der<br />

kleinen Lobby zwei einzelne "Damen", diese erschienen ihm aber zu bieder um Prostituierte<br />

zu sein.<br />

Das Hotelzimmer erinnerte Holt an eine Zelle während seiner Stasihaft. Ein Bett, ein<br />

kleiner Schrank, an der Decke in einer nackten Lampenfassung eine fünfundzwanzig- Watt-<br />

Glühbirne und ein kleines Brettregal an der Wand. An der dem Bett gegenüberliegenden<br />

Wand befand sich auf einer Halterung ein Fernseher, welcher nicht richtig funktionierte. Er<br />

lief zwar, es waren aber nur Schnee und im Hintergrund ein spanischsprachiger Fernsehsender<br />

zu erkennen. Holt verzichtete auf das Vergnügen der Nutzung. Misstrauisch schaute er sich<br />

das Bett genauer an, er vermutete Schmutz und Unrat, wurde aber angenehm überrascht, die<br />

Wäsche war neu und gewaschen, auch sonst waren keine Benutzungsspuren anderer Gäste zu<br />

erkennen. Ein richtiges Fenster gab es nicht. Hinter einer Fensterimitation befand sich ein<br />

Lüftungsschacht, der vom Keller bis zum Dach ging. Lediglich eine an der Dachtraufe<br />

angebrachte Lampe erleuchtete den Schacht, sodass man durch die Fensterimitation nur die<br />

gegenüberliegende Seite des dunkelgrauen Schachtes sah. Das Fenster ließ sich jedoch nicht<br />

öffnen. Anders war das kleine Fenster, mehr eine Luke im Badezimmer, welches in den<br />

gleichen Schacht ging. Nachdem Holt das Minifenster geöffnet hatte, gelangte sofort tropisch<br />

warme und schwüle Luft ins Badezimmer. Aus der Ferne hörte Holt Verkehrslärm, die<br />

Geräusche einer Großstadt. Die Klimaanlage funktionierte, war verhältnismäßig ruhig und<br />

kühlte das Zimmer auf angenehme zwanzig Grad Celsius herunter. Holts letzten Gedanken,<br />

bevor er einschlief, weilten bei Pauline. Was er empfand, das wusste er, aber was sie<br />

empfinden musste, das ahnte er nur. Mit diesem Gedanken schlief er schließlich doch ein.<br />

Holt nahm sich vor, ungefähr zwei, drei Tage in Panama City zu bleiben. Am nächsten<br />

Morgen besorgte er sich einen Stadtplan. Um zu wissen, wo er sich zurzeit befand, suchte er<br />

zuerst das Hotel Latino. Im Hotelverzeichnis des Stadtplanes fand er es. Danach orientierte er<br />

sich an den Straßen, die am Hotel vorbeigingen. Das Hotel lag ziemlich nahe am<br />

Stadtzentrum, nicht weit entfernt vom Busbahnhof und dem kleineren Regionalflughafen. Bis<br />

zur Fußgängerzone waren es nur zehn Minuten Fußweg. Diese war ungefähr vier bis fünf<br />

269


Kilometer lang. Holt hatte selten so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Besonders<br />

fielen ihm, neben einem großen schwarzen Bevölkerungsanteil, die vielen einheimischen<br />

Indios auf. Es handelte sich um die Kunas, einen kleineren, gedrungenen Menschentyp, den<br />

Holt noch nie gesehen hatte. Die Indios hatten um ihre Beine und Arme viele Ringe aus<br />

Metall, die Kleidung war überwiegend im roten und grünen Ton gehalten. Das<br />

Erscheinungsbild erinnerte Holt an die Einwohner Perus, sofern er es aus dem Fernsehen<br />

kannte. „Sind diese kleinen Menschen mit den Inkas Perus verwandt?“, dachte er, „genetisch<br />

sind ja doch wohl alle Menschen miteinander verwandt.“<br />

Die Fußgängerzone war beeindruckend. Direkt neben modernen Glaspalästen standen<br />

Bretterbuden, das 21. neben dem 19. Jahrhundert. Welch ein Unterschied auf so engem Raum.<br />

Holt befürchtete, dass das Haus, dem er gegenüberstand, nicht den nächsten Sturm überleben<br />

würde. Es handelte sich um eine ehemals ehrwürdige und vornehme Villa im spanischen<br />

Kolonialstil. Von den ursprünglich weißen und hellen Farben war nichts mehr zu sehen. Alles<br />

war abgeblättert und was an Holzteilen übrig blieb, war grau, gesplittert und verblichen. Auf<br />

der noch vorhandenen Hochterrasse, die rund um das Haus verlief, saßen einige schwarze<br />

Frauen mit kleinen Kindern. Rund um das Haus hing am Telefondraht Wäsche.<br />

Auf der Suche nach einem Restaurant fand Holt am Abend, nicht weit vom Hotel entfernt,<br />

eine saubere und preisgünstige kleinere Bar. Er richtete sich immer nach den Aushängen, in<br />

denen die Preise standen. Es gab oftmals, innerhalb weniger Meter Entfernung, gewaltige<br />

Unterschiede in den Preisen, in der Ausstattung und beim Service. In der American Bar fand<br />

er das Richtige. Sie hatte ein amerikanisches Ambiente, der Fernseher lief mit CNN und die<br />

Bedienung sprach Englisch. Neben Holt hatte an der Bar ein Gast Platz genommen, der<br />

offensichtlich Englisch verstand, denn er verfolgte die Kriegsberichterstattung aus dem Irak<br />

mit großer Aufmerksamkeit. Da er mitbekam, wie Holt mit der Bedienung auf Englisch<br />

sprach, fing er mit Holt ein Gespräch an. Er war Panamenio, aber mit amerikanischen<br />

Wurzeln. Sein Großvater hatte als Ingenieur am Kanalbau teilgenommen, sein Vater ebenso.<br />

Jesse Javier Johnson, so sein Name, war Präsident einer kleinen panamanesischamerikanischen<br />

Gesellschaft, die sich mit Finanzdienstleistungen im medizinischen Bereich<br />

beschäftigte. Den Hauptsitz der Firma hatte Jesse vormals im World Trade Center in New<br />

York. Zur Zeit des Anschlages am 11. September 2001 war er gerade in Panama City, was<br />

ihm das Leben rettete. Alle Angestellten, neun an der Zahl, hatten den Anschlag nicht<br />

überlebt, er war nun ein Chef ohne Mitarbeiter. Holt traf zum ersten Mal einen direkt<br />

Betroffenen und war erschüttert über das Schicksal dieses Mannes, der auch seine Sekretärin<br />

und Ehefrau dabei verlor. Bis tief in die Nacht unterhielten sie sich. Jesse bot sich an, falls<br />

Holt irgendwann einmal in Panama in Schwierigkeiten sei, solle er mit ihm in Kontakt treten,<br />

er könne mit Sicherheit dann helfen. Opfer helfen sich gegenseitig, war seine Meinung.<br />

Holt nutzte die Tage in Panama City. In Form einer Spirale, die immer größer wurde,<br />

umrundete er die unmittelbare Umgebung des Hotels. Direkt am Pazifik gelegen, in einer<br />

Bucht, lag das moderne Panama City. Die Skyline bestand aus ungefähr hundert modernen<br />

Wolkenkratzern. In diesem Viertel entdeckte er auch die deutsche sowie die amerikanische<br />

Botschaft. Auch am Pazifik gelegen, befand sich ein kleiner Park, indem das Kolumbus- und<br />

das Unabhängigkeitsdenkmal standen. Letzteres war, auf einem Hinweisschild zu lesen, in<br />

den 80er Jahren vom spanischen König Juan Carlos II gestiftet worden. Vor Reede konnte<br />

Holt die wartenden Schiffe erkennen, die vor dem nahen Hafen Balboa auf ihre Einfahrt in<br />

den Panamakanal warteten, um diesen bei Colon an der Karibikküste wieder zu verlassen.<br />

Auch eine alte Bekannte traf er wieder, die schwarze, amerikanische Elster. Diese entdeckte<br />

er, als sie zeternd und laut schreiend in einem großen Mangobaum, sich mit anderen Elstern<br />

zankte. Holt freute sich, diesen Vogel, der ihm in Costa Rica oftmals auf die Nerven ging,<br />

270


wieder zu sehen. Das Essen in den kleinen Bistros und Lokalen war billig. Zur Mittagszeit<br />

hatte es sich Holt eingerichtet, in einem Restaurant zu essen, welches auch europäische<br />

Gerichte anbot. Nebenbei konnte er im englischsprachigen Fernsehen die Kriegsereignisse im<br />

Irak verfolgen. Der Krieg hatte bereits eine Woche, bevor er Gran Canaria verließ, begonnen<br />

und war immer noch nicht zu Ende. Für die Amerikaner verlief der Krieg gut. Saddam<br />

Husseins Armee konnte keinen Widerstand mehr leisten. Die Panamenios interessierte der<br />

Krieg im Nahen Osten nicht besonders, gleichgültig, ohne Emotionen, verfolgten sie die<br />

Meldungen. Holt dachte an Pauline, die vielleicht auch jetzt in diesem Moment die<br />

Nachrichten von CNN im Fernsehen sah.<br />

Am Nachmittag, nachdem Holt im Hotel eine Siesta gemacht hatte, ging er zum Grand<br />

Terminal Centro de Autobus, dem Busbahnhof, um sich über Reisemöglichkeiten zur<br />

Inselgruppe Bocas del Toro zu erkundigen. Er fand das zuständige Terminal. Eine Fahrkarte<br />

zur Karibikküste kostete sechsundzwanzig Dollar. Holt kaufte sich sofort ein Ticket, um am<br />

nächsten Morgen Zeit zu sparen. Am dritten Tag checkte er im Hotel Latino aus, mit einem<br />

Taxi ließ er sich zum Busterminal fahren. Es war noch eine Stunde Zeit, bis zur Abfahrt des<br />

Busses. Der Abfertigungsschalter blieb, zur Beunruhigung Holts, auch noch bis zehn Minuten<br />

vor der Abfahrt leer. Dann entdeckte er beim Lesen der Abfahrts- und Ankunftszeiten, dass er<br />

bei der Bestellung seiner Fahrkarte einen Fehler gemacht hatte. Er musste die Vormittagszeit<br />

„a.M.“ mit der Nachmittagszeit „p.M.“ verwechselt haben. Anstatt am Morgen zu fahren,<br />

hatte er sich irrtümlich einen Fahrschein für den Nachtbus gekauft. Um diese Fahrkarte<br />

nutzen zu können, hätte er noch zwölf Stunden warten müssen. Eine Alternative war, eine<br />

andere Route einzuschlagen, bei der er einmal umsteigen musste. Diese Buslinie ging von<br />

Panama City nach David und von dort aus weiter mit einem anderen Bus in Richtung<br />

Karibikküste nach Almirante. Die Fahrt nach David kostete nur zwölf Dollar. Die Fahrkarte<br />

für den Nachtbus konnte er allerdings nicht mehr verwenden. Holt war nachträglich sehr<br />

zufrieden, nicht mit dem Nachtbus fahren zu sein, sondern das er sich am Tage die<br />

Schönheiten Panamas, an der Pazifikküste bis David, anschauen konnte. Es war eine herrliche<br />

Umgebung, ein schönes Land, das Holt in vielen Dingen immer wieder mit Costa Rica<br />

verglich. Der Bus nach David war vom Typ Mercedes, ein voll klimatisierter, moderner<br />

Reisebus. Die Fahrt verlief gut. In David angekommen fand er am Busbahnhof einen<br />

Gepäckträger, der ihm seine zwei Koffer zur Abfertigungsstelle „Almirante“ schleppte. Am<br />

Kartenverkauf holte er sich für nur acht Dollar ein Ticket nach Almirante. Neben der<br />

Verkaufsstelle stand ein gelber Schulbus, der zu einer Ortschaft mit dem eigentümlichen<br />

Ortsnamen Boquete fuhr. Holt beachtete diesen Namen nicht weiter, doch er sollte in seinem<br />

späteren Leben eine wichtige Rolle spielen.<br />

Der neue Bus, der ihn von David nach Almirante brachte, war ein so genannter<br />

„Lumpensammler“, ein altes Model mit einer zersplitterten Frontscheibe, von Rost zerfressen,<br />

zerkratzt, mit aufgeschlitzten oder fehlenden Sitzen, ein über 70 Jahre altes Vehikel. So wie es<br />

aussah, so fuhr es auch. Es war ein Abenteuer, mit so einem Fahrzeug war Holt noch nie<br />

gefahren und er glaubte mit diesem Gefährt, nie anzukommen. Er sollte sich täuschen, gleich<br />

nach David, befanden sich an der Wegstrecke viele kleine Haltepunkte, an denen der Bus<br />

hielt, Menschen ein- und ausstiegen oder sogar Güter verladen wurden. Der Bus füllte sich<br />

mehr und mehr, sodass Holt sein Gepäck anders verstauen musste, um neuen Fahrgästen Platz<br />

zu machen. Es war ein quirliger und lustiger Menschenschlag. Alle waren freundlich,<br />

aufgeschlossen und fragten Holt, wohin er fahre. Sie waren alle sehr neugierig. Eine jüngere<br />

Frau mit einem kleinen Kind teilte Holt mit, dass sie auch nach Almirante fahre, er brauche<br />

sich keine Gedanken machen, sie würde ihm rechtzeitig Bescheid sagen, wann er aussteigen<br />

müsse. An jeder Haltestelle standen Kinder, die den Busreisenden Obst und Getränke<br />

271


verkauften. Holt sah zum ersten Mal eine Reihe von Früchten, die er bislang noch nie gesehen<br />

hatte und wohl auch nie wieder zu sehen bekommen würde.<br />

Auf halber Strecke hielt der Bus an einer Haltestelle mit einem kleinen Restaurant. Alle<br />

Fahrgäste konnten sich die Beine vertreten, auf Toilette gehen und sich einen Imbiss kaufen.<br />

Holt entschied sich für eine Art Kartoffelsalat und einen Kaffee. Nach Abfahrt von der<br />

Raststätte ging es nun schon seit zwei Stunden bergauf. Er sah zum ersten Mal in<br />

Mittelamerika höhere Gipfel. Es waren die zentralen Kordilleren, die sich weiter im Norden<br />

teilten und über Costa Rica weiter nach Nicaragua verliefen. Ungefähr zwanzig Kilometer vor<br />

Almirante wurde es dunkel, der Bus fuhr sehr langsam, um Schlaglöchern und<br />

entgegenkommenden Fahrzeugen auszuweichen. Dann, ungefähr fünf Kilometer vor<br />

Almirante, gab es einen Stau, den Holt nicht ergründen konnte. Nach fasst einer Stunde ging<br />

es weiter. Beim Passieren einer einspurigen Brücke über einen Fluss erkannte er den Grund<br />

der Verzögerung. Mitten auf der Brücke waren zwei Esel- oder Mulikarren<br />

zusammengestoßen. Es sah schon lustig aus. Zwei immer noch aufgeregt diskutierende<br />

Treiber versuchten, ihre Tiere zu beruhigen. Einer musste offensichtlich die Ampel missachtet<br />

haben und bei Rot losgefahren sein. Die mit Palmpflanzen und anderen bäuerlichen Produkten<br />

hoch beladenen Karren hatten sich ineinander verkeilt, als die ziehenden Tiere bereits<br />

aneinander vorbei waren. Danach versuchte jeder Treiber auf die Zugstärke seines Esels zu<br />

vertrauen, um sich aus der „Gefangennahme“ zu befreien. Selbst den zwei überforderten<br />

Polizisten war es offensichtlich nicht gelungen, das Chaos schneller aufzulösen.<br />

Almirante war nicht gerade „schön“ zu nennen. Holt hatte den Fahrer gebeten, ihn nicht am<br />

örtlichen Busbahnhof, sondern in der Nähe von Hotels abzusetzen, was dieser auch tat. Es<br />

waren ungefähr fünf Hotels vorhanden. Bei zwei Hotels wurden exorbitante Preise über<br />

hundert Dollar für die Übernachtung verlangt, ein drittes und viertes Hotel waren ausgebucht.<br />

Letztlich, als Holt schon aufgeben wollte, fand er eine Übernachtungsmöglichkeit. Zu seinem<br />

Erschrecken hatte eine ziemlich hübsche Frau an der Rezeption erklärt, dass sie nur noch ein<br />

Vierbettzimmer habe. Holt glaubte zuerst, dass er es mit drei weiteren Leuten teilen sollte. Es<br />

war aber nicht so, er konnte ein ganzes Zimmer, das ansonsten für herumziehende<br />

Landarbeiter bestimmt war, allein für zwölf Dollar anmieten. Nun, als er das große Zimmer<br />

hatte, konnte er es sich nicht verkneifen zu fragen, ob die Rezeptzionistin mit im Preis sei. Die<br />

„Dame“ schaute Holt mit kugelrunden, großen Augen an und grinste. Als Antwort bekam er<br />

etwas zu hören, was nach seinen bescheidenen Kenntnissen in Spanisch, er als eine mögliche<br />

Zusage deutete. Als er schon im Bett lag, fragte er sich, ob sie ihn nicht doch ernst genommen<br />

habe und nun irgendwann angerauscht käme. Holt war sich nicht sicher, wie er reagieren<br />

würde. Durch einen schnellen festen und tiefen Schlaf wurde er jedoch der Beantwortung<br />

dieser Frage enthoben.<br />

Die im Internet ausgesuchte Anschrift bezog sich auf ein kleines Back Packer Hostel mit<br />

deutscher Bewirtschaftung auf der Isla Bastimentos. Aber wie kommt man dahin fragte sich<br />

Holt, als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß. An der Rezeption sagte man ihm, dass<br />

es nicht weit sei, er müsse nur nach Changuinola, durch die Bananenplantagen, dann zur<br />

Anlegestelle bei Finca Nummer fünfundzwanzig. Dort müsse er sich für vier Dollar eine<br />

Fahrkarte für ein Wassertaxi kaufen und sich direkt nach Colón, zur Hauptinsel des Archipels,<br />

bringen lassen. Weiter könne er mit einem anderen Wassertaxi danach direkt nach<br />

Bastimentos kommen. Unter der Telefonnummer des Hostels meldete sich eine Frau namens<br />

Katja, die Holt zusicherte, dass sie für ihn eine Unterkunft habe, er solle … dann war die<br />

Verbindung wegen zu wenig eingeworfenen Geldes unterbrochen.<br />

Ein Pick-up brachte Holt bis zur Anlegestelle der Wassertaxis. Als das Auto inmitten<br />

der riesengroßen Bananenplantagen war, tauchte über den Wipfeln der Bananenstauden ein<br />

272


Sprühflugzeug auf, das direkt über ihren Köpfen eine volle Ladung Herbizide ausklinkte. Der<br />

Fahrer trat das Gas bis zur Bodenplatte durch, der Pick-up machte einen Satz und raste durch<br />

den morastigen, mit Schlaglöchern versehenen Weg. Dann drohte er mit der Faust zum<br />

Himmel und fluchte fürchterlich. Holt hatte noch den Giftgeschmack im Mund, als sie am<br />

Bootssteg eintrafen. Zwei kleine braune Indios ergriffen, ohne zu fragen, sein Gepäck und<br />

schleppten es auf den Steg, sodass er sich aus Mitleid gemüßigt sah, jedem ein paar Münzen<br />

in die Hand zu drücken.<br />

Die Fahrt durch die Mangrovensümpfe, den reichlichen Wasserarmen des Rio del Toro bis<br />

hin zum großen Binnensee des Archipels, war bemerkenswert. Zum ersten Mal in seinem<br />

Leben sah Holt an den Ufern kleine Indiokinder zwischen rosigen Hausschweinen spielen.<br />

Kleine kläffende Hundemischlinge sprangen am Ufer wild hin und her und drohten die<br />

Insassen des Bootes zu zerfleischen. Jedenfalls sah es so aus. Die Bewohner lebten auf<br />

Pfahlhäusern, die alle sehr wackelig aussahen und eine offene Feuerstelle am Rande der<br />

Hausplattform hatten. Aus diesen Feuerstellen drang Qualm, darüber hingen oftmals größere<br />

Kessel. Unter den Vordächern aus Palmwedeln hing eine Menge Wäsche, an den<br />

Umrandungen standen Speere. Holt wäre nicht erstaunt gewesen, auch Schrumpfköpfe auf<br />

dessen Spitzen vorzufinden, aber im Gegensatz zu den Bewohnern von Neu Guinea sollten<br />

die hiesigen Einwohner friedfertig sein. So meinte es jedenfalls der weiße Bootsführer, als<br />

Holt ihn nach dem Gefährdungsgrad durch die Indios fragte.<br />

Die Fahrt dauerte beinahe zwei Stunden. In den letzten dreißig Minuten hatte sich der<br />

Flussarm immer mehr erweitert, bis er sich mit einem Mal zum Binnenmeer des Toro-<br />

Archipels öffnete. Dieses Meer sah schon wie der Ozean aus. In der Ferne erkannte man<br />

Land, welches nun beim voll aufgedrehten Außenbordmotor schnell näher kam. Nordwestlich<br />

der Insel sah Holt am Horizont eine weißgraue, unbeständige Linie. Auf seine Frage an den<br />

Fahrer, was das sei, erwiderte er, dies sei die Brandung. Dort mündete das Binnenmeer in die<br />

Karibik. Es sei eine für die Küstenschifffahrt gefährliche Stelle.<br />

Bocas del Toro ist in der Umgangssprache auch der Name der Hauptinsel, die eigentlich Isla<br />

Colón heißt. Die darauf befindliche Ortschaft nur kurz Bocas genannt. Die höchsten Gebäude<br />

hatten, bis auf wenige Ausnahmen, nur zwei Etagen. Entlang der Hauptstraße verläuft<br />

parallel, hundert Meter weiter, die Start- und Landebahn des Flughafens, der großspurig<br />

International Airport Bocas del Toro heißt. Entlang dieser Hauptstraße liegen zur Seeseite die<br />

kleinen Anlegestellen der Bootsverleihe, der Wassertaxen und der einheimischen Fischer.<br />

Nachdem Holt sein Gepäck an der Anlegestelle nach Bastimentos sicher deponiert<br />

hatte, besaß er noch etwas Zeit, erste Eindrücke zu sammeln. Die Gegend war sympathisch,<br />

die Menschen freundlich und hilfsbereit. Viele Einwohner sahen ein wenig abgerissen aus,<br />

aber sie machten dennoch einen guten Eindruck. Ein Fischer werkelte an seinem Boot und<br />

machte Holt auf ein Einbaumboot aufmerksam, welches sich schnell dem Anlegesteg näherte.<br />

„Das ist deine Fähre“, sagte er todernst, als er Holts entsetzten Blick sah. „Du brauchst<br />

keine Angst haben, es trägt sechs Leute mit Gepäck.“<br />

Davon war Holt nicht ganz überzeugt, als er sich das Einbaumboot anschaute. Es<br />

bestand tatsächlich nur aus einem Teil, aus dem dicken Stamm irgendeines Urwaldbaumes,<br />

der ungefähr einen Durchmesser von einem Meter und eine herausgehauene Tiefe von zirka<br />

fünfundachtzig Zentimetern hatte. Oben war das Boot abgeflacht. Der Bug war spitz verengt<br />

und das Heck rechtwinklig, sodass es den Außenbordmotor halten konnte. Die gesamte Länge<br />

betrug ungefähr fünf Meter. Um sich nicht zu blamieren oder seine Befürchtungen anmerken<br />

zu lassen, bestieg er ohne eine Miene zu verziehen das Boot. Bereits beim Betreten wankte es<br />

beträchtlich, sodass Holt beinahe das Gleichgewicht verlor. In Erinnerung kam ihm die<br />

schäumende Brandung, die er vom Wassertaxi in weiter Ferne gesehen hatte. „Oh Gott, wie<br />

soll das weitergehen?“, dachte er. Der Bootsführer klopfte ihm auf die Schulter und wies<br />

273


nach vorne auf einen eingeklappten Regenschirm. „Take him!“ Holt angelte sich den Schirm<br />

und spannte ihn auf, weil er meinte, der Bootsführer wolle, dass er den Schirm als<br />

Sonnenschutz nutze. „So eine Fürsorge, wirklich freundlich,“ dachte er, „er glaubt doch<br />

tatsächlich, ich könnte einen Sonnenstich bekommen, obwohl ich eine Baseballmütze trage“.<br />

Als der Mann sah, das Holt den Schirm zum Schutz gegen die Sonne aufgespannt hatte, lachte<br />

er herzhaft. „This is against the water, not against the sun Gringo.” Aha, gegen das Wasser,<br />

aber gegen welches? Holt war gespannt. Als sich das Einbaumboot in Richtung Meerenge<br />

bewegte, wurde ihm bewusst, was sein Steuermann meinte. Die See wurde grob und rau,<br />

immer mehr Brecher kamen über das relativ flache Boot. Die Fürsorge mittels Regenschirm<br />

war also gerechtfertigt. Ohne Schutzschirm wäre Holt innerhalb von wenigen Minuten total<br />

durchnässt, ebenfalls sein Gepäck, welches er hinter den Schirm gezogen hatte. Den Seemann<br />

schien es nicht zu kümmern, was das Wasser seinem Boot antat. Mit einem Mal beruhigte<br />

sich die See schlagartig. Isla Bastimentos lag gerade aus vor dem Bug und kam schnell näher.<br />

Fasst alle am Wasser liegenden Bauten, hatten Stege. Die Form der Bebauung reichte von<br />

einfachen Hütten bis zu vornehmeren Häusern. Auf einem Steg, dass am Ende zur<br />

Wasserseite ein kleines Rancho hatte, stand eine Frau, die dem Boot zuwinkte. Der<br />

Bootsführer kannte die Frau, es war Katja und er hatte neben Holt auch noch Lebensmittel<br />

sowie die Post für sie mitgebracht.<br />

Katja reichte Holt zum Aussteigen die Hand.<br />

„Du bist der Hans aus Berlin, stimmst? Ich habe mir nach dem Abbruch des Gesprächs<br />

heute Morgen schon gedacht, dass du so ungefähr um diese Zeit auftauchen müsstest.“<br />

Nachdem Holt die Frage bestätigte, schaute er sich um. Das gesamte Gebäude stand<br />

auf Pfählen. Es sah alles nach Robinson aus, selbst gebaut, solide und sauber. Leichter Wind<br />

bei ungefähr fünfunddreißig Grad Celsius. So wie die Bebauung, war auch Katja, robust und<br />

solide. Holt fragte sich, welches Schicksal sie hierher geführt haben mochte. Er nahm sich<br />

vor, später einmal danach zu fragen.<br />

Die eigentlichen Eigentümer des Hostel, ein deutsches Ehepaar, waren auf Reisen, sie<br />

hatten ihre Verwandten mit der Betreuung des Hostels beauftragt. Diese waren auch<br />

Deutsche, aus Potsdam. Oliver war der Cousin des Eigentümers, er war mit seiner Frau nun<br />

schon über sechs Monate in Panama. Holt vermeinte aus den Gesprächen heraus zu hören,<br />

dass beide zwischen Abreise und Bleiben hin und her gerissen waren. Oliver erzählte von der<br />

Schwerfälligkeit der Behörden, was Holt wegen seiner Erlebnisse in Costa Rica<br />

nachvollziehen konnte. Er kümmerte sich um die Verpflegung der Gäste, das bedeutete<br />

Einkaufsfahrten zur Hauptinsel Bocas und die Bestellungen beim örtlichen Fischer, der jeden<br />

Abend am Bootsteg anhielt und seine Fische anbot. Jeden Nachmittag fragte Oliver seine<br />

Gäste, was sie am Abend essen möchten. Sie boten wahlweise Fisch oder auch Fleisch an.<br />

Selbstverständlich wählten die meisten Gäste den frischen Fisch. Katja war eine gute Köchin.<br />

Solange Holt im Hostel war, schmeckte das Abendessen immer exzellent. Jeder Gast konnte<br />

sich direkt in den Fischkauf einmischen und die Art des Fisches mitbestimmen.<br />

Eine Kuriosität fiel Holt auf. Oliver hatte für die Beköstigung seiner Gäste immer<br />

einen größeren Vorrat an Bier. Es handelte sich um zwei Sorten, Panama und Atlas. Beide<br />

Sorten wurden von der Hauptinsel in Kästen gebracht. Im Bierkasten befanden sich eigentlich<br />

zwei Sorten der gleichen Art, einmal mit 2,5 Prozent oder mit 3,5 Prozent Alkohol. Der<br />

Einkaufspreis war der gleiche. Einen geschmacklichen Unterschied konnte Holt jedoch nicht<br />

feststellen.<br />

Kurz nach Einbrechen der Dunkelheit brüllte am Bootssteg ein Außenbordmotor im<br />

Leerlauf auf. Es war der Fischer. Oliver ging zum Ende des Steges und schaute in das Boot.<br />

Dort lagen in einer großen Kiste mehrere Fischsorten. Er deutete mit seinem Zeigefinger auf<br />

jeden einzelnen Fisch, den er kaufen wollte und verhandelte mit dem Fischer über den Preis.<br />

Als beide sich darüber einig waren, packte der Fischer die angezeigten Fische in einen<br />

Blecheimer und stellte diesen auf den Steg, Oliver reichte das Geld hinüber. Holt schaute sie<br />

274


sich an. Es waren stattliche Exemplare, die er zuvor noch nie gesehen hatte, lediglich eine<br />

Fischsorte kam ihm bekannt vor. Noch am Bootsteg schlachtete Oliver die Fische aus und<br />

schmiss die Innereien ins Meer. Holt konnte sehen, wie das Wasser mit einem Mal anfing, zu<br />

schäumen. Mehrere größere Fische stürzten sich auf die Innereien und kämpften verbissen<br />

darum.<br />

"Was meinst du, was im Wasser so gefährlich ist?", Oliver schaute Holt fragend an.<br />

"Ich weiß nicht. Was sind das für Viecher? Ich kann nichts erkennen,“ antwortete<br />

Holt.<br />

"Du wirst es nicht glauben, ich habe hier drei kleine Haie." Holt schaute Oliver<br />

ungläubig an.<br />

„Haie?"<br />

Oliver nickte, "Ja, richtige kleine Haie. Morgen, wenn es hell ist, kannst du sie sehen.<br />

Ich füttere sie immer. Sie sind friedfertig, sie haben bisher noch niemandem etwas getan."<br />

"Du machst wohl Spaß, Haie, die niemandem etwas tun, so etwas gibt es gar nicht."<br />

„Doch, hier ja, es sind noch Babyhaie, die auch nicht viel größer und gefräßiger<br />

werden.“<br />

Holt fiel es schwer, diese Äußerung als bare Münze zu nehmen.<br />

Am nächsten Morgen, als es hell wurde, ging Holt auf den Bootsteg und schaute ins Wasser.<br />

Er konnte bis auf den Grund sehen. Da, mit einem Mal sah er eine Bewegung am<br />

Meeresgrund und schaute näher hin. Tatsächlich, zwischen den Steinen und allerlei Gerümpel<br />

am Grund konnte Holt drei kleine Haie, an ihrer typischen Körperform, erkennen. Die Haie<br />

hatten eine Länge von ungefähr dreißig bis siebzig Zentimetern. Aus einem alten Blechfass<br />

sah Holt den Kopf eines gefährlich aussehenden Tieres, einer Moräne. Oliver hatte gesagt,<br />

dass er hier öfters baden ging. Holt dachte sich, "Hier Baden! Man müsste mich schon mit<br />

Gewalt hineintreiben oder ins Wasser schmeißen."<br />

Zurzeit waren im Hostel alle fünf Räume ausgebucht. Holt hatte Glück, denn am Morgen<br />

seiner Ankunft war das bestgelegene und geräumigste Zimmer frei geworden. Er hatte das<br />

Eckzimmer am Aufenthaltsdeck sofort genommen, auch wenn es fünf Dollar teurer war als<br />

die übrigen Räume. Vom Bett aus konnte er am Tage durch die Ritzen der Bohlen ins Wasser<br />

sehen und Fische beobachten und das Rauschen der Wellen hören. Wer in diesem Hotel etwas<br />

Kleineres fallen ließ, musste es oftmals abschreiben, denn es rutschte sofort durch die Ritzen<br />

hindurch. Holt konnte im letzten Augenblick seinen Talisman retten, der auf dem Weg ins<br />

Nirwana war, indem er im allerletzten Moment beherzt mit dem Fuß drauf trat.<br />

Abends fanden sich meistens alle Gäste wieder ein. Neugierig musterten sie Holt, der als<br />

Neuling interessant war. Anwesend waren drei Paare, die aus verschiedenen Ländern kamen.<br />

Mutter und Tochter kamen aus der Schweiz und machten Schnorchelurlaub. Ein junges<br />

Pärchen kam aus New York und Palermo, welche zurzeit gemeinsam in Costa Rica lebten. Er<br />

war Musiker in Puerto Viejo, an der Karibikküste, und musste wegen der Dreimonatsfrist<br />

ausreisen. Sie war sein derzeitiger Groupie. Zwei Umwelt- und Friedensaktivistinnen kamen<br />

aus Deutschland, ihre Greenpeace-T-Shirts trugen sie sogar im Bett, wie Holt durch Zufall<br />

feststellen konnte. Beide Frauen wollten den Urwald in Panama vor der imperialistischen<br />

Zerstörung retten und den einheimischen Indios die Freiheit bringen und vor der<br />

kapitalistischen Ausbeutung schützen. Holt war der einzige Alleinreisende und der hatte<br />

zudem auch noch das größte Zimmer. Er hatte den Eindruck, dass zumindest die deutschen<br />

Aktivistinnen ein wenig neidisch waren. Beim Abendessen erzählten die Gäste, wer sie<br />

waren, was sie machten und wohin sie noch reisen wollten. Holt hielt sich anfänglich ein<br />

wenig zurück, er konnte keinesfalls seine wahren Absichten erzählen. Sein reserviertes<br />

Verhalten stachelte die Neugier der zwei Frauen um so mehr an. Diesen Effekt hatte er nicht<br />

275


gewollt. Um bohrende Fragen auszuweichen und auch, um nicht als Spinner angesehen zu<br />

werden, legte er sich eine glaubwürdige Geschichte zurecht, die seiner Meinung nach der<br />

Wahrheit am nächsten kam. Als ein Greenpeacefreak wieder einmal bohrte, gab er zu<br />

verstehen, dass er so etwas wie ein Privatdetektiv sei und im Auftrage von Versicherungen<br />

und privaten Auftraggebern nach „schwarzen Schafen“ in dieser Hemisphäre suche.<br />

„Oh, nimmst du sie gefangen, mit einer Waffe? Fesselst und betäubst du sie auch?“<br />

Holt musste lachen. „Nein, nein, ich stelle nur fest, wo sie wohnen, was sie machen,<br />

wie sie sich alltäglich verhalten, wer und wie ihr Umgang ist. Dann informiere ich meine<br />

Auftraggeber und diese veranlassen dann den Zugriff durch die örtlichen Polizeibehörden<br />

oder eine Spezialeinheit des BKA setzt sich in Bewegung. Diese arbeitet aber dann eng mit<br />

der jeweiligen Polizei zusammen. Ich habe mit der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu tun.“<br />

„Dafür bekommst du sicherlich viel Geld?“<br />

„Viel ist relativ, wenn man zwei Jahre hinter einem Spitzbuben her ist, muss man viel<br />

Geld verpulvern. Das bekommt man dann wieder, plus die Ermittlungsprämie.“<br />

„Eine Kopfprämie?“<br />

„Ja, so kann man das nennen!“<br />

„Igitt, das ist doch unmoralisch!“<br />

„Unmoralisch ist es, Leute zu bestehlen oder umzubringen, ich verhelfe nur der<br />

Gerechtigkeit zum Sieg, mehr nicht, das ist ein Job wie jeder andere. Ihr haltet doch die<br />

Arbeit eines Polizisten auch nicht für unmoralisch?“<br />

„Die Bullen sind alle Schweine, die helfen nur den Unterdrückern …“<br />

„… und auch euch, damit ihr Zuhause in Sicherheit leben und eure Mammutbäume<br />

beschützen könnt … oder nicht?“, fragte Holt, der wegen dieser verbohrten Frauen ärgerlich<br />

geworden war.<br />

Es war für ihn zu müßig, sich mit solch verblendeten Personen streiten zu müssen, also<br />

versuchte er mit Erfolg das Thema zu wechseln, als er auf die Indios und ihre Lebensweise zu<br />

sprechen kam. Dieses Thema war für die Aktivistinnen unerschöpflich. Die anderen Gäste<br />

und die Wirtsleute hatten dem Disput mehr oder weniger interessiert zugehört. Holt vermeinte<br />

jedoch zu verspüren, dass ihm die Sympathie gehörte. Die beiden Frauen hatten einfach eine<br />

zu aggressive und einseitig festgelegte Meinung.<br />

Am nächsten Morgen fuhr Holt mit Oliver nach Bocas. Holt hatte die Absicht, nach<br />

den anderen Opfern des „langen Mike“ zu suchen, die irgendwo auf Bocas Mitte der 90er<br />

Jahre gelebt hatten. Es waren zwei Italiener, Vater und Sohn. Oliver war noch in der Küche<br />

beschäftigt, Holt saß im Schatten der Veranda und beobachtete den Musiker aus Costa Rica,<br />

der an einem Keyboard arbeitete und offensichtlich dabei komponierte. Der Groupie lag am<br />

Ende des Steges in der prallen Sonne. Sie machte einen guten Eindruck, wirklich sehenswert,<br />

schlank, gut proportioniert mit brauner Haut und tiefblauschwarzem Haar. Sie sah eigentlich<br />

gar nicht wie eine „Gringa“ aus, Holt hätte sie eher für eine nordamerikanische Indianerin<br />

gehalten. Sie versicherte aber, ihre Vorfahren stammten aus Irland und Neapel. Es musste<br />

mehr der neapolitanische Anteil zum Durchbruch gekommen sein. Der italienische Musiker<br />

war sicherlich deswegen nicht traurig. Sie räkelte sich, richtete sich auf und schaute<br />

überlegend aufs Wasser, dann setzte sie sich an den Rand des Steges und ließ ihre Beine ins<br />

Wasser gleiten. Mit den Armen stützte sie sich nach hinten ab und rutschte langsam mit dem<br />

ganzen Körper hinein. Holt dachte an die Haie und an die Moräne. Er stand auf und ging auf<br />

den Steg. Der Groupie planschte im trüben Wasser und schaute Holt erwartungsvoll an. Sie<br />

war sich ihres Aussehens bewusst und versuchte dies auch zur Geltung zu bringen.<br />

„Hast du schon die drei Haie gesehen oder die kleine Moräne?“, fragte Holt scheinbar<br />

interessiert. „Oliver füttert sie erst am Abend, die müssten jetzt sehr hungrig sein.“<br />

Der Groupie riss die Augen auf, kreischte los, ihr Freund spielte vor Scheck einen<br />

falschen Akkord auf dem Keyboard. So schnell hatte Holt noch nie ein Mädchen an Land<br />

kommen sehen. Kreidebleich schaute sie zurück ins Wasser, sodass Holt der Scherz<br />

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schlagartig leidtat. Er trat auf sie zu und beruhigte sie, dass es bei so kleinen Viechern nicht<br />

gefährlich sei, sie könne Oliver fragen. Langsam kam wieder Farbe in ihr Gesicht. Oliver, der<br />

durch den Aufschrei aufmerksam wurde und Holts Erklärung noch hörte, bestätigte grinsend<br />

die „Friedfertigkeit“ seiner Fische.<br />

*<br />

Sie waren so verblieben, sich in zwei Stunden in einer bestimmten Bar wieder zu treffen.<br />

Oliver ging einkaufen und Holt machte sich auf die Suche nach den „Italienern“. In Costa<br />

Rica hatte Schulz mit seinen Schandtaten geprahlt, sich aber so hingestellt, als sei er stets der<br />

Benachteiligte gewesen. In Anbetracht seiner eigenen Erlebnisse mit Schulz war ihm jedoch<br />

klar, die Sachlage von einer anderen Perspektive zu sehen. Nach dem Motto „die Feinde<br />

deiner Feinde sind deine Freunde“, war er zur Überzeugung gelangt, dass „die Italiener“<br />

vielleicht Freunde, zumindest Verbündete werden könnten. In seinen Erzählungen hatte<br />

Schulz von einem illegalen Bauplatz an einer Slippanlage, neben der Feuerwache,<br />

gesprochen. Es kam also darauf an, die Feuerwache zu finden, was tatsächlich nicht so schwer<br />

war. Der „Jefe“ der Wache war hilfsbereit, er konnte sich an die Jahre zurückliegende Sache<br />

erinnern, er wusste auch, dass da ein langer „Alemaño“ und ein „Italiaño“ beteiligt waren. Der<br />

Italiener würde noch auf Bocas sein und ein Hotel besitzen, es wäre das Hotel an der<br />

Kreuzung oder das schräg gegenüber der Polizei. Holt machte sich auf und überprüfte das<br />

Hotel an der Kreuzung. Hier gab es keine italienischen Wirtsleute, aber man sagte ihn, das<br />

Hotel Luna, schräg gegenüber der Polizei, würde von Italienern geleitet.<br />

Das Hotel machte einen sehr guten Eindruck. Eigentlich bestand es aus zwei<br />

nebeneinanderliegenden Häusern, die mit einem Eingangsvorbau verbunden waren. Der<br />

Familienname Perro sagte Holt nichts, jedoch die italienischen Rufnamen Claudio und<br />

Giuseppe waren die, welche Mike immer im Zusammenhang mit der Insel Bocas genannt<br />

hatte. Nun hieß es, vorsichtig an die Sache heranzugehen. Die Rezeptzionistin teilte Holt mit,<br />

Giuseppe Perro würde in wenigen Minuten wieder da sein. Sie fragte nach seinem Anliegen,<br />

wobei Holt jedoch auswich. Giuseppe war ein zirka sechzig Jahre alter, südländisch<br />

wirkender Mann mit einer großen Brille und einer Halbglatze. Misstrauisch betrachtete er<br />

Holt, der in der Lobby wartete.<br />

Holt stand auf und gab Giuseppe die Hand. „Mein Name ist Hans Holt, ich bin<br />

Deutscher und ermittele privat in einigen Strafsachen, die sich in Deutschland, Costa Rica und<br />

Panama ereignet haben und in denen ein bestimmter Deutscher verwickelt ist.“<br />

Perro zuckte sichtlich zusammen. Die Aneinanderfolge der Länder schien bei ihm<br />

einige Assoziationen geweckt zu haben. Unsicher schaute er Holt mit leicht zugekniffenen<br />

Augen an. Dieser war sich im Klaren, dass jetzt die nächste Frage über den Ausgang des<br />

Gesprächs entscheiden musste. Sorgfältig überlegte er sich die Zusatzfrage, die er als eine<br />

mehr oder weniger abwiegelnde Zusatzerklärung abgab.<br />

„Ich glaube, wir haben einen gemeinsamen Freund“, wobei der das Wort Freund<br />

besonders betonte. Er beobachtete Perros Reaktion.<br />

„Welchen Freund?“, antwortete dieser. „Ich habe Freunde, wie ich auch Feinde habe,<br />

welche sich als Freunde ausgeben.“<br />

„Unser gemeinsamer Freund heißt Michael Andreas Martin Schulz, alias Mike Martin,<br />

alias Martin Andreas.“<br />

Nach einigen Sekunden antwortete Perro. „Ich kenne diesen Mann, er ist alles andere<br />

als mein Freund. Wenn er ihr Freund ist, dann haben wir uns wohl nichts mehr zu sagen“,<br />

sagte Perro mit zunehmender Schärfe im Tonfall.<br />

„Richtig, er ist nicht ihr Freund, aber er ist bestimmt auch nicht mein Freund, ich bin<br />

persönlich hinter ihm her,“ antwortete Holt. „Ob Sie es mir glauben oder nicht, er hat mich in<br />

Costa Rica betrogen, wie er Sie vorher hier in Panama betrogen hat.“<br />

277


„Woher wissen Sie, dass er mich betrogen hat?“ Perro lockerte seine verkrampfte<br />

Haltung, er schien nun davon überzeugt zu sein, dass von Holt keine Gefahr ausging.<br />

„Er hat es mir selbst gesagt. Er war ganz stolz darauf, wie er immer sagte, den alten<br />

italienischen Sack über den Löffel barbiert zu haben. Dass ich ein Jahr später selbst dran<br />

glauben sollte, hatte ich damals mit meiner Blauäugigkeit nicht erwartet.“<br />

„Haben Sie Beweise, womit Sie ihre Behauptung belegen können?“<br />

„Ja, diese reichen für einige Jahre Knast in Deutschland.“<br />

Holt erzählte einige Details, die er von Schulz über Claudio und Giuseppe gehört<br />

hatte. Nur, diese schienen einen Haken zu haben. Zuerst hörte Perro mit zunehmendem<br />

Interesse zu, nach und nach zeigte sich in seinem Gesicht Ärger, bis hin zu offenkundigem<br />

Hass.<br />

„So ein Schwein, diese Drecksau hat die Geschichte auf den Kopf gestellt. Nicht ich<br />

habe ihn beschissen, sondern er ist der Betrüger. Ein moralisch total verkommener Mensch!“<br />

Seine Empörung war nicht gespielt, das konnte Holt erkennen.<br />

„Das muss ich Claudio erzählen, er ist hier auf Bocas. Ich werde ihn anrufen, in<br />

zwanzig Minuten kann er hier sein. Die Geschichte wird ihn interessieren.“<br />

„War Claudio in Deutschland nicht Schulzens Mittäter in einer schrägen Sache?“<br />

Perro wand sich ein wenig, überlegte und nickte kurz. „Ja, sie haben da ein paar<br />

Dinger zusammen gedreht. Nur, mit dem Unterschied, Michael hat sich abgesetzt und Claudio<br />

im Stich gelassen, oder er hat ihn sogar verzinkt, damit er Zeit zur Flucht gewinnen konnte.<br />

Bei dem war alles möglich.“<br />

Nach zwanzig Minuten erschien Claudio. Er hatte nur vom Vater gehört, dass ein<br />

Deutscher in Sachen Schulz im Hotel sei. Diese Andeutung musste ihn beflügelt haben.<br />

Claudio hatte ganz kurz geschnittene Haare, war groß, wirkte älter, als Holt sich ausgerechnet<br />

hatte. Der Vater fasste das bisher verlaufene Gespräch kurz zusammen. Claudio hörte zu,<br />

ohne eine Miene zu verziehen, dann schaute er Holt an. „Was können wir ihrer Meinung nach<br />

für Sie tun?“<br />

„Sie brauchen nichts für mich tun. Wenn Sie mir helfen, ist es auch für Sie wichtig!<br />

Ich brauche nur noch ein paar Details, damit ich noch mehr in der Hand habe. Weiter brauche<br />

ich Auskunft, wie ich an der Passkontrolle vorbei nach Costa Rica komme.“<br />

Die Perros schauten sich an. Holt dachte, „Was kommt nun?“<br />

„Wieso, haben Sie keinen gültigen Pass?“<br />

„Doch, wohl schon, aber wenn ich offiziell nach Costa Rica einreise, ist Schulz<br />

gewarnt. Er hat bei der Immigration einen Freund. Das ist der Bruder unseres gemeinsamen<br />

Anwaltes, der mich auch verkauft hat. Nachdem ich damals Costa Rica verließ, hat er, damit<br />

ich nicht auf die Idee komme, wieder einzureisen, ein „Impleado de Salida“ beantragt und<br />

gegen mich verfügen lassen. Ich kann zwar einreisen aber nicht bis zur Erledigung der<br />

Rechtssachen, die bis zu sieben Jahre dauern können, ausreisen.“<br />

„Das ist typisch Schulz, er selbst hat Dreck am Stecken und sich seine Residencia bei<br />

der Immigration gekauft, denunziert aber unschuldige Leute.“<br />

Nach über zwei Stunden Erörterung waren die Perros mit Holt übereingekommen, ihm zu<br />

helfen. Sie wollten sich umhören, auf welchem Wege Holt ungefährdet nach Costa Rica<br />

kommen könnte. Claudio meinte, dass er schon einmal gehört habe, dass einige Fischer<br />

Amerikaner zum Hochseefischen zur Küste vor Costa Rica gefahren haben sollen. Es soll<br />

sogar zur illegalen Einreise gekommen sein, die von den costa-ricanischen Behörden ignoriert<br />

oder toleriert wurde, da die Einreise sich nur auf Kneipenbesuch oder Einkauf begrenzte und<br />

die illegal Einreisenden jeweils nach wenigen Stunden wieder ausreisten. Viele der schwarzen<br />

Einwohner an der Karibikküste haben Verwandte dies- und jenseits der Grenze, die es mit<br />

offiziellen Papieren nicht so ernst nehmen.<br />

278


Einen Tag danach machte sich Holt früh auf, um von Bastimentos nach Bocas hinüber zu<br />

fahren. Der Inhaber des Wassertaxis kannte Holt schon und verlangte „nur“ einen Dollar für<br />

die Überfahrt, während er die zwei Aktivistinnen mit je zwei Dollar zur Kasse bat. Darauf von<br />

diesen angesprochen, erklärte Holt, dass er als de facto Gesetzeshüter einen Sonderrabatt<br />

bekäme. Die „Damen“ waren beleidigt, weil sie sich als Umwelt- und Friedensaktivistinnen<br />

viel höher bewerteten und nicht verstehen konnten, wie ein Unterdrückter von der<br />

ideologischen Avantgarde mehr abverlangte. Holt konnte seine Genugtuung nur schwer<br />

verbergen.<br />

Am Wassertaxenpier von Bocas herrschte Trubel. Viele Touristen, Fischer und<br />

Einheimische füllten die Bootsstege und Bars am Kai. Holt, der legeren Kleidung den<br />

Einheimischen angepasst, setzte sich auf einen Poller und schaute einigen Fischern und<br />

Wassertaxifahrern beim Aufräumen ihrer Boote zu. Zwei Fischer blickten freundlich zu Holt<br />

rüber und sprachen ihn auf Spanisch an, was er inhaltlich als Höflichkeitsfloskeln verstand.<br />

Vom benachbarten Getränkeladen holte er drei Flaschen Bier und bot es beiden Fischern an.<br />

Sie zeigten keine Überraschung, waren solche Gesten von Gringos wohl gewohnt. Zuerst<br />

fragte Holt sie über das Geschäft aus, ohne neugierig zu erscheinen. Das Gespräch führte er in<br />

Englisch, mischte aber, so weit er es konnte, spanische Sprachbrocken unter, um sich als<br />

halber Insider darzustellen. Sein Plan ging auf, die Fischer erzählten auch von Routen vor der<br />

Küste Costa Ricas, die sie mit Gringos durchführten. Seine Frage, ob sie auch in Costa Rica<br />

an Land gingen, bejahten sie bereitwillig und seine Frage, ob dies nicht zu gefährlich sei,<br />

verneinten sie lachend und meinten, die „Ticos“ seien wie faule Hühner, die ganz selten ein Ei<br />

legen aber um so lauter gackerten, wenn sie einmal eines legten. Holt musste schmunzeln, es<br />

war auch seine Auffassung, bezüglich der Ticos. Sie selbst würden zurzeit nicht so weit<br />

fahren, da ihre Boote dazu nicht geeignet seien. Als Einzigster würde nur noch „Nelio“ nach<br />

drüben, vor die Küste Costa Ricas, fahren. Nelio wohnt auf Bastimentos. Diesen Mann zu<br />

finden, sei einfach, Holt solle nur nach dem „Drummer“ von den Bastimentos Beach Boys<br />

fragen, jeder würde ihn dort kennen.<br />

Es war in der Tat einfach. Am Nachmittag ging Holt auf der nur hundertfünfzig Zentimeter<br />

breiten und betonierten „Main Street“ entlang und fragte einige Halbwüchsige nach Nelio. Sie<br />

antworteten fragend, welchen Nelio er meine, im Dorf gäbe es ungefähr zwanzig Cornelius<br />

oder auch Nelios genannt. Als sie hörten, dass Holt den Trommler der Beach Boys meinte,<br />

wiesen sie auf ein bestimmtes Haus, aus dem tatsächlich aus einiger Entfernung laute<br />

Trommelwirbel erklangen. „Hier bin ich richtig“, dachte Holt.<br />

Ein kleines schwarzes Mädchen mit zwei roten Schleifen im Kraushaar wies mit dem<br />

Daumen über die Schulter ins Haus und rief laut, „Cornelito, presto mi amore, un Gringo este<br />

aqui!“ Holt kam es ulkig vor. Die Kleine konnte wohl nicht die Geliebte des Nelio sein.<br />

Aus einer schräg hängenden Tür schaute grinsend ein Schwarzer, der nur noch einen<br />

Zahn im Mund hatte. Es war Nelio, der Trommler. Er glaubte zuerst, dass Holt Musik-CDs<br />

von seiner Band kaufen wollte, war aber nicht enttäuscht, als er das Anliegen Holts erfuhr.<br />

Nelio verstand ausgezeichnet Englisch, sodass Holt nach und nach mit der Wahrheit rauskam.<br />

Nach jedem Gesprächsabschnitt, dem er sich näher der Wahrheit, bezüglich des<br />

Grenzüberganges, bewegte, wartete er die Reaktion Nelios ab. Dieser hatte schon lange die<br />

wahre Absicht Holts erkannt.<br />

„Keine Drogen und keine Waffen, sonst kannst du alles mitnehmen“, sagte er mit<br />

ernster Miene und Stimme. „Das kostet dreihundert Dollar je Fahrt!“<br />

„Nelio bist du verrückt, ich bin doch kein Millionär.“<br />

„Wenn du illegal über die Grenze musst, hast du doch wohl Geld dafür übrig?“<br />

„Klar Nelio, das ist es mir auch wert. Jedoch habe ich das richtige Geld erst bei der<br />

Rückkehr, wenn ich meine Geschäfte erledigt habe. Ich schlage dir vor, du bekommst<br />

279


hundertfünfzig Dollar bei der Hinfahrt und dreihundert Dollar, wenn du mich in drei, vier<br />

oder mehr Wochen abholst.“ Holt hielt Nelio die Hand hin. Dieser schlug ein.<br />

„Okay, übermorgen früh um fünf geht’s los. Ich hole dich vom Bootssteg bei Oliver<br />

ab, aber dann brauche ich fünfzig Dollar Anzahlung, den Rest bekomme ich in Costa Rica am<br />

Strand. Ich borge mir von meinem Onkel das Boot. Es hat zwei 150- PS Motoren und fährt<br />

schneller als die von der Coast Guard.“<br />

„Du kennst Oliver?“<br />

Nelio zeigte wieder seinen Zahn und lachte. „Ja, wir machen öfters Geschäfte, er ist<br />

mein Musikagent und verkauft an die Touristen meine CDs. Willst du nicht auch welche<br />

haben?“<br />

„Nelio, wer weiß, wann ich mal wieder einen CD-Player zu sehen bekomme. Sei nicht<br />

böse, dass ich mich nicht mit anderen Sachen abschleppen kann.“ Nelio war überhaupt nicht<br />

böse, er hatte auch so ein sehr gutes Geschäft gemacht.<br />

Am nächsten Tag fuhr Holt zum letzten Male nach Bocas. In einem Internetcafé<br />

benachrichtigte er Pauline, die auf Informationen wartete. Mittlerweile hatte auch sie per<br />

Internet Erkundigungen eingeholt, die sich jedoch bezüglich des Aufenthaltsortes von Schulz<br />

als unzureichend erwiesen. Holt teilte Pauline mit, sich in einigen Tagen aus Costa Rica<br />

wieder zu melden. Mehrere Tage fühlte sich Holt nun schon von der großen Welt<br />

abgeschnitten. Zeitungen in deutscher Sprache gab es nur am Flughafen in Panama City, hier<br />

waren nur lokale Zeitungen zu bekommen. An der Rezeption des Hotel Limbo, welches<br />

überwiegend von amerikanischen Touristen frequentiert wurde, gab es auch keine<br />

englischsprachigen Zeitschriften. Er hatte jedoch ein wenig Glück, an der Bar hatte ein<br />

Amerikaner die Miami Post liegen gelassen. Sie war vom gleichen Tag. Der Aufmacher<br />

bezog sich auf die spektakuläre Befreiung einer amerikanischen Soldatin, die am dritten Tag<br />

des Irakkrieges in Gefangenschaft geriet. Später sollte Holt die Wahrheit über diese<br />

„Befreiung“ aus anderen Quellen erfahren. Alles an dieser Aktion war gestellt und getürkt, es<br />

handelte sich um ein „fake“.<br />

Am letzten Abend in Panama kam Nelio bei Holt vorbei. In seinen Händen hielt er die<br />

letzten Aufnahmen der Bastimentos Beach Boys, die er an die anderen Gäste verscherbeln<br />

wollte. Holt hatte auf dem CD-Player von Oliver die Musik dieser Gruppe abgespielt. Er hätte<br />

Nelio vor der Abfahrt nie gesagt, was er von seiner Musik hielt, ohne in Gefahr zu geraten,<br />

von ihm links liegen gelassen oder ins Meer versenkt zu werden. Dann wäre die Überfahrt<br />

sicherlich geplatzt. Nelio versicherte nochmals, am nächsten Morgen am Steg zu sein, was<br />

Holt beruhigte.<br />

Abends, beim Essen, erzählte Oliver von einem Rottweiler, der zum Hotel gehörte.<br />

Holt hatte den Hund noch nie gesehen. Da er in Costa Rica zwei Rottweiler gehabt hat, wuchs<br />

seine Neugierde, das Tier einmal zu sehen. Es schien aber eine Fata Morgana zu bleiben.<br />

Mitten in der Nacht hörte Holt an der Hoteleingangstür Geräusche, die sich nach Schnauben<br />

und Kratzen anhörten. Als er die Tür ein wenig öffnete, drückte ein großer Hundekopf die Tür<br />

ganz auf. Es erschien ein großer, halb verwilderter Rottweiler, der Holt ignorierte und zu<br />

einem Futternapf lief, in dem Katja am Abend die Reste des Essens gefüllt hatte. Noch eine<br />

halbe Stunde später hörte Holt das Brechen von zerkauenden Knochen und das Schmatzen des<br />

Hundes, dann ein Aufklatschen im Wasser. Der Hund hatte sich wieder die Freiheit<br />

genommen, sich nach der Beköstigung davon zu machen.<br />

Es war noch tiefste Nacht, als Holt um fünf Uhr morgens am Steg wartete. Alles war noch<br />

still, die Sterne funkelten und er hörte das leise Plätschern des Wassers am Ufer. Erst dreißig<br />

Minuten später, als zugesagt, kam Nelio. Er fuhr ein Schnellboot aus Glasfieber, mit<br />

tatsächlich zwei beeindruckenden Außenbordmotoren. Zurzeit lief nur ein Motor. Nachdem<br />

das Gepäck eingeladen war, fuhr er in der Dunkelheit an einen anderen Bootssteg, der<br />

280


ungefähr fünfhundert Meter weiter entfernt lag. An der Spitze des Steges stand eine wackelige<br />

Bruchbude, vor der einige Fässer lagen. Ein Mann erwartete Nelio, der sofort mit dem<br />

Umpumpen von Kraftstoff in die Behälter des Bootes begann. Die fünfzig Dollar Vorschuss<br />

waren für das Betanken gedacht. Holt zahlte. Danach fuhr Nelio in Richtung Karibik. Holt<br />

ging der Gedanke durch den Kopf, Was ist, wenn er mir von hinten eins über die Birne gibt,<br />

mich beraubt und über Bord schmeißt? Kein Mensch wird je erfahren, wo du abgeblieben<br />

bist. Seine Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Ungefähr zehn Kilometer<br />

weiter, in Richtung Ausfahrt zur Karibik, steuerte Nelio eine Landzunge an. Auf dem Steg<br />

warteten vier Personen auf die Passage nach Irgendwo. Holt war anfangs der Meinung, dass<br />

Nelio diese Leute noch innerhalb des Binnenmeeres absetzen würde, denn sie zahlten pro<br />

Person dreißig Dollar. Um so mehr war er überrascht, die neuen Fahrgäste, alles einheimische<br />

Schwarze, fuhren mit ihm nach Costa Rica. Nelio hatte ein variables Preissystem für die<br />

Überfahrt, die Einheimischen bezahlten nur zehn Prozent einer Gringopassage.<br />

Ungefähr zwei Kilometer vor der Meerenge zur Karibik hörte Holt die Brandung.<br />

Langsam wurde es hell und er konnte die Gischt der Brandung verschwommen erkennen.<br />

Genau in der Mitte der Meerenge, in der tosenden Brandung, nur ungefähr hundert Meter vom<br />

Ufer entfernt, zog das Schnellboot, nun von zwei Motoren auf Höchstlast angetrieben, in die<br />

karibische See. Schlagartig wurden die Wellen höher. Holt befürchtete, seekrank zu werden,<br />

jedoch Nelio erwies sich als ein erfahrener Seemann. Er fuhr längs zu den Wellenkämmen, er<br />

ritt förmlich auf diesen. Wenn die See sich anhob, hob sich das Schnellboot langsam an, wie<br />

es sich auch langsam absenkte. Durch diese Fahrweise war auch die Benutzung von<br />

Regenschirmen überflüssig. Die anderen Passagiere schwiegen oder schliefen. Auf halber<br />

Strecke wies Nelio zur Landseite. Die Küste lag ungefähr drei Kilometer entfernt.<br />

„Dort, siehst du den Turm? Das ist der zurzeit unbesetzte Küstenbeobachtungsturm an<br />

der Grenze, er liegt am costa-ricanischen Ufer des Sixaola River. Der Fluss ist genau die<br />

Grenze. Da drüben ist das Land, dein Ziel.“<br />

Nun war es hell. Die Sonne schien und vom Land leuchtete ein sattes Grün. Nicht weit<br />

vom Kap Manzanilla tauchten mit einem Mal steuerbords voraus zwei Boote, in<br />

Gegenrichtung fahrend, auf. Holt zog sich der Magen zusammen, als er an die Coast Guard<br />

dachte, jedoch Nelio verringerte nicht die Geschwindigkeit. Es stellte sich heraus, dass es sich<br />

um Hochseeangler aus Puerto Viejo handelte, die Nelio bereits an den Bootstypen erkannte.<br />

Die beiden Boote waren mit Amerikanern besetzt, die in der Flussmündung des Sixaola River<br />

angeln wollten. Kurz vor Manzanilla stellte Nelio beide Motoren ab. Was ist nun los?, dachte<br />

Holt. Nelio ließ das Boot treiben, packte Essen aus und verspeiste sichtlich vergnügt sein<br />

Frühstück, anschließend pumpte er aus den Reservefässern Diesel in die Tanks der Motoren.<br />

Hinter dem Kap gab es eine kleine, flache Bucht ohne Brandung. Diese Bucht steuerte Nelio<br />

an und setzte das Boot auf den Strand. Holt entledigte sich seiner Schuhe, krempelte seine<br />

Hosenbeine hoch, sein Gepäck in den Händen stakste er an Land. Nach über drei Jahren betrat<br />

er wieder Costa Rica.<br />

*<br />

Unter den am Strand stehenden Palmen hatten sich, in dessen Schatten, einige Familien<br />

niedergelassen. Bis zur Haltestelle des Busses nach Limon waren es nur zweihundert Meter.<br />

Holt hatte sich vorsichtig umgeschaut, jedoch keine Polizei entdecken können. Am Schild der<br />

Haltestelle stellte er seine Koffer ab und suchte nach Kleingeld für die Fahrt. Mit Dollars fällt<br />

man hier auf, dachte er. An einem größeren Familienauto stand ein junger Tico, welcher<br />

betucht ausschaute. Auf die Frage hin, ob er in der Lage sei, Geld umzutauschen, wechselten<br />

hundert Dollar den Besitzer und Holt erhielt dafür eine Handvoll Colonies. Der Umtauschsatz<br />

erschien ihm moderat, dieser hatte sich innerhalb der letzten drei Jahre erheblich zugunsten<br />

des Dollars verändert. Er hielt dreißigtausend Colonies in der Hand.<br />

281


Der Bus kam pünktlich und Holt stellte intuitiv sein Gepäck in den Gepäckraum unterhalb der<br />

Passagiere. Dieser Service kostete nichts extra. Bis Puerto Limon betrug die Fahrt<br />

umgerechnet drei Dollar. Der Morgenbus um acht Uhr Abfahrtzeit hielt an Stellen, die auch<br />

für das geübte Auge nicht als Bushaltestellen zu erkennen waren. Ungefähr zwanzig<br />

Kilometer hinter Manzanillo verringerte der Bus seine Geschwindigkeit und hielt vor einer<br />

Baracke, an der das Polizeiwappen von Costa Rica prangte. „Zur Hölle, die Kontrollstelle<br />

nach der Grenze zu Panama, wie konnte ich die vergessen!“, fuhr es Holt durch den Kopf. An<br />

dieser Kontrollstelle hatte er drei Jahre vorher schon einmal Ärger, als er mit Jewgeni eine<br />

Rundreise zur Karibikküste machte. Damals hatten sich die Polizisten daran gestört, dass in<br />

Holts Auto zwei Ticos saßen, die keine Papiere bei sich hatten. Deswegen durfte er nicht<br />

weiterfahren, musste sogar zweitausend Colonies Strafe zahlen. Diese Erinnerungen gingen<br />

ihm durch den Kopf, während er die Polizisten beobachtete. Drei Polizisten, zwei mit<br />

Maschinenpistolen bewaffnet, bestiegen vorne und hinten den Bus. Der Sergeant kontrollierte<br />

die Papiere von Personen, die Gepäck bei sich hatten oder ihm durch Besonderheiten<br />

auffielen. Holt musste sich schnell entscheiden, entweder er zeigte seinen Pass, ohne<br />

Einreisestempel oder etwas anderes vor, was wie ein Ausweis oder Führerschein aussah. Mit<br />

gleichgültiger Miene hielt er dem Polizisten seinen deutschen Personalausweis unter die Nase.<br />

Dieser ergriff diesen, beäugte ihn verständnislos und musterte Holt.<br />

„Yo Alemaño, Tourista, Passaporte est en Hotel de San José,“ sprach er ruhig den<br />

Polizisten an.<br />

Der Polizist schien zu verstehen, es war oftmals bei Touristen üblich, die Pässe wegen<br />

der vielen Diebstähle in den Hotels zu lassen und nur eine Fotokopie oder andere, nicht so<br />

wichtige Dokumente vorzuzeigen.<br />

„Bueno, muchas Gracias,“ brummte dieser und gab ihm den Ausweis zurück.<br />

Holt viel ein Stein vom Herzen, die erste Hürde war geschafft. Nach knapp zwei Stunden hielt<br />

der Bus am Terminal Puerto Limon. Er fand keine Gepäckaufbewahrung, sodass er seine<br />

Koffer mitschleppen musste, was in der Hitze unangenehm war. Wo hatte er Rudolfo immer<br />

getroffen?, dachte er nach. In der chinesischen Bar der Fußgängerzone. Vom Busbahnhof bis<br />

zur Bar waren es nur zehn Minuten Fußweg. Weit und breit kein Taxi. Mit Gepäck in dieser<br />

Hitze erschien der Marsch von einer viertel Stunde wie zwei Stunden. Die Bedienung in der<br />

Bar kannte keinen Rudolfo. Als er diesem erklärte, der Gesuchte sei stets mit einem<br />

Satellitentelefon bewaffnet, um seinen Schiffversorgungsdienst aufrecht zu erhalten, kapierte<br />

er sofort. Rodolfo war hier nur mit seinem Spitznamen „Fito“ bekannt. Holt machte sich<br />

wieder auf den Weg. Fito wohnte nicht weit von der Fußgängerzone entfernt, mit einem<br />

Kollegen zusammen, mit dem er lange Jahre bei der Hapag zur See gefahren war. Beide<br />

sprachen fließend Deutsch.<br />

Fito war sichtlich erfreut, Holt wieder zu sehen. Er hatte ihn sofort erkannt und gleich zum<br />

Essen eingeladen. Da Holt zum letzten Mal auf Bastimentos etwas gegessen hatte, langte er<br />

dankend zu. Auf Fragen, ob er Kontakt zu anderen Deutschen im Central Valley habe, konnte<br />

Fito nicht mit Zufriedenheit Holts beantworten. Er kannte zwar einige Deutsche aus dem<br />

Deutschen Club in San Pedro. Rolf hatte den Club aufgegeben und führte nun in der Nähe ein<br />

deutsches Speiserestaurant, welches gut laufen sollte. Schulz kannte er nur dem Namen nach,<br />

hatte aber seit Jahren nichts mehr von ihm gehört.<br />

„Fito, wie sieht es aus mit einem Pacemaker, kannst du mir etwas besorgen oder<br />

kennst du jemanden, der so etwas verkauft?“<br />

Fito schluckte, leckte sich mit der Zunge die Lippen. „Mann, was hast du denn vor,<br />

dass du ne Wumme brauchst? Is ja krass.“<br />

282


Holt grinste. „Brauch ich nur zum Eigenschutz. Du hast ja sicherlich gehört, meine<br />

speziellen Freunde wollten mir damals das Licht auspusten. Besser, ich bin in der Lage mich<br />

richtig zu wehren, falls es wieder notwendig sein sollte.“<br />

Fito überlegte eine Weile, schaute seinen Hausgenossen an, dann rüber zu Holt. „Nein,<br />

hier sind jetzt andere Zeiten. Der Handel mit solchen Dingen lohnt sich nicht mehr, der ist fest<br />

in den Händen der Columbiaños und diese sind nur in San José anzutreffen. Hier verkaufen<br />

sie nur noch ihren Stoff. Aber ich wüsste jemanden, der dir diesbezüglich weiterhelfen<br />

könnte. Frag bei Rolf nach einem Volker, der ist auch Deutscher, der könnte eventuell<br />

helfen.“<br />

Holt hatte damit den ersten guten Tipp bekommen. Beim Namen Volker, im<br />

Zusammenhang mit Rolf, konnte es sich nur um Ross handeln. Er hatte den ersten Namen und<br />

die Möglichkeit, einen der Täter zu finden. Diese Auskunft wog genau so schwer, wie eine 9-<br />

Millimeter.<br />

Zwei Stunden später saß Holt im voll klimatisierten Mercedes-Linienbus nach San José. Erst,<br />

als der Bus den Tunnel im Osthang des Talkessels vor San José passierte, wurde er durch die<br />

plötzliche Dunkelheit, die er im Halbschlaf mitbekam, wach. Vom östlichen Gebirgskamm<br />

der Sierra Cordillera aus konnte er im Tal die Skyline von San José erkennen. Er war wieder<br />

auf vertrautem Terrain. Am Busbahnhof nahm er sich ein Taxi, die in Costa Rica alle in roter<br />

Farbe waren und an den Türen das bekannte Zeichen der Taxiinnung hatten.<br />

Als das Taxi vor Tom Tom, gegenüber dem Supermarkt Saretto hielt, wunderte Holt sich, das<br />

der Laden geschlossen war. Dann fiel ihm ein, „Heute ist ja Sonntag!“ Der Taxifahrer war<br />

froh, seinen Fahrgast weiter fahren zu können. Lutz war zu Hause und sehr erstaunt, Holt in<br />

Costa Rica zu sehen, wo er ihn doch auf Gran Canaria vermutete und noch in der letzten<br />

Woche telefonisch gesprochen hatte. Isolde war bei ihren Eltern in Frankfurt am Main. Lutz<br />

sagte sofort zu, dass Holt ein paar Tage bei ihm wohnen könne.<br />

In der alten Stammbar El Che testet Holt zur Mittagszeit, ob er erkannt wird. Wurde er nicht!<br />

Seine ins Gesicht gezogene Baseballmütze, welche die eingefärbten schwarzen Haare<br />

teilweise verbarg, die große Sonnenbrille und der schwarze mexikanische Schnurrbart sorgten<br />

dafür. An der Bar stand er direkt neben Lee, Lofti bediente und Joanne trat von der Straße<br />

kommend, hinzu. Nur ganz kurz musterten sie Holt, jedoch es erfolgte kein Erkennen.<br />

Escazú hatte sich nicht wesentlich verändert, stellt Holt fest, als er in Richtung Bello<br />

Horizonte ging. Schon von Weitem sah Holt jedoch die Veränderungen in der Nähe des<br />

Hauses. Direkt links, angrenzend an „seinem“ Haus, stand ein Neubau, ein hässlicher<br />

Betonklotz mit hohen Mauern und vielen Stacheldrahtrollen darauf. Am kleinen Hang der<br />

Westterrasse, auf der Holt gerne gesessen hatte, grenzte genau die Außenmauer des Neubaus.<br />

Sie ragte vom Niveau der Terrasse gesehen, ungefähr neun Meter hoch, es konnte keine<br />

Sonne mehr auf die Terrasse scheinen. Als Holt um das Grundstück herumging, erkannte er<br />

den verwahrlosten Zustand. Überall lag Unrat herum, Wäsche hing an wild gezogenen Leinen<br />

und auf dem ungepflegten Rasen lag Kinderspielzeug und ein Fahrrad. Ein kleiner<br />

Mischlingshund bellte Holt wütend an, als er am Tor durch die Ritze des Zaunes schaute.<br />

Hierher kann Schulz nicht zurückgezogen sein, er hasste kleine Hunde, kleine Kinder und erst<br />

recht Schmutz. Fehlanzeige, Pauline war der Meinung, Schulz könnte wieder im alten Haus<br />

leben. Sie hatte sich getäuscht. Schockiert und deprimiert ging Holt zurück, immer auf den<br />

Dächern der Häuser auf große Satellitenschüsseln achtend, ob so eine zu sehen sei. Dort, wo<br />

so eine große Schüssel stand, könnte Schulz sich eingenistet haben. Als er in Escazú eine<br />

Straße überquerte, kam ihm eine Frau laufend entgegen, die nicht nach links oder rechts<br />

schaute. „Maria!“, entfuhr es Holt unhörbar. Sie hatte Holt nicht erkannt. Oskars Frau war<br />

283


noch in Costa Rica. Wo aber war Oskar, saß er im Knast oder konnte er sich noch vorher<br />

absetzen?<br />

Die Situation vor über drei Jahren hatte Holt dazu gezwungen, mit zwielichtigen Amerikanern<br />

eine Allianz einzugehen. Ihm waren fasst alle Felle weggeschwommen und er versuchte zu<br />

retten, was noch zu retten war. Pauline kannte Oskar und Maria Schernow schon viele Jahre.<br />

Sie hatte den Beiden oftmals geholfen, wenn sie in Schwierigkeiten steckten, was leider sehr<br />

oft geschah. In dieser Zeit versuchte Oskar ein elektronisches Wettbüro, eine Pornowebseite<br />

und allerlei schräge Sachen im Internet unterzubringen. Er hatte Holt vorgegaukelt, helfen zu<br />

können und ihm auf einem Webserver, dessen Eigentumsverhältnisse ominös waren, freie<br />

Nutzungskapazitäten angeboten. Dieses Angebot erwies sich, als Holt bereits mehrere hundert<br />

Dollar „investiert“ hatte, als Luftnummer. Oskar war nicht willens und in der Lage zu helfen,<br />

er wollte nur an das restliche Vermögen, über das Pauline und Holt damals noch verfügten.<br />

Als schon alles den Bach herunterging, hörte Holt von Dritten, dass Oskar und Maria nicht<br />

verheiratet waren und Oskar durch das FBI wegen schweren Investitionsbetruges, Maria<br />

wegen Beihilfe zu dieser Straftat, in den USA gesucht wurden. Auch ihre Namen hatten sie<br />

geändert. Sie waren ein wahres Gaunerpärchen ohne Skrupel.<br />

Holt verfolgte Maria unauffällig, sie ging in ein Friseurgeschäft in einem kleinen<br />

Geschäftszentrum und verschwand darin. Nach zehn Minuten war Holt dieser Aktion<br />

überdrüssig, die Schernows standen ja nicht auf seiner Liste der Dringlichkeiten. Kurz bevor<br />

Holt das Zentrum verließ, watschelte Oskar an ihm vorbei, er war noch fetter geworden.<br />

Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, das Hemd unter den Achseln und am Rücken war<br />

Schweiß durchnässt. „Es ist kein schöner Anblick, wenn man bedenkt, wie eitel dieses<br />

Dreckschwein immer war“, ging es Holt durch den Kopf. Er hatte für Oskar kein Mitleid.<br />

Es erschien Holt nun notwendig, sich „guten Bekannten“ erkennen zu geben. Doch es stand<br />

die Frage im Raum, wem konnte er vertrauen? Lofti und Mark, Joanne und Lee, kannten die<br />

Geschichte, die sich vor drei Jahren ereignete. Sie waren damals entsetzt und hatten für Holt<br />

Partei ergriffen. Fred, ein Deutsch-Amerikaner, hatte selbst eine Auseinandersetzung mit<br />

Leuten aus dem Dunstkreis um Schulz gehabt und dafür gesorgt, dass ein schräger Vogel<br />

weniger Unheil in mangelnder Freiheit anrichten konnte. In der Mittagspause, in der sich die<br />

alten Bekannten meistens im El Che trafen, ging Holt auch ins El Che. Lofti bediente und<br />

Joanne stand bereits am Tresen und unterhielt sich mit einem anderen Gast. Dieser kam Holt<br />

auch bekannt vor. Er stellte sich direkt neben Joanne, als diese sich ihm zudrehte, um zu<br />

sehen, wer neben ihr stand, fixierte Holt sie provokativ. Sie wurde unsicher, dachte sich<br />

wahrscheinlich, „Was stiert der Blödmann mich so an?“ Kurz bevor sie sich abwenden<br />

wollte, nahm Holt die Sonnenbrille ab, zögerte ein wenig und dann setzte er auch seine<br />

Baseballmütze ab.<br />

Ein Erkennen ging durch Joannes Gesicht. „Hans, bist du es?“, fragte sie erstaunt und<br />

schaute sich um. „Wo ist Pauline?“ Als sie sah, das Holt alleine war, „Mann, das ist aber eine<br />

Überraschung. Ich dachte ihr seid in den Staaten oder in Europa. Sag, hast du immer noch<br />

nicht die Schnauze voll von Costa Rica? Warum hast du dich so verkleidet?“<br />

„Nein Joanne, ich habe nur meinen Stil verändert, meine Freunde brauchen mich nicht<br />

gleich zu erkennen, falls sie mir über den Weg laufen. Pauline ist noch in Europa.“<br />

Holt schaute Joanne an, musterte sie von oben bis unten. „Du siehst auch ganz gut aus,<br />

scheinst dich von der Krankheit erholt zu haben?“ Holt spielte auf die Krebserkrankung an,<br />

die Joanne im Jahre 1999 zu schaffen machte. Sie schien den Krebs besiegt zu haben.<br />

„Na ja,“ antwortete sie lächelnd, „es war eine harte Zeit, aber es ist gegessen. Wäre<br />

Lee nicht gewesen, weiß ich nicht, ob ich die Kraft gehabt hätte, alles durchzustehen, die<br />

Chemo, die ständigen Untersuchungen und die totale Umstellung meines Lebens.“<br />

284


Holt wollte nicht näher auf Krankengeschichten anderer Leute eingehen, er war mehr<br />

nach nützlichen Informationen aus.<br />

„Sag Joanne, hast du in der letzten Zeit einmal den langen Mike gesehen?“<br />

„Ja, aber das ist schon ein paar Monate her, da fuhr er mit einem roten Sportwagen hier in<br />

Escazú rum. Aber seitdem bin ich ihm nicht mehr begegnet.“<br />

Jetzt wusste Holt, das sich Schulz noch in der Umgebung aufhielt und sich nicht nach<br />

Kolumbien abgesetzt hatte. „Weißt du, wo er wohnt?“<br />

„Nein, er muss aber noch hier in Escazú wohnen, denn er hatte einmal draußen am<br />

Eingang einen Zettel angebracht. Er bot seine Dienste als Makler an. So weit ich mich<br />

erinnern kann, war die Telefonnummer hier aus der Gegend. Ich habe sie mir jedoch nicht<br />

gemerkt, weil ich mit Mike nichts zu tun haben will. Ich konnte mich ja noch gut daran<br />

erinnern, wie er euch betrogen hat.“<br />

Zwischenzeitlich war Lee auch eingetroffen. Sein kaukasischer Schnurrbart schien<br />

noch länger geworden zu sein. Holt, der seine Sonnenbrille und die Mütze nicht sofort wieder<br />

aufgesetzt hatte, wurde trotzt seines Bartes an der Stimme erkannt. Auch er konnte im<br />

weiteren Gespräch keine neuen Erkenntnisse bezüglich Schulz einbringen.<br />

Nach dem Treff im El Che ging Holt die Hauptstraße von Escazú entlang, in der Hoffnung,<br />

einen roten Sportwagen mit Schulz zu entdecken. Aber seine Erwartungen wurden nicht<br />

erfüllt. Schon kurz vor dem Valle del Sol, hielt vor ihm der Linienbus nach Santa Ana. Dies<br />

sah Holt als Omen, nach Santa Ana zu fahren und dort ins Tex-Mex zu gehen. Vielleicht<br />

kannte dort jemand Schulz. Das Tex-Mex hatte sich nicht verändert. Es fiel Holt nur auf, dass<br />

jetzt weniger Amerikaner an der Bar saßen, dafür aber mehr Ticos, mehr als 1999. Die beiden<br />

amerikanischen Eigentümer betrieben immer noch die Bar und das Restaurant selbst. Aber<br />

das gesamte übrige Personal schien inzwischen ausgetauscht worden zu sein. Anstelle von<br />

Ticas bedienten inzwischen mehrere Russinnen hinter der Bar und im Restaurant. Die<br />

Barchefin war auch Russin. Holt hörte, wie sie sich mit einer anderen Frau auf Russisch<br />

unterhielt. Er legte sich einen, vor über dreißig Jahren eingeprägten Satz zurecht und wartete<br />

angesprochen zu werden, was auch geschah.<br />

„Raskajietche poschalista, gne moschno kupitch nemetski Pivo?“, was ungefähr<br />

Entschuldigen Sie bitte, kann man hier deutsches Bier kaufen?, hieß.<br />

Da die Frage richtig und schnell ausgesprochen wurde, glaubte Olga zuerst, einen<br />

Russen vor sich zu haben. Zügig antwortete sie in Russisch, kein deutsches Bier vorrätig zu<br />

haben, worauf Holt weiter auf Englisch meinte, das es Tico- Bier täte es auch und er bestellte<br />

ein Imperial vom Fass. Olga hatte ein wenig Luft, sodass Holt sie ausfragte. Er ließ verlauten,<br />

dass er Deutscher sei, aber sich seit vielen Jahren in Mittelamerika und den USA aufhalte. Als<br />

Olga dies hörte, wechselte sie sofort die Sprache. Deutsch konnte sie besser als Englisch oder<br />

Spanisch. Sie erzählte Holt nun, dass sie viele Jahre vorher in Russland auf der Schule und<br />

später, an der Lomnossow- Universität in Moskau, Deutsch studiert habe. Sie war Lehrerin<br />

für Geschichte, Russisch und Deutsch, jetzt, hier in Costa Rica leitende Bardame mit einem<br />

Einkommen, welches zehnmal höher war, als das Einkommen einer Lehrerin im jetzigen<br />

Russland. Sie war sichtlich froh, sich wieder einmal auf Deutsch unterhalten zu können. Auf<br />

seine Frage, ob hier auch Deutsche verkehren, sagte sie Holt, dass hier im Tex-Mex<br />

manchmal Deutsche zu Besuch kommen, aber meistens wären es Touristen. Nur ein<br />

Deutscher würde hier ab und zu mit Kunden erscheinen, dieser hieße André oder Andi.<br />

„Heißt er vielleicht Andi Buhse?“<br />

„Moment,“ antwortet sie, schaut in das Reservierungsbuch und hielt es Holt unter die<br />

Nase, „hier … der Name muss B u h s e heißen.“<br />

Für dem kommenden Freitag war für sechs Uhr abends unter den Namen Buhse ein<br />

Tisch bestellt. Es konnte sich nur um Andi handeln, der Mann, der gut Bescheid wusste,<br />

welcher Deutscher wann und wo zu finden war. Holt nahm sich vor, am kommenden Freitag<br />

285


am Abend hier aufzutauchen, aber er hatte noch drei Tage Zeit. Später, als Holt glaubte,<br />

nichts mehr in Erfahrung bringen zu können, beschloss er, weiter nach San Antonio de Belén<br />

zu fahren um nach Pauline, einer Schweizer Dame, zu suchen. Diese hatte bis 2000 dort<br />

gewohnt. Der Linienbus nach Belén fuhr an der Villa Belén vorbei, wo im Jahre 1998 alles<br />

angefangen hatte. Auf der Höhe zur Grundstückseinfahrt stand der alte Gärtner Oscar, der<br />

gerade damit beschäftigt war, Unrat zusammenzufegen. Als Holt dies sah, kamen ihm wieder<br />

die Erinnerungen hoch, er dachte an Pauline, mit der er hier einmal gelebt hatte.<br />

Pauline war überrascht und erfreut. Sie lebte immer noch im gleichen Haus, war<br />

einmal im Monat an der Pazifikküste um ihre Tochter Yvonne und ihr Enkelkind zu besuchen.<br />

Ihr Leben hatte sich nicht verändert. Über Schulz wusste sie nichts, nur das, was Pauline ihr<br />

bereits vor über vier Jahre erzählt hatte.<br />

Für Holt war es nicht leicht, Schulz zu finden. Lutz hatte Holt die Mitnahme nach Escazú bis<br />

zu seinem Geschäft angeboten, was er jedoch dankend ablehnte. Heute wollte er sich<br />

nochmals in Santa Aña umschauen. In den Morgennachrichten der Deutschen Welle verfolgte<br />

er die Kriegsberichtserstattung aus dem Irak. Das System Saddam Husseins schien zu<br />

wanken. Holt gab diesem Krieg nur noch wenige Tage.<br />

Der Bus hielt direkt in der Nähe des Zentrums. Santa Aña war eine lang gestreckte<br />

Ortschaft mit zwei großen parallel zueinander liegenden, entgegen gerichteten Einbahnstraßen<br />

und zwischen diesen verliefen die kleineren Querverbindungsstraßen. Nur der Platz vor der<br />

katholischen Kirche unterbrach dieses Straßenmuster. Hier befanden sich eine Bank, mehrere<br />

Restaurants, Bars und ein Internetcafé. Eine Imbissbude bot billiges Frühstück für<br />

dreihundertfünfzig Colonies an, das entsprach nach derzeitigem Umtauschkurs einen Dollar<br />

und zwanzig Cent. Eine große Tasse Kaffee, ein Stück gebratenes Huhnfilet mit Spiegelei und<br />

zwei Scheiben Toast. Im Internetcafé hinterließ er eine E-Mail-Nachricht für Pauline über den<br />

Stand der Dinge.<br />

Als er an der Bushaltestelle vorbei ging, fiel ihm am Bus eine Werbung auf. Centro<br />

Commercial Sabana Norte. Dort hatte er im Haus IV bei einer Hostingfirma einen Server<br />

stehen gehabt. Der Server war notwendig gewesen, um die umfangreiche Software seines<br />

Onlinekasinos und die Dateien seiner Spieler zu speichern. Eigentlich ist ein Server nur ein zu<br />

groß geratener Computer mit einer fähigeren Betriebssoftware als ein gewöhnlicher<br />

Computer. Als Schulz die Anschaffung dieses Servers empfohlen und durchgesetzt hatte,<br />

wusste Holt noch nicht, das der Server in der Lage war, vierzig Prozent aller Internet-<br />

Dienstleistungen Costa Ricas zu speichern. Schulz wusste damals, was er bestellte, er plante<br />

die Nutzung und den Zugriff auf diesem Server. Später, als Holt mit leeren Händen dastand,<br />

aber einen Server dringend benötigte, hatte er sich mit Baldow zusammengetan. Dieser hatte<br />

für sein Casino and Sportsbook einen eigenen Server, der noch Speicherkapazität frei hatte.<br />

Im Austausch für die Nutzung eines Unterkontos beim Clearinghouse in Kanada bekam Holt<br />

tausend Gigabyte „Space“. Es sollte sich als ein schlechtes Geschäft erweisen. Baldows<br />

Kompagnon betrog nicht nur seine Kunden, sondern auch Holts Clearinghouse um<br />

zweihunderttausend Dollar. Die Folge war, dass Holts Deposit in Höhe von zwanzigtausend<br />

Dollar von der Bank einbehalten wurde, da er als Hauptkontoführer für die Betrügereien des<br />

Unterkontonehmers geradestehen musste. Als Holt im Office Centrum sich dem Bürohaus IV<br />

näherte, sah er schon von der Straße aus, Baldows ehemaliges Büro schien verwaist zu sein.<br />

Die Angestellten eines angrenzenden Reisebüros erzählten ihm, dass vor ungefähr zwei<br />

Jahren Polizei da war, einige Personen, darunter auch Baldow, festnahmen und das Büro<br />

versiegelten. Monate später war die umfangreiche Computerausrüstung und High- Tech-<br />

Ausrüstung ausgeräumt worden. Seitdem stand das Büro leer.<br />

Wo ist Manfred Kramer geblieben, ist der etwa auch verhaftet worden?, dachte Holt. Er<br />

kannte Manfred, er hielt ihn nicht für die Sorte Mensch, die betrügen konnten. Deshalb<br />

286


musste er ihn finden, er hatte Kontakt zur Branche, konnte Schulz vielleicht kennen und<br />

wissen, wo dieser abgeblieben war. Im Office Centro arbeitete Manfred offensichtlich nicht<br />

mehr, auch nicht in einem der anderen Bürohäuser. Holt fiel ein, dass Kramer nicht weit<br />

entfernt wohnte. Das Haus stand noch. Vom Fenster konnte Holt in das Büro einsehen,<br />

welches Manfred damals als Übersetzer nutzte. Es war alles noch beim Alten, selbst die große<br />

Seekarte, die Holt an der Wand angebracht hatte, hing noch am selben Platz. Auf sein<br />

Klingeln hin öffnete die Ex-Frau Manfreds. Holt fragte absichtlich in Englisch, ob Mr.<br />

Kramer zu sprechen sei. Sie antwortete, dass er erst um fünf Uhr abends zurückkommt. Das<br />

war in zirka einer Stunde. In der Zwischenzeit ging er in ein in der Nähe liegendes Kaufhaus.<br />

Ungefähr zehn Minuten nach fünf Uhr erschien ein schwarzer, alter BMW und Manfred stieg<br />

aus. Er hatte sich nicht verändert. Helle Stoppel im Gesicht, hager und von der Tropensonne<br />

braun gebrannt, nur die Haare waren etwas spärlicher. Er freute sich, Holt zu sehen.<br />

„Nein, ich kenne den Schulz nicht persönlich, ich weiß auch nicht, wo du ihn suchen<br />

kannst,“ antwortete er auf Holts Frage.<br />

„Manfred, ich habe hier zwei Telefonnummern, kannst du da mal anrufen und hören,<br />

wer sich meldet? Deine Stimme kennt er nicht und wenn du noch in Spanisch fragst, dürfte er<br />

nicht misstrauisch werden.“<br />

„Was soll ich fragen?“<br />

„Erzähle, du hast diese Telefonnummer von einem Bekannten, der dir gesagt hat, er repariere<br />

Computer und außer Englisch und Spanisch spräche er auch Deutsch. Du hättest auf dem<br />

Computer deutsche Software und könntest die nicht ausführen. Daher benötigst du daher<br />

Hilfe. Wenn es Schulz ist, wird er anbeißen. Du fragst dann, wohin du den Computer bringen<br />

sollst oder ob er ihn abholt. Wenn er ihn abholt, müsste man ihm hinterherfahren, bis zu<br />

seinem Haus.“<br />

Die zwei Telefonnummern erwiesen sich als nicht brauchbar, es waren nur ein „Tico- PC-<br />

Schrauber“ und ein kleines Reisebüro. Ein wenig enttäuscht fuhr Holt nach San José, bis zur<br />

Plaza de la Cultura. Das Grand Hotel wirkte mit einem Mal schmutzig, verödet und allgemein<br />

heruntergekommen. Auf der Terrasse saßen ungefähr zusammen dreißig Jahre Zuchthaus und<br />

die halbe Belegung eines Bordells. Holt erinnerte sich daran, wie er vor Jahren einmal auf<br />

dieser Terrasse ein Foto von Pauline, dem Plaza de la Cultura mit dem Goldmuseum im<br />

Hintergrund, schießen wollte. Als er damals Pauline schon im Fokus hatte, sah er an den<br />

Tischen rundherum nur angehobene und aufgeschlagene Zeitungen, welche die Gesichter der<br />

dort verweilenden Gäste verdeckten. Welch ein Zufall. Er hatte diese sonderbare Reaktion<br />

noch mehrmals bei anderen Gelegenheiten beobachten können. Immer, wenn ein Tourist die<br />

Terrasse mit seiner Reisebegleiterin fotografieren wollte, war ein Meer von Zeitungsblättern<br />

zu sehen. Darauf angesprochen hatte Brettschneider, sein späterer Bodyguard, nur gelacht und<br />

gesagt, ja da sitzen die vom DAE, FBI, CIA oder BKA gesuchten schrägen Vögel. Er vergaß<br />

nur zu erwähnen, dass er auch hier gut hätte sitzen können, da er selbst zu diesem Kreis der<br />

erlauchten Gäste gehörte. Um die Ecke lag das „Del Rey“, ein Hotel mit Spielsalon. Im<br />

vorderen Bereich lag die größte Kontaktbar Costa Ricas. Holt genehmigte sich dort zwei Bier,<br />

weil draußen gerade ein tropischer Wolkenbruch niederging. Schon beim ersten Bier wurde er<br />

dreimal von hübschen und sehr jungen Prostituierten angesprochen, die ihn für einen Gringo<br />

hielten.<br />

Mit dem Linienbus fuhr Holt auf der Autopista zurück in Richtung Santa Aña. An der<br />

Unterführung zum Abzweig nach Belén stieg er aus und ging in Richtung West. Er hatte hier<br />

ein paar Mal John, seinen ehemaligen Vizepräsidenten, abgesetzt, der in der Nähe in einem<br />

kleinen Ressort wohnte. Nach fast einer Stunde fand Holt das Ressort wieder. Der Wachmann<br />

an der Rezeption erklärte ihm, das Mr. Blackfield sich zurzeit in New York aufhielt und erst<br />

in einer Woche zurückerwartet wird.<br />

287


Abends bei Lutz erfuhr Holt durch die Deutsche Welle, Bagdad war gefallen. Nach<br />

einigen Seiten aus Henning Mankells Buch „Mörder ohne Gesicht“ schlief er erschöpft ein.<br />

Zwei Wochen war es nun schon her, seit dem er Gran Canaria verlassen hatte. Erreicht hat er<br />

bislang noch nichts. Zwei Deutsche, die schon lange in Costa Rica lebten, könnten ihm<br />

vielleicht weiterhelfen. Holt kannte Andi Buhse gut, er hatte 1999 ein Auto aus Deutschland<br />

über Andis Geschäft einführen lassen. Siegfried Mappel ist Automechaniker, der mit Schulz<br />

zusammengearbeitet haben könnte. Mappel frisiert Motorräder, Schulz hatte eine Harley<br />

Davidson, es wäre möglich, das sie Kontakt miteinander haben. Im neusten Telefonbuch fand<br />

Holt mehrere Anschlüsse auf den Namen „Schulz. M. Martin“ drei Nummern lagen in<br />

Escazú, eine Nummer im Ortsteil San Antonio. Diese schaute Holt sich näher an. Zu seiner<br />

Überraschung waren es die Telefonnummern, die er damals für seine Firma beantragt hatte.<br />

*<br />

Während seiner langen Fußwanderungen hatte Holt Zeit, darüber nachzudenken, was<br />

geschehen würde, wenn er bei der Aktion „draufginge“. Der Lange würde keine Minute<br />

zögern, ihn oder das, was dann von ihm noch übrig blieb, irgendwo verschwinden zu lassen.<br />

Es bereitete ihm Unbehagen. Nicht dass er Angst vor dem Tod hatte, nein, Pauline würde bis<br />

zum Ende ihrer Tage im Unklaren bleiben, was mit ihm geschehen war. Das für ihn<br />

bestimmte Schicksal konnte er sowieso nicht abwenden, aber die Zurückgebliebenen sollten<br />

das Recht haben, zu erfahren, wann und wie ihn das Schicksal ereilte. In einer kleineren<br />

Schreibwarenhandlung kaufte er ein Notizbuch, um daraus eine Art Tagebuch zu erstellen.<br />

Abends im El Che schrieb er rückwirkend seine Erlebnisse auf und die des Tages.<br />

*<br />

Am Morgen hatte Holt vergeblich auf den Anruf von Pauline gewartet. Für den Tag hatte er<br />

sich vorgenommen, mit Mappel und dem ehemaligen Nachbarn Raffa zu sprechen. Bei<br />

Mappel musste er vorsichtig herangehen. Dieser könnte zu Schulz immer noch einen guten<br />

Draht haben und diesem stecken, von Holt gesucht zu werden. Raffa konnte er vertrauen, er<br />

hatte Schulz nie leiden können.<br />

Die Einträge im Jahresbuch der Telefongesellschaft sprachen dafür, noch durch Schulz<br />

genutzt zu werden. Aber ob es auch so sei, war fraglich. Die Telefongesellschaft RACSA war<br />

durch und durch ineffizient, von korrupten Managern besetzt, mit oftmals faulem Personal. Es<br />

könnte auch sein, die Telefonnummern waren Leichen im Buch, sonst nicht mehr. Die alten<br />

Freunde aus dem El Che hatten versprochen, sich umzuhören. Lynn, eine gute Bekannte von<br />

Pauline, betrieb im südlichen Ortsteil von Escazú, direkt am zentralen Park, eine gut gehende<br />

Kneipe. Sie könnte eventuell etwas über Schulz wissen oder in Erfahrung bringen. Am Abend<br />

suchte Holt die Bar Central auf. Lynn war da und freute sich über Holts unerwartetes<br />

Erscheinen. Sie vermisste Pauline und war überrascht, dass diese am anderen Ende des<br />

Ozeans, noch auf Gran Canaria sei. Vor drei Jahren hatte sie von der Sache mit Schulz gehört,<br />

aber während der Abwesenheit Paulines war es bei ihr in Vergessenheit geraten. Sie hatte<br />

jedoch seitdem nichts von Schulz gesehen, noch ihn in ihrer Bar getroffen. Er musste wohl<br />

nach wie vor die Öffentlichkeit meiden, in der sich Deutsche oder Bekannte von Holt und<br />

Pauline aufhielten.<br />

Raffa freute sich ehrlich darüber, mit Holt wieder einmal sprechen zu können. Er<br />

berichtete, dass im Haus nun eine etwas schlampige italienische Familie mit mehreren<br />

Kindern wohne. Als Holt darauf zu sprechen kam, eine Waffe zu benötigen und das er nicht<br />

wüsste, von wem er eine kaufen könnte, versprach Raffa, sich einmal umzuhören. Er gab Holt<br />

288


seine Handynummer und auch zu erkennen, Holt ebenso in anderen Sachen helfen zu wollen,<br />

alleine nur deshalb, da er Schulz nicht mochte.<br />

Auf dem Rückweg besuchte Holt Wilma. Die alte, gebrechliche Dame wäre beinahe Holts<br />

Opfer geworden. Bei der etwas zu stürmischen Umarmung schrie diese vor Schmerz laut auf.<br />

Er stellte sie mit bleichem Gesicht sofort ab und entschuldigte sich für seine<br />

Ungeschicklichkeit. Wilma erholte sich schnell bei ihrem geliebten Martini, den sie auch Holt<br />

anbot. Dieser hatte das letzte Zechgelage mit der älteren Dame und Pauline noch gut in<br />

Erinnerung und nahm die Einladung dankend an. Zwei Stunden später verließ ein leicht<br />

wankender Holt Wilmas Haus. Auf seinem Weg zur Bushaltestelle kam er an Bonnies<br />

Grundstück vorbei. Darauf stand ein Rohbau. Erschrocken sah er sich das nun bebaute<br />

Grundstück näher an. Wer dort baute, war nicht ersichtlich. Die Pflicht ein Bauschild<br />

aufzustellen, wie in Deutschland, gab es in Costa Rica nicht. Nur bei größeren Vorhaben<br />

nutzte der Bauherr oder die mit dem Bau beteiligten Firmen solche Schilder als Werbung.<br />

Hier gab es kein Schild und auch keine Bauleute. Nur ein alter Mann saß in einer Bretterbude<br />

davor und las in einem Buch. Er teilte Holt nur mit, ein Amerikaner wäre der Bauherr, kannte<br />

aber keinen Namen oder eine Anschrift. Noch vor zwei Monaten hatte Pauline mit Bonnie<br />

miteinander telefoniert. Dabei war kein Wort über das Grundstück in Valle del Sol gefallen.<br />

Holt beschloss daher, Pauline vom Hausbau auf Bonnies Grundstück zu erzählen, damit sie<br />

sich mit Bonnie darüber unterhalten sollte.<br />

Kurz nach dem Holt an der Haltestelle ankam, hielt der Bus mit quietschenden Bremsen.<br />

Noch vor der Endhaltestelle in Santa Aña stieg er aus und ging zwei Querstraßen weiter ins<br />

Tex-Mex. Außen an der quadratischen Bar, direkt vor der Kasse, saß wie immer der Mann mit<br />

dem Pferdeschwanz. Er war einer der zwei amerikanischen Eigentümer. Als Holt eintrat,<br />

grüßte er herzlich „Hei Chans“, widmete sich jedoch sofort wieder der Kontrolle einiger<br />

Kassenbons. Na so etwas, der tut so, als ob ich erst gestern das letzte Mal hier gewesen wäre,<br />

dachte Holt. Nachdem sich Holt umschaute und kein bekanntes Gesicht, auch Olgas nicht,<br />

antraf, trank er ein Imperial und verabschiedete sich nach der Bezahlung beim Eigentümer mit<br />

einem kurzen Kopfnicken.<br />

Beim nächsten Telefonat mit Pauline teilte er ihr die überraschende Bebauung von Bonnies<br />

Grundstück mit. Pauline war auch überrascht, sie würde Bonnie schnellstens anrufen. Holts<br />

und Paulines Besorgnis waren ja nicht unbegründet. In Costa Rica waren Haus- und<br />

Grundstücksbesetzungen und eine klammheimliche Enteignung von ausländischen<br />

Eigentümern nicht gerade unüblich. Es sollte sogar ein Gesetz geben, in dem stehe, wenn<br />

Landarme, Obdachlose und Ignoranten ein fremdes Grundstück länger als drei Tage besetzt<br />

hielten und darauf eine provisorische Behausung errichteten, einen rechtlichen Besitzanspruch<br />

darauf erlangten. Dieses Gesetz erinnerte Holt stark an die Legalisierung der<br />

Hausbesetzerszene in Berlin, wo der Senat oftmals klein beigegeben hatte und den<br />

Rechtsbruch linker Chaoten durch Duldung nachgekommen war.<br />

Mit Buhse und Mappel hatte Holt, ohne ein greifbares Ergebnis, gesprochen. Beide konnten<br />

oder wollten nicht helfen, nur Raffa hatte am Telefon mitgeteilt, er könne für tausend Dollar<br />

eine Waffe besorgen. In Erinnerung an die Verkaufsaktionen Raffas, der noch vor einigen<br />

Jahren an die Ausländer „präkolumbianisches“ Kulturgut und Schlangenhäute verkaufte,<br />

dachte Holt an dessen „Gewinnanteil“. Diese Kulturgüter waren aus Zement gegossen und mit<br />

Dreck beschmiert, Gringos angedreht worden. Als Raffas Mittelsmann mit diesen scheinbaren<br />

Artefakten erschien, hatte Holt nur gelacht und anstatt der geforderten dreitausend Dollar nur<br />

fünfzig angeboten. Nach längerem Feilschen war der Mann mit einhundert Dollar, für zwei<br />

nett und alt aussehende Zementskulpturen, zufrieden. Holt hatte sich immer einen Spaß<br />

289


daraus gemacht, seinen Gästen „echte“ Mayakultur zeigen zu können. Ob sie ihm das<br />

abnahmen, war ihm damals egal gewesen. Sein breites Grinsen müsste seinen Gästen viel<br />

gesagt haben, sofern sie nachdachten.<br />

Bis zum regulären Rückflug aus Panama City hatte Holt nur noch zwei Wochen Zeit. Es<br />

erschien ihm nach über einem Monat erfolgloser Suche nach Schulz nun unmöglich zu sein,<br />

diese Frist einzuhalten. Ich habe noch zwei Wochen Zeit. Langt diese Zeit aus? Manchmal<br />

zweifele ich am Gelingen, manchmal bin ich optimistisch und brenne darauf, die Sache zu<br />

erledigen. Ich muss mir nur vorstellen, was eintritt, wenn ich zu zögerlich bin. Dies ist ein<br />

Krieg und ich muss mich wie ein Soldat vor der Schlacht verhalten, sinnierte Holt.<br />

Er versuchte sich zu erinnern, mit wem er vor über drei Jahren im Computerbereich Kontakt<br />

hatte. Da sich Schulz, wie ein Fisch im Wasser gleich, in dieser Branche tummelte, bestand<br />

die Hoffnung über solche Personen einen Hinweis zu Schulz zu bekommen. Nachdem ihm<br />

der Server aus dem Office Center in Sabana Norte gestohlen wurde, war er damals<br />

gezwungen eine Lösung zu finden, das Kasino dennoch fortzuführen. Dabei hatte er mit zwei<br />

Ticos Kontakt, welche sich hilfsbereit zeigten. Einer davon hieß Alec Raffael, kurz „Raffa“<br />

gerufen. Holt nannte diesen Mann in Gedanken Raffa Zwei. Er wohnte noch an gleicher Stelle<br />

und erkannte Holt sofort wieder. Im nachfolgenden Gespräch teilte Raffa II Holt mit, das er<br />

noch sporadisch mit Schulz Kontakt habe. Sie würden sich dann immer in einem<br />

Computershop in Pozos treffen. Der letzte Treff hatte vor einem halben Jahr stattgefunden, als<br />

er Schulz ein fasst neues Motherboard verkauft habe. Raffa II erzählte Holt so nebenbei über<br />

seine derzeitig berufliche Belastung, bot jedoch die Hilfe eines abkömmlichen Mitarbeiters<br />

an, der Schulz auch kannte. Dieser Mann sei vertrauenswürdig und hieße Maurizio. Noch in<br />

Anwesenheit Holts telefonierte Raffa II mit seinem Mitarbeiter, jedoch in Italienisch, welches<br />

Holt, bis auf ein paar Worte, nicht verstand.<br />

„Ich habe mit Maurizio gesprochen,“ begann Raffa II, „er ist bereit dich zu<br />

unterstützen. Er kann dabei den Firmenwagen nutzen. Was du Maurizio dafür zahlst, muss du<br />

mit ihm ausmachen, da will ich mich nicht einmischen. Wenn du aber weitere Hilfe benötigst,<br />

rufe bei mir an. Wir werden dann sehen, was zu machen ist.“<br />

Holt war mit dieser Entwicklung zufrieden. Er dachte darüber nach, ob Raffa II<br />

eventuell die Seiten wechseln könnte, fand jedoch keinen Grund dafür. An Geld als Motiv<br />

dachte Holt in diesem Moment nicht.<br />

Maurizio stellte sich als ein Tico heraus, den Holt in der Vergangenheit vom Sehen kannte. Er<br />

konnte sich jedoch nicht mehr so genau daran erinnern, wo es gewesen war und bei welcher<br />

Gelegenheit. Beim Treff im El Che konnte Holt bereits von dessen Aktivität überzeugt<br />

werden. Für den Nachmittag hatte Maurizio mit dem Langen einen Termin vereinbart. Sie<br />

wollten sich im Rosti Pollo in Escazú treffen. Maurizio sollte vorgeben, ein Interessent für<br />

eine Immobilie zu sein. Neben seiner früheren Tätigkeit als „Computerschrauber“ arbeitete<br />

Schulz nun offensichtlich auch als Immobilienmakler. Während Maurizio im Rosti Pollo auf<br />

Schulz wartete, hatte Holt, gegenüber bei einer Eisenwarenhandlung Position bezogen. Fünf<br />

Minuten nach der vereinbarten Zeit fuhr Schulz mit einem anthrazitfarbenen BMW vor. Beim<br />

Notieren des Autokennzeichens stutzte Holt, es war das gleiche Autokennzeichen, welches er<br />

1999 beantragt und erhalten hatte.<br />

Nach zwanzig Minuten kam Schulz aus dem Restaurant und stieg in seinen BMW. Er<br />

nutzte die nächste Lücke im fließenden Verkehr in Richtung Autopista und fuhr davon.<br />

Maurizio kam zu spät, er hatte erst bezahlen müssen und als er mit Holt im Wagen an der<br />

Einfahrt zur Autopista stand, war von einem anthrazitfarbenen BMW weit und breit nichts<br />

mehr zu sehen. In der Hoffnung, im Exposé, welches Maurizio von Schulz erhalten hatte,<br />

dessen Anschrift oder derzeitig aktuelle Telefonnummer zu erfahren, schlug fehl. Holt schaute<br />

290


in die Broschüre. Ihm sprang ein Werbefoto von Schulz in die Augen, der lächelnd in einem<br />

Maklerbüro vor einem Bebauungsplan stand. Kompetent und vom Erfolg verwöhnt, so wie<br />

früher.<br />

Die Suche wurde durch die „Semana Santa“, der Osterwoche, erschwert. In den katholischen<br />

mittelamerikanischen Ländern erliegt in dieser Woche das öffentliche Leben. Holt verlor<br />

kostbare Zeit durch das Warten auf Busse und Taxen. Im Nachbarhaus hatten die<br />

Jugendlichen der Familie bis weit nach Mitternacht einen Höllenlärm gemacht. So feierten sie<br />

ihre Osterwoche, mit lauter Musik, mit viel Alkohol und Gegröle. Es schien den Jugendlichen<br />

nichts auszumachen, in der Woche keinen Alkohol bekommen zu haben. Wie alle<br />

weitsichtigen Katholiken hatten sie bereits in der Woche zuvor Alkohol gebunkert. Nur die<br />

ahnungslosen Touristen mussten in diesen Tagen ohne den gewohnten Schoppen Wein oder<br />

die Flasche Bier auskommen. Neben den normalen Lärmquellen gab es in Costa Rica noch<br />

eine Besonderheit. Wegen der hohen Diebstahlsquote bei Kraftfahrzeugen, hatten sich die<br />

Ticos in fasst jedes Auto eine Alarmanlage einbauen lassen. Dabei war es den Besitzern<br />

offensichtlich egal, ob es sich um eine Nobelkarosse oder um gerade noch fahrbaren<br />

Blechschrott handelte. Aus Geiz oder weil sie es nicht besser wussten, wurde natürlich das<br />

Billigste eingebaut, mit der Folge, dass diese Alarmanlagen bei der geringsten Erschütterung<br />

losjodelten. Holt nannte diesen Vorgang ironisch das Abspielen der costa-ricanischen<br />

Nationalhymne. Tag und Nacht hörte man diese Warnanlagen. Wenn mit jedem Auslösen<br />

auch ein Diebstahl oder Diebstahlsversuch verbunden gewesen wäre, müsste die eine Hälfte<br />

der Ticos zu Fuß gehen oder die andere Hälfte mit gestohlenen Autos fahren. Gemeinsam mit<br />

der „Alarmanlagenindustrie“ arbeiteten die mittelamerikanischen Hähne an der Entnervung<br />

ihrer Lärmopfer. Holt, der in seiner Kindheit auf dem Lande lebte und danach immer in der<br />

Stadt, konnte sich nicht mehr daran erinnern, welche kräftigen Stimmchen die Hühnermänner<br />

hatten. Morgens um vier Uhr fing das Konzert an. Der Erste, der wach wurde, fragte laut,<br />

Kiekerekie, hört mich einer? Und die gerade Wachgewordenen oder aufgeweckten Hähne<br />

antworteten fröhlich Kiekerekie öhhh, wir hören dich!<br />

Holt fuhr nun schon seit Tagen zwischen Escazú, Santa Ana und Belén hin und her, ohne<br />

auch nur eine weitere Spur von Schulz zu finden. Im El Che konnte er sich ein wenig<br />

entspannen und mit dem Personal oder Gästen sprechen, die nichts mit Schulz zu tun hatten.<br />

Dabei hatte er sich mit einer jüngeren und attraktiven Tica mehrmals unterhalten. Diese<br />

sprach fließend Englisch und behauptete mit einem Amerikaner verheiratet zu sein, den Holt<br />

auch kannte. Nur, Holt erinnerte sich daran, dieser Mann lebte alleine im Nebenhaus von John<br />

Blackfield. Seine stille Frage, was nun wirklich stimmte, wurde durch das Erscheinen, eben<br />

dieses Amerikaners, beantwortet. Er küsste die Schönheit auf die Wange, hieb Holt auf die<br />

Schulter und sagte zu ihm, sichtlich stolz, Dies ist meine Frau. Der Ami hatte die Schönheit<br />

wegen seines Aufenthaltsstatus und einer Vaterschaft geehelicht. Nur bis auf wenige<br />

sporadische Lustbesuche bei seiner Frau lebte er nach wie vor alleine. Sie schien, damit auch<br />

zufrieden zu sein. Eines Abends im El Che lud sie Holt zum Kindergeburtstag am nächsten<br />

Tag ein, der überrascht war. Warum macht sie das, was will sie von mir?, dachte er. Später als<br />

die Frau ging, sprach er mit Bipo darüber. Bipo der Barmann lachte.<br />

„Hans, die Puta will ein Geschenk für sich und das Kind. Du bist der Frau scheißegal.<br />

Mein Rat, lass das sein, wenn du nicht gerade in ihrem Bett landen willst. Das kannst du auch<br />

billiger haben.“<br />

Dabei grinste Bipo. Die „Dame“ gleich als Nutte zu bezeichnen, ging doch Holt ein<br />

wenig zu weit. Er kam zur Erkenntnis, Bipo müsste es wohl besser wissen.<br />

Der Ostersonntag verlief für Holt zäh und quälend. Er war im Haus geblieben. Der Montag<br />

war in Costa Rica kein Feiertag mehr. Das normale Leben zog wieder ein. Erst drei Tage<br />

291


später sah Holt Schulz wieder, als er gegenüber der ICE Stellung bezogen hatte. Schulz kam<br />

von Escazú und fuhr in Richtung Santa Aña. Jetzt verfluchte es Holt, über kein eigenes Auto<br />

zu verfügen. Er lief über die Straße, bis zur Straßenbiegung, von dort konnte er ungefähr<br />

fünfhundert Meter Strecke übersehen. Der Lange war nicht mehr zu sehen. Entweder er hatte<br />

die Geschwindigkeit kräftig erhöht oder er war in eine der vier Seitenstraßen abgebogen. Also,<br />

dachte sich Holt, muss ich mich an der Brücke postieren, damit ich sehen kann, in welche<br />

Straße er abbiegt oder ob er weiterfährt. Holt rechnete sich aus, bei dieser<br />

Einengungsstrategie müsste er noch ungefähr zwei Monate weitersuchen. Das war einfach zu<br />

lange.<br />

Eine Woche später hatte Holt auch im Zusammenwirken mit Maurizio nichts erreicht. In sein<br />

Tagebuch schrieb er über seine Erfolglosigkeit. Jedoch einen Tag später konnte er darin<br />

vermerken:<br />

Sonntag, den 27.4.2003<br />

Heute ist der Tag, nach dem ich nicht mehr zurückkehren kann. Alles was jetzt passiert, ist<br />

nur noch am Erfolg orientiert. Ich kann nun nicht mehr zurück, da ich kein Geld mehr für die<br />

Bezahlung der Rückfahrt habe. Raffa II ist telefonisch nicht zu erreichen. Es ist schön<br />

beschissen. Vielleicht kann ich am Abend etwas erreichen. Eventuell über einen<br />

Immobilienmakler, der bei der Firma "Go Dutch“ arbeiten soll. Vielleicht bekomme ich doch<br />

noch weitere Informationen. Endlich ein Durchbruch, es ist alles anders gekommen. Um<br />

17:00 Uhr war ich im Tex-Mex. Auch der Deutsche Roger. Er sprach davon, dass ein paar<br />

anwesende Makler bzw. Bauleute seien. Es waren die van Borns. Diese kannte ich noch von<br />

früher. Christine van Born bestätigte, dass sie die Eigentümer einer Bau- und Maklerfirma<br />

seien. Sie kennt den Langen und sagt, dass er wahrscheinlich für zwei Einbrüche bei ihr<br />

verantwortlich sei, aber dafür keine Beweise habe. Sie hatte mir danach sofort die zwei<br />

Häuser gezeigt, welche der Lange angemietet haben soll. Er lebt nördlich der Hauptstraße<br />

und nicht südlich, zum Berg hin, in Escazú. An dieser Stelle hätte ich ihn nie gefunden. Auf<br />

dem Dach steht eine riesige Satellitenschüssel für Datentransfer per Computer und eine TV-<br />

Schüssel. Mike ist voll im Internetgeschäft, wahrscheinlich mit meiner Technik und meinem<br />

Geld. Morgen werde ich mir einen Überblick verschaffen und dann ab Dienstag gezielt<br />

observieren. Es ist ein tolles Gefühl!<br />

Schulz hatte sich in eine Nebenstraße verkrochen. Diese ging noch innerhalb von Escazú von<br />

der Hauptstraße ab, die nach Santa Aña führte. Wäre er vor Tagen etwas schneller gewesen,<br />

hätte er Schulz noch nach links, in nördlicher Richtung abbiegen sehen können. Die Straße<br />

war eng, ungefähr dreihundert Meter lang. Am unteren Ende machte sie einen Bogen und<br />

führte nach hundert Meter wieder auf den alten Verlauf zurück. Sie hatte daher die Form einer<br />

eckigen „9“. Am Kopf der „9“, im oberen Teil, dort wo der Bogen bereits wieder zurückging,<br />

lagen die zwei Häuser, welche Schulz angemietet haben soll. Holt hatte schon aus einiger<br />

Distanz am Dach des gesuchten Hauses die zwei großen Parabolspiegel entdeckt. Alles wies<br />

darauf hin, ihn hier zu finden. Wer von den Einheimischen sollte zwei solche riesigen<br />

Schüsseln benötigen?, stellte sich Holt die Frage.<br />

Um als Fußgänger nicht aufzufallen, waren Holt und Maurizio im Auto langsam die Straße<br />

entlang gefahren. Der schlechte Zustand, mit den vielen Löchern, rechtfertigte eine äußerst<br />

langsame Fahrweise. Niemand bemerkte sie. Die große Satellitenschüssel und ein im hinteren<br />

Teil des Abstellplatzes abgedecktes Motorrad, dessen Konturen das Verdeckte nicht<br />

verbergen konnte, wiesen auf Schulz. Aber es fehlten die sonnst üblichen Wachhunde, die er<br />

sich immer gehalten hatte und der BMW. Bei der zweiten Fahrt, am späten Abend, lag das<br />

Haus in tiefster Dunkelheit. Maurizio hielt an und Holt trat an den Gitterzaun. Im Bereich<br />

292


einer Sensor gesteuerten Beleuchtung, stand Holt plötzlich im gleißenden Licht dreier<br />

Strahler. Erst als er sich wieder ins Auto setzte, erlosch das Licht. Nur im oberen Teil des<br />

Hauses, offensichtlich aus einem Badezimmerfenster leuchtete matt eine Lampe. Vorher war<br />

auch dort Dunkelheit. Es mussten also auch Fenster zur anderen Seite des Hauses gehen. Holt<br />

konnte sich Schulz nicht in einem dunklen Haus vorstellen, er hatte auch nicht das bläuliche<br />

Schimmern eines laufenden Fernsehgerätes bemerkt.<br />

Am nächsten Abend schrieb er in sein Tagebuch:<br />

Dienstag, den 29.4.2003<br />

Heute muss ich mehr Glück haben. Wird er da sein? Ja!!! Nun weiß ich, dass der Lump im<br />

Hause lebt. Jetzt wird der Zugriff vorbereitet. Um 22:15 Uhr sah ich den BMW mit der<br />

Nummer 344 564 in der Auffahrt stehen. Gott sei dir gnädig Langer: Ich werde es nicht sein!<br />

Holt erinnerte sich daran. Heute würde in Panama City eine Maschine starten, in dem ein<br />

Platz frei blieb, obwohl er bezahlt war. Diesen Gedanken verdrängte er schnell, er musste sich<br />

Gedanken über die Art des Zugriffs und die Zeit danach machen. Eigentlich gab es nur zwei<br />

Möglichkeiten, den Langen zu überwältigen. Vor dem Haus, nachdem er das Tor geöffnet<br />

hatte und auf den Abstellplatz fuhr, oder im Haus. Die zweite Variante setzte jedoch voraus,<br />

er müsste bereits den Zaun oder das Tor überwunden haben, um Schulz beim Öffnen der<br />

Haustür sofort zu überwältigen. Aus sicherer Entfernung, vom Anfang des Bogens aus,<br />

konnte Holt sehen, wie ein Mann aus dem Haus trat und in einen davor abgestellten Jeep<br />

einstieg. Hinter diesem schloss sich das Tor automatisch. Von seiner Position aus konnte er<br />

nicht sehen, von wo aus Schulz den Schalter betätigte.<br />

Zwei weitere Erkenntnisse erschwerten einen Zugriff im Haus. Beim Vorbeifahren nahm Holt<br />

zum ersten Mal das Hinweisschild einer Sicherungsfirma wahr. Das bedeutete, dieses Haus ist<br />

mit einer Einbuchs- und Sicherungsanlage ausgestattet. Am Tag danach sah Holt am Morgen<br />

Luisa auf einem Moped aus der Einfahrt kommen. Er hatte die Frau sofort wiedererkannt. Sie<br />

war die Frau aus Nicaragua, die Schulz bereits 2000 zur Freundin hatte. Er wohnte also nicht<br />

alleine dort!<br />

Holt zog Zwischenbilanz. Nach mehr als einem Monat war es ihm gelungen, Schulz<br />

aufzustöbern. Seine Hilfstruppen erwiesen sich immer mehr als unzuverlässig. Raffa I war auf<br />

Tauchstation gegangen, Raffa II ebenfalls. Maurizio erschien immer undurchsichtiger.<br />

Solange er für seine Rundfahrten Geld von Holt bekam, war er zuverlässig. Nun, wo er erst<br />

weiteres Geld nach dem Zugriff ankündigte, zeigte auch Maurizio kein großes Interesse mehr,<br />

behilflich zu sein. Von der versprochenen Besorgung der Waffe oder eines Tasers 47 war<br />

nichts realisiert worden. Holt hatte nichts als seinen Hass und seine Fäuste, gegebenenfalls<br />

hätte er sich einen starken Knüppel besorgt. Dazu benötigte er die großmäuligen Angeber<br />

nicht.<br />

Bei der Observierung stellte Holt fest, der Lange verfügt über drei Autos. Neben dem<br />

BMW fuhr er einen grünen Hyundai und einen dunkelgrauen Ford Montero. Die ständigen<br />

Kontrollfahrten hatten die Aufmerksamkeit einiger misstrauischer Anwohner geweckt. Holt<br />

konnte sie hinter den Gardinen und in den Vorgärten stehen sehen, wie sie zum Auto herüber<br />

schauten. Er müsste sich einen anderen Platz für die Observierung aussuchen. Aber wo? Die<br />

angrenzenden Häuser waren alle von Ticos bewohnt. Sich dort irgendwie einzunisten,<br />

erschien unmöglich. Als einzigster Standort blieb nur das links vom Haus gelegene<br />

verwilderte Areal. Eine Pinkelpause vortäuschend, war Maurizio einmal auf das Gelände, bis<br />

zum Schilfgürtel gefahren, hinter dem sie den Fluss rauschen hörten. Wenn man einmal auf<br />

diesem Gelände war, konnte man sich dort den ganzen Tag aufhalten, ohne von<br />

unerwünschten Augen entdeckt zu werden. Die Frage war nur, wie kam man dort ohne Auto<br />

293


hin? Zu Fuß über die Zugangsstraße ging nicht, das wäre zu riskant gewesen. Also war nur<br />

ein Weg möglich. Von der Brücke aus müsste man am rechten Ufer des Flusses entlang bis<br />

auf Höhe des Hauses gehen. Holt konnte die Unpassierbarkeit des Ufers erkennen. Direkt an<br />

der rechten Seite gab es keine Möglichkeit an diesem entlang zu gehen. Der steile, stark mit<br />

Ufergewächs und alten Baumriesen, sowie wild wachsenden Lianen versehene Hang<br />

versperrte jedem Menschen den Weg. Von der Brücke aus konnte Holt jedoch eine flache<br />

Uferstelle, ungefähr hundert Meter Fluss abwärts, an der linken Seite sehen. Dort müsste eine<br />

Gelegenheit sein, den Fluss über den herausragenden Steinen im Flussbett, Stein um Stein zu<br />

überqueren. Alles andere war aussichtslos.<br />

Holt fand diesen Weg. Der nächsten Straße, die rechts von der Hauptstraße abbog,<br />

folgend, fand er an dessen Ende, bevor sie weiter in Richtung West weiter führte, eine kleine<br />

Ausbuchtung. Hinter dieser war ein Weg, der zu einem Haus führte, welches hinter den<br />

Bäumen noch durch ein rot gestrichenes Wellblechdach zu erkennen war. Der Weg wurde<br />

durch einen anschließbaren Querbalken gesichert, der Fußweg jedoch war offen. Nach einigen<br />

Metern sah Holt in einer Vertiefung das ganze Haus und die Hundehütte, vor der zwei große<br />

Hunde in der Sonne dösten. Weiter zu gehen, hielt er in dieser Situation nicht für angebracht.<br />

Noch im Schatten der Bäume, vom Unterholz ein wenig verdeckt, betrachtete er die<br />

Umgebung. Im hohen Baumbestand hörte er eine Menge Vögel schnattern. Bis zum Ufer des<br />

Flusses waren noch ungefähr hundert bis zweihundert Meter. Als er seinen Standort ein wenig<br />

änderte, sah er durch die Bäume, auf einem Dach die bekannte, große Satellitenschüssel.<br />

Zwischen dieser und seinem Standort war ein Luftweg von ungefähr einhundert Metern.<br />

Die zeternden Vögel hatten ihn auf eine Idee gebracht: Er müsste sich als<br />

Hobbyornithologe ausgeben. Was brauchte er dazu mehr als seinen Fernstecher, eine<br />

sichtbare Vogelkarte und die Frechheit, sich bei den Bewohnern des Hauses vorzustellen und<br />

um Genehmigung bitten, ihr Grundstück für die „Vogelbeobachtung“ betreten zu dürfen.<br />

Noch auf seiner Rückfahrt kaufte Holt in der Buchhandlung im Multiplaza eine Vogelkarte<br />

und beim Fleischer eine Packung billiger „Salchichas“ für die Hunde.<br />

Am nächsten Morgen brach er zur Observation als Vogelkundler auf. Sein Ziel: nur ein<br />

einziger schräger Vogel. Die Bewohner des Hauses und die Hunde waren überrascht, als Holt<br />

vor ihnen stand. Eine ältere Frau mit zwei kleinen Kindern hörte sich Holts Anliegen an. Als<br />

dieser freundlich die mit Rotz beschmierten Kinder streichelte und ihnen ein paar Scheine in<br />

die Hand drückte, war das Eis gebrochen. Holt bekam die großzügige Erlaubnis, das<br />

Grundstück jederzeit zu betreten. Nachdem die Hunde sich die Hälfte der Würstchen<br />

einverleibt hatten, war der Weg frei zum Ufer.<br />

Das linke Ufer war tatsächlich flacher. Langsam stieg Holt zum Fluss hinunter,<br />

sorgfältig darauf achtend, nicht auszurutschen und ins wild schäumende Wasser zu fallen.<br />

Bereits vom Haus der Grundstückseigentümer aus hatte er sich eine Landmarke in der<br />

Landschaft gesucht, um direkt beim Haus mit der Satellitenschüssel am Schilfgürtel<br />

herauszukommen. Ein hoher Urwaldriese, mit leuchtend roten Blüten diente dazu. Dieser<br />

stand bereits am rechten Ufer, vor dem Holt den Übergang fand. Die höher herausragenden<br />

Steine waren oben trocken, die flacher gelegenen mit Moos bewachsen und gefährlich glatt.<br />

Von Stein zu Stein bewegte er sich vorwärts. Bei jedem Brocken aufs Neue darauf achtend,<br />

den nächsten Sprung zu wagen. Es ging alles gut, nach sechs Sprüngen stand er auf einer<br />

Felsnase am linken Ufer. Über ihm ragte eine ungefähr zehn bis fünfzehn Meter hohe, stark<br />

bewachsene Klippe empor. Aus dem Urwaldriesen, mit seinen roten Blüten, hingen zahlreiche<br />

Lianen, die bis zum Boden reichten oder die durch das sprudelnde Wasser mit dem Strom<br />

mitgerissen und zurückschnellten. Zögernd packte Holt eine dieser armstarken Lianen und<br />

prüfte ihre Haltefestigkeit. Er griff höher und ließ sich wie ein Sack daran schaukeln. Die<br />

Liane hielt. Nun mache ich bereits Tarzan Konkurrenz, dachte Holt, als er sich höher und<br />

höher hangelte. Mit den Füßen stützte er sich am Fels oder den daraus hervorquellenden<br />

294


Wurzeln der Sträucher und an Farnbündeln ab. Nachdem er zwei Drittel der Böschung<br />

bezwungen hatte, fiel die Steigung etwas ab. Die letzten Meter konnte er auf allen Vieren<br />

krabbelnd bis zur Straßenebene zurücklegen. Von dort aus trennten ihn nun nur noch der<br />

ungefähr zwanzig Meter breite, dicht bewachsene Schilfgürtel. Langsam schob er sich<br />

vorwärts, indem er den durch die Natur gebildeten Weg folgend, die Schilfrohre beiseite bog.<br />

Vor sich sah er einen mit Klettergewächsen zugewachsenen Zaun, besser gesagt, die<br />

bewachsenen Reste eines solchen ehemaligen Zaunes. Vor sich war nur noch die grüne<br />

Sichtblende. Als Holt die Pflanzen in einem Drahtgitterteil beiseiteschob, sah er Schulz zehn<br />

Meter weiter auf der Straße, mit einer älteren Frau sprechen.<br />

Der Rückweg fiel leichter. Noch weit vor dem Haus rannten die Hunde kläffend auf<br />

ihn zu. Sie wollten weitere Wurst und wedelten freudig mit den Schwänzen. Die alte Frau<br />

erkundigte sich freundlich, ob er nun genug Vögel beobachtet habe. Holt zeigte ihr auf der<br />

Vogelkarte einen Tukan und sagte, dass er diesen gesehen habe, aber nur aus weiter Ferne und<br />

ob es möglich sei, in den nächsten Tagen wieder zu kommen. Die Frau, welche die<br />

Geldscheine nicht vergessen hatte, sagte freundlich zu.<br />

Maurizio hatte sich nicht mehr sehen lassen, er ging nicht ans Telefon. Raffa II stellte sich<br />

auch taub. Pauline gab Holt den Rat, es alleine zu versuchen. Bei ihr gab es nichts Neues, bis<br />

auf das Gerücht in der Cita, Holt sei wegen Steuerschulden getürmt. Wer dieses Gerücht in<br />

die Welt gesetzt hatte, konnte Pauline dem erstaunten Holt nicht erzählen.<br />

Auch wenn das Zimmer in Belén billig war, so kostete es dennoch Geld, welches Holt kaum<br />

noch hatte. Der Besuch bei Lutz war positiv, er rückte den Taser heraus, jedoch nicht ohne<br />

Holt vorher zu ermahnen, damit keinen Mist zu bauen. John war am Telefon, versuchte Holt<br />

jedoch abzuwimmeln. Die Schulden, die er noch bei ihm hatte, konnte er nicht zurückzahlen.<br />

Als Ersatz bot er Holt eine Tätigkeit als Vizepräsident einer Firma auf den Bahamas an, aber<br />

erst in der Zukunft, wenn er selbst alles in den „Tüten“ habe. Solche Angebote und<br />

Vertröstungen kannte er aus der Vergangenheit. John war ein Loser. Aus schlechtem<br />

Gewissen, sofern er eines hatte, oder aus anderen Gründen, welche Holt auf Anhieb nicht<br />

durchschaute, bot er diesem eine Unterkunft an. Holt nahm an, noch am gleichen Nachmittag<br />

zog er bei John ein.<br />

Wider Erwarten war John aufgeschlossen und bemüht Holt zu helfen. Er ließ sich von<br />

dessen, bisher erfolglosen Bemühungen, ausführlich erzählen. Als ehemaliger amerikanischer<br />

Anwalt hatte er bezüglich Holts Pläne jedoch Bauchschmerzen. Diese hatte Holt auch einmal<br />

gehabt, aber die Pille Hass hatte sie vergehen lassen. Nachdem sich Nidia, Johns Frau, ins<br />

andere Zimmer verzog, erörterten sie gemeinsam die Idee, den Zugriff auf Schulz, doch in<br />

dessen Haus vorzunehmen. Holt wollte zuerst ganz vorsichtig die Gitter dicht an der linken<br />

Ecke des Doppelhauses aufsägen, um dann eng an der Hauswand entlang zum zweiten<br />

Trenngitter zu dem Teil, in dem Schulz lebte, zu kommen. Dort müsste er wieder ein Gitter<br />

aufsägen, um zum Abstellplatz des Autos zu gelangen, direkt vor der Haustür. John hört zu,<br />

schüttelte jedoch zum Schluss den Kopf.<br />

„Nein Hans,“ begann er, „das kannst du so nicht machen. Das wird zu laut sein. Jeder<br />

im Haus wird wach und der Gangster wird auf dich schießen und dich dabei vielleicht<br />

umbringen ... und er ist damit sogar noch im Recht, denn du bist ein Einbrecher. Hier in Costa<br />

Rica kannst du bei einem Einbruchsversuch im eigenen Haus jeden Einbrecher umbringen,<br />

ohne ein Problem zu bekommen.“<br />

Holt hatte auch schon an den möglichen Lärm gedacht und vorgehabt alles ein wenig<br />

durch mitgebrachte Lumpen zu dämpfen, aber Geräusche beim Sägen von Eisen blieben laut.<br />

Johns Argumente waren daher leider zutreffend.<br />

„Einen anderen Weg sehe ich jedoch nicht, ich weiß wirklich nicht mehr, wie ich es<br />

allein schaffen kann,“ antwortete Holt deprimiert. „Ich sollte den Hund einfach am hellen Tag<br />

295


schnappen, einfach vor seiner Tür. Ihm die Waffe unter die Nase halten und mit ihm ins Haus<br />

gehen.“<br />

„Das ist wohl das Sicherste, womit Schulz auch nicht rechnet,“ antwortete John. „Aber<br />

mit einem Elektroschocker kannst du den Kerl nicht nachhaltig beeindrucken. Du musst ihn<br />

sofort außer Gefecht setzen, bevor ihm bewusst wird, was mit ihm geschieht. Taser an den<br />

Hals, abdrücken, den Mistkerl auffangen und sofort aufs Grundstück zerren. Tor zu und<br />

basta.“<br />

Holt war von dem rabiaten Vorschlag überrascht. So etwas hatte er von John nicht<br />

erwartet. Aber es ging ja nicht um dessen Haut, sondern um seine. Der Vorschlag war nicht<br />

von der Hand zu weisen. Er sollte sich sichtbar in der Nähe aufhalten, am besten drei bis fünf<br />

Meter weiter vor dem Tor des Nachbarhauses, als Wartender getarnt. Sichtbar für alle, das<br />

würde den geringsten Verdacht erwecken. Am Besten wäre es, mit irgendeiner Ware zu<br />

warten, und wenn es nur ein leerer Karton sei. Holt schaute dabei auf den Schrank, auf dem<br />

John einen Computerkarton stehen hatte. Die Buchstaben „DELL“ stachen direkt ins Auge,<br />

das würde Schulz genauso wahrnehmen müssen. Vom Nachbartor bis zum aussteigenden<br />

Schulz müsste Holt einen Weg von ungefähr sechs bis acht Metern in vier Sekunden<br />

zurücklegen. Das ist zu schaffen. John erklärte sich bereit, Holt dort in aller Öffentlichkeit<br />

abzusetzen.<br />

*<br />

Es war schon Mitte Mai und Holt war bereit. Nachdem John ihn vorm Nachbartor abgesetzt<br />

hatte, hockte er sich neben dem großen, leeren Karton hin, mit dem Rücken am Torpfeiler<br />

gelehnt. Er hatte die Sonnenbrille aufgesetzt und die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen.<br />

Die Zeit ging auf drei viertel Sechs zu, Feierabend für Schulz, aber auch für die Nachbarn, die<br />

nach Holts Recherchen jedoch erst gegen halb sieben Uhr kamen. Pünktlich tauchte an der<br />

Ecke der BMW auf. Langsam fuhr er auf das Tor zum Haus zu. Holt hörte das Tor aufgehen,<br />

der Wagen machte einen Linksschlenker, um auf den Abstellplatz zu fahren. Er konnte durch<br />

das Beifahrerfenster sehen, wie Schulz sich aus dem Fenster lehnte und über die Schulter<br />

sprach. Auf der anderen Straßenseite stand eine Frau mit einem Gartenschlauch in der Hand,<br />

im Begriff, ein dort abgestelltes Auto zu waschen. Noch vor zwei Minuten, als Schulz um die<br />

Ecke kam, war sie noch nicht da. Es waren nur Höflichkeitsfloskeln, die Schulz mit seiner<br />

Nachbarin austauschte. Kurz vorher hatte Holt wahrgenommen, wie Schulz ihn schnell<br />

gemustert hatte. Dann war er auf seinem Abstellplatz, das Tor ging langsam wieder zu. Holt<br />

hörte, wie der Motor ausging, die Autotür zuschlug und eine Tür aufgeschlossen und wieder<br />

geschlossen wurde. Langsam stand er auf und schaute noch einmal zur Tica hinüber. Diese<br />

war emsig dabei, ihr Auto zu reinigen und achtete nicht auf Holt, der den Karton aufnahm und<br />

sich langsam entfernte. So ein Mist, diese alte Kuh, muss die gerade jetzt ihre Karre<br />

reinigen!, fluchte Holt still vor sich her. Noch einmal den „Kartontrick“ anzuwenden war<br />

nicht möglich, wieder war eine Woche Zeit verloren, die er eigentlich nicht mehr hatte und er<br />

besaß nur noch neunzig Dollar.<br />

Im Tex-Mex traf er zwei Tage nach dem Misserfolg Christina. Sie sprach Holt an und fragte<br />

nach, ob er schon etwas in Sachen Schulz erreicht habe. Holt verneinte. Sie winkte einen<br />

Mann herüber, der auf der gegenüberliegenden Seite an der Bar saß. Dieser Mann kam Holt<br />

bekannt vor. Es handelte sich um einen Angestellten namens Ivo, welcher mit Schulz die<br />

Vermietung der Häuser organisiert hatte. Im rechtlichen Sinne war Schulz bei dem van Borns<br />

Subunternehmer, er makelte namens und im Auftrage der Firma, aber als selbstständiger<br />

Makler auf eigenes Risiko. Bei dem van Borns hatte jedoch in der letzten Zeit alleine das<br />

Risiko gelegen. In alle, durch Schulz vermittelte Häuser wurde in der Nachfolgezeit<br />

eingebrochen, offensichtlich mit Nachschlüsseln. Ivo rief einmal im Monat seine Makler zu<br />

296


einem Meeting zusammen. Während dieser Zeit könnte Holt in das Haus eindringen und auf<br />

den Zurückkommenden warten. Aber die Nica, was sollte er mit der machen? Diese kannte<br />

ihn noch aus der Vergangenheit und das war nicht gut. Etwas berichtete Ivo noch, was für<br />

Holt äußerst interessant erschien. Schulz hatte ohne erkennbaren Grund das benachbarte Haus<br />

auch angemietet. Dieses gehörte dem gleichen Eigentümer. Bei einem Besuch im Hause von<br />

Schulz hatte Ivo im Wohnzimmer durch Zufall etwas mitbekommen. Ihm war aus seinem<br />

Klemmbrett der Kugelschreiber heruntergefallen. Als er diesen aufhob, hatte er unter dem<br />

Schrank nachmontierte Rollen bemerkt. Dieser Schrank stand an der Wand zum Nachbarhaus.<br />

Über diesen vermeinte Ivo noch den oberen Teil eines Türrahmens gesehen zu haben. Warum<br />

sollte so ein Schrank Rollen haben? Auf dem Holzfußboden sah Ivo dann auch die<br />

Kratzspuren. Der Schrank war in der Vergangenheit desöfteren bewegt worden. Warum? Ivo<br />

hatte diese Angelegenheit bereits vergessen. Als er die Geschichte Holt erzählte, war es<br />

diesem klar, was das bedeutet. Schulz hatte sich im Nebenhaus ein Lager für Diebesgut und<br />

ein mögliches erstes Versteck im Falle einer Flucht geschaffen. Er hatte dort mit Sicherheit<br />

seinen Safe stehen. Wenn es tatsächlich so eine Verbindung gab, könnte Holt diese auch für<br />

sich nutzen. Die linke Außenwand des Nachbarhauses lag dicht an der Schilfzone und der<br />

Blick zur Wand war durch den Rest eines bewachsenen Zaunes verdeckt. In der Nacht sollte<br />

es möglich sein, ein Loch in die Wand, die wie überall in Costa Rica aus zusammen<br />

gemauerten Zementsteinen bestand, zu brechen. Holt wollte sich noch einmal damit<br />

beschäftigen.<br />

John erklärte ihm, in der kommenden Woche Besuch zu bekommen. Bis dahin müsste er mit<br />

der Sache fertig sein oder auch ohne Erledigung ausziehen. Keine gute Perspektive.<br />

Holt dachte darüber nach, was wohl aus dem Mittäter Volker geworden sei. Beim letzten<br />

Treffen vor fasst drei Jahren hatte der sich bei Holt wegen seiner Mitwirkung an den<br />

Betrügereien entschuldigt. Damals hatte er sich glaubhaft damit herausgeredet, selbst von<br />

Schulz getäuscht und betrogen worden zu sein. Unverkennbar war jedoch sein Hass auf<br />

Schulz. Dies vereinte Holt mit Ross, vielleicht konnte es Grundlage für eine Kooperation<br />

sein? Von Rolf, dem Inhaber des deutschen Restaurants Hamburg in San Pedro, hatte er beim<br />

letzten Besuch erfahren, dass sich Ross noch in San José aufhielt, wo genau konnte er jedoch<br />

nicht sagen. Als Holt anrief, kam Roberta, Rolfs Frau, ans Telefon. Roberta sprach davon,<br />

dass jeden Mittwoch Ross zu Mittag kommt. Heute war Mittwoch. Bereits zwei Stunden<br />

später saß Holt im Restaurant Hamburg vor seinem deutschen Bier. Ungefähr zehn Minuten<br />

vor ein Uhr erschien eine unglaublich hübsche und selbstsichere Frau. Sie setzte sich ohne<br />

Hemmungen neben Holt, der diese anfänglich für „eine vom Gewerbe“ vermutete. Sie sprach<br />

ihn aber nicht an sondern orderte bei Roberta zwei Essen und Getränke. Bevor Roberta noch<br />

etwas sagen konnte, sah Holt durch das Fenster Ross auf das Restaurant zukommen und<br />

eintreten. Zielgerichtet ging er auf die Frau zu und setzte sich neben sie. Gleichzeitig legte er<br />

seinen Arm um ihre Schultern und küsste sie auf die Wange. Sie gehörte also zu Ross. Dieser<br />

beugte sich ein wenig vor und schaute über die Sonnenbrille forschend zu Holt herüber,<br />

erkannte ihn jedoch nicht. Holt nahm seine Sonnenbrille und die Kappe ab.<br />

„Wie geht’s dir Volker? Siehst ja gesund und munter aus, voller erotischer Energie.“<br />

Ross drehte sich halb auf dem Stuhl herum und starrte Holt mit offenem Mund irritiert<br />

an. Seine linke Hand war hinter den Rücken unter das offen getragene Hemd gerutscht. Dort<br />

hatte er gewöhnlich eine Waffe stecken, wie Holt sich erinnerte.<br />

„Wer ... „ er schaute immer noch verdutzt, bis ihm die Erinnerung kam, „... Hans bist<br />

du das?“<br />

Die Schöne war durch die instinktive Handbewegung von Ross zur Waffe<br />

aufgeschreckt. Mit geweiteten Augen schaute sie Holt ins Gesicht, um zu erkennen, ob von<br />

297


diesem eine Gefahr drohte. Als sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, das Ross seine Hand<br />

wieder vorne auf seinem Oberschenkel liegen hatte, entspannte sie sich.<br />

Ross war es nicht im Geringsten peinlich, damals Holt mit abgezockt zu haben. Er glaubte<br />

durch sein Geständnis vor Jahren, von ihm Absolution erhalten zu haben. Leutselig lud er<br />

Holt zu einem Bier ein und erzählte drauflos, was er in den letzten drei Jahren so erlebt hatte.<br />

Zurzeit war er in einem Internetladen beschäftigt, in dem er Teilhaber war. Seine Freundin<br />

würde dort die Bücher führen. Beide wohnten zusammen mit zwei Hunden in Pozos. Das war<br />

nicht weit von Johns Haus. Als er an ihn dachte, erinnerte er sich wieder an die bevorstehende<br />

Unterkunftsfrage. Geschickt versuchte er Ross auszufragen, ob seine Behausung groß genug<br />

für einen Gast sei. Ross war nicht dämlich.<br />

„Mensch Hans sage doch gleich, dass du nach einer Bude suchst. Da ich auch glaube<br />

zu wissen, was du alleine hier in Costa Rica machst, biete ich dir Unterkunft und auch Hilfe<br />

an, dem Langen den Hals umzudrehen.“<br />

Holt war mehr als überrascht, abstreiten, lohnte sich nicht. Vorsichtig gab er zu,<br />

wegen Schulz hier zu sein und er zeigte Bereitschaft, das Angebot bezüglich der Hilfe gegen<br />

Schulz anzunehmen. Ausführlich erzählte Holt die “abgespeckte“ Variante seiner Absichten.<br />

Ross hörte aufmerksam zu.<br />

„Hans, du kannst mir nicht verklickern, du willst nur an dein Eigentum ran, das nehme<br />

ich dir nicht ab. Ich vermute, du willst ihn auch ein wenig zur Rechenschaft ziehen. Ich würde<br />

es jedenfalls machen ... und wenn du das nicht tust, bist du ein Weichei.“<br />

Holt fühlte sich nicht als Weichei, aber so einem gefährlichen Mann wie Ross alle<br />

Details seiner Absichten mitzuteilen, erschien ihm dennoch zu riskant. Wenig später kam er<br />

mit Ross überein, am nächsten Tag umzuziehen. Er war gespannt, wie viele Gegenstände aus<br />

seinem Eigentum er bei diesem finden würde.<br />

Das Haus lag in Pozos, ungefähr achthundert Meter von Johns Haus entfernt, jedoch östlich<br />

der Autopista, näher an Santa Aña heran. Vom hundert Meter entfernten zentralen Dorfplatz,<br />

in einer Nebenstraße, welche sichtbar ins Nirwana führte, verborgen hinter hohen Gittern mit<br />

angeschweißten Wellblechen, fand Holt das von Ross beschriebene Haus. Die Klingel<br />

funktionierte. Irgendwo hörte er gedämpft das Klingeln und wildes Hundegebell, was lauter<br />

wurde und hinter dem Tor in starkes Winseln überging. Langsam öffnete sich das Schiebetor.<br />

Im immer größer werdenden Spalt erschienen zwei kleine Hundeschnauzen, danach die Köpfe<br />

und die Körper. Holt war erstaunt, von solch kleinen Winzlingen mit solcher Lautstärke<br />

empfangen zu werden. Während die Hündchen um Holt herumsprangen, ging er durch die<br />

Toreinfahrt auf die Schöne zu, die an der Eingangstür wartete. Sie wusste Bescheid, begrüßte<br />

Holt freundlich und zeigte diesem sein neues Quartier. Ross war noch unterwegs, er ließ<br />

mitteilen, bis zum Abendbrot zu Hause zu sein. Während des Rundganges schaute sich Holt<br />

das Inventar an. Zu seiner Überraschung fand er kein Teil, welches aus seinem Eigentum<br />

stammte. Entweder hatte Ross diese aus Schamgefühl beiseitegeschafft, oder er hatte sich<br />

damals nicht an Holts Inventar bereichert.<br />

Beim gemeinsamen Abendessen beteuerte Ross nochmals seine Mitwirkung an der<br />

„Schweinerei“, wie er sich ausdrückte. Holt, in Kenntnis eines Teils der Vita von Ross, nahm<br />

diesem die Reue nicht ganz ab. Wahrscheinlich glaubte dieser selbst daran und durch<br />

Kooperation mit Holt, sich auch noch an Schulz zu rächen. Nach eigenem Bekunden sollte<br />

Schulz Ross hintergangen und betrogen haben. Der betrogene Betrüger dachte Holt und dabei<br />

an die Worte Professor Bilkes, welche einmal zu Unrecht ihm galten. Ross wollte detailliert<br />

wissen, was er bislang unternommen habe. Ausführlich erzählte er dem gespannt lauschenden<br />

Ross seine letztlich nutzlosen Bemühungen.<br />

„Mensch Hans,“ begann er seinen Kommentar, „Du kannst doch nicht mit einem Taser<br />

auf den Langen losgehen. Der nietet dich mit seiner Luger sofort um, da hast du keine<br />

298


Chance.“ Er dachte einen Moment nach. „Ich gebe dir eine 45er, die hab ich übrig. Da ist die<br />

Nummer abgeschliffen und im Lauf habe ich nach dem letzten Besitzer technisch ein paar<br />

Änderungen angebracht. Wenn der letzte Eigentümer damit jemanden erschossen hat, kann<br />

kein Projektilvergleich zu dieser Waffe führen.“<br />

Ross war stolz auf seine professionellen Kenntnisse eines Berufskillers und zeigte<br />

offen diesen Stolz auch Holt. Der nahm instinktiv diese Abgebrühtheit zum Anlass, sich<br />

dessen Hilfe durch Schmeicheleien zu sichern.<br />

„Du bist ein richtiger Profi Volker,“ begann er seine Lobhudelei, „sicherlich hast du<br />

schon so manches Schwein umgenietet.“<br />

Ross schwankte zwischen Angeberei und Vorsicht. Letztlich ließ er sich zu einer<br />

„abgespeckten“ Version seines bisherigen Verbrecherlebens herab.<br />

„Klar hab ich schon geschossen, aber immer nur in Notwehr und wenn es unumgänglich war.<br />

Ob dabei jemand dran glauben musste, weiß ich nicht und ich will es auch gar nicht so genau<br />

wissen. Das belastet nur und das brauche ich nicht in meinem Leben.“<br />

Holt dachte, Du verdammter Lügner! Von seiner ehemaligen Auftraggeberin in der<br />

Nicaraguasache hatte er es schwarz auf weiß bekommen. Damals wurde Ross zwar<br />

anschossen, aber nach seiner Rückkehr in San José, musste ein verräterischer Anwalt durch<br />

einen aufgesetzten Schuss sterben. Ross war zwar nicht der Einzigste, der sich an dem Anwalt<br />

rächen wollte, jedoch derjenige, der Holt kannte, der dazu in der Lage war.<br />

Nachdem sich die Schöne ins Schlafzimmer verzog, schmiedeten die beiden Männer einen<br />

Plan. Dieser sah anders aus, als die vorherigen Bemühungen. Ross riet Holt davon ab, Schulz<br />

im eigenen Haus zu überrumpeln. Da lagen nach seiner Meinung zu viele Gefahren, die man<br />

vorher nicht berücksichtigen konnte. Ein Zugriff auf neutralem Boden war sicherer. Dabei<br />

sollte der Ort sorgfältig ausgesucht werden. Nicht einsehbar, keine fremden Personen und<br />

Fluchtwege. Man müsste entweder Schulz in eine Falle locken oder diesen an einem Ort<br />

überwältigen, den er aus Gewohnheit desöfteren passierte. Eine für Schulz vertraute<br />

Umgebung bedeutete gleichzeitig das Nachlassen dessen krankhafter Vorsicht. Eines behagte<br />

Holt nicht ganz an den Planvorschlägen von Ross. Er wollte den Tod von Schulz und wie es<br />

sich immer mehr aus der Planung heraus kristallisierte, Holt sollte den Zeigefinger krümmen.<br />

Ein unangenehmer Gedanke, Regieanweisungen von einem Mann zu erhalten, dem er nicht<br />

traute. Um die Planung durch solche Skrupel nicht zu gefährden, legte er das Schwergewicht<br />

der geplanten Aktion auf die Festsetzung von Schulz und dessen „Vernehmung“, in der stillen<br />

Hoffnung, Ross von seiner Rachlust abzubringen und dessen Gier nach Vermögen in den<br />

Vordergrund zu rücken. Darauf vertraute er.<br />

Der Plan war fertig: In der parallel verlaufenden Nebenstraße zu der Straße, in der<br />

Schulz wohnte, befand sich am letzten Ende des Weges, von hohem Schilf verborgen, ein<br />

geeignetes Haus. Dieses war zurzeit nicht bewohnt. Hohe Gitter mit Stacheldraht, Ketten mit<br />

Schlössern vor dem Tor deuteten auf maximale Sicherheit des Hauses und die Abgelegenheit<br />

für Sicherheit bei der Aktion. Wie Ross Holt mitteilte, hatte Schulz seinen Traum nach einem<br />

eigenen Bordell noch nicht aufgegeben. Voraussetzung für solch ein Gewerbe, war neben den<br />

Dienstleiserinnen, natürlich ein geeignetes Haus mit mehreren Räumen, Abgeschiedenheit für<br />

die Diskretion und ein großer Hof, besser noch, ein Innenhof. Dieses Haus hatte alle diese<br />

Vorteile, nur, der derzeitige Eigentümer hatte keine Verkaufsabsicht. Das war jedoch für die<br />

Durchführung des Planes unwichtig. Der Zugang zum Haus war auch nicht notwendig. Ross<br />

wusste aus Erfahrung, dass Schulz vor einer Besichtigung, sich das angebotene Objekt erst<br />

einmal vorher anschaut, um ein Gefühl für die Lage und Größe zu bekommen. Darauf<br />

vertraute Ross auch jetzt. Ein Freund von ihm, Student der Rechte an der Universität in San<br />

José, sollte Schulz das Haus als angeblicher Sohn des Eigentümers für ein nicht<br />

abzulehnendes Schnäppchen anbieten. Ross erwartete, dass Schulz sich das Haus erst einmal<br />

anschauen würde. Ob er aus seinem Auto ausstieg, war fraglich. Sicher war allerdings, er<br />

299


würde das Objekt als Bordell geeignet finden und am folgenden Tag zur vereinbarten<br />

Besichtigung kommen. Am Vortage sollte Holt sich in der Nähe des Hauses versteckt<br />

aufhalten, um mitzubekommen, ob Schulz tatsächlich Interesse hat und ob dieser dort nicht<br />

irgendein „Ei“ verbuddeln würde. Der Plan hörte sich gut an, aber klappt er auch? Holt<br />

glaubte, „Ja“.<br />

*<br />

Irgendetwas stimmte nicht mehr in der Beziehung von Ross mit der Schönen. Zuerst hatte er<br />

Holt erzählt, sie seien verheiratet. Nach und nach erkannte Holt daran die Unwahrheit. Sie<br />

lebten zusammen, waren jedoch nicht verheiratet. In den letzten Tagen bekam Holt aus den<br />

abendlichen Gesprächen mit, die Schöne wolle zurück nach Mexiko City. Bei einer ihrer<br />

Observationsfahrten hatte Holt Ross gezielt daraufhin angesprochen. Er war freimütig und<br />

erzählte dem erstaunten Holt die Wahrheit.<br />

Die Schöne war vorher in Mexiko mit einem reichen Mann liiert und hatte sich einige Jahre<br />

aushalten lassen. Während einer Besuchsreise bei ihren Verwandten in Costa Rica lernte sie<br />

Ross kennen und war bei ihm geblieben. Dem verlassenen Mexikaner hatte sie immer eine<br />

Rückkehr in Aussicht gestellt, sofern sie von der Pflege ihrer kranken Mutter wieder<br />

abkömmlich sei. Besagte kranke Mutter war jedoch putzfidel. Nachdem das Geld bei Ross<br />

knapper wurde und die Schöne sich immer mehr an die guten Zeiten mit dem Mexikaner<br />

erinnerte, wuchs ihr Wunsch, in die Geborgenheit Mexikos zurückzukehren. Ross hatte<br />

vehement interveniert und versucht, sie von dieser Idee wieder abzubringen. Aber erfolglos.<br />

Als Trostpflaster hatte sie ihm dann ihre kleine Cousine ins Bett gelegt. Ross war besänftigt.<br />

Nun hatte er zwar keine wilde Gespielin mehr, dafür jedoch eine kleine feurige Hexe, der er<br />

noch vieles beibringen konnte.<br />

Holt hatte mit Erstaunen den fliegenden Wechsel wahrgenommen. Die Schöne war<br />

zwar ein kontinuierlicher Augenschmaus, hatte die Fantasien des alleine lebenden Holt jedoch<br />

unnötigerweise angeregt. Mit der Neuen war es anders. Sie war biologisch noch ein halbes<br />

Kind, an der sich der sexuell normal veranlagte Holt nicht erfreuen konnte. Im Gegenteil, das<br />

nuttige Verhalten dieses kleinen Biestes widerte ihn an. Die Kleine war strohdumm, aber<br />

verschlagen. Die hübschen, aber tückischen Augen bewegten sich in ihrem Gesicht wie kleine<br />

flinke Wiesel, die nach Beute suchten. Daher fiel es ihm schwer, seine Antipathie zu<br />

verbergen.<br />

*<br />

In der letzten Nacht vor dem geplanten Zugriff konnte Holt nicht schlafen. Ungefähr gegen<br />

zwei Uhr wurde er wach, als er eine Stimme in weiter Ferne hörte. Volker telefonierte. Er<br />

sprach Englisch und versuchte seine Stimme zu dämpfen. Holt fragte sich, was der wohl<br />

mitten in der Nacht so dringend zu besprechen habe. Einige Worte konnte er verstehen. Es<br />

war von Krokodilen die Rede, von erledigter Arbeit, und was danach geschehen sollte.<br />

Während des Gesprächs lachte er ein paar Mal laut auf, dämpfte dann aber wieder seine<br />

Stimme. Was konnte er gemeint haben: Wenn die Arbeit erledigt sei, wird "jemand" den<br />

Krokodilen vorgeworfen? Damit konnte er nur Holt meinen. Also befand er sich in größter<br />

Gefahr. Er hatte es wohl für möglich gehalten, aber jedoch immer wieder weit von sich<br />

geschoben. So etwas traute er Ross zu, obwohl er der Meinung war, dass er vor einem Mord<br />

an ihm zurückschrecken würde. Die Ereignisse in Nicaragua hatten es ja bewiesen, dass er<br />

bereit war, für schlappe fünfzigtausend Dollar jemanden zu entführen oder sogar zu töten.<br />

Es wurde Holt klar, diese Aktion kann ihn sein Leben kosten. Das war die gesamte Sache<br />

nicht wert, für vielleicht zweihunderttausend Dollar sein Leben zu riskieren oder den Rest des<br />

300


Daseins Invalide zu sein. In den nächsten zwei Stunden überdachte er nochmals die Situation<br />

und traf dann die Entscheidung. Sein Entschluss stand fest: Er musste beim Aufwachen von<br />

Ross bereits verschwunden sein. Schnell zog er sich an, packte alle Sachen in seinen Koffer<br />

und in die Reisetasche. Die Pistole legte er in den Büroschrank von Ross zurück. Danach<br />

schaute er sich um und beseitigte alle Spuren, wischte überall seine Fingerabdrücke ab,<br />

inklusive die auf der Pistole, und schrieb kurz eine Notiz an Ross. Darauf stand, dass er sich<br />

für seine Bemühungen bedanke und ihm in der Zukunft alles Gute wünsche. Bereits beim<br />

Hinausgehen, kam er noch auf eine Idee. Mit ein paar Schritten war er zurück im Büro,<br />

öffnete die Schranktür, die er gerade, vor drei Minuten geschlossen hatte und zog das hinter<br />

alten Putzlappen und Kartons versteckte Gewehr hervor und griff nach einer Schachtel<br />

Munition. Mit diesem Gewehr hatten er und Ross in der letzten Woche im Garten auf leere<br />

Blechbüchsen geschossen. Der Lauf war nach dem Kauf gekürzt und über dem<br />

Munitionsschloss war ein Zielfernrohr angebracht worden.<br />

Ganz leise öffnete er die Türen und trug seinen Koffer und die Tasche heraus. Die Außentür<br />

klemmte, er drückte den Riegel nach links und hob am Türknauf die Tür an und öffnete sie.<br />

Draußen sprangen ihm die beiden kleinen Hunde freudig entgegen. Er beruhigte sie, damit sie<br />

nicht mitten in der Nacht anfingen, zu heulen. Er öffnete danach das große Eisentor, schloss<br />

es von außen und warf den Schlüssel über das Tor auf die Hoffläche. Es wurde schon langsam<br />

hell, die Sonne stand noch unter dem Horizont und es war noch angenehm kühl. Auf der<br />

Straße trotteten mehrere Ziegen ohne Begleitung und sie rissen von den Palmen die untersten<br />

Blätter ab. An der Bushaltestelle wartete Holt ungefähr dreißig Minuten auf den Bus. Von<br />

Santa Aña bis nach Escazú fuhr der Bus ungefähr eine Stunde. Was nun? Was sollte er<br />

machen, ohne Geld, ohne Unterkunft, ohne Freunde - und eventuell einen neuen Feind im<br />

Nacken? Er musste so schnell wie möglich verschwinden. „Was wird Volker tun, wenn er<br />

feststellt, dass ich nicht mehr da bin?“, fing Holt an zu sinnieren. Da er bis auf das Gewehr<br />

nichts genommen hatte, und die Illusionen, ein verblendeter Idiot zu sein, konnte er eventuell<br />

damit rechnen, von Ross in Ruhe gelassen zu werden. Aus dem Brief der Österreicherin<br />

wusste er jedoch, dass Volker nicht zu unterschätzen war, dass man ihn fürchten musste,<br />

wenn man ihn zum Feind hat. Ist er mein Feind?, fragte sich Holt. Obwohl er nicht davon<br />

überzeugt war, hielt Holt es jedoch für ratsam, eine sichere Distanz zu Ross aufzubauen.<br />

Um neun Uhr machte das El Che auf. Holt war jedoch bereits um acht vor dem Restaurant.<br />

Alles war noch geschlossen. Im Vorgarten hantierte der "verrückte John", indem er an der<br />

weißen Außenwand Schmierereien anbrachte, die auf den ersten Blick die Handschrift eines<br />

Geisteskranken erkennen ließen. Holt nahm an, der Mann sei drogenabhängig und zurzeit<br />

wahrscheinlich auf Entzug. Er hatte ihn schon oft in der Kneipe gesehen. Er führte wilde<br />

Reden und gab sich als FBI-Agent aus. Darauf hatte Holt das Personal angesprochen und in<br />

Erfahrung gebracht, dass der arme Mann früher in den Vereinigten Staaten tatsächlich einmal<br />

beim FBI war, aber wegen Alkohol- und Drogenkonsum gefeuert wurde. Als John sich von<br />

Holt beobachtet fühlte, tat er so, als ob er etwas suche, entfernte sich ein paar Meter und<br />

wartete ab, was Holt machen würde. Holt ging jedoch an der Kneipe vorbei in Richtung<br />

Altstadt, um die Zeit bis zur Eröffnung des Restaurants mit einem Spaziergang zu<br />

überbrücken.<br />

Später, kurz nach Eröffnung, fand er das Personal erregt diskutierend im<br />

Eingangsbereich des Restaurants, aber John war nicht mehr zu sehen, er war bereits von der<br />

Polizei abgeholt worden. Auf seine Frage hin teilte ihm Bipo mit, die Polizei habe den armen<br />

Mann wohl direkt in die Abschiebehaft gebracht. Der Weg von Costa Rica nach Miami<br />

konnte auch kurz sein, jedenfalls für Leute, die es gar nicht wollten, im Gegensatz zu Holt,<br />

der gerne sofort nach Miami geflogen wäre.<br />

301


*<br />

Nach einem kurzen Anruf sagte Lutz zu, Holt für ein paar weitere Tage aufzunehmen. Sie<br />

verabredeten sich zu sechs Uhr abends bei Tom Tom, um gemeinsam nach Hause zu fahren.<br />

Es war Holt peinlich, innerhalb von zwei Monaten beim gleichen Freund um eine Unterkunft<br />

zu betteln. Beim ersten Besuch sah alles noch rosig aus. Holt hatte geglaubt, die<br />

Angelegenheit in wenigen Tagen erledigen zu können. Er hatte sich gewaltig verrechnet. Nun<br />

sah es wesentlich schlimmer, schlicht gesagt, es sah hoffnungslos aus. Als er ratlos vor dem<br />

Supermarkt Mas o Menos stand, kam auch schon der Bus nach Belén. Ohne weiter<br />

nachzudenken, stieg er wie in Trance ein und nahm im hinteren Bereich Platz. Im<br />

Unterbewusstsein nahm er die vorbeiziehende Landschaft wahr. Erst an der Ausfahrt in Santa<br />

Aña erkannte er die Sinnlosigkeit dieser Fahrt. Er stieg am Einkaufszentrum, direkt neben der<br />

Autopista aus und ging den hundert Meter langen Weg zum Zentrum hoch. Unschlüssig stand<br />

er auf dem Vorplatz und beobachtete die an- und abfahrenden Autos.<br />

Hinter dem Parkplatz führte ein Weg auf eine große, mit Blumen übersäte Wiese. Holt<br />

ging am Rande der Wiese entlang, bis sie endete. Der Weg führte jedoch weiter, machte einen<br />

kleinen Bogen und verschwand unter einer Brücke der Autopista. Wohin führt dieser Weg?,<br />

fragte sich Holt. Nach einigen Schritten stand er unter der Brücke. Der Weg war durch ein<br />

Gittertor abgesperrt. Eine Seite des Tores hing nur an einer Angel. Wenn man am oberen Teil<br />

drückte, sperrte die untere Seite auf. Holt bückte sich leicht und betrat ein unbekanntes Areal.<br />

Der Platz unterhalb der Brücke musste in der Vergangenheit Menschen als behelfsmäßige<br />

Behausung gedient haben. Die dort aufgestellten Reste von Möbeln und Hausrat sprachen<br />

dafür. Es war jedoch niemand zu sehen. Diese Notunterkunft musste schon vor längerer Zeit<br />

verlassen worden sein.<br />

Hinter der Brücke betrat Holt einen dichten Urwald. Nur der schmale Weg zog sich<br />

wie eine Schneise gleich durch fast unberührte Natur. Von weiter Ferne hörte er noch<br />

Verkehrslärm, welches beim immer tieferen Eindringen in das Naturreservat leiser wurde, bis<br />

es erlöschte. Nun waren nur noch die Geräusche der Natur zu vernehmen, das Summen von<br />

tausenden Insekten, das Zwitschern der Vögel und das Quaken der Frösche aus den<br />

Sumpfniederungen neben dem zuwachsenden Weg. Holt glaubte sich außerhalb der<br />

Zivilisation. Nach ungefähr vierhundert Metern verließ er den Weg und ging auf eine Reihe<br />

uralter, bewachsener Bäume zu. Beinahe wäre er eine tiefe Schlucht hinunter gestürzt. Der<br />

mit Kiefernnadeln übersäte Waldboden endete plötzlich in einem Gürtel grüner<br />

Schlingpflanzen, die bereits am Rande eines Abgrundes und darüber hinaus wuchsen. Tief<br />

unten sah Holt einen heftig strömenden Fluss durch das Gebirge brechen. Ihm gegenüber,<br />

nicht mehr als fünfzig Meter entfernt, lag die andere Seite der Schlucht. Vom Weg aus hatte<br />

er nur den bewachsenen Teil der anderen Seite sehen können und keinen Fluss erwartet. Oben<br />

am Rand hörte er das dumpfe Rauschen des Wassers, welches er einige Schritte vor dem<br />

Abgrund noch als das entfernte Rauschen des Verkehrs auf der Autopista gehalten hatte. Es<br />

war unglaublich, nur ein paar Hundert Meter weiter gab es Asphalt und Beton, hier nur<br />

schroffer Fels und uralte Bäume. Hier konnte man spurlos verschwinden ... oder hier konnte<br />

man „etwas“ spurlos verschwinden lassen, was nie wieder in der Zivilisation auftauchte. Zum<br />

Beispiel den leblosen Körper eines verhassten Feindes. Wenn man hier jemanden versenkte,<br />

würde der Körper nicht einmal bis zum Boden der Schlucht herab fallen. Er würde irgendwo<br />

im Gesträuch an den Felsen hängen bleiben und Futter der vielen Raubvögel werden. Bei<br />

diesen Gedanken machte sich bei Holt Genugtuung breit und die Absicht, Schulz hier wie<br />

Müll zu entsorgen. Er dachte an das Gewehr, welches er nun besaß.<br />

Die fixe Idee, Schulz nun endlich seinem verdienten Schicksal zuzuführen, nahm Holt jede<br />

andere Möglichkeit, eine rationelle Entscheidung zu treffen. Er versteifte sich immer mehr<br />

302


darin, die Waffe als finales Mittel in dieser Angelegenheit zu nutzen. Es war ihm egal, wie für<br />

ihn die Sache ausgehen würde. In seiner tiefen Verzweiflung war er blind vor Wut.<br />

Lutz fiel zwar die Wesensveränderung bei Holt auf, die er jedoch auf das Misslingen der<br />

vorherigen Bemühungen zurückführte. Er hatte zwar damit Recht, wusste aber nichts von den<br />

Plänen einer „Endlösung“, so wie Holt sie sich vorstellte. Bereits vor einigen Tagen hatte Holt<br />

den Taser zurückgegeben. Lutz war erleichtert, da er glaubte, nun sei für Holt die Sache<br />

erledigt, dieser hätte aufgegeben. Was Holt jedoch in seiner blauen Reisetasche hatte, ahnte er<br />

nicht.<br />

Holt hatte bereits beim Einzug angekündigt, nach drei Tagen wieder zu verschwinden.<br />

Für Lutz war es auch günstig, seine Frau kam am kommenden Wochenende aus Deutschland<br />

zurück. Holts Anwesenheit hätte Probleme aufgeworfen, da Lutz erklären müsste, warum<br />

Holt immer noch da war. In seinem Tagebuch schrieb Holt:<br />

Morgen früh werde ich in die letzte Schlacht ziehen. Egal, was kommt, der lange<br />

Mistkerl bekommt seine Quittung, direkt zwischen die Augen. Wenn es niemand mitbekommt,<br />

werde ich auch versuchen, an mein Geld zu kommen. Wenn nicht, ist es mir auch egal und<br />

wenn ich mir den Weg freischießen muss. Die Ticos sind doch alles Feiglinge. In dem Falle,<br />

dass ich es nicht schaffe, soll Pauline wissen, wo ich abgeblieben bin. Im besten Fall verrotte<br />

ich in einem Tico- Knast, im schlechtesten Fall in einer Tico- Kiste. Pauline soll wissen, ich<br />

habe sie geliebt und ich habe diese Verzweiflungstat unternommen, um auch unser Leben<br />

besser zu machen. Sie möge mir verzeihen.<br />

Als Holt mit seiner Tasche aus Lutz Wagen vor Tom Tom stieg, fragte er sich, ob er Lutz<br />

jemals wiedersehen würde. Er hatte angegeben, ein paar Sachen bei John abzugeben und sich<br />

auch von diesem zu verabschieden, da er ja nun doch nach Spanien zu Pauline zurückkehren<br />

wolle.<br />

Den Weg bis zur Seitenstraße, welche zur linken Seite des Flussufers führte, legte er<br />

zu Fuß zurück. Nach einer dreiviertel Stunde betrat es das Grundstück der Leute, die ihn für<br />

einen Vogelkundler hielten. Die zwei Hunde hatten ihn schon von Weitem entdeckt. Laut<br />

bellend liefen sie auf Holt zu. Am Morgen, beim Frühstück bei Lutz, hatte er von diesem<br />

unbemerkt, einige Wurststücke in eine Papierserviette eingewickelt und für diesen Fall<br />

eingesteckt. Die Hunde trollten sich nach der Fütterung und ließen ihn seines Weges ziehen.<br />

Die alte Frau stand an einem steinernen Waschtrog. Freundlich winkte sie dem<br />

vorbeigehenden Holt zu, der den Gruß erwiderte. Am linken Ufer des Flusses angekommen,<br />

schaute sich Holt erst einmal um, ob er nicht von Dritten beobachtet wurde. Im schattigen<br />

Unterholz sah er niemanden. Er hatte sich auf der leichten Anhöhe vor der Uferzone bereits<br />

umgedreht und mit dem Fernglas die Umgebung abgesucht. Man konnte bis zum<br />

Absperrgitter der Zufahrtsstraße sehen.<br />

Im Schutz eines wild wuchernden Strauches packte Holt seine Reisetasche aus. Unter<br />

einem Tarnumhang lag das Gewehr. Er hob es vorsichtig heraus. Das angeschraubte<br />

Zielfernrohr war in der Befestigung ein wenig verrutscht. Mit der Spitze seines<br />

Taschenmessers löste er leicht die vier Befestigungsschrauben, justierte das Zielfernrohr in<br />

die Gleitschiene neu und zog die Schrauben wieder an. Am Träger stellte er die Entfernung<br />

auf fünfzehn Meter ein, was auf der Skala die kürzeste mögliche Distanz war. Beim Öffnen<br />

der Patronenschachtel fluchte Holt, als er hineinschaute. Oben in der Patronenschachtel lagen<br />

nur leere Hülsen. Ganz unten lagen nur noch drei vollständige Patronen. Diese mussten eben<br />

reichen, eigentlich nur eine. Mit einem Taschentuch putzte Holt jede Patrone vorsichtig ab.<br />

Bevor er sie in das Patronenlager des Gewehrs drückte, hob er jede vor seinen Mund und<br />

pustete das letzte Staubmolekül ab. So hatte er es in einigen Filmen gesehen, wenn die Sniper<br />

ihre Waffen schussbereit machten. Er hielt es für eine notwendige Prozedur, auch für ein<br />

gutes Omen. Danach suchte er sich ein etwa in fünfzehn Meter Abstand befindliches Ziel. Er<br />

303


fand es, ein in einem Baum hängendes Wespennest, in der Größe von Schulzens Kopf. Im<br />

Fadenkreuz suchte er das Nest und fand es. Dort, wo beim Menschen die Augen liegen, hob er<br />

die Waffe ein wenig höher auf den imaginären Punkt einer menschlichen Stirn. Der<br />

Zeigefinger am Abzug krümmte sich. Holt spürte den Druckpunkt und zog durch. Der Knall<br />

wurde vom Geräusch der heftigen Wasserströmung übertönt. Das fünfzehn Meter entfernt<br />

hängende Nest hing scheinbar unberührt weiter am Ast. Nur ein paar aufgeschreckte Wespen<br />

umkreisten es aufgeregt. Habe ich vorbei geschossen?, prüfte Holt mit einem Blick. Mit dem<br />

Gewehr in der Hand trat er näher und schaute hoch. Im oberen Teil des Nestes sah er eine<br />

dunkle Stelle, welches ein Loch hätte sein können. Er holte sich das Fernglas und schaute<br />

durch. Dort an der Stelle, wo er sich auf dem Nest die Stirn vorgestellt hatte, klaffte<br />

tatsächlich ein kreisrundes Loch, aus dem verärgerte Wespen krochen.<br />

Die Tasche mit allen anderen Utensilien, selbst das Fernglas, ließ er unter dem Strauch<br />

versteckt zurück. In der linken Hand hielt er das Gewehr und unter dem Arm geklemmt, die<br />

Tarnplane. Jetzt ärgerte er sich, in die leeren Halteschlaufen des Gewehrs keinen Riemen oder<br />

ein Halteband gezogen zu haben. Seine Bewegungsfähigkeit war nur auf eine Hand<br />

konzentriert, was ein echtes, selbst verschuldetes Handicap war. Nachdem er über die Steine<br />

zum rechten Ufer sprang, schaute er sich noch einmal den Hang an. An der alten Stelle konnte<br />

er nicht mit einer Hand hochklettern. Etwa zwanzig Meter weiter Fluss abwärts fand er eine<br />

Verflachung des Hanges, die eine einhändige Besteigung ermöglichte. Dennoch war es nicht<br />

einfach. Zuerst musste Holt, sich an einer Liane festhaltend, die Beine hochziehen und für<br />

diese sichere Standplätze im bewachsenen Fels finden. Danach richtete er sich am Hang<br />

gepresst auf und fasste höher, um immer wieder die gleichen Bewegungen durchzuführen, bis<br />

er ganz oben angelangt war. Diese umständliche Prozedur hatte fasst alle seine Energie in<br />

Anspruch genommen. Während des Aufstieges hatte er laut geflucht, was jedoch nicht einmal<br />

Gott wegen der brüllenden Wassermassen gehört haben konnte.<br />

Am oberen Rand angelangt, ruhte er sich erst einmal aus. Nachdem seine Energie<br />

zurückkehrte, schlich er geduckt zur alten Schneise im Schilf. Durch die schmalen Öffnungen<br />

zum Himmel konnte er die Schüssel auf dem Dach sehen. Die letzten Meter bis zum Zaun<br />

waren leicht. Das von ihm im Zaun gebohrte Loch in den Ranken war inzwischen wieder<br />

zugewachsen. Sorgfältig bohrte er ein neues Loch und schaute mit bloßem Auge durch. Vor<br />

ihm lag der Eingangsbereich zu den zwei Häusern, die Schulz nutzte. Beim Anlegen der<br />

Waffe sah er, wie der Lauf unterhalb des Sichtloches im Zaun verschwand. Ist die Schusslinie<br />

wirklich frei?, dachte er verunsichert. Es hätte sich ja auch ein größerer Stein oder eine<br />

Erderhebung davor befinden können. Mit einem längeren Stock drückte Holt die Pflanzen<br />

auseinander. Er schaute durch. Die Schusslinie war frei!<br />

Im Unterholz fand er einen mittleren Stein und einen abgebrochenen Ast, die er zum<br />

Zaun schaffte, immer darauf achtend, sich nicht zu hoch aufzurichten, um nicht gesehen zu<br />

werden. Der Lauf lag fest eingeklemmt am unteren Punkt der Metallraute. Unter dem<br />

Patronenlager des Gewehrs legte er den Stein und den Ast und brachte die Waffe in die<br />

etwaige Schussposition. Das Ziel lag etwa fünfzehn Meter entfernt, in einer Höhe vom Boden<br />

zwischen ein und zwei Meter. Die Höhe des Ziels war davon abhängig, ob Schulz im Auto<br />

saß oder davor stand. Je nach Bedarf. Die letzte Korrektur der Höhe muss Sekunden vor dem<br />

Schuss vorgenommen werden.<br />

Holt hatte die Tarnplane am Boden ausgebreitet und sich darauf hingelegt. Nachdem<br />

er zum zwanzigsten Mal das Gewehr justierte, kam ihm in den Sinn, noch einmal zu<br />

überprüfen, ob man den Lauf sehen konnte. Langsam zog er sich zurück, ging nach Links bis<br />

zum alten, nicht mehr genutzten Kinderspielplatz, links neben den Häusern. Er vergewisserte<br />

sich, nicht vom gegenüber liegenden Haus gesehen zu werden und robbte zur Hausmauer.<br />

Dort richtete er sich im toten Winkel des Hauses auf und schaute zum rechts von ihn<br />

liegenden, etwa zehn Meter entfernten Zaun. Ein kleiner schwarzer Ast ragte aus dem Zaun,<br />

304


einige Schritte weiter noch mehrere. Holt konnte den Lauf nicht entdecken, bis ihm einfiel,<br />

dass der erste, vordere scheinbare Ast, der Lauf sein müsste.<br />

Nun wartete er schon über vier Stunden. Die Sonne war verschwunden und hatte schwarzen<br />

Wolken Platz gemacht. Es fing heftig an, zu regnen. Unter der Plane war er jedoch geschützt.<br />

Den Schirm der Kappe drehte er nach hinten, damit er beim Zielen nicht störte. Nach und<br />

nach kam wieder die Sonne durch. Der Boden herum dampfte und die Straße vor ihm lag im<br />

Dunst, seine Kleidung wurde klamm. Holt hörte ein Autogeräusch von der Kurve und der<br />

BMW bog um die Ecke. Durch das Zielfernrohr sah Holt die Konturen von Schulz. Das Bild<br />

wurde wie in einem Film gleich, immer schärfer, bis er das verhasste Gesicht seines Feindes<br />

klar erkennen konnte. Er war allein. Der Wagen machte einen Schlenker zur Einfahrt. Schulz<br />

schaute aus dem Autofenster und murmelte was vor sich her. Holt schaute über das<br />

Zielfernrohr in seine Blickrichtung. Vor dem Tor lag eine leere Mülltonne. Die Müllabfuhr<br />

war heute da und hatte die Tonne achtlos vor dem Tor zurückgelassen. Schulz müsste<br />

aussteigen um diese beiseite zu stellen. Dabei müsste er sich bücken, die Tonne anheben und<br />

neben dem Tor wieder abstellen. Sein Gesicht wäre direkt in Schussrichtung. Holt visierte die<br />

noch leere Stelle an, in der das Gesicht im Fadenkreuz erscheinen müsste. Zuerst sah er die<br />

dunkelblonden Haare, dann das ganze Gesicht. Die leere Mitte des Fadenkreuzes stand nun<br />

auf der Stirn. Holt spürte den Druckpunkt, hielt den Atem an und drückte den Abzug durch.<br />

Klick machte es, kein Schuss durchbrach die Stille. Holt war wie betäubt. Er riss den<br />

Ladehebel zurück, die Patrone sprang heraus. Der Ladehebel schnellte nach vorne, die letzte<br />

Patrone lag schussbereit im Lager. Zwischen dem Klick und dem Nachladen waren nicht mehr<br />

als drei Sekunden vergangen. Gerade wollte er erneut anlegen, als die Hundemeute hinter ihm<br />

durch das Schilf brach und sich mit lautem Freudengeheul auf ihn stürzte um ihn aus<br />

Dankbarkeit, ihr Freund zu sein, ableckten. Durch den Lärm der Hunde und die<br />

Abwehrbewegungen Holts angelockt, sah Holt Schulz auf den Zaun zukommen. Mit den<br />

Füßen stieß er die irritierten Hunde zurück, ergriff Waffe und Plane und robbte auf den<br />

Ellbogen gestützt, schnell zurück. Am Zaun hörte er Geräusche und sah den dunklen Umriss<br />

einer Gestalt, die etwas in der Hand hatte. Unter ihm gab der Boden nach. Noch im Fallen ließ<br />

Holt Waffe und Plane fallen und versuchte sich an einer der vielen Lianen festzuhalten.<br />

Während des Fallens verspürte er einen heftigen Schlag an der linken Körperhälfte, dann<br />

schlug er mit der Schulter und dem Kopf auf. Stille und Dunkelheit umfingen ihn.<br />

Das Erste, was er wahrnahm, war ein stechender Schmerz an der linken Seite in Höhe<br />

der Niere. Danach spürte er seinen rechten Arm im kalten Wasser des Flusses, der durch die<br />

Strömung hin und her schwang. Durch den roten Schleier vor Augen erkannte Holt vor sich<br />

den großen Stein, er selbst lag eingequetscht zwischen zwei Brocken halb in einer<br />

Wasserausbuchtung. Er orientiert sich, schaute nach oben, aber Schulz war nirgends zu sehen,<br />

nur ein Hund schaute verständnislos auf ihn herunter. Die Zeit, die Holt benötigte, sich<br />

aufzurichten und sich unter dem Lianengewächs auf einen Stein zu setzen, erschien ihm wie<br />

Stunden. Danach tastete er seine linke Seite ab. Als er seine Hand zurückzog, war sie mit Blut<br />

verschmiert. Seine Kraft reichte nicht mehr aus, von Stein zu Stein zu springen. Mühsam<br />

durchwatete er die seichten Stellen des Flusses. Nur dort, wo sich die meiste Kraft des Flusses<br />

in einer kleinen Verengung vereinte, musste er springen. Hier war die Strömung zu stark, er<br />

wäre ertrunken. Der Absprung war schmerzlich, der Aufprall grauenhaft. Seine Sinne<br />

schienen wieder zu entschwinden. Mit letzter Kraft ließ er sich nach vorne fallen, bevor er<br />

bewusstlos wurde. Leckende Hundezungen im Gesicht weckten ihn aus der Bewusstlosigkeit.<br />

„Seine“ Hunde standen vor ihm und winselten leise vor sich hin. Sie hätten ihn beinahe<br />

umgebracht. In der Tasche hatte er eine Flasche Wasser und einen Rest von der<br />

Frühstückswurst, die er den Hundeverrätern gab. Mit dem Wasser spülte er die offene,<br />

hässliche Wunde aus und legte das Küchenhandtuch auf diese. Bis zu Tom Tom benötigte<br />

Holt fasst zwei Stunden, wobei er wie ein Betrunkener wankend vorwärtstaumelte. Als Lutz<br />

305


ihn erblickte, vermeinte dieser ein Gespenst zu sehen. Im Hinterzimmer konnte er Holt<br />

verbinden, die Blutung hatte aufgehört.<br />

Nun hatte er noch eine Galgenfrist von zwei Tagen. Dann musste er Lutz verlassen, der auch<br />

auf seinen Auszug hoffte. Der erbärmliche Zustand Holts hatte ihn zwar gerührt und er<br />

empfand Mitleid mit diesem. Isolde hatte nichts gegen Holt, wollte jedoch nicht in<br />

Auseinandersetzungen zwischen Ausländern hineingezogen werden. Als Geschäftsfrau<br />

musste sie neutral sein, obwohl sie auf Holts Seite stand. Lutz hatte entsprechende<br />

Anweisungen aus Deutschland erhalten und er traute sich auch nicht, davon abzuweichen. Um<br />

nicht allein im Haus herum zu sitzen und über sein Schicksal zu brüten, beschloss Holt, mit<br />

Lutz ins Geschäft zu fahren, eventuell ein wenig behilflich zu sein. Lutz stimmte zu. In den<br />

Vormittagsstunden, Holt war gerade beim Einräumen importierter Ware in das Reserveregal,<br />

hörte er deutsche Worte. Irgendein deutscher Kunde hielt sich vorne im Verkaufsraum auf.<br />

„ ... Kopfgeld ... heute gehört ... Aushang im ...“<br />

Beim Wort „Kopfgeld“ wurde Holt hellhörig. Er rutschte seinen Stuhl ein wenig zur<br />

angelehnten Tür herum und hörte gespannt zu. Was er vernahm, hörte sich wirklich nicht gut<br />

an.<br />

„Ein Deutscher hat auf einen anderen Deutschen ein Kopfgeld ausgesetzt,“ hörte er<br />

eine männliche Stimme. „Du musst den einen kennen, er ist der Lange, der immer Computer<br />

repariert. Ich weiß nicht, wie der heißt, aber ich hab den einmal bei Go Dutch gesehen.“<br />

„Woher weißt du das?“, hörte Holt Lutz Stimme.<br />

„Aus dem Deutschen Club. Dort hat der Nachfolger vom Hamburger Rolf einen Zettel<br />

angebracht. Darauf steht, dass derjenige, der einen Tipp zum Ergreifen des Anderen gibt,<br />

hunderttausend Dollar bekommt. Die Polizei soll ausgeschlossen werden, da es eine Sache<br />

unter Deutschen ist. Der Tipp soll von einem Italiener gekommen sein.“<br />

„Na, und du möchtest dir natürlich das Geld verdienen?“, hörte Holt Lutz Stimme.<br />

Der andere schwieg eine Weile, dann erklang eine weibliche Stimme. „Natürlich Lutz,<br />

ist doch leicht verdientes Geld. Sicherlich ist der Andere ein Lump, wie so viele Deutsche hier<br />

Lumpen sind.“<br />

Lutz: „Wieso seid Ihr euch so sicher, dass der Lange kein Lump ist?“<br />

Die Frau: „Der ist doch so ein Netter, er hat einmal meinen Computer repariert. Nein,<br />

der ist in Ordnung!“<br />

Holt ärgerte sich über die Dummheit dieser Leute, aber er hatte ja selbst einmal diesen<br />

Fehler gemacht. Ihm war klar, wen der Lange suchte. Er stellte sich nur die Frage, warum<br />

Schulz nicht weitere Angaben gemacht hat. Raffa II würde sicherlich auch einen Anspruch<br />

auf das Geld erheben, falls es dem Langen gelingen sollte, seiner habhaft zu werden. Das war<br />

eine ausgesprochene Scheißsituation. Der Boden wurde nun wirklich für ihn zu heiß, er<br />

musste schnellstens verschwinden.<br />

*<br />

Die Sachen bei Lutz waren gepackt. Am nächsten Morgen wollte er ins Ungewisse gehen.<br />

Noch bevor er mit Lutz aus dem Haus ging, telefonierte Holt mit Pauline, verschwieg aber das<br />

Desaster vor zwei Tagen. Sie war der Meinung, die Sache abzubrechen.<br />

„Hans, du hast keinen Pfennig mehr. Hilfe von Dritten kannst du nicht mehr erwarten.<br />

Gehe zur deutschen Botschaft, lass dir dort helfen und komme zu mir zurück.“<br />

„Pauli, die Pfennigfuchser werden mir mit Sicherheit keine Unterstützung gewähren,<br />

damit ich zu dir nach Gran Canaria kommen kann. Wenn die mir helfen, dann jedoch nur bis<br />

nach Frankfurt, höchstens nach Berlin. ... und was soll ich in Berlin?“<br />

„Rede mit Andi, vielleicht kannst du auf ein paar Tage nach Rostock fahren. Er ist<br />

Anwalt und dein Freund, er wird dir bestimmt helfen.“<br />

306


„Und was erzähle ich denen an der Botschaft“, fragte Holt. „Ich kann doch nicht die<br />

Wahrheit sagen. Wenn ich das tue, holen die mich in Deutschland gleich vom Flughafen mit<br />

einer Grünen Minna ab.“<br />

Pauline konnte das verstehen, sie dachte einen Moment nach und dann erzählte sie<br />

Holt ein zurechtgelegtes Märchen, welches sich nur eine liebende und besorgte Frau<br />

ausdenken konnte. „Also Hans, du musst ... „<br />

Nach zwanzig Minuten war Holt gebrieft. Er durchdachte noch einmal Paulines Plan,<br />

dann stieg er mit seinen Sachen zu Lutz in den Wagen. Kurz vor dem Abzweig nach<br />

Rohrmoser ließ er ihn halten und stieg aus. Lutz wünschte ihm noch alles Gute, dann fuhr er<br />

sicherlich erleichtert, Holt losgeworden zu sein, weiter.<br />

Bis zur Deutschen Botschaft waren es nur noch wenige Meter. Hinter einer hohen, gelb<br />

angestrichenen Mauer, hing die Schwarz-Rot-Goldene lasch am Flaggenmast. Der in der<br />

Mitte angebrachte Adler ließ einem Pleitegeier gleich, auch seine Flügel hängen. Unter dem<br />

Schild, BOTSCHAFT und Konsulat der Bundesrepublik Deutschland, war eine Klingel mit<br />

Wechselsprechanlage. Nach dem Klingeln fragte eine Stimme auf Spanisch, was er wünsche.<br />

Holt ignorierte die Sprachfestlegung und antwortete auf Deutsch, dass er den deutschen<br />

Konsul sprechen möchte. Anstatt einer Antwort ertönte der Summer und das schwere Tor<br />

öffnete sich ein wenig. Holt drückte das Tor weiter auf und betrat nach fünf Jahren wieder<br />

deutschen Boden. Hinter ihm rastete das Tor hörbar ein. Die Tür vor ihm wurde ebenfalls mit<br />

einem Summen geöffnet. Er befand sich in einer Schleuse mit einem Panzerglasfenster.<br />

Dahinter saß ein jüngerer Mann in Uniform des Bundesgrenzschutzes. Holt fand es seltsam,<br />

sechstausend Kilometer von Deutschland entfernt eine deutsche Uniform zu sehen. Der<br />

Beamte wies ihn an, alle Metallteile und seine deutsche Identifikation in eine Schüssel zu<br />

legen und durch die Schleuse zu treten, die Holt nun auch als Metallscanner erkannte. Auf der<br />

anderen Seite wurde er von einem Zivilisten erwartet, der ihm nach wenigen Augenblicken<br />

die Metallsachen, jedoch ohne Pass, wiedergab. Er wies Holt an, ihn zu folgen, was er auch<br />

tat. Im Warteraum saß eine ältere Frau und füllte ein Formular aus. Von den zwei<br />

Besuchsfenstern war nur eins geöffnet, vor dem anderen hing ein Schild<br />

„Geschlossen/Cerrado“. Der Beamte sagte Holt noch, er würde aufgerufen. Durch das kleine<br />

Fenster sah Holt Frau Stein, die Konsulin, die er bereits aus dem Jahr 2000 kannte. Sie<br />

blätterte in Papieren herum, die offensichtlich der älteren Frau gehörten. Zwanzig Minuten<br />

später war er an der Reihe. Er war froh, dass die Frau den Raum verlassen hatte und sein<br />

Anliegen nicht mithören konnte. Es wäre Holt äußerst peinlich gewesen.<br />

Der kleine Lautsprecher quäkte mit einem Mal „Herr Holt, bitte Abfertigung Nummer zwei!“<br />

Die Bezeichnung ist wohl richtig, hier wird man nur abgefertigt, dachte Holt, als er sich vor<br />

dem Fenster auf einem Stuhl setzte. Frau Stein schaute ihn abwartend an, schien ihn aber<br />

nicht wieder zu erkennen. Dann erzählte er seine zurechtgelegte Geschichte.<br />

Er, Holt, habe in Panama Urlaub gemacht und beabsichtigt, die letzte Woche in Costa Rica zu<br />

verbringen und wieder von San José aus nach Berlin zurück zu fliegen. Auf seiner letzten<br />

Station in Panama, auf den Bocas, habe er ein Angebot eines Reiseführers aus Costa Rica<br />

wahrgenommen, mit dem Boot direkt nach Puerto Limon zu fahren, das sei schneller und<br />

bequemer. Dort habe der Reiseführer im Hafen alle vier Touristen gebeten, ihr Gepäck unter<br />

Deck sicher einschließen zu lassen, bis die Abfertigungsformalitäten, der Behörden erledigt<br />

seien und war mit diesen zur Hafenverwaltung gegangen. Dort ließ er sich die Pässe und je<br />

Person zwanzig Dollar aushändigen, um bei der Immigration den Einreisestempel zu holen. In<br />

einem schmutzigen Raum warteten alle Fünf über eine Stunde, bis einer der beunruhigten<br />

Touristen hinter der Tür nachschaute. Dort befanden sich nur eine Telefonzelle und ein<br />

Seitenausgang. Von einer Behörde war nichts zu sehen. Voller Vorahnung sind sie dann alle<br />

307


schnell wieder zur Anlegestelle zurückgeeilt. Vom Boot und dem Reiseführer war nichts mehr<br />

zu sehen, sie waren zwei Trickbetrügern auf den Leim gegangen. Mit dem losen Geld,<br />

welches er noch in der Hosentasche hatte, sei er mit dem Bus nach San José gefahren, um<br />

wenigstens noch zur deutschen Botschaft zu kommen.<br />

Frau Stein hatte aufmerksam zugehört und sich ein paar Notizen gemacht. Dann fragte<br />

sie, „Und wo sind die anderen Deutschen?“<br />

„Das waren keine Deutschen,“ antwortete Holt, „die Leute sprachen Englisch. Es<br />

waren Amerikaner oder Kanadier. Einer hatte sich mit einem anderen Touristen unterhalten<br />

und mehrmals von Vancouver gesprochen. Daher glaube ich, er war aus Kanada.“<br />

„Und was wollen Sie nun konkret von mir?“, fragte die Konsulin.<br />

Holt erzählte ihr, dass alle seine Papiere sowie Geldbörse im gestohlenen Gepäck waren und<br />

er nun mittellos und ohne Reisepapiere sei. Er bittet darum, Papiere und Geld von der<br />

Botschaft für die Rückreise zu bekommen.<br />

Frau Stein erklärte ihm ausführlich die bevorstehende Prozedur. Nach dem deutschen<br />

Konsulargesetz besteht zwar eine Möglichkeit, in Not geratenen Deutschen zu helfen, aber<br />

dafür sind verschiedene Voraussetzungen notwendig. Diese wären, ein Nachweis einer<br />

Anzeige bei der Polizei über den Diebstahl, eine eidesstattliche Versicherung des<br />

Hilfsbedürftigen über den Wahrheitsgehalt seiner Erklärung, das Ausfüllen eines acht Seiten<br />

starken Formulars und eine Nachfrage beim Bundeszentralregister. Weiter werden alle<br />

Angehörigen in Deutschland befragt und aufgefordert für in Not geratene Familienangehörige<br />

Hilfe zu leisten. Wenn diese nicht helfen können oder wollen, dann erst würde der deutsche<br />

Staat einspringen. Bis dahin könnten jedoch einige Wochen vergehen.<br />

Sie schob Holt das Formular durch den Schlitz und bat ihn, es sorgfältig auszufüllen.<br />

Holt tat, worum man ihn gebeten hatte. Nach zwanzig Minuten war er fertig. Frau Stein ging<br />

mit seinem Fragebogen ins Nebenzimmer. Durch einen Spalt im Vorhang des anderen<br />

Fensters konnte Holt sie vor einem Computer sitzen sehen. Nach einiger Zeit kam sie wieder.<br />

„Herr Holt, warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie vor drei Jahren in einer<br />

anderen Sache bereits einmal hier waren?“<br />

„Sie haben mich nicht danach gefragt,“ antwortete Holt überrascht. „Das hier ist ein<br />

Zufall und hat mit den Vorgängen von 1999 nichts zu tun.“<br />

„Das nehme ich Ihnen nicht ab, solche Zufälle gibt es nicht.“ Ihre Stimme wurde<br />

schneidend. „Ich belehre Sie hiermit ausdrücklich, bei der Wahrheit zu bleiben. Das Konsulat<br />

an der deutschen Botschaft ist eine Behörde des Bundes. Alle Falschaussagen, die hier<br />

abgegeben werden, führen zu strafrechtlichen Maßnahmen in Deutschland.“<br />

Holt war leicht irritiert. Das hatte er in dieser Form nicht erwartet. Äußerlich blieb er<br />

ruhig, als er der erbosten Frau treuherzig versicherte, gegen kein Gesetz verstoßen zu haben<br />

und unverschuldet in Not geraten sei. Mit dem Resultat hatte er nicht gelogen, nur der<br />

beschriebene Weg sah in Wirklichkeit etwas anders aus, aber das sollte sie ihm erst einmal<br />

beweisen.<br />

Frau Stein hatte in einem Hotel angerufen und die Unterkunft für Holt geklärt. Sie schob ihm<br />

einen Zettel durch den Spalt, auf dem der Name und die Anschrift des Hotels standen. Es<br />

handelte sich um das Hotel Boston in der Avenida Odscho. Ein weiterer Zettel, eine<br />

Empfangsbestätigung folgte: Hiermit bestätige ich den Empfang von viertausendfünfhundert<br />

Colonies. Holt unterzeichnete die Quittung und Frau Stein schob ihm das Geld durch den<br />

Schlitz. Er dachte dabei, Gott sei Dank, dass es nicht mehr Geld ist, das könnte sie dann nicht<br />

durch den Schlitz bekommen, diese knickrige Ziege. Umgerechnet waren es ungefähr fünfzehn<br />

Dollar. Wenn man ganz, ganz sparsam damit umging, könnte man drei Tage davon leben.<br />

Nach drei Stunden verließ Holt die Botschaft. Um Geld zu sparen und weil er sich dazu<br />

gesundheitlich wieder in der Lage fühlte, beschloss er den Weg zu Fuß zurückzulegen. Er<br />

hatte sich ein wenig überschätzt, als er am Ende des Paseo Colon ankam, war er so erschöpft,<br />

308


dass seine Beine anfingen, zu zittern. Auf einem erhöhten Bordstein nahm er Platz. Ein<br />

heranfahrendes Taxi hatte ihn nass gespritzt und hielt drei Meter weiter um eine furchtbar<br />

dicke Frau aussteigen zu lassen. Als diese sich endlich herausgequält hatte, saß Holt bereits<br />

auf dem Beifahrersitz und hielt dem Fahrer die Anschrift des Hotels unter die Nase. Die Fahrt<br />

dauerte nicht lange. Kurz hinter dem Plaza Central bog das Taxi rechts ab und nachdem es<br />

zwei Parallelstraßen weiter wieder rechts abbog, hielt es vor dem Hotel Boston. Genau<br />

daneben befand sich das Hotel Berlin, mit einem Berliner Bären im Hotelschild.<br />

Das Hotel entpuppte sich als die primitivste Absteige, in der Holt je verweilt hatte. Es<br />

war zwar sauber, aber einfacher und schlichter als die Bezeichnung Hotel verdient zu haben.<br />

Holt war geschockt, als er die Treppe zur obersten Etage hochging und sich danach in einem<br />

Loch wiederfand, in dem er noch nicht einmal einen Hund einquartiert hätte. Das Zimmer lag<br />

nach hinten heraus, hatte keine Fenster und nur einen Luftabzug zu einem stockdunklen<br />

Lüftungsschacht. Das Mobiliar bestand aus einem Bett, einem Stuhl und einem kleineren<br />

Schrank, einen Tisch gab es nicht. Die Auswahl dieses Etablissements durch die Deutsche<br />

Botschaft als Unterkunft für in Not geratene Landeskinder sagte alles über die Wertschätzung<br />

dieser durch die deutsche Bürokratie aus. Wie Holt mitbekam, verweilten außer ihm nur noch<br />

„Gastarbeiter“ aus Nicaragua im Hotel. Diese armen Menschen arbeiteten zum größten Teil<br />

auf den Kaffeeplantagen für einen Hungerlohn. Die Ticos waren sich für diese Tätigkeit zu<br />

schade. Unten an der Rezeption hatte er die Übernachtungspreise, gestaffelt für einzelne<br />

Nächte, pro Woche und Monat gelesen. Eine Übernachtung kostete drei Dollar, die Woche<br />

achtzehn Dollar und der Monat fünfundsechzig Dollar. In Anbetracht des mangelnden<br />

Komforts waren dies maßlos überzogene Preise. Die Alternative wäre ein Pappkarton am<br />

Rande der Straße, in einem Hausflur gewesen, wie Holt am gleichen Abend noch entdecken<br />

musste.<br />

Der Eigentümer dieser Bruchbude, ein freundlicher und hilfsbereiter Mann, bestätigte<br />

Holt, dass er mit seinem Hotel schon seit Jahren die von der Deutschen Botschaft bevorzugte<br />

Unterkunft. Holt wünschte sich, mit dem derzeitigen Bundesaußenminister Joschka Fischer,<br />

dieses Loch teilen zu müssen, aber der ehemalige Straßenkämpfer aus der deutschen<br />

Anarchistenszene sorgte sich derzeit nur für das Wohlergehen seiner Klientel, zu der Holt<br />

sicherlich nicht gehörte und auch nicht gehören wollte.<br />

Nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte und der „Wundschock“ sich legte, ging er<br />

zur Rezeption hinunter, um spöttisch zu fragen, ab wann es Frühstück gäbe. Das Mädchen<br />

von der Rezeption fertigte gerade mehrere Nicos ab, welche das Hotel verließen. Beim<br />

Heruntergehen der Treppe hatte Holt durch die offenstehenden Türen gesehen, einige zur<br />

Straße gelegene Zimmer, mit Fenster, wurden frei. Er fragte nach, ob er nicht ein Zimmer<br />

nach vorne bekommen könnte. Das Mädchen war sich nicht sicher, ob dies möglich sei, und<br />

fragte telefonisch beim Chef nach. Die Auskunft schien positiv ausgefallen zu sein, er durfte<br />

eine Etage tiefer ein Zimmer beziehen, welches ein großes Fenster und einen Tisch hatte. Das<br />

Leben konnte so schön sein!<br />

Den Nachmittag verbrachte Holt am Park, eine halbe Stunde davon im gegenüber liegenden<br />

Internetcafé. Für fünfzig Cent berichtete er Pauline von den Ereignissen der letzten<br />

achtundvierzig Stunden. Als es dunkel wurde, saß er auf einer Betonbank und beobachtete das<br />

Treiben. Er konnte Erstaunliches entdecken. Unter den vielen Pennern, die sich hier<br />

herumtrieben, gab es eine klare Hierarchie. An der obersten Stelle dieser standen die<br />

„Nichtpenner“, also auch Holt, danach folgten die, welche eine Art Job hatten, wie zum<br />

Beispiel Autos einzuweisen, Schuhe zu putzen oder Getreidekörner in kleinen Tüten für die<br />

sinnlose Fütterung der tausenden wilden Tauben zu verkaufen. Dann folgten die, welche<br />

keinen „Job“ hatten. Ganz unten standen die körperlich und geistig Behinderten. Er konnte<br />

sehen, wie die Jobinhaber die Joblosen und diese wiederum die Krüppel von den<br />

Betonbänken verscheuchten. Anfänglich versuchten einige dieser Bedauernswerten bei Holt<br />

309


zu betteln, gaben jedoch ihre Bemühungen auf, als er diesen zu verstehen gab, selbst nichts zu<br />

haben. Ihn beschimpfend zogen sie weiter. Ob sie es ihm abnahmen, brachte er nicht in<br />

Erfahrung. Erst um einundzwanzig Uhr stand er von der Bank auf. Die vielen Kinder waren<br />

verschwunden, dafür besiedelten immer mehr Nutten und auch Polizisten den Platz.<br />

An der Ecke zu seiner Straße, ungefähr fünfzig Meter vom Hotel entfernt, war eine<br />

Eckkneipe. Aus dieser ertönte lateinamerikanische Musik und das Stimmengewirr der Gäste.<br />

Holt schob den Perlenvorhang beiseite und trat ein. Die zweite Überraschung am Tag folgte.<br />

Die Kneipe war sauber, nett eingerichtet und das Publikum schien aus der Mittelschicht zu<br />

sein. Das hatte er an dieser Stelle nicht erwartet. Die Bardame mit großen Brüsten und tiefem<br />

Ausschnitt nahm leere Flaschen und Gläser von der Bar und wischte diese sorgfältig ab. Holt<br />

bestellte sich ein Imperial. Sie stellte ihm ein mit Eis gefülltes Glas und eine geöffnete<br />

Flasche Bier hin. Holt bat darum, ein Glas ohne Eis zu bekommen mit den Worten, Yo no<br />

Gringo, yo Alemaño! Cecilia die Bardame, wie sie von den anderen Gästen gerufen wurde,<br />

bog sich vor und zeigte Holt einen unvergesslichen, zumindest jedoch für einige Sekunden<br />

andauernden Anblick, streichelte ihm kurz die Wange und antwortete, „Si, mi Amore!“ Die<br />

Verblüffung lag wieder bei Holt, der sich vorgenommen hatte, nur auf zwei Bier zu bleiben,<br />

was er auch konsequent einhielt. Auf dem Weg zum Hotel musste er zweimal über auf<br />

Pappkarton liegende Gestalten hinwegsteigen. Diese befanden sich im tiefsten Drogen- oder<br />

Alkoholrausch.<br />

Die Nacht war nicht so entspannend. Er fand fasst keinen Schlaf. Die Autos fuhren in<br />

gleich bleibenden Intervallen, Ampel gesteuert, direkt durch sein Zimmer. Jedenfalls hörte es<br />

sich so an. Er musste wegen der fehlenden AC und Ventilatoren, die Fenster geöffnet lassen,<br />

um nicht zu ersticken. Irgendwann zwischen zwei und vier Uhr wurde es stiller, bereits nach<br />

fünf Uhr tobte wieder der Verkehr auf der Straße. Der Ruß der Dieselmotoren hatte sich in der<br />

Nacht auf seine Atemorgane gelegt. Er stellte sich die Frage, ob es nicht doch besser gewesen<br />

wäre, im hinteren Loch, eine Etage höher, zu bleiben.<br />

Der Aufenthalt im Hotel Boston währte nun schon achtzehn Tage. Bereits in der zweiten<br />

Woche hatte Holt in der Deutschen Botschaft Lärm geschlagen und angedroht, sich beim<br />

Auswärtigen Amt in Berlin wegen Verletzung seiner Menschenwürde zu beschweren. Frau<br />

Stein hatte nur eisig geantwortet, er habe sich selbst in diese Situation gebracht und müsse<br />

daher einige Abstriche an seiner bisherigen Lebensführung machen. Ohne Zeugen, irgendwo<br />

in der Pampa, hätte er dieser Frau wohl mit Vergnügen ins Gesicht geschlagen. Nur mühsam<br />

konnte er seine Wut verbergen. Letztlich hatte er die Botschaft mit weiteren zehntausend<br />

Colonies verlassen, die für zwei Wochen ausreichen mussten. Aus Deutschland bekam die<br />

Botschaft die Meldung, niemand war bereit oder in der Lage, ihm den Rückflug zu bezahlen.<br />

Frau Stein hatte dem wütenden Holt noch mitgeteilt, die derzeitigen Rückflüge bis nach<br />

Hamburg würden vierhundertzweiundneunzig Dollar kosten, seien aber wegen der<br />

Preisgünstigkeit alle ausgebucht. Der nächste Flug sei entweder am elften oder achtzehnten<br />

Juli. Dis dahin waren es noch zwei Wochen.<br />

Weiteren Ärger bekam Holt mit der Ochota. Um einen behelfsmäßigen deutschen Pass zu<br />

bekommen, musste er eine Bestätigung von der Kriminalpolizei vorlegen, dort eine Anzeige<br />

erstattet zu haben. Bei der Ochota roch der Beamte Lunte. Die Aussage Holts erschien ihm<br />

nicht schlüssig genug, er nahm es diesem nicht ab, wie er angeblich in das Land gekommen<br />

sei. Dieser Beamte war in der Tat der erste, der seinen Job verstand, aber leider war seine<br />

Tätigkeit der Sache wegen, gegen Holt gerichtet. Die Übergabe erfolgte direkt an die<br />

Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwältin nahm sich Holt wie einen Schwerverbrecher vor. Da<br />

die Aussage Holts dieser Frau nicht gefiel, drohte sie ihn in Abschiebehaft zu stecken. Diesem<br />

drohenden Schicksal konnte er gerade noch entgehen, indem er der Staatsanwältin die<br />

Telefonnummer von Frau Stein gab. Im nachfolgenden Telefongespräch waren sich die<br />

310


Hyänen wohl einig, Holt nicht für die Abschiebung einzusperren, da dieser ja sowieso aus<br />

dem Land wollte. Er bekam seine Bestätigung, zusammen mit einer schriftlichen<br />

Verwarnung, bei dem kleinsten Rechtsverstoß sofort inhaftiert zu werden. In der Sache<br />

Schulz & Co. hatte die Staatsanwaltschaft damals nicht so pingelig reagiert.<br />

Bereits zwei Tage später erhielt Holt einen grünen Pass, der eine Gültigkeitsdauer von einem<br />

Jahr hatte und ein weiteres Problem. Das zur Ausreise aus Costa Rica benötigte Einreisevisum<br />

fehlte im Pass. Er musste zur Generaldirektion der Immigration um sich dort in den<br />

druckfrischen Pass, ein Einreisevisum stempeln zu lassen. Dort musste er einen ganzen Tag<br />

warten, während eine Mitarbeiterin der Behörde in stundenlanger Durchsicht alle<br />

Einreisebücher der einzelnen Grenzstationen nach Holts Einreisevermerk suchte ... und<br />

natürlich nichts fand. Kurz vor Büroschluss ging die genervte Mitarbeiterin zu ihrem Boss<br />

und trug diesem vor, keinen Einreisevermerk bezüglich eines Senior Holt gefunden zu haben.<br />

Dieser war aber ausnahmsweise einmal pragmatisch. Nachdem er sich die Geschichte, und<br />

seinen Besuch bei der Deutschen Botschaft zum Zwecke einer baldigen Ausreise, angehört<br />

hatte, griff er nach einem Stempel und blätterte Holts jungfräulichen Pass auf und setzte mit<br />

zufriedenem Lächeln ein Visum hinein. Sorgfältig datierte und unterzeichnete er den<br />

Stempelabdruck. Holt hatte sein Einreisevisum oder die Erlaubnis, Costa Rica ohne Probleme<br />

wieder verlassen zu können. Aber ein Problem war immer noch nicht gelöst: Bestand noch die<br />

Ausreisesperre? Sein Anwalt Marco hatte schon vor Tagen bei der Immigration angerufen,<br />

aber niemand konnte ihm dort etwas dazu sagen. Holt wollte in keinem Wespennest stochern<br />

und verzichtete auf weitere Nachfragen. Er würde es noch früh genug erfahren, wenn er zur<br />

Ausreise auf dem Flughafen eintraf. Es war eine Art Russisches Roulett.<br />

Zwei Tage vor dem Abflug am siebzehnten Juli bekam Holt die Flugtickets nach Hamburg<br />

und von Andi die Zusage, vorerst bei ihm in Rostock wohnen zu können. Sein Neffe war<br />

beauftragt worden, ihn vom Flughafen abzuholen und zum Hauptbahnhof Hamburg zu<br />

bringen.<br />

Am Flughafen in San José wurde es noch einmal spannend. Nachdem Holt die<br />

Ausreisegebühr bezahlte, ging er zum Abfertigungsschalter. Die Fluggesellschaft machte<br />

keine Probleme, alles schien in Ordnung zu sein. Erst, nachdem er vor der Schleuse bei der<br />

Grenzkontrolle stand, hielt er den Atem an. Der Beamte gab seine Daten in den Computer,<br />

schaute auf das Ergebnis und stempelte den Pass ab. Dann übergab er Holt den nun mit einem<br />

Ausreisevermerk versehenen Pass. Im Transitraum atmete er erleichtert auf, erst als er in der<br />

Maschine sitzend, aus dem Fenster Costa Rica immer kleiner werden sah, fiel ihm ein Stein<br />

vom Herzen.<br />

Letzte Eintragungen im Tagebuch:<br />

Mittwoch, den 16. Juli 2003<br />

In dieser Woche habe ich den Flug, die Ausreise und die Unterkunft in Deutschland geklärt.<br />

Am Montag war ich noch einmal mit Manfred in der Immigration. Es ist offensichtlich alles in<br />

Ordnung. Heute gehe ich die Tickets und das Ausreisegeld von der Botschaft abholen.<br />

Morgen verabschiede ich mich von der Schweizer Dame und fahre zum Flughafen. 2001, da<br />

waren wir zuletzt auch bei Pauline, bevor wir in die USA gingen. Damals war ich jedoch<br />

nicht allein und hatte große Hoffnung. Morgen kann ich dieses verfluchte Land endlich<br />

verlassen.<br />

Donnerstag, den 17. Juli 2003<br />

311


Fliege ich heute ab? Nichts ist sicher. Mal sehen, was wird. Endlich raus aus diesem elenden<br />

Land, das beinahe mein Schicksal geworden wäre.<br />

Donnerstag, später und Freitag, den 18. Juli 2003<br />

Geschafft!!! Über Miami, Amsterdam nach Hamburg. Wurde von Christopher und seinen<br />

Freunden abgeholt. Mit der Bahn bin ich nach Rostock gefahren. Andi war mitten in der<br />

Nacht auf dem Bahnhof. Morgens ersten Anruf von Pauline, sie ist erleichtert - ich auch.<br />

Nach neunundzwanzig Jahren, drei Monaten und elf Tagen bin ich wieder auf dem Gebiet des<br />

ehemaligen DDR-Bezirkes Rostock.<br />

312


Zurück in Deutschland<br />

Als der Flieger tiefer ging, sah Holt unter sich das Häusermeer Hamburgs. Deutschland! Nach<br />

über fünf Jahren betrat er wieder deutschen Boden, wenn man von den dreihundert<br />

Quadratmetern in San José absah. Ringsherum wurde wieder Deutsch gesprochen, alle<br />

Hinweisschilder und Reklametafeln waren in deutscher Sprache. Sein ungeliebtes Vaterland<br />

hatte ihn wieder.<br />

Hinter der Absperrung stand ein langhaariger junger Mann, einen mit „Hans Holt“<br />

beschriebenen Karton vor der Brust haltend. Holt steuerte auf diesen zu und baute sich vor<br />

ihm auf.<br />

„Ich bin Hans. Du bist sicherlich Andis Neffe Christof?“<br />

Andis Neffe nahm das Schild herunter. „Klar, ich bin der Christof. Mein Onkel hat mir<br />

gesagt, ich soll dich zum Hauptbahnhof bringen und dich in den Zug nach Rostock setzen.“<br />

Dabei musterte er Holt wie ein Marsmännchen, der nicht wusste, was Andi alles über ihn<br />

erzählt haben mochte.<br />

„Fährst du nicht mit?“<br />

„Nein, ich bin ja gerade erst vorgestern aus Rostock gekommen. Ich studiere hier und<br />

fahre nur alle zwei Wochen nach Hause.“<br />

Der verschlossen wirkende junge Mann taute während der Autofahrt zum Bahnhof<br />

auf. Am Auto hatte seine Freundin, ebenfalls Studentin, gewartet. Diese hatte ein flinkes<br />

Mundwerk, begrüßte Holt als Onkel Hans und umarmte ihn. Während der Fahrt erzählte sie<br />

dem gerührten Holt, Andi hätte ihr als zukünftige Nichte über die gemeinsame Vergangenheit<br />

mit ihm erzählt. Der dachte nur, Hoffentlich nur Gutes! Christof mischte sich in das Gespräch<br />

ein, wobei er die Erzählungen seiner Freundin ergänzte. Sein Freund hatte den jungen Leuten<br />

vieles aus der Zeit an der Ostberliner Uni berichtet, so unter anderem die Geschichte mit dem<br />

Hosenknopf. Beim Erzählen lachten sie herzlich über diese Geschichte. Holt musste in das<br />

Gelächter einfallen. Am Bahnhof blieb die Kleine wieder im Auto zurück. Beim Abschied<br />

hatte sie Holt auf die Wangen geküsst und ihm eine gute Reise gewünscht. Christof wollte es<br />

sich nicht nehmen lassen, Holt Koffer zum Zug zu tragen. Als der doppelstöckige<br />

Regionalzug nach Rostock abfuhr, sah er den jungen Mann noch winken. Eigenartig dachte<br />

er, sie haben mich wirklich wie einen Verwandten behandelt.<br />

Der Abendzug war nur mäßig besetzt. Viele in Hamburg arbeitende Menschen fuhren nach<br />

Hause. Bereits an der ehemaligen Zonengrenze war der Zug fasst leer, erst später stiegen<br />

wieder Reisende zu, die entweder nach Rostock oder weiter wollten.<br />

In Wismar stiegen zwei junge Männer ein, sie hatten kurze Haare und waren manierlich<br />

gekleidet. Holt vermutete in diesen entweder Soldaten oder Polizisten in Zivil, und er hatte<br />

Recht. Beide waren beim Bundesgrenzschutz und in Warnemünde stationiert, wie er aus dem<br />

Gespräch mitbekam. Anfänglich hatte der älter wirkende Mann eine Ostsee Zeitung gelesen<br />

und diese danach achtlos auf die Klappe des kleinen Abfallkästchens gelegt. Damit hatte er<br />

wohl die Besitzaufgabe signalisiert. Holt bat darum, diese Zeitung lesen zu dürfen.<br />

Bereitwillig reichte er sie hinüber.<br />

Holt schaute sich die Umschlagseite an und mit dem Finger auf den Namen deutend<br />

sagte er, „Früher stand immer darunter Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei.“ Die<br />

beiden Männer schauten Holt erstaunt an und lachten.<br />

„Ja,“ sagte der Eine, „früher stand noch viel mehr Komisches in dieser Zeitung. Bei<br />

meinem Vater habe ich die Ostsee Zeitung meines Geburtstages gefunden. An diesem Tag<br />

wurde der Plan bei der VEB Warnowwerft um hundertzweiundzwanzig Prozent übererfüllt<br />

und meine Mutter wusste nicht, wo sie die Windeln für mich herbekommen sollte. Zu Hause<br />

hab ich dann in klein geschnittene Handtücher gemacht.“ Er lachte ein wenig sarkastisch.<br />

313


„Na ja,“ antwortete Holt scherzhaft darauf eingehend, „Ihre Mutter hatte an dem Tag<br />

zumindest ihren persönlichen Kinderplan zu einhundert Prozent erfüllt.“<br />

„Falsch,“ antwortete der junge Mann, „zweihundert Prozent. Ich war gar nicht<br />

eingeplant, aber diese Übererfüllung war mein Glück.“<br />

Die Zeit, bis der Zug in Rostock hielt, verging schnell. Holt erzählte den<br />

wissbegierigen Männern über Mittelamerika. Diese löcherten Holt mit immer mehr Fragen,<br />

die er auch bereitwillig beantwortete. Nur eines konnten sie nicht verstehen, dass es „drüben“<br />

korrupte Polizisten gäbe. Sie hielten es für nicht möglich.<br />

Zwei Uhr nachts lief der Zug im Hauptbahnhof Rostock ein. Nach wenigen Minuten stand<br />

Holt allein auf dem Bahnsteig. Suchend schaute er sich um. Bis auf den Zugbegleiter, der<br />

vorne an der Lock stand, war kein Mensch zu sehen. Langsam stieg er die Treppe zur<br />

Haupthalle herunter. Je tiefer er kam, desto mehr konnte er die Halle überblicken. Ganz<br />

hinten, an einem Glaskasten gelehnt, sah Holt die unverkennbare Figur Andis: Schlank, lange<br />

Haare, gekleidet in einem Sakko mit ausgebeulten Seitentaschen und blauen Jeans. Er sah so<br />

aus, wie bereits vor vierzig Jahren, nur seine Haare waren grauer und spärlicher geworden.<br />

Am Kinn trug er eine Art Ho-Chi-min-Bart.<br />

„Mensch Alter,“ sagte Andi mit gedrückter Stimme, nachdem er Holt umarmt und<br />

kräftig auf die Schulter klopfte, „ich freu mich so, dich gesund wieder zu sehen.“<br />

Holt fasste Andi an den Oberarmen und schob ihn ein wenig zurück und betrachtete<br />

ihn. „Übertreib nicht, ich bin doch noch nicht so alt.“<br />

„Doch,“ antwortete dieser, „ich dachte, du bist dein eigener Vater.“<br />

Holt wusste, in jedem Scherz liegt ein Körnchen Wahrheit. Die Zeit war auch an ihm<br />

nicht spurlos vorbei gegangen. Besonders die letzten Monate hatten, wie Sandstaub im<br />

Getriebe gleich, ihre Zerschleißspuren hinterlassen. Er hatte zehn Kilo abgenommen, das<br />

Gesicht war blass und schmal und sicherlich auch seine Haare schütterer.<br />

„Herzlich willkommen in Rostock Hans. Ich habe bereits alles vorbereitet, du kannst<br />

so lange bei uns wohnen, wie du es möchtest. Gregor hat das obere Bett im Kinderzimmer<br />

bezogen, ich schlafe unten. Du hast dein eigenes Reich im ehemaligen ehelichen<br />

Schlafzimmer.“<br />

Holt war gerührt. Andi hatte sich über all die vielen Jahre als echter Freund erwiesen,<br />

anders als Jewgeni, der ihn noch vor seinem Tode so bitter enttäuschte. Bei der Rückfahrt<br />

schaute Holt sich die veränderte Stadt an, die er zuletzt 1999, während eines Besuches bei<br />

Andi, noch einmal gesehen hatte und in der er, am Warnowufer in Gehlsdorf, vor fasst vierzig<br />

Jahren als junger Soldat bei der Volksmarine stationiert war.<br />

Am nächsten Morgen ging Andi in seine Kanzlei. Beim ausgiebigen Frühstück bat er Holt,<br />

doch noch am späten Vormittag ins Büro zu kommen. Bis elf Uhr war er noch mit Mandanten<br />

beschäftigt und danach würden sie über Holts Zukunft sprechen und etwas in einem<br />

Restaurant zu Mittag essen. Sonnabends machte Andi die Kanzlei immer um ein Uhr zu,<br />

danach fuhr er in seinen Garten zum Abschalten. Als Holt eintraf, verließ gerade der letzte<br />

Mandant des Tages das Büro.<br />

Holt hatte sich noch immer mit dem Gedanken rumgeschlagen, doch nach Berlin zu gehen.<br />

Dort hatte er auch Freunde und er kannte sich dort besser aus, als in Rostock. Andi redete ihm<br />

diese Absicht aus. Hier in Rostock, meine er, würde alles viel übersichtlicher sein und er<br />

könne aufgrund seiner Beziehungen mehr für Holt tun, als wenn er in Berlin leben würde.<br />

Zuerst solle er sich anmelden und zum Arbeitsamt gehen. Vielleicht gäbe es sogar Arbeit für<br />

ihn. Danach solle er sich einmal beim Arzt richtig durchchecken lassen. Alles Weitere würde<br />

sich schon ergeben. Am Wochenende würden sie sich im Garten so richtig erholen, grillen<br />

und am Abend einen auf die Lampe gießen. Holt war einverstanden. Pauline auf Gran<br />

314


Canaria, bestärkte Holt am Telefon, sie war Andis Meinung und es schien ihm so, als ob sie<br />

nun beruhigt war, ihn in Sicherheit zu wissen.<br />

Deutschland hatte sich auch sozial verändert. Nicht zum Besseren. Mit der Straßenbahn fuhr<br />

er bis zum Arbeitsamt. Dieses lag zwischen Kasernen, war zu DDR-Zeit Kaserne der<br />

Grenztruppen gewesen. Das Gebäude hatte sich nur äußerlich verändert, der Ton innerhalb<br />

war geblieben. Am Pförtner wurde ihm kommentarlos ein Anmeldeformular in die Hand<br />

gedrückt, nachdem er die Frage verneinte, ob er hier schon Kunde sei. Kunde? Ich will hier<br />

nichts kaufen sondern etwas bekommen. Arbeit!, dachte Holt. Nachdem er den Fragebogen<br />

ausgefüllt hatte, dieser schien für die Bewerbung der Funktion des Bundeskanzlers gewesen<br />

zu sein, nahm er in der überfüllten Wartehalle Platz. Der Pförtner las sich das Papier durch<br />

und winkte Holt zu sich an den Tresen.<br />

„Gehen Sie bitte in das Untergeschoss zur Aufnahme, das ist dort die Nummer U 001.<br />

Die sind für Sie zuständig in der Abteilung AKAS.“<br />

Holt glaubte sich in einer Klinik. Sollte er sich doch verlaufen haben? Vorne am<br />

Eingang prangte das große Symbol „A“ für Arbeitsamt. Es könnte aber auch das „A“ für die<br />

Hausapotheke in einer Klinik sein. Er schaute vorsichtig noch einmal auf den Kopf des<br />

Fragebogens. Dort stand zu seiner Erleichterung Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitsamt<br />

Rostock. Er war also richtig. Die Aufnahme war sprachlich korrekt, er wurde dort in die<br />

Heerschar der Arbeitslosen Deutschlands aufgenommen. Hinter AKAS verbarg sich auch<br />

keine Intensivstation, sondern die zuständige Abteilung für arbeitslose Akademiker. Er setzte<br />

sich auf eine der vielen Bänke und wartete. Die nach ihm Gekommenen gingen zuerst an eine,<br />

an der Wand befestigten, Blechschachtel und zogen unten an einem Stück Papier, welches wie<br />

eine Kinokarte aussah. Oben an der Wand hing eine Digitalanzeige mit einer Nummer, die<br />

sich ständig änderte, wenn irgendwelche Leute kamen oder gingen. Holt begriff, dies hier war<br />

derzeit die wichtigste Nummer in Deutschland: Die Wartenummer! Nachdem er sich auch<br />

eine geholt hatte, wartete er auf seine Nummer an der Anzeige. Dieses System der Wartenummern<br />

sollte er erst zwei Jahre später am Flughafen Berlin ablegen. Aber dazwischen lagen<br />

noch viel Zeit und viele kleinere Nummern.<br />

Der aufnehmende Mitarbeiter, ein körperbehinderter jüngerer Mann im Rollstuhl, gab<br />

Holts Daten in den Computer. Danach schaute er ihn irgendwie mitleidig an.<br />

„Sie müssen sich noch einmal etwas gedulden, bis Sie wieder aufgerufen werden. Ein<br />

Sachbearbeiter wird Ihnen die Anfangsberatung bieten und dann können Sie mit den Papieren<br />

zum Sozialamt gehen.“<br />

Sozialamt? Holt stutzte, er drehte sich noch einmal um und fragte den Mitarbeiter, der<br />

sich schon über eine andere Akte beugte. „Sagen Sie bitte, was soll ich beim Sozialamt? Kann<br />

ich da etwa arbeiten?“<br />

Der Mann im Rollstuhl schaute Holt wie einen Geisteskranken an. Vielleicht fühlte er<br />

sich von Holt verscheißert. „Nein Arbeit gibt`s dort auch nicht, aber es ist für Sie zuständig.<br />

Wie ich gelesen habe, waren Sie schon seit Jahren nicht mehr in Deutschland<br />

versicherungspflichtig tätig. Sie haben daher keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld ... und<br />

weil Sie doch von etwas leben müssen, ist nun mal als Auffangbehörde das Sozialamt für Sie<br />

zuständig.“<br />

„Na, warten wir doch erst einmal die Beratung ab,“ meinte Holt. „Irgendeine Arbeit<br />

werde ich doch wohl annehmen können, ich will ja nicht gleich Rechtsamtsleiter oder<br />

Syndikus werden. Als Renogehilfe wäre ich auch schon zufrieden.“<br />

„Nein, das geht nicht. Wir können Sie als Akademiker nicht in einfachere Tätigkeiten<br />

vermitteln. Da würden Sie anderen die Arbeit wegnehmen, die wir auch zurzeit gar nicht<br />

haben.“<br />

Als er später mit seinem Namen aufgerufen wurde, fand er zu seiner Überraschung<br />

den bereits bekannten Mitarbeiter in einem anderen Büro wieder. Der Mann belegte<br />

315


offensichtlich zwei Arbeitsplätze, den an der Aufnahme und den in der Beratung. Er<br />

wiederholte sich. Zum Schluss der Beratung, welche mehr eine Bankrotterklärung war,<br />

übergab er Holt eine Kundennummer der Arbeitsagentur und ein Überweisungsschreiben für<br />

den Facharzt, Verzeihung, für das Sozialamt.<br />

Der halbe Tag war um. Holt beschloss, noch zum Sozialamt zu gehen, welches nach dem<br />

Merkzettel des Arbeitsamtes auch am Montag Nachmittag geöffnet war. Der Busfahrer war so<br />

freundlich, Holt zu informieren, wann und wo er umsteigen sollte, um mit der Straßenbahn<br />

zum Sozialamt zu kommen. Diese hielt direkt vor dem Amt. Die Hilfsbedürftigen wurden<br />

nicht nach Berufen, sondern nach den Anfangsbuchstaben des Familiennamens eingeteilt.<br />

Unter dem Hinweisschild für die Buchstabengruppe „F“ bis „K“ hing die Nummernmaschine,<br />

aus der sich Holt bediente. Die Besucher des Amtes wurden aufgefordert, im zentralen<br />

Warteraum Platz zu nehmen und unter ihrem Anfangsbuchstaben auf die aufgerufene<br />

Nummer zu achten. Holt ging einen langen Gang entlang in Richtung immer stärkerem<br />

Gemurmel und Husten vieler Menschen. Als er eintrat, schlug ihm „Etwas“ mit einer großen<br />

Keule vor den Kopf. Dieses „Etwas“ war die Erkenntnis, nun ganz unten in der sozialen<br />

Werteskala angelangt zu sein. Der Warteraum war voll von bedrückt und verhärmt<br />

aussehenden Menschen aller Altersklassen, darunter auch alkoholisierte Personen in<br />

zerrissener und schmutziger Kleidung.<br />

126, ... 127, ... 128. Holt schaute auf seine Nummer, bis 149 musste er wohl noch eine<br />

Weile warten. Neben ihm saß eine alte Frau mit dunklem Kopftuch, die das Treiben wortlos<br />

betrachtete. Nervös zupfte sie an ihrer Schürze, welche sie wie zur Arbeit in einer Küche,<br />

umgebunden hatte. Dann schob sie sich die grauen Haare aus der Stirn unter das Kopftuch.<br />

Sie hatte mitbekommen, wie Holt sie anstarrte und lächelte verlegen, fasst entschuldigend,<br />

hier zu sitzen.<br />

Sie hielt Holt ihre Nummer hin und fragte mit einem starken russischen Akzent,<br />

„Gaspodien, ist dies Nuuumer Ein ... Ohhh ... Sächs odder Nein ... Ohhh ... Ein?“ Sie drehte<br />

die Nummer I06 um, dass sie nun wie 90I zu lesen war.<br />

Es war wohl die Nummer 106, aber diese war schon lange vorher aufgerufen worden.<br />

Sie würde mit Sicherheit bis zur Nummer 901 warten wollen. Die alte Frau tat ihm leid. Er<br />

forderte sie auf, mitzukommen. Die alte Frau schlurfte hinter ihm her. Der Angestellte im<br />

Pförtnerzimmer sah sich die von Holt überreichte Nummer an und traf eine amtliche<br />

Entscheidung.<br />

„Sie muss sich wieder ´ne neue Nummer ziehn.“ Mit dem Kinn wies er zur alten Frau.<br />

„Wer den Aufruf verpasst, muss sich `ne neue Nummer holen. Viele holen sich gleich nach<br />

nem Aufmachen `ne Nummer und gehen dann erst einmal einen saufen und kommen dann<br />

später wieder. Dat geht nich!“<br />

„Aber diese Frau ist alt und hat die Nummer nicht richtig lesen können.“ Holt schaute<br />

den Angestellten fragend an. „Können Sie da nicht eine Ausnahme machen?“<br />

„Ausnahmm werden nich gemacht!“, herrschte der Staatsbüttel Holt an.<br />

Holt ließ den Knallkopf stehen, zog die Frau am Arm und steuerte mit ihr die<br />

Abfertigungsstelle der Buchstaben „F bis K“ an. Im letzten Moment zögerte er und fragte die<br />

ergeben hinter ihm herlaufende Frau, „Wie heißen Sie? Ihr Familienname?“<br />

Sie hatte verstanden. „Ich sein Vera Ludmilla Müllerrowa.“ Also eine Frau Müller, die<br />

an dieser Abfertigung falsch gewesen wäre, erkannte Holt. Er ging zur Abfertigungsstelle für<br />

„L bis O“, klopfte energisch an, öffnete unaufgefordert die Tür und schob die Frau vor sich<br />

hinein. Im herrischen Beamtenton sprach er die hinter einem Schreibtisch sitzende jüngere<br />

Frau an.<br />

„Kollegin nehmen Sie diese Frau sofort ran, sie sitzt schon seit heute Morgen hier.<br />

Kann die Nummer nicht lesen.“ Dann schloss er schnell die Tür, bevor die Frau erkennen<br />

316


konnte, welcher „Kollege“ ihr die Frau aufs Auge drückte. Am Ende des Ganges behielt er die<br />

Tür im Auge. Die Frau kam nicht mehr hinaus.<br />

Kurz vor sechszehn Uhr wurde seine Nummer aufgerufen, mit der Aufforderung, in den<br />

Raum 45 zu kommen. Holt stand auf und ging die Raumnummer 45 suchend den Gang<br />

entlang. An der Tür war ein Name angebracht: Rüttiger. Holt klopfte an, wartete einen<br />

Augenblick, bis von innen das „Herein!“ erscholl. Das Zimmer war genauso angeordnet, wie<br />

das, in die er die Frau eskortiert hatte. Hinter dem quer zum Besuchertisch gestellten<br />

Arbeitstisch saß ein Mann im mittleren Alter, der sich beim Öffnen der Tür erwartungsvoll in<br />

deren Richtung gedreht hatte.<br />

„Bitte nehmen Sie Platz.“ Mit der rechten Hand wies er dabei zum Besucherstuhl.<br />

Nachdem Holt sich gesetzt hatte, fragte er freundlich, „Was kann ich für Sie tun,“<br />

dabei schaute er schnell auf den Zettel vom Arbeitsamt, den Holt auf den Tisch gelegt hatte,<br />

„Herr Holt?“<br />

Holt fing mit seiner Geschichte in der jüngeren Steinzeit an. Rüttiger, vorausgesetzt er<br />

war es, hörte aufmerksam und duldsam zu. Manchmal machte er sich ein paar<br />

Aufzeichnungen, schwieg aber und unterbrach Holt nicht einmal. Meine Geschichte ist<br />

wirklich lang, dachte Holt am Ende seiner Ausführungen. Hoffentlich hat dieser Mann<br />

verstanden, was mich hierher führt. Zur Überraschung Holts hatte dieser eine schnelle<br />

Auffassungsgabe und konnte das für einen Sachbearbeiter am Sozialamt Wesentliche<br />

herausfiltern.<br />

„Also,“ begann Rüttiger, „ich fasse noch einmal das für mich Relevante kurz<br />

zusammen: Sie hielten sich mehrere Jahre im Ausland auf und sind nun, aus Gründen, die für<br />

mich nicht wichtig sind, nach Deutschland zurückgekommen. Sie waren beim Arbeitsamt um<br />

Arbeit zu finden, bekommen aber keine Arbeit und auch kein Arbeitslosengeld, weil Sie in<br />

den letzten Jahren keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung abgeführt haben. Das<br />

Arbeitsamt hat Sie zu uns geschickt, da Sie mittellos sind und einen Anspruch auf staatliche<br />

Hilfe haben. Das ist richtig, Sie sind nun mein Kunde.“<br />

Hach, dachte Holt, schon wieder bin ich Kunde! Rüttiger schien jedoch ein anderes<br />

Kaliber zu sein als der Pförtner.<br />

„Wovon leben Sie denn nun Herr Holt?“, wollte er wissen.<br />

„Ich bin ja erst in der Nacht zu Sonnabend gekommen,“ antwortete Holt. „Zurzeit<br />

wohne ich bei meinem Studienfreund, der hat mir auch hundert Dollar gegeben.“<br />

„Warum Dollar?“, fragte der verblüffte Rüttiger.<br />

„Verzeihung, ich meine natürlich Euro.“<br />

„Egal, was Sie bekommen haben,“ bemerkte Rüttiger, „das dürfen Sie hier auf keinen<br />

Fall sagen. Wenn Sie Geld von uns wollen, kann Ihre Geldbörse kontrolliert werden, ob Sie<br />

nicht gelogen haben. Findet man Geld, bekommen Sie Ärger und vor allem keinen Pfennig<br />

mehr.“<br />

„Das kann doch nicht sein. Ich habe das Geld als quasi privates Darlehen bekommen.<br />

Das muss ich doch einmal zurückzahlen.“<br />

„Herr Holt, im Sozialhilferecht spielt es überhaupt keine Rolle, von wem Sie und zu<br />

welchen Bedingungen Sie Geld bekommen haben. Wichtig ist nur, dass Sie es haben und<br />

damit sind Sie nicht bedürftig und Not leidend. Haben Sie es verstanden?“<br />

Er hatte es verstanden. Rüttiger drehte sich absichtlich zu seinem Computer um und<br />

fragte über die Schulter, „Können Sie mir einmal Ihre Geldbörse zeigen?“<br />

Erst, nachdem Holt den Hunderter herausgefischt und in die Hosentasche geschoben<br />

hatte, drehte sich Rüttiger um. „Na, dann zeigen Sie mal.“<br />

Rüttiger öffnete die Börse und schaute in das leere Scheinfach. Dort fand er nichts.<br />

Sorgfältig legte er grinsend das Kleingeld auf den Tisch. „Drei Euro, zwanzig Cent, vierzig<br />

Cent, sechzig Cent ... und hier ist noch ein Fünfziger. Das sind vier Euro zehn. Damit fallen<br />

317


Sie bei mir unter die Armutsgrenze. Während Sie nun noch wahrheitsgemäß den Fragebogen<br />

ergänzen, werde ich Ihnen einen Barscheck ausfüllen, den Sie oben an der Kasse einlösen<br />

können.“<br />

Rüttiger schaute zu Holt herüber, der emsig den Bogen ausfüllte. „Pro Woche stehen<br />

einem alleinstehenden Bürger achtzig Euro zum Leben zu. Da Sie in zwei Wochen am<br />

Montag wiederkommen müssen, sind es einhundertsechzig Euro. Für die drei Tage, seitdem<br />

Sie in Deutschland sind, kann ich Ihnen rückwirkend leider kein Geld gegen. Der Anspruch<br />

auf Unterstützung tritt erst mit der Anmeldung beim Sozialamt ein. Sie können froh sein, dass<br />

der ganze Tag zählt, ich hätte Ihnen für heute an sich nur den halben Tag berechnen dürfen,<br />

da Sie erst am Nachmittag gekommen sind.“<br />

Rüttiger grinste und munterte Holt damit ein wenig auf, der in tiefste Depression zu<br />

fallen drohte. „In vierzehn Tagen bringen Sie die geforderten Unterlagen und Belege mit, die<br />

ich Ihnen hier auf dem Zettel angekreuzt habe. Dann brauchen Sie auch keine Nummer<br />

ziehen. Ich trage Sie für elf Uhr dreißig ein. Sie brauchen sich nur bemerkbar machen. Wenn<br />

Sie bei mir fertig sind, können Sie hier in der Kantine für drei Euro ein gutes Mittagsessen<br />

abgreifen. Ich glaube, Sie werden noch von dem Wenigen sparen, um wieder auf die Beine zu<br />

kommen und das Geld nicht in den Rachen gießen.“<br />

Er stand auf, drückte dem beeindruckten Holt einen Scheck und den Merkzettel in die<br />

Hand. Dann gab er ihm mit festem Händedruck die Hand. „Willkommen in Deutschland, ich<br />

wünsche Ihnen viel Glück Herr Holt, Sie werden es verdammt gut gebrauchen!“<br />

*<br />

Im Norden Deutschlands war schönstes Sommerwetter. Holt nutzte die Zeit, um sich seine<br />

neue Heimatstadt näher anzuschauen. Nach der Wiedervereinigung war er ein paar Mal in<br />

Rostock gewesen. Dabei hatte er sich meistens in Begleitung von Andi im Zentrum<br />

aufgehalten und gelegentlich abends einige Kneipen besucht. Eigentlich näher kannte er die<br />

Stadt nicht. Andi hatte seine Wohnung in der Langen Straße, einer der Hauptstraßen, die zur<br />

gleichen Zeit wie die Stalinallee in Ostberlin erbaut worden waren. Auch hier hatten<br />

„verdiente Werktätige“ und Funktionäre der Partei gewohnt. Bereits 1953 zogen Andis Eltern<br />

in diese Wohnung. Nach dem Tode seines Vaters war seine Mutter etwas später in eine<br />

kleinere Wohnung umgezogen. Andi wohnte damals bereits mit seiner Frau in einem<br />

Neubauviertel an der unteren Warnow. Einige Jahre lebten Fremde in der Wohnung, bis diese<br />

Mitte er 90er Jahre auszogen und die Wohnung eine Zeit leer stand. Durch Zufall hatte Andi<br />

dies von einem ehemaligen Nachbarn seiner Eltern erfahren. Seine Wohnungsbewerbung<br />

hatte Erfolg. Mit seiner Frau, einer Ärztin, zog er in die vertraute Wohnung seiner Kindheit<br />

ein.<br />

Bis zur Fußgängerzone, der Kröpeliner Straße, waren es sechzig Meter, bis zum Rathausplatz<br />

zweihundert und bis zur Stadtbücherei achtzig Meter. Alle wichtigen Geschäfte lagen in und<br />

an der Fußgängerzone zwischen Marktplatz und dem Kröpeliner Tor. Holt verließ am Morgen<br />

mit Andi das Haus und ging in die Stadtbibliothek um die wichtigsten Tageszeitungen zu<br />

lesen. In den Fachbüchern und Broschüren der Bundesregierung wollte er sich über das<br />

Sozialhilferecht informieren. Nach einigen Tagen kannte er nun seine Pflichten und Rechte.<br />

Rüttiger hatte Recht gehabt, es war keine scherzhafte Übertreibung, die Staatsbüttel hatten das<br />

Recht, in seine Geldbörse zu schauen, wenn er staatliches Geld beantragte oder bezog. Diese<br />

Leistungen hatten das schöne neudeutsche Wort „Transferleistungen“. Früher hatte er sich um<br />

diesen Rechtsbereich nicht gekümmert, etwa mindestens, wie bei Grundstücken auf dem<br />

Mond. Nun war er selbst in der Situation, Kenntnisse darüber haben zu müssen. Er war der<br />

Meinung, mehr über die Sozialhilfe zu wissen, als die Leute vom Sozialamt. Er, hatte schon<br />

oft gehört, dass die Hilfebedürftigen mit falschen Behauptungen, bezüglich der<br />

318


Sozialhilfebestimmungen, abwimmelt wurden. Dem wollte er durch Kenntnisse vorbeugen,<br />

auch wenn er diese sich nun nachträglich in einem privaten Crashkurs aneignete. Er las sich<br />

die Broschüre des Landes Mecklenburg-Vorpommern ausführlich durch und verglich den<br />

Inhalt des Leistungskataloges mit einigen Kommentaren aus der Fachliteratur und mit den<br />

Entscheidungen des Bundessozialgerichts. Selbst das Bundesverfassungsgericht hatte sich in<br />

den letzten Jahren desöfteren zur Sozialhilfe geäußert. Die Urteile überraschten Holt<br />

angesichts der parteilichen Besetzung des Gerichts nicht. Als Wächterrat des Parteienstaates<br />

hatte sich das Verfassungsgericht bislang bestens bewährt, als Gericht des Volkes hatte es<br />

sich schon lange verabschiedet. Zwei Vormittage in der Stadtbibliothek hatten ausgereicht,<br />

ihn gegenüber Dritten als Fachanwalt für Sozialrecht erscheinen zu lassen. Seine Zweifel am<br />

demokratischen Sozialstaat mehrten sich.<br />

Voraussetzung zur Teilhabe am öffentlichen Leben war das Vorhandensein einer<br />

Bankverbindung, einer polizeilichen Anmeldung und der Besitz eines Dokumentes, das dem<br />

Inhaber die rechtliche Existenz als Mensch bestätigt. Bereits ganz früh am Montag hatte er<br />

sich polizeilich angemeldet und einen Personalausweis beantragt, bevor er zum Arbeitsamt<br />

fuhr. Die Anmeldung war kein Problem. Andi kam mit und bestätigte die Untermieterschaft<br />

Holts. Holt war angemeldet.<br />

Schwieriger war es mit einem Bankkonto. Die nächstliegende Bank war die Deutsche Bank.<br />

Holt stellte sich am Schalter an, als er an der Reihe war, verwies ihn die Angestellte zum<br />

Bereich „Neukunden“. Wieder also war er Kunde, jedoch nicht Neukunde, denn die dortige<br />

Dame teilte dem erstaunten Holt mit, diese Filiale würde nur neue Geschäftskunden<br />

aufnehmen, ob er denn Geschäftsmann sei. Holt musste dies verneinen und stand nach<br />

wenigen Minuten wieder auf der Straße, ohne Bankverbindung. In einer Seitenstraße sah er<br />

den „Holzkopf“ einer Raiffeisenbank. Hier war man geneigt, Holt als Kunden zu akzeptieren.<br />

Bei der Eröffnung des Kontos wollte die dortige Angestellte auch wirklich alles wissen. Es<br />

war ihm peinlich, zugeben zu müssen, ein Nichts zu sein, ohne Arbeit, ohne Vermögen, nur<br />

mit zwei Kundenausweisen des Arbeitsamtes und des Sozialamtes in der Tasche. Diese<br />

Ausweise und die Kopie seiner Anmeldung vom Einwohneramt reichten aus. Holt wurde<br />

innerhalb von drei Tagen zum dritten Mal Kunde.<br />

Für den Besuch bei Rüttiger hatte sich Holt vorbereitet. Auf einen Zettel schrieb er alle<br />

Punkte, die er mit seinem Sachbearbeiter klären wollte. Dahinter standen die Paragrafen aus<br />

dem SGB II, und die Kurzzeichen der Gerichtsurteile zur Problematik dieser Bereiche. Es war<br />

gut, dass er seine Rechte kannte und auch die auf ihn zukommenden Pflichten, theoretisch<br />

konnte nichts mehr passieren.<br />

Gerade hatte sich Holt vor Rüttigers Büro gesetzt, als dieser mit einer Kaffeetasse aus<br />

der amtlichen Kaffeeküche anmarschiert kam. Er begrüßte Holt freundlich und forderte ihn<br />

auf, gleich mit hineinzukommen. Auf dem Arbeitstisch lag schon seine, noch recht dünne<br />

Akte. Er konnte auf dem Deckel seinen Namen und ein paar andere Angaben erkennen.<br />

Rüttiger nahm die Akte in die Hand. Vorher hatte er noch einen großen Schluck aus<br />

der Tasse genommen. „Möchten Sie auch einen?“ Er meinte sicherlich Kaffee.<br />

„Nein Danke, ich habe heute schon genug Kaffee getrunken. Ich hoffe doch nicht, dass<br />

es so lange dauern wird.“<br />

Rüttiger lächelte. „Nein, nein, es wird nicht lange dauern. Haben Sie die Anmeldung,<br />

den Untermietvertrag und das Scheidungsurteil mitgebracht?“<br />

„Ja,“ bestätigte Holt und legte die Papiere vor Rüttiger auf den Tisch, „bis auf das<br />

Scheidungsurteil. Ich erinnere mich nicht einmal an das Gericht, welches damals zuständig<br />

war.“<br />

Rüttiger schaute sich die Unterlagen an, wie entschuldigend erklärte er, „Von Amts<br />

wegen müssen wir zuerst immer prüfen, ob die Antragsteller nicht durch Dritte unterstützt<br />

319


werden müssten. Kinder, Enkelkinder, Ehefrauen. Oder ob diese noch verwertbares<br />

Vermögen haben, wie Sparbeträge, Bankguthaben oder Ansprüche gegen Dritte. Haben Sie so<br />

etwas oder ein Auto?“<br />

Holt verneinte etwas zu vorschnell, korrigierte sich gedanklich und dann wörtlich.<br />

„Das heißt, ich habe Kinder, Enkelkinder und zwei Ex-Frauen.“<br />

„Seit wann sind Sie von Ihrer letzten Frau geschieden?“<br />

Es war ihm peinlich, er konnte sich nicht an den Monat noch an das Jahr erinnern, in<br />

dem er von Iris geschieden wurde. „So etwa im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts,<br />

eventuell in den Jahren 1991 bis 1994.“<br />

„Aufgrund Ihrer Angaben aus dem Antrag haben wir bei Ihren Kindern nachgeforscht.<br />

Wie ich sehe,“ er schaute in die dünne Akte, „ sind Ihre Kinder auch nicht gerade auf Rosen<br />

gebettet. Die kommen für Zahlungen an Sie nicht in Frage. In der Regel sieht es auch bei Ex-<br />

Ehefrauen so aus. Vorbehaltlich einer Überprüfung des Scheidungsurteils entscheide ich über<br />

Ihre Hilfsbedürftigkeit Positiv. Sie erhalten ab jetzt den Sozialhilfesatz und das Amt zahlt<br />

Ihnen die Kosten der Miete und Mietnebenkosten. Zusätzlich sind Sie Kranken- und<br />

Rentenversichert. Aber bei der Krankenkasse müssen Sie sich selbst anmelden und die Daten<br />

Ihrer Kasse bei mir abgeben. Es reicht auch ein Brief.“<br />

Holt hatte eine Entscheidung in dieser Richtung erwartet. Die Schnelligkeit bei den<br />

Nachfragen verblüffte ihn jedoch. Was denken die Kinder jetzt? Der Alte ist schon wieder in<br />

der Klemme, oder so ähnlich, ging es ihm durch den Kopf. Er konnte sich noch gut an Frau<br />

Stein erinnern, die ihm noch nicht einmal vor einem Monat süffisant mitgeteilt hatte, dass<br />

seine Kinder zur Unterstützung nicht in der Lage noch bereit dazu seien. „Im Übrigen wollen<br />

Sie auch nichts mit Ihnen zu tun haben!“, hatte sie gesagt. Damals erschien ihm Frau Stein<br />

schadenfroh und gehässig, anders als Rüttiger jetzt.<br />

„Herr Rüttiger, wie sieht es aus, wenn ich mir eine eigene Wohnung suche, für meine<br />

Lebensgefährtin und mich. Zurzeit lebt sie noch auf Gran Canaria,“ wollte Holt wissen.<br />

„Das können Sie,“ antwortete er. „Aber Ihnen stehen nur bis fünfundvierzig<br />

Quadratmeter Wohnfläche zu, für jedes weitere Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, weitere<br />

fünfzehn Quadratmeter. Wenn Sie mit Ihrer Lebensgefährtin zusammenziehen wollen, stehen<br />

ihnen nicht mehr als sechzig Quadratmeter zu, welche das Amt eventuell bezahlt. Dazu noch<br />

die Nebenkosten.“<br />

„Was meinen Sie mit eventuell?“<br />

„Na zum Beispiel,“ erklärte Rüttiger, „wenn Ihre Freundin einen Haufen Geld hat,<br />

dann wird dieses auf die Gesamteinkommen aller Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft<br />

angerechnet. Hat Ihre Freundin ein Einkommen,“ er schaute in eine Liste, „über runde<br />

neunhundert Euro, dann haben Sie keinen Anspruch auf Transferleistungen. Der Gesetzgeber<br />

erwartet, dass die in einer engen Lebensgemeinschaft befindlichen Personen einander<br />

verpflichtet sind, sich in einer Beistandsgemeinschaf zu helfen. Die Bedarfsgemeinschaft ist<br />

gleichzeitig eine Beistandsgemeinschaft. Verstehen Sie das?“<br />

„Beischlafgemeinchaft?“<br />

Rüttiger schluckte, verkniff sich jedoch die Antwort.<br />

Holt wusste es aus seinem privaten Studium, stellte sich jedoch unwissend. „Aber wir<br />

sind doch gar nicht verheiratet. Wie kann der Staat erwarten, dass in solchen Gemeinschaften<br />

ein ungeteiltes Solidaritätsprinzip vorliegt. Was soll denn noch eine Ehe bedeuten, wenn<br />

dieses komische Rechtskonstrukt die gleichen Rechte und Pflichten mit sich bringt als eine<br />

bürgerliche Ehe?“<br />

„Herr Holt, wenn es um das Geld vom Vater Staat geht, wird dieser pingelig und<br />

äußerst kreativ, alles zu tun, um keinen Pfennig mehr ausgeben zu müssen.“<br />

„Aber das ist doch gegen das Grundgesetz!“, ereiferte sich Holt.<br />

320


„Angeblich nicht,“ antwortete Rüttiger bedächtig, „denn das<br />

Bundesverfassungsgericht hat erst vor kurzem geurteilt, dass der Staat auf die<br />

Beistandspflicht, auch innerhalb einer wilden Ehe, vertrauen darf.“<br />

„Da bin ich aber froh, so viel Einkommen hat meine Lebensgefährtin nicht. Sie kommt<br />

gerade für sich selbst über die Runden.“ Nach wenigen Augenblicken: „Und wie mache ich es<br />

nun mit der eigenen Wohnung?“<br />

„Ich hätte es beinahe vergessen zu sagen,“ ergänze Rüttiger, „die Wohnung darf nur<br />

im unteren und mittleren Preissegment liegen. Also keine Luxuswohnung in Warnemünde<br />

oder Gehlsdorf.“<br />

Obwohl er bereits die rechtliche Antwort kannte, murmelte Holt, für Rüttiger jedoch<br />

hörbar, „Was stelle ich dann in die Bude rein? Ich habe doch nichts.“ Und ein wenig lauter,<br />

„Gibt es hier irgendwelche karitativen Einrichtungen der Stadt, bei der ich billige Möbel<br />

bekommen kann?“<br />

Rüttiger antwortete so, wie Holt es erwartete. „Sie haben einen Anspruch auf eine<br />

Erstausstattung von Möbeln, wie auch an Kleidung. Beides muss auch dem durchschnittlichen<br />

Preisniveau entsprechen. Ich kenne da einige Geschäfte, zu dem das Amt Leute vor Ihnen<br />

geschickt hat. Da gibt es nicht nur Plunder, sondern auch Gediegenes.“<br />

Er zeigte sich ehrlich bemüht, Holt zu helfen. Er übergab ihm eine<br />

Kostenübernahmeerklärung für die Wohnungssuche und ein Merkblatt über die Regeln einer<br />

Erstausstattung von Möbeln und Bekleidung.<br />

Eine halbe Stunde später legte Holt Andi seine Ausbeute vor. Dieser begutachtete die<br />

Unterlagen und lachte.<br />

„Hans, dir geht es im Moment besser als mir. Am Wochenende fahren wir ins<br />

Einkaufzentrum und schauen uns die Möbel an. Wegen der Wohnung solltest du zur WIRO<br />

gehen, das ist hier die größte Wohnungsgesellschaft. Es war früher die Kommunale<br />

Wohnungsverwaltung. Die haben in allen Stadtbezirken Wohnungen in allen Preisklassen.<br />

Meine Schwester wohnt im Hafenviertel auch in einer WIRO- Wohnung, da werden<br />

manchmal welche frei.“<br />

„Andi, was bedeutet WIRO?“, wollte Holt wissen.<br />

„Ich glaube Wohnen in Rostock.“<br />

*<br />

Drei Möbelhäuser und ein Gebrauchtwarengeschäft hatten gute und preiswerte Möbel, doch<br />

Holt hatte noch keine eigene Unterkunft und auch nicht das Geld zum Kauf. Gleich ein paar<br />

Häuser weiter zu Andis Wohnung, noch in der Langen Straße, fand er das Vermietungsbüro<br />

der WIRO, welches Kundencenter Mitte hieß. Dieses Büro hatte den Luxus einer Rezeption<br />

sowie eines kleinen Warteraumes mit Kaffee- und Wasserspender. In der Ecke stand ein<br />

großes Regal mit Kinderspielzeug, für die Kleinen der Wohnungssuchenden.<br />

Das noch junge Mädchen an der Rezeption fragte Holt nur, in welchem Stadtbezirk er<br />

eine Wohnung wünsche. Er antwortete, „Hier, in der Mitte“. Sie machte ein paar Kringel auf<br />

eine Art Laufzettel und gab diesen weiter an Holt.<br />

„Wenn unsere Mitarbeiterin, dort am rechten Beratungsplatz,“ dabei wies sie zu einem<br />

Tisch, an dem drei Personen saßen, „frei wird, gehen Sie unaufgefordert hin. Das ist die<br />

Kollegin Lange, die ist für Mitte zuständig.“<br />

Die frei gewordene Mitarbeiterin erklärte Holt ein wenig später, in ihrem Aufgabenund<br />

Mietbereich mehrere Wohnungen anbieten zu können. Er war überrascht und fragte nach,<br />

warum es so viele freie Wohnungen auf dem Markt gäbe. Die Frau hatte eine einleuchtende<br />

Erklärung.<br />

321


„Hier in Rostock haben wir viele Arbeitslose. Die meisten bleiben und hoffen,<br />

irgendwann einmal wieder einen Job an der Werft oder im Hafen zu bekommen. Andere, die<br />

nicht so lange warten wollen oder können, gehen rüber zu den Wessis, ich meine in die alten<br />

Bundesländer. Nach Hamburg, nach Kiel oder in das nächste Kaff hinter der Grenze, ... äh,<br />

ehemaligen Grenze, in der es irgendeine Arbeit gibt.“<br />

Holt war erschrocken, so eine Verbitterung zu sehen. „Ist das wirklich so schlimm?“<br />

„Kommen Sie vom Mond? Mein Mann hat schon seit drei Jahren keine Arbeit mehr.<br />

Nur ich ernähre die Familie. Von der Stütze, die er ein Jahr bekam, können wir nicht leben.<br />

Da hab ich hier wieder angefangen, habe hier auch gelernt, damals in der Kommunalen.“<br />

„Nein, ich komme nicht vom Mond!“, erwiderte Holt. „Ich habe lange Zeit im<br />

Ausland gelebt.“<br />

„Na, dann muss es ja dort noch schrecklicher gewesen sein als hier.“<br />

„War es,“ bestätigte Holt.<br />

„Dann kommen Sie aus Kasachstan?“<br />

„Nein, ich komme aus Costa Rica.“<br />

Die Frau schaute Holt wie einen Irren an. Ihm fiel ein, dass er im Reisebüro neben<br />

dem Mietcenter die Werbung einer Kreuzfahrtlinie gesehen hatte, die unter anderem Costa<br />

Rica anpries. Eine halbe Palme aus Pappmaschee, darunter weißer Strandsand, füllten das<br />

Schaufenster und ließen vorbei gehende und eintretende Menschen von einem sorgenfreien<br />

Leben unter Palmen träumen.<br />

Holt hatte die Mietübernahmeerklärung des Sozialamtes vorgelegt. Nun schien er bei der<br />

Mitarbeiterin der WIRO total verschissen zu haben. Verärgert schaute sie sich den Zettel an,<br />

hob ihn zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, wie eine mit Milzbrand verseuchte<br />

Bedrohung hoch und ließ ihn wieder mit einem Zeichen der Resignation fallen.<br />

„Die Roten Socken wirtschaften unser Land in Grund in Boden. Wir, die hier<br />

Einheimischen, haben keine Zukunft. Tausende Ausländer und sogenannte Spätheimkehrer<br />

bekommen Puderzucker in den Hintern geblasen und wir, wir gehen leer aus, bleiben auf der<br />

Strecke.“<br />

Holt schaute sich die nun mit einem Mal verhärmt aussehende Frau näher an. Sie<br />

schien früher einmal eine schöne Frau gewesen zu sein. Wo hatte er dieses Gesicht schon<br />

einmal gesehen? Trübe Augen, eingefallen und blass. Nein, es war nicht nur ein Gesicht<br />

gewesen, es waren die vielen Gesichter im Warteraum des Sozialamtes. Von diesen<br />

Gesichtern hatten einige den Ausdruck.<br />

„Ich bin kein Zugereister,“ begann er einer Entschuldigung gleich, „ich komme von<br />

der Insel Rügen. Vor einigen Jahren wurde ich von Ihren Roten Socken eingesperrt und ich<br />

habe meine Heimat damals verlassen müssen. Das Schicksal hat mich ein wenig<br />

herumgestoßen, ich habe alles, beinahe auch mein Leben verloren. Glauben Sie, ich wäre<br />

gerne zurückgekommen? Meine Eltern sind schon lange tot, meine Freunde verschwunden<br />

und die Erinnerungen an angeblich gute Zeiten sind schon lange verblasst.“<br />

Die Frau schämte sich offensichtlich, Holt so ablehnend behandelt zu haben. Sie<br />

antwortete nicht weiter, sondern gab nur Holts Personaldaten in einen Computer ein. Dann<br />

druckte sie ein ausgefülltes Erfassungsblatt und drei Blätter mit Angeboten aus.<br />

„Hier,“ sagte sie und tippte mit einem Bleistift auf die Liste, „diese drei Wohnungen<br />

sind ganz in Ordnung. Nicht zu groß und auch nicht so teuer für das Sozialamt. Sie sollten<br />

sich erst einmal die Häuser von außen anschauen, damit Sie ein Gefühl für die Lage<br />

bekommen. Sehen Sie dort die Reihe der roten Dächer?“ Dabei wies sie mit dem Bleistift aus<br />

dem großen Fenster zur gegenüber liegenden Straßenseite, wo durch eine breite<br />

Tordurchfahrt, in der sonnst geschlossenen Häuserfront, rote Dächer zu sehen waren. „Das ist<br />

die Fischerstraße, da haben wir in der Hausnummer 1 gleich zwei Wohnungen. Bis zur<br />

Warnow sind es dann nur noch fünfzig Meter. Da würde ich anfangen.“<br />

322


Holt überquerte die Lange Straße und ging durch das übergroße Tor. Vor ihm lag die<br />

Rückseite der Fischerstraße mit den Gärten. Das Quartier war noch zur DDR-Zeit im Stil der<br />

Hanse nachgebaut worden, zwar in der bekannten Plattenbauweise, jedoch in einer<br />

ansehnlicheren Art. Dieses kleine Stadtviertel passte in das Zentrum. Holt gefiel das Viertel,<br />

das Haus und die Umgebung. Vor dem Haus lag ein großer Parkplatz mit angrenzendem<br />

Waldstreifen und einem kleinen Aussichtsplatz, dem Kanonenberg, auf dem tatsächlich noch<br />

drei uralte Kanonen standen.<br />

Die Besichtigung der zwei anderen WIRO- Häuser und der Besuch von zwei weiteren<br />

Wohnungsgesellschaften erübrigten sich. Holt hatte mit dem ersten Angebot auch das beste<br />

gefunden. Zwei Tage später schaute er sich die Wohnung zusammen mit Andi an und am<br />

Tage darauf unterschrieb er den Mietvertrag. In diesem stand auch Pauline. Sie konnte, nach<br />

Bekunden der Verwaltung, den Vertrag auch später unterzeichnen.<br />

Die Wohnung hatte neunundfünfzig Quadratmeter, war in zwei Schafzimmern sowie<br />

einem Wohnzimmer mit angrenzender Küche aufgeteilt. Alle Zimmer und das Innenbad<br />

gingen von einem großzügigen Korridor ab. Die gesamte Wohnung war, bis auf das Bad, mit<br />

Laminat-Parkettboden ausgelegt, die Wände und Decken mit Raufaser tapeziert und blendend<br />

weiß gestrichen. Der Wohnungsschnitt war sehr praktisch und angenehm. Eine Kleinigkeit<br />

störte Holt, die Schlafzimmer lagen nach vorne, zum Parkplatz hin. Diesbezüglich könnte es<br />

Lärmprobleme geben, was sich später aber als total unbegründet herausstellen sollte.<br />

Zwei Wochen später fuhr Holt wieder zu Rüttiger, der ihn wie einen alten, guten Bekannten<br />

begrüßte. Zuerst übergab er ihm einen Barscheck über eintausendachthundert Euro mit den<br />

Worten „Das hier ist das Geld für Ihre Möbel und den Hausrat. Sie müssen uns aber die<br />

Rechnungen vorlegen, damit wir wissen, das Geld ist nicht für Alkohol und Zigaretten<br />

draufgegangen.“ Dabei grinste er breit.<br />

„Eigentlich wollte ich es in die Spielbank nach Warnemünde tragen,“ antwortete Holt,<br />

was Rüttiger beflissentlich ignorierte.<br />

Holt legte auch noch das geforderte Scheidungsurteil vor. Rüttiger schaute es sich an<br />

und konnte sich nicht die Frage verkneifen, „Haben Sie Ihre Scheidungsurteile<br />

durchnummeriert?“<br />

„Nein“, antwortete Holt, „zwei Scheidungen sind noch übersichtlich. Aber für die<br />

Zukunft werde ich es mir merken. Danke für den guten Rat.“<br />

Rüttiger schaute Holt prüfend an. „Das war kein Witz! Zumindest sollte es nicht in<br />

diese Richtung gehen. Auf Ihre Beziehung kommt eine Belastung zu, welche in einer<br />

Trennung enden könnte. Ich habe hier schon einige Fälle erlebt, bei dem sich ein Partner vom<br />

anderen trennte, um nur die ganze Kohle zu bekommen. Dann sieht man erst, was diese<br />

Beziehungen oder Ehen wert sind.“<br />

„Sie wollen mir Angst machen?“<br />

„Nein, das will ich nicht. Aber der Aktenlage nach muss auch Ihre Freundin die<br />

Höschen runterlassen, wenn sie mit Ihnen zusammenleben will.“<br />

„Wenn es um die Miete geht, ist sie bereit, natürlich die Hälfte mitzutragen. Sie kann<br />

sich selber ernähren und ist auf mich nicht angewiesen.“<br />

Rüttiger starrte Holt merkwürdig an, als ob der irgendetwas nicht richtig verstanden<br />

hätte. „Anders herum wird ein Schuh daraus. Nicht Sie könnten für Ihre Freundin<br />

aufkommen, sondern sie muss für Sie aufkommen. Jedenfalls so sieht es das Gesetz vor. Mit<br />

dem Einzug bei Ihnen gehört Ihre Freundin Ihrer Bedarfsgemeinschaft und damit auch Ihrer<br />

Fürsorgegemeinschaft an.“ Dabei betonte er besonders das Wort „Ihrer“.<br />

„So schlimm wird es wohl nicht werden. Sie ist Amerikanerin und bekommt eine<br />

kleine Witwenrente, auf die der deutsche Staat nicht zugreifen kann,“ antwortete Holt.<br />

„Was glauben Sie, was dieser Staat nicht alles kann. Ich hoffe nur, es ist so, wie Sie es<br />

vermuten, was ich aber stark bezweifele.“<br />

323


*<br />

Holt ging beunruhigt in Andis Kanzlei, der sich von ihm ausgiebig informieren ließ. Sie saßen<br />

auf der Gartenterrasse und schauten den emsigen Bienen zu, die im Garten von Blüte zu Blüte<br />

flogen. Leichter Wind rauschte im prachtvollen Blätterwerk der zahlreichen Obstbäume.<br />

Diese Idylle machte für Holt die vorher erlebte Situation im Sozialamt fasst irreal, unwahr,<br />

nicht geschehen.<br />

„Hans, du musst es einfach so einrichten, dass es so aussieht, als ob Pauline bei dir als<br />

Untermieterin wohnt. Mit Untermietvertrag, eigenem Zimmer und eigenem Fach im<br />

Badezimmerschrank und Kühlschrank,“ sinnierte Andi.<br />

„Um Gottes willen Andi, das können wir der Pauline gar nicht stecken, die bleibt<br />

sonnst auf Gran Canaria.<br />

„Ach was, wird sie nicht, sie liebt und vermisst dich. Wir könnten es ihr ja peu a peu<br />

immer ein klein wenig erzählen, dann wird es nicht so heftig wie auf einen Schlag. Und<br />

außerdem glaube ich, es wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“<br />

Holt deutete am Telefon nur ein paar kleinere Probleme an, die leicht zu bewältigen seien.<br />

Pauline saß bereits auf gepackten Koffern. Sie hatte für das Haus einen Nachmieter gefunden,<br />

der von den Vermietern akzeptiert wurde. Der Nachmieter war auch ein Deutscher aus<br />

Hamburg. Später sollte sich herausstellen, das dieser ein schräger Vogel war. Die letzte<br />

Postsendung, die er nachschicken wollte, unterschlug er. Verloren gingen die<br />

Computeranlage, ein paar wertvolle Andenken und ein vergoldeter Teller. Noch bevor Pauline<br />

aus dem Haus auszog und übergab, lebte er bereits ein paar Tage im Gästezimmer. Während<br />

der Abwesenheit hatte er Paulines Papiere durchsucht und sich die dort abgelegten Daten der<br />

Visa Card notiert. Nachdem Pauline ahnungslos abreiste, hatte dieser „nette“ Nachmieter,<br />

mithilfe einer Dublette, beim Einkauf im Großmarkt Paulines Konto abgeräumt. Es sollte aber<br />

noch schlimmer kommen: Die rheinischen Vermieter machten erhebliche Nachzahlungen für<br />

Elektrizität und Wasser geltend. Im Gegenzug behielten sie die Kaution ein und machten ein<br />

Vermieterpfandrecht auf drei große Umzugskartons geltend. Alles erfolgte Hand und Hand<br />

mit dem Nachmieter. Erst nach zwei Jahren sollte Pauline, von Deutschland aus, erfahren,<br />

dass der besagte Nachmieter in Hamburg wegen Betruges gesucht wurde. Ein Verfahren<br />

gegen die Vermieter und den Nachmieter ging wie das Hornberger Schießen aus. Sachlich<br />

zuständiges Gericht war das Gericht am Ort der Immobilie. Ein Verfahren ohne<br />

Erfolgsaussicht endete, bevor es angefangen hatte, im Räderwerk der spanischen Justiz.<br />

Pauline flog bis Rostock-Laage. Ankommen sollte sie erst spät am Abend. Die Maschine<br />

landete pünktlich auf dem kleinen Provinzflughafen. Holt war erstaunt, als er erfuhr,<br />

Maschinen würden auch in Rostock landen. Als fast letzter Passagier erschien eine<br />

sonnengebräunte, gesund aussehende Pauline. Er hatte eine bleiche und verbitterte Frau<br />

erwartet, welche in das derzeitige, oftmals erscheinende Frauenbild des „neuen Ostens“<br />

passte. Äußerlich hatte sie jedenfalls die Trennung gut weggesteckt. Wie ein kleines<br />

Mädchen, welches ihren Papa nach langer Trennung wiedersieht, ließ sie ihre zwei Koffer<br />

fallen und stürmte auf Holt zu und umarmte ihn heftig. Andi hatte sich ein wenig<br />

zurückgehalten, er wollte beim Wiedersehen nicht stören. Über Holts Schulter sah Pauline im<br />

Hintergrund Andi stehen, den sie erfreut mit Hallo Andi!, begrüßte und ihn anschließend<br />

umarmte.<br />

Auf der Rückfahrt erzählte sie die letzten Ereignisse aus Gran Canaria, das unrühmliche<br />

Verhalten der Vermieter und des Nachmieters. Beim letzten Gespräch am Telefon hatten sie<br />

sich bereits darüber unterhalten. Holt war beim Berichten über den Stand seiner Bemühungen,<br />

324


hinsichtlich einer eigenen Wohnung, hinter den wahren Stand der Dinge, zurückgeblieben.<br />

Pauline war nach wie vor der Meinung, Holt wohne noch bei Andi und sie selbst würde in die<br />

endgültige Entscheidung einer Anmietung und der Auswahl der Möbel noch mit einbezogen.<br />

Erst als Andi an seiner Wohnung vorbei fuhr, stutzte Pauline. Sie fragte, Wohin fährst du?,<br />

worauf dieser nur ausweichend erklärte, er müsse noch einen kleinen Umweg machen. Vor<br />

dem Haus Fischerstraße 1, auf dem Hausparkplatz, hielt er. Holt und Andi stiegen aus,<br />

Pauline blieb abwartend sitzen, bis man sie aufforderte, auch auszusteigen. Zögernd tat sie es,<br />

dabei die Fassade des Hauses betrachtend. Holt ging zur Haustür und deutete auf die<br />

Klingelleiste.<br />

„Hier wohnen gute Freunde von Andi. Mal sehen, ob die da sind?“<br />

Holt klingelte, dabei verdeckte er mit seiner Hand das Namensschild der Mieter. Im<br />

Haus hörte man entfernt eine Klingel. Der Summer der Tür blieb schweigend. Als Holt die<br />

Hand senkte, konnte Pauline den Namen der Mieter lesen. Dort stand: Pauline / Hans.<br />

Im Blickfeld Paulines, die wie gebannt auf das kleine Schildchen starrte, erschien ein<br />

Schlüsselbund, welches Holt ihr vor die Augen hielt.<br />

„Hier Pauli, schließ die verdammte Tür auf. Andis Freunde wohnen in der zweiten<br />

Etage rechts. Geh du Mal vor, ich hol das Gepäck. Wir werden hier wohnen können, bis man<br />

uns wegen Belästigung und Missbrauch der Gastfreundschaft rausschmeißt.“<br />

Andi brach in lautes Gelächter aus, Holt fiel mit ein. Pauline schien begriffen zu<br />

haben. Voller Erwartung und nun auch lachend, schloss sie die Tür auf und eilte die Treppe<br />

hinauf. Vor der Wohnungseingangstür verharrte sie einen Moment, schaute sich das<br />

Namensschild an, auf dem auch ihr Familienname stand. Dann schloss sie die Tür auf, suchte<br />

den Lichtschalter und machte Licht. Mit einem Freudenschrei betrachtete sie den<br />

Eingangsbereich, der bis auf ein paar kleinere Dinge, vollständig eingerichtet erschien; dann<br />

den Rest der Wohnung.<br />

Holt hatte bei der Einrichtung auf ihren Geschmack geachtet und die Räume so<br />

ausgestattet, wie es nach seiner Meinung Pauline auch getan hätte. Damit hatte er voll ins<br />

Schwarze getroffen. Kleinere Umstellungen und Verbesserungen würden sicherlich im Laufe<br />

der nächsten Tage erfolgen. Pauline irrte zum hundertsten Mal durch alle Räume, während ein<br />

erfreuter Andi und ein stolzer Holt in der kleinen Küche an der Sitzecke bei einem Glas<br />

Champagner Platz nahmen. Von dort her hörten sie immer wieder die freudigen Laute, die<br />

Pauline ausstieß. Ohhh ... toll ... hmmm ...<br />

Die staatliche Rundumbevormundung hatte auch etwas Gutes. Holt musste sich auf Weisung<br />

des Amtes bei einer Krankenkasse anmelden. Aus seinen Versicherungspapieren erfuhr er<br />

eine, bereits vor längerer Zeit erfolgte, Änderung. Die Bundesversicherungsanstalt für<br />

Angestellte hatte ihn zur Seekasse Hamburg abgeschoben, mit der Begründung, die im<br />

Berufsleben zuerst gewählte Rentenkasse sei auch für den Rest des Lebens zuständig. Es war<br />

nur komisch, die bei ihm zuerst in Erscheinung getretene Rentenkasse war die staatliche<br />

Sozialversicherungskasse der untergegangenen DDR. Ihm war diese Abschiebung damals<br />

jedoch egal. Auf der Suche nach einer Krankenkasse, er hatte die AOK im Auge, sah er beim<br />

Vorbeifahren in der Straßenbahn auf der Doberaner Straße die Schilder der Seekasse und der<br />

Seekrankenkasse. Beim nächsten Halt stieg er aus. An der gemeinsamen Rezeption beider<br />

Institute war die dort tätige Mitarbeiterin in der Lage, nach Eingabe seines Namens und<br />

Geburtsdatum, sofort die Daten abzurufen. Sie druckte ein Aufnahmeformular aus, welches<br />

Holt ergänzte und unterschrieb. Nach Eingabe der Daten wurde er Mitglied der<br />

Seekrankenkasse.<br />

Am nächsten Morgen fuhr er per Straßenbahn mit Pauline in Richtung Hauptbahnhof.<br />

Irgendwann einmal hatte er bei solcher Fahrt an der rechten Seite eine Poliklinik gesehen. Aus<br />

der DDR-Zeit wusste er noch die Bedeutung des Namens. Es war das, was im Westen unter<br />

325


einem „Ärztehaus“ verstanden wurde, eine Konzentration von mehreren Fachärzten in einem<br />

Haus. Die Poliklinik lag in der Paulstraße, es war ein DDR-typischer Bau. Die Dame an der<br />

Rezeption fragte nach einer Überweisung zum Facharzt, die Holt nicht hatte und dessen<br />

Besitz er verneinte.<br />

„Sie benötigen, wenn Sie hier einen Facharzt aufsuchen wollen, eine Überweisung<br />

vom Hausarzt,“ sagte die Rezeptzionistin.<br />

„Ich habe gar keinen Hausarzt, war ja immer gesund,“ antwortete Holt.<br />

Die Rezeptzionistin schaute Holt überrascht an. „Das ist ja schön für Sie, vor solch<br />

einer Gesundheit strotzend. Aber wenn Sie keinen Hausarzt haben, müssen Sie sich jetzt einen<br />

suchen. Wo wohnen Sie denn?“<br />

„Am Stadthafen, in der Fischerstraße,“ antwortete Holt.<br />

„Dann gehen Sie doch zu Frau Doktor Roberta Koch, sie hat ihre Praxis in der Langen<br />

Straße.“<br />

Holt musste grinsen. Roberta Koch – Robert Koch. Kein schlechter Name für eine<br />

Ärztin.<br />

Bei Pauline sah es schlechter aus. Sie war in Deutschland in keiner Krankenkasse. Im<br />

Notfall hätte sie sich als Privatpatientin anmelden müssen. Holt nahm sich vor, bei Rüttiger<br />

nachzufragen, ob Pauline auf seiner Krankenkarte mit versichert sein könnte.<br />

Während Pauline sich im Erdgeschoss des Hauses in einem Friseur- und<br />

Wellnessgeschäft umschaute, besuchte Holt seine zukünftige Hausärztin. Diese war eine<br />

resolute Frau, eigentlich Chirurgin, wie sie erzählte und die Witwe des berühmten ehemaligen<br />

Chefarztes an der Uniklinik, Professor Doktor Paul Koch. Die Untersuchung ging schnell<br />

über die Bühne. Als sie Holts frische Wunde an der linken Seite sah, stutzte sie und tastete die<br />

Umgebung vorsichtig ab.<br />

„Was haben wir denn hier? Was ist passiert?“<br />

Holt erinnerte sich an die Verwundung, erzählte jedoch seiner Ärztin ein Märchen.<br />

„Ich bin beim Joggen gestürzt und habe mir dort einen Ast in die Rippen gerammelt.“<br />

„Herr Holt, Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie joggen?“<br />

Er musste grinsen. „Nun, ja, es war eine einmalige Angelegenheit, ein wenig<br />

aufgezwungen. Ich bin aus dem Fenster gesprungen, als der Mann meiner damaligen Freundin<br />

überraschend nach Hause kam. Der Lump hat seinen Rottweiler auf mich gehetzt.“<br />

„Na, nun Mal halblang, Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dies wären die<br />

Spuren einer Bisswunde?“<br />

„Nein, nein, den Gartenzaun habe ich noch rechtzeitig geschafft, aber die dahinter<br />

stehende Kiefer war morsch, der Ast ist abgebrochen und ich bin dann auf den Ast gefallen.<br />

Das mit dem Ast stimmt, und wenn Sie das richtig sehen wollen, ist meine ... äh, sagen wir<br />

mal, mein überhasteter Aufbruch doch wie Joggen zu bewerten.“<br />

Diese Antwort erschien Frau Doktor glaubwürdig. Sie runzelte zwar wegen der<br />

moralischen Verwerflichkeit des Tuns von Holt die Stirn, untersuchte aber weiter.<br />

Am Ende der Untersuchung schrieb sie ein paar Überweisungen aus. Holt hatte nun die<br />

Lizenz zum Jammern.<br />

Der Besuch beim Urologen war nicht so spaßig, sondern langwierig und unangenehm.<br />

Zwischendurch musste er zum Röntgen. Dort schluckte er Kontrastmittel, die wenigsten nach<br />

etwas hätten schmecken können. Es wurde, wie immer, an der falschen Stelle gespart. Nach<br />

einer Stunde war er beim Herrn Doktor zurück, der sich die Röntgenaufnahmen anschaute.<br />

Dieser schüttelte sein weises Haupt, schaute Holt mitleidsvoll an, der nun glaubte, seine Zeit<br />

auf Erden sei bald abgelaufen.<br />

„Sehen Sie hier an der linken Niere die Verfärbungen am oberen Ende?“ Dabei wies er<br />

auf eine Stelle der Röntgenaufnahme, die vor einem Beleuchtungskasten klemmte.<br />

326


Holt hätte auch eine Mondlandschaft sehen können. Mit viel Fantasie erkannte er die<br />

Umrisse einer menschlichen Gestalt, in dem ein Haufen von irgendwelchen Organen und<br />

anderen Körperteilen herumschwammen.<br />

„Das dort, das gefällt mir gar nicht. Im oberen Teil hat sich ein Sack gebildet, der voll<br />

mit kleinen runden Körnern ist. Das sind Nierensteine. Aber in dieser Gleichmäßigkeit und<br />

Vielzahl hab ich sie noch nicht oft gesehen. Davor ist in der Bauchwand eine frische<br />

Vernarbung.“<br />

„Und, was soll nun mit mir geschehen? Kann man diese Steine mit einer Chemikalie<br />

oder Laser auflösen?“<br />

„Nein, dafür sind es zu viele. Der Beutel oben muss auch entfernt werden. Das kann<br />

man nur operativ erledigen.“<br />

Ach du Scheiße!, dachte der sich todkrank fühlende Hypochonder, mehr als<br />

erschrocken. „Wann muss ich unters Messer?“<br />

„Ich frage noch heute in der Uniklinik nach, wann ein Bett und Operateur frei ist. Ich<br />

nehme an, innerhalb von vierzehn Tagen. Dabei werden wir uns auch einmal Ihre Prostata<br />

genauer anschauen.“<br />

Schaut nur, aber bitte dort nicht auch noch herumschnippeln!<br />

Pauline baute den verstörten Holt wieder auf, zumindest versuchte sie es.<br />

„Hans, das ist alles nicht so schlimm. Tom hatte das auch. Da haben Sie ein kleines<br />

Loch ins Fell gemacht und sind mit ganz kleinen Lasermessern und Pinzetten reingegangen.<br />

Nach zwei Tagen konnte er schon wieder die Klinik verlassen.“<br />

„Wie groß war das Loch?“, wollte er wissen.<br />

Pauline zeigte Holt die Größe zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. „So groß!“<br />

Diese Größe schien riesig zu sein. Oh Gott!<br />

*<br />

Während Holt sich von Frau Doktor untersuchen ließ, war Pauline im Salon Tuchmacher<br />

vorstellig geworden. Sie hatte sich als potenzielle Kundin ausgegeben und die Eigentümerin<br />

mit den verschiedensten Fragen gelöchert. Diese wurde nach einiger Zeit misstrauisch.<br />

„Sagen Sie, sind Sie vom Finanzamt oder von der Konkurrenz?“<br />

Pauline lachte und erklärte der Frau ihre Beweggründe der detaillierten Nachfrage.<br />

„Ich will ehrlich sein. Ich suche keinen Salon, sondern eine Arbeit. Zuletzt habe ich<br />

auf Gran Canaria ... „ und sie erzählte ihren beruflichen Werdegang seit sie 1984<br />

amerikanischen Boden betrat.<br />

Frau Tuchmacher hörte interessiert zu, sie schien von Paulines Werdegang<br />

beeindruckt.<br />

„Nach Weihnachten zieht eine meiner Mitarbeiterinnen nach Westdeutschland. Damit<br />

wäre ab Januar eine Stelle frei, aber ich befürchte, ich kann Sie nicht bezahlen.“<br />

Pauline dachte einen Moment nach und machte einen Vorschlag. „Wie wäre es, Sie<br />

vermieten mir einen Arbeitsplatz, entweder für ein Fixum oder für einen Prozentsatz meines<br />

Umsatzes.“<br />

Holt hatte seine Operation, Pauline eine sichere Aussicht auf einen Job.<br />

Es ging auf die Weihnachtszeit zu und Holt auf seine Operation. Anfang Dezember war es so<br />

weit. Pauline lieferte ihn in der Aufnahmestation ab, als ob sie befürchtete, Holt würde sich<br />

wieder durch den Hinterausgang verdrücken. Sie lag mit ihrer Befürchtung gar nicht so weit<br />

entfernt. Holt hätte gerne den Hinterausgang genutzt, sah jedoch auch die Folgen so einer<br />

Feigheit, er wäre in den nächsten Jahren immer stärkeren Schmerzen ausgesetzt, die in einem<br />

327


totalen Nierenversagen und Tod enden könnten. Im Dreibettzimmer lag ein junger<br />

Motorradfahrer, der nach einem Unfall wieder zusammengeflickt werden sollte, ein Lehrer,<br />

der eine Prostataausschälung erwartete und er, Holt. Der Lehrer machte seinen beiden<br />

Mitpatienten Mut. Er hatte ja nicht so viel zu erwarten. Seinen eigenen Angaben nach würde<br />

er in zwei Tagen wieder nach Hause gehen. Ausführlich hatte er den interessiert, aber besorgt<br />

lauschenden anderen Helden die bevorstehende Operation erklärt.<br />

„Na Herr Holt, dann wollen wir mal.“ Die Oberschwester kam mit zwei Pflegern ins<br />

Zimmer. Diese schoben ihn den Gang entlang in den großen Fahrstuhl in Richtung OP. Die<br />

Schwester ging neben dem Bett und schaute auf ihn herab.<br />

„Wir werden Sie jetzt in die Vorbereitung bringen. Dort bekommen Sie ein<br />

Beruhigungsmittel und dann werden Sie schlafen. Danach legen wir Sie an ein paar Schläuche<br />

und Sie werden intubiert.“<br />

„Ich hoffe, das ist nichts Schlimmes?“, antwortete Holt.<br />

„Nein, das ist nur ein Schlauch mit Halterung, der in Ihre Luftröhre geschoben wird,<br />

damit Sie uns nicht während der OP ersticken. Sie merken davon nichts.“<br />

Im Vorbereitungsraum wartete eine Schar von Personen in hellblauer Gewandung. Einer<br />

dieser Blauen stellte sich als der zuständige Anästhesist vor. Dieser erklärte Holt noch einmal<br />

kurz den Ablauf, bis er wieder auf der „Aufwachstation“ zu sich kommen würde. Er setzte an<br />

Holts Arm eine Kanüle, die an einen Tropf angeschlossen war. Noch war ein kleines rotes<br />

Absperrventil auf „Halt“ gestellt. Er schielte zu den anderen vielen Geräten.<br />

„Sagen Sie Doktor, habe ich am Bett einen Zettel, auf dem steht, was gemacht werden<br />

soll?“, hauchte Holt.<br />

„Nein nicht am Bett, sondern auf der obersten Seite Ihrer OP-Akte steht, was bei Ihnen<br />

gemacht wird.“<br />

„Und was steht dort?“, wollte Holt wissen.<br />

Der blaue Medizinmann schlug die Akte auf. „Beiderseitige Amputation an den<br />

Oberschenkeln und wenn es der Zustand des Patienten noch zulässt, Austausch des<br />

Stammhirns.“ Dabei schaute er den vor Schreck erstarrten Holt an.<br />

„Das hab ich doch geahnt, dass ihr mich verwechselt habt!“<br />

Der Narkosearzt lachte. „Das war natürlich ein Scherz.“ Ernsthaft fuhr er fort, „Sie<br />

werden an der linken Niere operiert, dabei wird ein, sagen wir mal unmedizinisch, ein<br />

sogenannter Steinbeutel mit Inhalt entfernt. Keine große Sache.“<br />

Schleimbeutel hatte Holt verstanden. Darüber ausgiebig nachdenken konnte er nicht<br />

mehr. Der Arzt hatte das Absperrventil geöffnet und das Narkosemittel floss durch seine<br />

Adern. Das geforderte Rückwärtszählen von Hundert schaffte er nicht mehr bis<br />

fünfundneunzig.<br />

Wider befürchtetem Erwartens wachte Holt irgendwann einmal auf. Die Uhr an der<br />

Wand zeigte halb vier. Er konnte sich daran erinnern, dass die Uhr im Vorbereitungsraum auf<br />

zehn Uhr gestanden hatte. Waren nur fünfeinhalb Stunden vergangen?, ging es durch seinen<br />

noch schläfrigen Kopf. Aus dem Augenwinkel sah er die wachhabende Schwester der Station.<br />

„Na Herr Holt, wieder unter den Lebenden?“<br />

„War ich denn schon tot?“, antwortete er, mit Schmerzen im Rachenraum.<br />

„Nein, natürlich nicht. Wie fühlen Sie sich?“<br />

Holt hatte bislang, bis auf das Kratzen im Hals, nichts gefühlt, doch dann verspürte er<br />

ein Brennen an der rechten Seite. Er tastete mit der Hand in diese Richtung und verspürte eine<br />

Binde und einen kleinen Schlauch. „Was ist das?“<br />

„Das ist eine Drainage. Damit können die Wundsekrete abfließen. Das beschleunigt<br />

den Heilungsprozess. In einer halben Stunde können Sie wieder zurück auf Ihr Zimmer.“<br />

328


Der Abend verlief gut. Die Schwester hatte ihm einige Pillen verpasst. Erst in der Nacht<br />

setzten starke Schmerzen ein. Die Nachtschwester gab Holt eine Spritze und er konnte wieder<br />

einschlafen. Am nächsten Morgen begann die medizinisch verordnete Folter. Holt musste<br />

aufstehen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Bis er alleine, wankend auf den Beinen stand,<br />

benötigte er mehr als acht Minuten. Nach einem kleinen Rundgang im Zimmer, sich am<br />

Garderobenständer mit der Flasche festhaltend, fiel er wie ein Toter ins Bett zurück. Die<br />

Schwester sagte nur Gut gemacht! Diese Prozedur wiederholte sich. Anfänglich war es<br />

wirklich eine Folter. Nach und nach verspürte Holt eine Erleichterung. Als Pauline am<br />

nächsten Nachmittag zu Besuch kam, traf sie ihn auf dem sechzig Meter langen Gang der<br />

Station an, der sich am rollenden Garderobenständer mit Flasche festhaltend, promenierte und<br />

mit einem andern Leidgenossen schwatzte.<br />

Pauline, die dieses Bild sah, dachte, Erst will er sterben und nun schwingt er schon<br />

wieder große Reden. Typisch Mann!<br />

Die Weihnachtstage verliefen relativ ruhig. Andi hatte sie zu Heilig Abend zu sich<br />

eingeladen. Seine drei Söhne waren da, allerdings nicht die Tochter. Im großen Wohnzimmer<br />

stand ein geschmückter Tannenbaum, der bis an die Wohnzimmerdecke reichte. An den Ästen<br />

waren echte Kerzen angebracht. So etwas hatte Holt schon über dreißig Jahre nicht mehr<br />

gesehen. Alle Eingeladenen bekamen einen überfüllten Weihnachtsteller mit Süßigkeiten.<br />

Pauline und Holt waren über die Aufmerksamkeit gerührt. Die großen Söhne erhielten von<br />

ihnen je ein Buch über Mittelamerika. Für dem Jüngeren hatte Pauline eine Musikkassette<br />

besorgt, welche Holt als schräge Humba Tumba Musik bezeichnete, aber dieser liebte diese<br />

Art der Geräuschentwicklung. Andi schenkten sie ein Buch über einen großen DDR-<br />

Deutschen.<br />

Im Antiquariat hatte Holt ein Buch über Täve Schur entdeckt und gekauft. Andi<br />

kannte den im Osten immer noch populären DDR-Radrennfahrer persönlich. Zusammen mit<br />

Andis Vater war dieser auf einem Bild zu sehen, als er von dem damaligen Staatschef der<br />

DDR, Walter Ulbricht, mit einem Orden ausgezeichnet wurde. Der Vater stand in seiner<br />

Eigenschaft als Chef der FDJ daneben. Holt wusste über diese Zeit von Andi Bescheid. Sein<br />

Vater war Anfang der fünfziger Jahre, vier Jahre nach Erich Honeckers Zeit, zum Ersten<br />

Sekretär des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend gewählt worden. Eine Verlängerung<br />

kam jedoch nicht in Frage. Andis bürgerliche Mutter hatte mit Scheidung gedroht, wenn ihr<br />

Mann bei den Kommunisten weiter Kariere machen wollte. Die Liebe zu Andis Mutter war<br />

größer als die Liebe zur Weltrevolution, zum Glück für die Familie.<br />

Zwischen den Feiertagen rief Frau Tuchmacher bei Pauline an, sie bat, doch schon am<br />

dreißigsten Dezember mit ihrer Arbeit zu beginnen. Für die Sylvesterpartie hatten sich zu<br />

viele Frauen im Salon angemeldet, die wegen der Personalsituation sonnst nicht alle bedient<br />

werden konnten. Es blieb nicht beim vorletzten Tag des Jahres, auch am Vormittag und<br />

frühen Nachmittag des letzten Tages, eilte Pauline ins Geschäft. Als sie am frühen Abend des<br />

Sylvestertages nach Hause kam, war sie zwar erschöpft aber stolz. Sie hatte mit Erfolg<br />

angefangen, sich einen eigenen Kundenstamm aufzubauen. Von den fünfzehn sporadischen<br />

Kundinnen hatte sie von neun die Zusage bekommen, dass diese auch in Zukunft kommen<br />

wollten. Im Januar erweiterte sich dieser Kreis zur Stammkundschaft und für Pauline lief alles<br />

rund.<br />

Im Januar erwartete Holt eine unangenehme Überraschung. Rüttiger wurde versetzt und an<br />

seiner Stelle bearbeitete nun eine Frau seinen Fall. Schlagartig sollte sich die Situation für ihn<br />

verschlechtern. Schon beim ersten Besuch machte sich der Wechsel spürbar. Die Frau war<br />

barsch und unfreundlich, sie behandelte Holt, so empfand er es, wie Dreck, von oben herab<br />

329


und kleinlich. Beim zweiten Besuch, Anfang Februar, platzte ihm der Kragen, als er wieder<br />

einmal unfreundlich abgefertigt wurde.<br />

„Wer gibt Ihnen das Recht, mich wie einen Penner zu behandeln?“<br />

Die Frau bekam einen roten Kopf, denn sie hatte mit keiner Gegenwehr gerechnet.<br />

Nachdem sie sich gefasst hatte, schnarrte sie Holt an. „Wir haben hier keine Penner, bei uns<br />

sind alle Bürger! Sie ... “<br />

„Ja,“ fiel Holt der sich ereifernden Frau ins Wort, „Bürger erster, zweiter und dritter<br />

Klasse. In welche haben Sie mich eingestuft?“<br />

Die Frau ließ sich nicht, von ihrer offenen, gezeigten und ablehnenden Haltung<br />

abbringen. „Wenn Sie sich ungerecht behandelt fühlen, können Sie sich ja auch beschweren!“<br />

„Das werde ich auch Genossin! Wer ist Ihr Vorgesetzter?“<br />

Die Frau war sprachlos geworden. Die vertraute Anrede Genossin hatte offensichtlich<br />

ins historische Schwarze getroffen. Eine Antwort gab sie erst nach einigen Sekunden. „Das ist<br />

unsere Abteilungsleiterin, die Ge... ,Kollegin Müller, sie sitzt im Raum 2009.“<br />

Holt hatte nicht nur gedroht, er ging auch zur Kollegin Müller, die bereits durch einen<br />

Telefonanruf der Genossin informiert worden war. Nachdem er eintrat, bat sie Holt mit den<br />

Worten, Bitte nehmen Sie Platz Herr Holt, sich zu setzen.<br />

Aha, Sie kennt bereits meinen Namen. Die Abteilungsleiterin hatte wohl schon öfters<br />

solche Gespräche führen müssen. Zuerst entschuldigte sie sich bei ihm über den Zwischenfall.<br />

Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seinen wegen der totalen Unterbesetzung überfordert,<br />

manchmal nicht richtig geschult und noch im Denken der DDR behaftet. Holt hatte sich<br />

abreagiert, wollte jedoch die Sache nicht weiter aufbauschen.<br />

„Ich kann es ja verstehen, dass Überbelastung und mangelnde Sensibilität zu solchen<br />

Unfreundlichkeiten führen kann. Aber von dieser Frau möchte ich nicht mehr betreut werden.<br />

Da fehlt das nötige Vertrauen, worauf Sie ja auch Wert legen.“<br />

„In der Leistungsabteilung Ihres Buchstabens haben wir nur vier Mitarbeiterinnen,“<br />

antwortete die Abteilungsleiterin, „ich werde veranlassen, dass Sie zu einer anderen<br />

Mitarbeiterin kommen.“<br />

„Haben Sie denn keinen Mann in dieser Abteilung?“<br />

„Nein, wir hatten nur den Herrn Rüttiger, aber der wurde zu einer anderen wichtigen<br />

Stelle versetzt. Im ganzen Sozialamt gibt es nur noch männliches Personal beim Pförtner- und<br />

Hausdienst.“<br />

In der nachfolgenden Zeit musste Holt erkennen, er stand auf irgendeiner Schwarzen Liste<br />

einer getarnten SED-Parteigruppe der Frauenschaft im Amt. Man behandelte ihn fortan mit<br />

einer aufgesetzten Scheißfreundlichkeit, aber alle seine weiteren Wünsche wurden, scheinbar<br />

ganz nach den Bestimmungen des Sozialhilfegesetzes, abgeschmettert. Er kämpfte, wie<br />

weiland Don Quichotte, erfolglos gegen Windmühlenflügel. Dieser Kampf weitete sich aus.<br />

Zuerst die Beschwerdestelle des Sozialamtes, dann die Einspruchstelle, dann das<br />

Sozialgericht der Stadt und dann noch das Sozialgericht des Bundeslandes. Holt hätte noch<br />

bis zum Sozialengel am Jüngsten Gericht gehen können, wenn er nicht eines Tages selbst<br />

darauf gekommen wäre: Er war Leibeigener eines neofeudalen Obrigkeitsstaates. Zum ersten<br />

Mal nach langer Zeit dachte er wieder daran, dieses Land, was ihm fremd geworden war, zu<br />

verlassen. Tage später sprach er auch mit Pauline darüber.<br />

Pauline fand Holts Reaktion ein wenig übertrieben. Warum gleich wieder Deutschland<br />

verlassen, sie waren doch gerade erst angekommen. Das Einzigste, was herauskam, war ein<br />

Streit. Pauline bezichtigte Holt der Starrköpfigkeit und der Ähnlichkeit mit ihrem Vater.<br />

„Du bist genau so wie mein Vater. Der wollte auch immer mit dem Kopf durch die<br />

Wand. Meine Mutter erzählte mir, er hätte oft, viel zu oft, Recht gehabt, aber er war zu<br />

undiplomatisch, seine berechtigte Kritik auch anzubringen. Du bist genauso, Hans.“<br />

330


„Bin ich nicht!“, ereiferte sich Holt zornig. „Ich kann eben mein Maul nicht halten und<br />

ich komme auch nicht unter dem Teppich angekrochen.“<br />

„Du willst doch was von denen. Warum verstehst du das nicht oder willst das nicht<br />

verstehen? Das hat nichts mit Unterwürfigkeit zu tun, wenn man nicht gleich wie ein Elefant<br />

im Porzellanladen auftritt.“<br />

Der Elefant verließ wütend den Porzellanladen, der sich gerade in der Küchenecke<br />

befand. Bereits wenig später saßen sie wieder gemeinsam zusammen und kitteten das gute<br />

Meißener, welches gedanklich zu Bruch gegangen war. Pauline hatte ja Recht, aber er konnte<br />

es nicht so einfach zugeben.<br />

Pauline werkelte bei Tuchmacher mit größtem Erfolg, Holt besuchte vormittags die<br />

Stadtbibliothek und nachmittags Andi in der Kanzlei. In den ersten Wochen hatte er die etwas<br />

vergammelte Haustechnik in Ordnung gebracht und sich beim Umordnen alter Akten verdient<br />

gemacht. Manchmal übernahm er für Frau Sebastian, Andis Bürokraft, Telefondienst. Nach<br />

einiger Zeit fragte er Andi eines Nachmittags, „Weist du eigentlich, welchen Beruf ich habe?“<br />

Dieser stutzte. Was wollte Holt wissen? „Du bist wie ich, Schlosser.“<br />

„Quatsch, ich meine etwas anderes. Ich bin wie du Jurist. Kannst du mir nicht etwas<br />

Juristisches geben?“<br />

„Hans, du spinnst wohl, willst du mir die Arbeit wegnehmen? Wenn ich dich hier ohne<br />

Zulassung als Anwalt arbeiten lasse, nehmen die mir meine weg.“<br />

„Na ja, das muss ja keiner erfahren. Ich könnte ja ein paar neue Gerichtsurteile zur<br />

aktuellen Rechtsprechung heraussuchen oder deine Mandantinnen bei Scheidungssachen<br />

trösten.“<br />

„Mann, das mach ich selber. Komm mir nicht so. Kümmere dich um deine eigenen<br />

Rechtssachen, damit hast du schon alleine genug zu tun.“<br />

Andi hatte Recht. Seine Akten wurden immer dicker. Holt schrieb zwar alle Schriftsätze<br />

selbst, die Andi jedoch im Sprachstil leicht veränderte und unterschrieb, nachdem Frau<br />

Sebastian sie auf das Briefpapier der Kanzlei geschrieben hatte. Manchmal, wenn Holt wieder<br />

einen Briefentwurf auf ihren Schreibtisch legte, fragte sie, Was soll ich veranlassen Herr<br />

Anwalt? Holt schaute sich um. Andi war nirgendwo zu sehen. Er war gemeint! Mit der Zeit<br />

konnte er es der guten Frau beibringen, ihn nicht mit Herr Anwalt, sondern mit Herr Holt<br />

anzusprechen.<br />

Holt holte abends Pauline desöfteren vom Salon Tuchmacher ab. Nach seinem Besuch in der<br />

Kanzlei kaufte er in der Hansepassage ein und bereitete das Abendessen vor. Manchmal<br />

kamen sie nicht bis zur Fischerstraße. Eine im vollen Erfolg befindliche Pauline, mit einem<br />

beträchtlichen Trinkgeld in der Tasche, steuerte entweder das Kölsch oder das Tex-Mex an. In<br />

beiden Kneipen fühlten sie sich wohl. Das Kölsch war eine urige Starkbierkneipe mit<br />

deutscher Hausmannskost, während man im Tex-Mex mexikanische und texanische<br />

Spezialitäten bekam. Während sich im Kölsch Werftarbeiter und Seeleute aufhielten, wurde<br />

das Tex-Mex von Studenten und jungen Angestellten frequentiert. Der Kontrast konnte nicht<br />

größer sein. Während das Abendessen zu Hause kalt und unansehnlich wurde, stieg bei Holt<br />

die Stimmung, angeheizt durch Starkprozentigen. Wie immer zeigte Nichts bei Pauline<br />

Wirkung, während es bei ihm schon in Kopf anfing, zu kreisen. Jetzt müssten mich die Tussis<br />

vom Sozialamt sehen, die würden sagen, „schon wieder einer, der seine Stütze versäuft“, ging<br />

es Holt durch den Kopf. Aber es war nicht die Stütze von Holt sondern Paulines schwer<br />

erarbeitetes Trinkgeld, welches sie Propina 48 nannte.<br />

Beim abendlichen Spaziergang entdeckte Holt das Tex-Mex und er dachte an den<br />

gleichnamigen Laden in Santa Aña. Was für ein Zufall! Nur, hier in Rostock war Tex-Mex<br />

etwas anderes. Es gab zwar auch Tacos und Tequila sowie andere Spezialitäten, doch neben<br />

331


Corona auch Köstritzer und Becks. An den Tischen saßen junge Leute, keine dicken und alten<br />

Säufer aus Miami und Umgebung. Die Bedienung war flink und freundlich, sprach Deutsch<br />

und gab Empfehlungen, was am Tage besonders gut lief. Lars schmiss die Bar, seine Freundin<br />

Marlene, war eine der vielen Mädchen, die im Saal bedienten. Beim Personal hatte es sich<br />

bald herumgesprochen, dass sie beide gute „Tipper“ waren, mit der Folge, sie bekamen<br />

überall sofort Platz und wurden mit Namen begrüßt. Natürlich war diese Freundlichkeit<br />

anfänglich geschäftsmäßig, jedoch wandelte sich diese auch in privater Richtung. Das tat gut.<br />

Es wurde langsam Frühling. Holt und Pauline beschlossen, übers verlängerte Wochenende<br />

nach Berlin zu fahren. Pauline hatte noch immer das Problem, was sie bereits 1998 nach<br />

Deutschland führte: ihren drogenabhängigen Sohn in staatlicher Verwahrung. Holt wollte ein<br />

paar alte Freunde und seinen Sohn treffen, bei dem er noch einige Papiere und<br />

Wertgegenstände deponiert waren - und er wollte nach dem russischen Freund von Alexander<br />

suchen, der in Berlin eine Kneipe haben sollte.<br />

Am Donnerstag Vormittag fuhren sie per Bahn los. Holt hatte für sich in der<br />

Bahnhofshalle eine Tageszeitung und für Pauline eine Frauenzeitschrift gekauft. Im<br />

Großabteil saßen bereits einige Reisende, ihnen schräg gegenüber ein ziemlich aufgedrehter<br />

älterer Mann, der allen Reisenden, ob sie es wollten oder nicht, Witze erzählte. Nachdem er<br />

seine direkte Zuhörerschaft ermüdet und vollgelabert hatte, spähte er nach neuen Opfern aus<br />

... und fand Pauline und Holt. Er rutschte ganz zur Mitte und legte los. Holt, der den Mann<br />

eigentlich ignorieren wollte, musste dennoch lachen, was die Quasselstrippe noch mehr<br />

anstachelte. Er hörte alte DDR- und neuere politische Witze. Man musste es dem Alten schon<br />

lassen, Witze erzählen konnte er. Nach fast einer Stunde machte der Mann eine Denkpause,<br />

welche Holt dazu nutzte den Mann auf ein anderes Thema zu bringen, denn er war jetzt auch<br />

der Witze müde.<br />

„Sagen Sie, wohin fahren Sie überhaupt?“, fragte er in der Hoffnung, der Alte würde<br />

an der nächsten Station aussteigen.<br />

„Zum Mittagessen nach Spandau, in die Zitadelle,“ antwortete er.<br />

„Was,“ entfuhr es Holt, „nur zum Mittagessen machen Sie diesen Weg?“<br />

„Ja, ich habe mal in einem Film gesehen, in dem ein Millionär aus Ell Ähh nach ... äh<br />

... Sankt Franziskus flog, nur um zu frühstücken. Das kann ich doch auch.“<br />

„Zum Frühstück nach San Francisco?“, wollte Holt wissen, der argwöhnisch die etwas<br />

abgerissene Kleidung des alten Mannes beäugte.<br />

„Nein, nein, nicht so weit und auch nicht mit einem Flugzeug. Ich habe eine<br />

Jahreskarte von der Bahn. Für die brauch ich nichts bezahlen, denn ich war vierzig Jahre beim<br />

Gleisbau.“<br />

„Und da setzen Sie sich so einfach in einen Zug und fahren zum Mittagessen in die<br />

Welt?“<br />

„Nicht nur wegen des Essens, ich sehe ja auch was und ich treffe nette Menschen, so<br />

wie Sie. Äh, übrigens, können Sie mir die Zeitung geben, wenn Sie diese gelesen haben?“<br />

Holt gab dem Alten den bereits gelesenen Teil der Zeitung und reichte nach und nach<br />

die übrigen Teile nach. Er sah mit Verwunderung, der Alte las zuerst den Börsenteil und dann<br />

die Kulturbeilage über die Pyramiden in Mittelamerika. Den politischen Teil überflog er ganz<br />

schnell. Kurz vor Spandau wurde der Alte unruhig, er packte seine verstreut herumliegenden<br />

Sachen zusammen und machte sich zum Aussteigen bereit. Dann wandte er sich noch einmal<br />

Holt zu.<br />

„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Professor Doktor Ing. Ernst Schaffrahn.“<br />

Holt war verblüfft. „Ich dachte, Sie wären vierzig Jahre beim Gleisbau gewesen?“<br />

„Stimmt, zuerst war ich wegen meiner Witze im Knast beim Gleisbau, dann bin ich<br />

dabei geblieben und habe Gleisbau studiert. Nach der Wende war ich sogar Dozent für<br />

Gleisbau an der ... „ er unterbrach mitten im Satz, „Ich muss jetzt aussteigen!“ und<br />

332


verschwand im Vorraum des Abteils. Holt schaute verblüfft hinterher und dachte, Wer war<br />

denn das?! Auf dem Bahnsteig sah er den Alten noch flotten Schrittes zum Ausgang gehen.<br />

Der Zug hielt auch am Westkreuz. Beide stiegen in einen Zug auf den S-Bahn-Ring<br />

Süd und fuhren bis zum Heidelberger Platz. Bis zur Wohnung des Sohnes waren es nur fünf<br />

Minuten Fußweg. Roger war auf Dienstreise in Westdeutschland, hatte jedoch die Schlüssel<br />

im Briefkasten deponiert, zu dem Holt seit Jahren einen Zweitschlüssel besaß.<br />

Für den nächsten Tag hatte Pauline bereits einen Termin. Holt wollte sich in dieser Zeit nach<br />

Batunin umsehen. Nachdem sie bei Aldi eingekauft und Roger leeren Kühlschrank aufgefüllt<br />

hatten, gingen sie noch in die Kneipe Zur Heidelbeere, wo sie aber keinen Heidelbeersaft<br />

bekamen.<br />

*<br />

Holt erinnerte sich: Am Abschiedsabend an der AB Tech in Asheville hatte Alexander ihm<br />

ein Bild gegeben, auf dem dieser und noch weitere fünfzehn uniformierte Männer zu sehen<br />

waren. Alle trugen die Uniform der sowjetischen Streitkräfte. Unter der Lupe hatte Holt die<br />

Rangabzeichen studiert. Alexander, der in der Mitte saß, hatte auf dem Bild die<br />

Rangabzeichen eines Majors. Die um ihn herum gruppierten Männer waren Hauptleute,<br />

Leutnants und Feldwebel. Auf der Rückseite hatte Alexander etwas in kyrillischen<br />

Buchstaben geschrieben und unten mit seinem Namen unterzeichnet. Erst Monate später<br />

übersetzte ein Russe auf Gran Canaria den Text richtig.<br />

Im Falle eines Notstandes bitte ich euch, meine Freunde, Gaspodien Hans Holt behilflich zu<br />

sein, so wie ihr mir eure Unterstützung gewähren würdet. Er ist ein guter Mensch, ein<br />

Freund.<br />

Gezeichnet Alexander Wolkow, Oberst der sowjetischen Armee a.D.<br />

Asheville, USA im Dezember 2001<br />

Holt hatte dieses sonderbare Empfehlungsschreiben in einen Umschlag gesteckt und<br />

sorgfältig für den Tag X aufgehoben. Heute schien dieser Tag gekommen zu sein. Alexander<br />

hatte mit dem Bleistift auf den links neben ihm sitzenden Mann gezeigt und gesagt, Das ist<br />

Hauptmann Batunin, der lebt jetzt in Berlin. Hat dort die Russenbar in der Uliza Kant, nicht<br />

weit von der Kirchenruine.<br />

Zusammen mit Pauline fuhr Holt in der S-Bahn bis zum Savignyplatz und stieg dort aus.<br />

Pauline wollte über Bahnhof Zoo weiter nach Moabit. Bis zur Kantstraße, die Uliza Kant, wie<br />

Alexander sie nannte, waren es nur ein paar Schritte. Aber diese Straße war sehr lang. Da<br />

Alexander sagte, die Bar läge in Nähe der Kirchenruine, er meinte wohl die Kaiser Wilhelm<br />

Gedächtniskirche, müsste er also rechts abbiegen. Als er schon wieder unter der Hochbahn<br />

stand, war ihm klar, die Bar lag in Richtung Funkturm. Also ging er zurück. Nur fünfzig<br />

Meter weiter, wo er vorher in falscher Richtung abgebogen war, fand er die Russenbar. An<br />

der großen Fensterscheibe waren riesige kyrillische Buchstaben geklebt. РУССЄН БАР.<br />

Es war schon geöffnet. Holt trat ein. Links neben dem Eingang stand ein runder<br />

Hochtisch mit vier Hockern, an dem zwei uniformierte Männer saßen. Er traute seinen Augen<br />

nicht, sie trugen sowjetische Uniformen. Beide hatten eine Menge Orden an der Brust. Der<br />

Ältere, ungefähr vierzig Jahre alt, trug einen sogenannten Budjonny-Bart 49 , benannt nach<br />

einem berühmten sowjetischen Reitergeneral aus der Zeit des Bürgerkrieges. Der Jüngere,<br />

nicht älter als zwanzig Jahre, war glatt rasiert. Unter seinen Orden stach der Rote Stern eines<br />

Helden der Sowjetunion 50 hervor. Dieser Grünschnabel musste die Uniform von seinem<br />

333


Großvater, wenn nicht sogar vom Urgroßvater geklaut haben. Sie waren nur Staffage für die<br />

Touristen.<br />

An der Bar und an einigen kleineren Tischen saßen überwiegend Männer, aber auch<br />

ein paar Frauen wuselten herum. Holt konnte nicht auf Anhieb erkennen, ob es sich um das<br />

Personal handelte, oder ob sie Gäste waren. Hinter der Bar stand ein untersetzter,<br />

stiernackiger Mann mit umgebundener weißer Schürze und polierte gerade ein paar Gläser.<br />

Holt setzte sich vor den Mann, den die Uniformierten gerade noch Schwieli gerufen hatten.<br />

Besagter Schwieli schaute Holt an, ohne ein Wort zu sagen.<br />

„Ein Bier bitte!“<br />

Der Mann machte den Mund auf und sprach mit Akzent, „Was für ein Bier? Ein<br />

Leningrader?“<br />

„Ja bitte.“<br />

Der Mann stellte ein leeres Glas auf die Bar, öffnete darunter einen Kühlschrank oder<br />

eine Kühltruhe und stelle eine Flasche Leningrader auf den Tresen, nachdem er den<br />

Kronenverschluss an einen an der Bar angebrachten Öffner entfernt hatte. Auf dem Etikett der<br />

Flasche stand jedoch Pivo Baltic, gebraut in Sankt Petersburg, Russland.<br />

Holt goss sich das Bier ein und wartete den Moment ab, in dem sich Schwieli wieder<br />

in seine Richtung wandte.<br />

„Ich suche einen Hauptmann Batunin.“<br />

Wie vom Blitz getroffen erstarrte der Mann und schaute Holt mit weit aufgerissenen<br />

Augen an. Nachdem er sich gefasst hatte und sich bereits umdrehte, antwortete er.<br />

„Ich kenne keinen Hauptmann Batunin. Wer soll das sein?“<br />

„Na, ich nehme an, der Besitzer dieser Bar,“ antwortete Holt und griff zur Brusttasche.<br />

Schwielis Reaktion war merkwürdig. Seine rechte Hand verschwand blitzschnell unter<br />

dem Tresen. An der Anspannung der Muskeln im Oberarm erkannte Holt, dass der Mann<br />

einen Gegenstand ergriff, aber diesen noch abwartend unter dem Tresen ließ. Holt zog das in<br />

einem Umschlag steckende Bild von Alexander heraus. Die Spannung wich aus dem Gesicht<br />

des Mannes, er ließ den Gegenstand unter dem Tresen los. Holt zog das Bild hervor und<br />

reichte es herüber. Dabei schaute er selbst noch schnell auf das Bild. An der rechten Seite von<br />

Alexander stand der Mann mit dem Stiernacken, der nun das Bild nahm und darauf starrte.<br />

Nach einigen Sekunden drehte Schwieli es um und las die Rückseite. Nicht nur einmal.<br />

Nachdem er noch einmal Holt angeschaut hatte, las er nochmals, als ob er nicht fassen konnte,<br />

was dort stand.<br />

„Sind Sie Gaspodien Holt?“<br />

„Ja, ich heiße Hans Holt, soll ich Ihnen meinen Pass zeigen?“<br />

„Das wäre besser, man weiß ja nie ... „<br />

Er hatte seinen Pass herausgezogen und dem Mann herübergereicht. Zwei Frauen, die<br />

sich als Bedienung entpuppten, schauten interessiert zu. Schwieli scheuchte sie mit einer<br />

harschen Handbewegung weg.<br />

„Saschas Freunde sind auch unsere Freunde.“ Er reichte Holt seine Pranke herüber<br />

und schüttelte sie kräftig. „Du bist uns willkommen, Drusia.“<br />

Holt hatte verstanden. Schwieli nannte Alexander beim vertrauten Sascha, was nur<br />

Drusias, Freunde, durften, und er, Holt wurde auch als Freund akzeptiert.<br />

„Ich bin Joseph Wissoronowitsch Kondaschwieli, war Saschas Adjutant in<br />

Afghanistan. Du kannst mich Schwieli nennen.“<br />

„Was hatte der in Afghanistan zu tun, ich dachte er wäre nur Sportoffizier bei den<br />

sowjetischen Streitkräften in Deutschland gewesen?“ Holt hatte absichtlich die offizielle<br />

Bezeichnung der sowjetischen Besatzungstruppen in der DDR genutzt.<br />

Schwieli lachte herzhaft. „Diesen Bären hat er dir aufgebunden?“ Der Mann hatte<br />

Lachtränen in den Augen. „Sportoffizier, wenn er Terroristenjagd als Sport bezeichnet, hat er<br />

Recht. Ich lach mich krank.“<br />

334


„Und wo steckt Batunin?“, wollte Holt wissen.<br />

Schwieli lachte immer noch. „Der kommt erst am Abend, jetzt ist er in der Arbeit.“<br />

„Ich dachte, ihm gehört die Bar hier?“<br />

„Stimmt schon, sie gehört ihm zum Teil. Ein Teil gehört mir und ein Teil gehört<br />

Sascha und ein Teil Greif, aber den kennst du noch nicht. Die Einnahmen reichen nicht für<br />

vier Eigentümer aus. Wir haben teilweise alle noch einen anderen Job. Batu macht noch in<br />

Export-Import.“<br />

„Was meinst du, wann sollte ich heute Abend kommen?“<br />

„Komm so zwischen sechs und sieben. Dann ist noch nicht so viel los. Ich ruf ihn<br />

nachher an, damit er wirklich heute Abend auch da ist.“<br />

Als Holt sein Bier bezahlen wollte, lehnte Schwieli das Geld ab. „Richtige Freunde<br />

brauchen hier nichts zu bezahlen!“<br />

Schwieli hatte zu den Uniformierten an der Tür ein verdecktes Zeichen gegeben. Als<br />

Holt am Tisch vorbei ging, sprangen sie auf, nahmen Haltung an und salutierten korrekt. Na<br />

wenigsten das hat euch Schwieli richtig beigebracht, dachte Holt, als er aus der Bar heraus<br />

trat.<br />

Mit Pauline hatte er sich im Terrassenrestaurant im Europa Center verabredet. Sie erschien<br />

mit einer halben Stunde Verspätung. Bereits beim Näherkommen erkannte Holt ihren<br />

Gemütszustand, sie sah blass und mitgenommen aus. Jeder Besuch bei ihrem Sohn zerrte an<br />

ihren Nerven. Holt ließ sie von alleine zu sich kommen, er stellte auch keine Fragen. Langsam<br />

taute sie auf und begann stockend zu erzählen, was sie erleichterte. Er hörte aufmerksam zu<br />

und als Pauline fertig war, berichtete er.<br />

„Geh du da am Abend bitte alleine hin. Das ist nichts für Frauen. Ich bin auch nicht so<br />

scharf darauf mit der Russenmafia in Kontakt zu kommen,“ erklärte sie.<br />

Ihm war es Recht, Pauline brauchte in ihrer Gemütsverfassung nicht wieder an Costa<br />

Rica erinnert werden. Sie wollte sich mit Karin im Hasenstall treffen und dort so lange<br />

warten, bis Holt sie abholte. Er war damit zufrieden.<br />

Den Nachmittag verbrachten sie zusammen am Kurfürstendamm und fuhren dann gemeinsam<br />

zurück, um sich zu erfrischen und umzuziehen. Mit dem Bus ging es zwei Stunden später<br />

zurück zur westlichen Innenstadt. Pauline stieg eine Station vor Holt aus.<br />

Nun war die РУССЄН БАР brechend voll. Kondaschwieli werkelte immer noch hinter<br />

der Bar herum, hatte jedoch zwei Gehilfinnen. Schon beim Eintreten hatte er Holt<br />

wahrgenommen. Das geübte Auge eines Beobachters, dachte dieser. Kondaschwieli wies mit<br />

dem Kopf zur linken Seite des Raumes, wo sich eine Tür befand und nickte. Holt nickte<br />

zurück und ging zur Tür. Davor stand ein großer Mann, der auf Anweisung Kondaschwieli<br />

beiseitetrat und für Holt die Tür öffnete. Er war überrascht, hinter der Tür verbarg sich ein<br />

großes, feudal ausgestattetes Büro. Hinter einem Mahagonitisch saß in einem ledernen<br />

Chefsessel ein großer, schlanker Mann, der sich erhob, als Holt eintrat.<br />

„Ich bin Batunin!“, sprach er und gab Holt die Hand. Dabei wies er auf eine<br />

Sesselgruppe, die vor einem Kamin stand, in dem ein Feuer brannte. Holt setzte sich, mit dem<br />

Rücken zur Tür. Über dem Kamin vermeinte Holt ein Bild Stalins zu sehen, als er genauer<br />

hinschaute, erkannte er das Bildnis des letzten russischen Zaren Nikolaus dem Zweiten.<br />

„Darf ich Ihnen etwas anbieten Gaspodien Holt?“<br />

„Wenn es recht ist, würde ich gerne ein Leningrader trinken,“ antwortete der<br />

beeindruckte Holt.<br />

Batunin beugte sich zum Schreibtisch und sprach in etwas hinein, was eine<br />

Wechselsprechanlage sein musste. „Schwieli poschalista, dwa Leninskaja i dwa<br />

Moskowskaja.“<br />

335


Es knackte im Lautsprecher und Kondaschwielis blechern verzerrte Stimme erklang.<br />

„Da Towaritsch Kapitan.“<br />

„Sie haben Ihre Leute aber auf Zack,“ lobte Holt.<br />

Batunin grinste. „Wir sind Freunde, aber manchmal ist es besser, Kondaschwieli<br />

vergisst nicht, wer ich bin. Er ist Freund und Geschäftspartner, aber ich bin der Natschalnik,<br />

der Boss.“<br />

Holt kannte diese Art von Freundschaft nur zu gut. Freundschaft in Form einer<br />

Einbahnstraße, aber wehe, ein Teilnehmer der Freundschaft bewegte sich in der falschen<br />

Richtung, dann krachte es.<br />

Holt erzählte, wann und wo er Alexander kennengelernt hatte, er berichtete auch, was<br />

ihm widerfahren war und was er bisher erfolglos unternommen hatte.<br />

Batunin hörte aufmerksam zu. An der Mimik und Reaktion erkannte Holt instinktiv,<br />

der Mann war voller Energie und stand unter Anspannung. Vor ihm saß offensichtlich ein<br />

Profi der Beobachtung und Analyse.<br />

„Da haben Sie, mit Verlaub gesagt, richtige Scheiße gebaut. Unprofessionell. Na ja,<br />

wenn man bedenkt, dass Sie keiner von uns sind, so haben Sie doch Mut gezeigt. Aber<br />

solcher Mut führt direkt ins Grab.“<br />

Holt spürte bei diesen Worten den Schmerz in seiner linken Seite. Batunin hatte Recht,<br />

es hätte sein Ende sein können, damals in Costa Rica.<br />

„Selbstverständlich sind wir bereit, einem Freund von Oberst Wolkow zu helfen, aber<br />

nicht blind und voller Aktionismus ... und es muss sich auch für uns auszahlen.“<br />

Das hatte Holt erwartet. Ausführlich beschrieb er Batunin die Möglichkeiten der<br />

Verwertung bei einer zukünftigen Aktion. Dabei war er froh, dass Pauline nicht zuhören<br />

konnte.<br />

Als er zwei Stunden später auf dem Fußweg zum Hasenstall war, hatte er Batunin<br />

zwar nicht vollständig überzeugt, jedoch stark materiell interessiert. Als er dort eintrat, saß<br />

Pauline in der alten „Knutschecke“, vertieft im Gespräch mit Karin.<br />

Sonntagabend sollte es zurückgehen. Roger hatte sich aus Düsseldorf gemeldet und mitgeteilt,<br />

erst am Dienstag zu kommen. Es war für Holt schade, der sich auf ein Wiedersehen mit<br />

seinem Sohn gefreut hatte. Kurz nach dem Mittagessen klingelte das Telefon und Pauline<br />

nahm das Gespräch an. Es war nicht Roger, wie sie angenommen hatte, sondern ein für sie<br />

fremder Mann, der sich mit „Greif“ vorstellte. Greif wünschte Holt zu sprechen. Er war<br />

überrascht, diese Telefonnummer hatte er am Freitagabend nur Batunin gegeben. Zögernd<br />

nahm er von Pauline den Hörer entgegen.<br />

„Holt, guten Tag, was kann ich für Sie tun?“<br />

Pauline sah, wie Holt die Stirne runzelte und seinem Gesprächspartner zuhörte. Dann<br />

legte er mit einem „Okay“ den Hörer auf.<br />

„Pauli, ich muss noch einmal für zwei Stunden weg. Unten wartet im Auto ein Angestellter<br />

von dem Russen, den ich vorgestern gesprochen habe. Der Batunin wollte sich ja noch<br />

melden, bevor wir wieder zurück nach Rostock fahren, ich hatte schon nicht mehr dran<br />

geglaubt.“<br />

„Gut, aber denke daran, dass wir spätestens um sechs los müssen,“ antwortete Pauline.<br />

Vor dem Haus stand ein beige und grün gespritzter Golf. Auf den ersten Blick hätte<br />

man das Auto für ein Fahrzeug der Polizei halten können. Anstelle des Polizeisterns prangte<br />

das Logo eines Sicherheitsdienstes. Auf dem Fahrersitz saß ein Uniformierter, der ebenfalls<br />

an einen Polizisten erinnerte. Dieser winkte durch die offene Beifahrertür Holt zu und forderte<br />

ihn auf, sich ins Auto zu setzen.<br />

„Mein Name ist Greif,“ eröffnete er das Gespräch und gab Holt die Hand. „Der<br />

Hauptmann hat mich gebeten, mit Ihnen über die Sache in Mittelamerika zu sprechen.“<br />

„Welcher Hauptmann?“<br />

336


Greif lachte, „Batunin natürlich, wir nennen ihn immer zum Spaß Hauptmann. Fahren<br />

wir.“<br />

„Wohin?“, wollte Holt wissen.<br />

„In meinen Laden, da sind wir heute allein und können uns ungestört unterhalten.<br />

Meine Leute vom Innendienst sind sonntags zu Hause und die, im Außendienst, wie das Wort<br />

schon sagt, außerhalb.“<br />

„Haben Sie das Auto und die Uniform von der Polizei bekommen?“<br />

„Ja und nein. Ich habe mehrere Autos, polizeiliche Ausrüstungsteile und einige<br />

Uniformen bei der Polizei, für meine Firma ersteigert. Absichtlich habe ich die Lackierung<br />

und Uniform in etwa beibehalten. Das macht immer Eindruck, die Leute glauben zuerst, wir<br />

wären die Polizei und wir lassen diese auch manchmal in dem Glauben. Es hat auch schon<br />

Ärger deswegen gegeben. Wir mussten das Blaulicht abbauen und einige Details verändern,<br />

damit man uns von den Bullen unterscheiden kann.“<br />

„Also ist Ihre Firma ein Wach- und Schließdienst,“ stellte Holt fest.<br />

„Nein, nicht nur,“ antwortete Greif. „Wir haben in meiner Firma zwei offizielle und<br />

eine inoffizielle Abteilung. Das ist der Wachdienst und die Detektei sowie die Abteilung SA.“<br />

„Ich hoffe doch, mit SA ist keine Nazi-Sturmabteilung gemeint?“<br />

Greif grinste. „Natürlich nicht. Mit SA bezeichne ich meine Abteilung für<br />

Sonderaufgaben. In dieser Abteilung arbeite ich meistens ganz alleine und ziehe gelegentlich<br />

gute Mitarbeiter aus den anderen Abteilungen hinzu.“<br />

„Und was verstehen Sie unter Sonderaufgaben?“<br />

„Sie zum Beispiel, Herr Holt. Lautet Ihre neue Reisepassnummer nicht 24786 17096D<br />

und wohnen Sie nicht in Rostock in der Fischerstraße 1?“<br />

Holt griff in seine Jackentasche und holte den Pass heraus. „Bitte nennen Sie noch<br />

einmal meine Reisepassnummer!“, forderte er Greif auf.<br />

„24768 17096D“<br />

„Verdammt, woher haben Sie denn diese?“<br />

„Denken Sie doch einmal nach! Wem haben Sie vorgestern Ihren Pass gezeigt?<br />

Holt dachte nach. „Dem Kerl in der Russenbar, aber der kann sich doch nicht eine<br />

elfstellige Nummer in drei Sekunden einprägen.“<br />

„Doch, Kondaschwieli kann das und ich auch. Wir haben es gelernt, auf jede<br />

Kleinigkeit zu achten und alles, was mit Nummern und Codierungen zu tun hat, einzuprägen.<br />

War für uns überlebenswichtig.“<br />

„Ah, dann sind Sie der Stasispitzel, von dem Alexander Wolkow sprach?“<br />

„Nun seien Sie mal nicht so pingelig, Herr Holt, mit der Gefangennummer 136 366,<br />

ich bin kein kleiner Spitzel. Ich war bei der HVA 51 und habe meinem Staat gedient, ohne den<br />

vielen dummen, aber armen Schweinen ans Leder zu gehen. Meine Arbeit war eine Andere,<br />

als das was Sie sich unter der Arbeit der Stasi vorstellen.“ Greifs blaue Augen hatten einen<br />

eisigen Glanz angenommen. Holt lief eine Gänsehaut über den Rücken.<br />

Sie fuhren irgendwo in Wilmersdorf durch eine Toreinfahrt, dann durch eine zweite,<br />

bis sie am zweiten Quergebäude einer Mietskaserne hielten. Über der Eingangstür hing das<br />

Schild Greif Security. Er hatte drei der vier Etagen als Büro angemietet und die obere, letzte<br />

Etage diente als betriebliche Unterkunft.<br />

Im Besprechungszimmer stand am Kopfende eines großen Besprechungstisches ein<br />

Overheadprojektor. Greif bat Holt, zum der Leinwand entferntesten Platz. Dann legte er nach<br />

und nach Folien in den Projektor. Von Folie zu Folie wurde Holt mehr beeindruckt. Der<br />

Mann an seiner Seite hätte einem Generalstabsoffizier bei der Vorbereitung eines<br />

Angriffkrieges alle Ehre gemacht.<br />

Woher weiß der Kerl alle diese Details?, dachte Holt nach. Batunin musste ein<br />

phänomenales Gedächtnis haben. Innerhalb von sechsunddreißig Stunden musste Batunin alle<br />

337


Daten weitergeleitet haben und Greif hatte einen schlüssigen und realisierbaren<br />

Operationsplan aufgestellt.<br />

„Batunin muss einen Kopf wie eine Computerfestplatte haben, wie kann der diese<br />

ganzen Einzelheiten sonnst alle behalten?“<br />

Wieder war Greif amüsiert. „Das hat nichts mit Überfähigkeit zu tun. Sie sind wirklich<br />

ein Laie Holt. Haben Sie noch nichts von Wanzen oder Abhöranlagen gehört?“<br />

Nun ging ihm ein Licht, mehr ein gleißender Sonnenball, auf. „Wir wurden abgehört!“<br />

„Quatsch, nicht abgehört. Das Gespräch wurde nur aufgezeichnet. Haben Sie auf dem<br />

Schreibtisch nicht die Wechselsprechanlage gesehen? Die kann noch mehr, als nur darüber<br />

Bier zu bestellen. ... Also, was sagen Sie zum Plan?“<br />

„Der Plan ist gut. Ich kann das zwar nicht fachlich beurteilen, aber mein Gefühl sagt<br />

mir, es könnte so gelingen. Probleme habe ich nur bei der Beschaffung des Anfangkapitals<br />

und bei der von Ihnen vorgeschlagenen finalen Lösung.“<br />

„Wie meinen Sie das?“<br />

„Ich möchte nicht den Rest meines Lebens mit dem Gewissen rumlaufen, einem<br />

Drecksack das Licht ausgeknipst zu haben. Da sollte es eine andere Lösung geben!“<br />

„Sie sind der potenzielle Auftraggeber! Bis Sie das Geld zusammenhaben, wird ja<br />

noch ein wenig Zeit vergehen, bis dahin können Sie sich ja überlegen, was mit den Kerlen<br />

geschehen soll. Wenn Sie meinen Rat befolgen, dass Tote nicht reden können, haben Sie, bis<br />

auf Ihr Scheißgewissen, keine weiteren Probleme. Aber das ist Ihr Gewissen und Ihr Auftrag,<br />

ich bin da flexibel.“<br />

Greif setzte Holt wieder am Heidelberger Platz ab. Der stand noch immer unter dem<br />

Eindruck des vorgestellten Operationsplanes. Pauline war auch neugierig, sie wollte mehr<br />

wissen. Um sich nicht zu verquatschen, blieb er beim roten Faden der Operation,<br />

verniedlichte jedoch entscheidende Punkte und verschwieg die Möglichkeit, dass jemand zu<br />

Tode kommen könnte. Pauline war skeptisch. Da sie beide in der nächsten Zukunft keine<br />

größeren Geldbeträge ansparen oder erwerben konnten, sah sie von vorneherein die Operation<br />

als gestorben an. Damit war sie beruhigt.<br />

Auf der Rückfahrt im Zug sprachen sie ausgiebig über Berlin, aber kein Wort über die<br />

ominösen Pläne eines Herrn Greif. Mit der Zeit verschwand dieser Plan auch aus der<br />

Erinnerung Holts, der sicher aufbewahrt im Schreibtisch von Greif Security ruhte.<br />

*<br />

Noch während der Rückfahrt in seine Wohnung rief Greif bei Batunin an.<br />

„Batu, ich habe dem Holt meinen Plan vorgestellt, er scheint nicht besonders happy zu<br />

sein.“<br />

„Wie kommst du darauf?“, wollte Batunin wissen.<br />

„Also, ich meine, er ist ein Weichei und zweitens hat er kein Geld für die Aktion.“<br />

„Dass er im Moment nicht flüssig ist, damit ist er ja nicht hinterm Berg geblieben. Für<br />

ein Weichei würde ich ihn aber nicht halten. Würdest du alleine und fast ohne Mittel<br />

versuchen, einen Strolch zu schnappen? Er hat es jedenfalls versucht.“<br />

„Das war entweder Mut der Verzweiflung oder der Mut eines Dummkopfes.“<br />

Batunin schwieg einen Moment. „Er hat doch den Namen seines ehemaligen<br />

Geschäftspartners genannt, Pank oder so ähnlich. Finde den heraus und frag mal nach, was an<br />

der Millionengeschichte dran war.“<br />

„Du meinst, ich soll da so einfach hereinspazieren und fragen, Haben Sie mit dem Holt<br />

‚ne Menge Geld verdient?“<br />

„Ja!“, antwortete Batunin. „Genauso wirst du es machen. Du schnappst dir deinen<br />

BKA-Ausweis und stocherst ein wenig im Nebel herum. Bekommst du die Bestätigung, dass<br />

da damals etwas gelaufen ist, so wie Holt es behauptet, dann können wir davon ausgehen, in<br />

338


Mittelamerika ist noch mehr Geld.“<br />

„Der Ausweis ist vom LKA“, korrigierte Greif.<br />

„Das ist doch egal. Wegen meiner halte den doch deinen alten Dienstausweis von der<br />

Stasi unter die Nase. Den hast du doch noch?“<br />

Greif antwortete nicht mehr und legte auf.<br />

Zwei Tage später erschien bei Panzer Immobilien in Blankenfelde ein Mitarbeiter vom<br />

Landeskriminalamt Brandenburg. Die sichtlich erschrockene Sekretärin eilte in Panzers<br />

Zimmer und kam nach wenigen Augenblicken heraus, um dem Kriminalen hereinzubitten.<br />

Hinter dem riesengroßen Schreibtisch hatte sich Panzer scheinbar hinter einem Berg von<br />

Akten verschanzt und schaute mit fahlem Gesicht den Eintretenden an. Dieser zückte einen<br />

Dienstausweis, den er Panzer vors Gesicht hielt, um ihn sofort wieder einzustecken. Panzer<br />

konnte weder Namen noch Dienstgrad erkennen, dafür jedoch das in großen Buchstaben<br />

geschriebene LKA.<br />

„Was ... , was kann ich für Sie tun?“ hauchte er.<br />

„Nicht viel hoffe ich, nur eine kleine Auskunft,“ antwortete der Besucher. „In einer<br />

Ermittlungssache aus den neunziger Jahren, gab es einige Querverweise zu Ihnen. Nicht dass<br />

wir gegen Sie ermitteln, wir wollen nur wissen, ob ein Dokument, in dem der Name eines<br />

Verdächtigen steht, zutreffend und echt ist. Der Mann könnte ein ehemaliger Geschäftspartner<br />

gewesen sein.“<br />

Bei den Worten ehemaliger Geschäftspartner verfinsterte sich Panzers Gesicht. „Und<br />

wer soll das gewesen sein?“<br />

„Auf einer Banküberweisung steht der Name H. Holt. Absender war eine Gesellschaft,<br />

in der auch Ihr Name war. Wir haben nachvollziehen können, dass es um über zwei Millionen<br />

Deutsche Mark ging. Das ist viel Geld und wir wollen wissen, wo es geblieben ist.“<br />

Panzer schwieg einen Moment, dann stand er auf und nahm einen Ordner aus dem<br />

Regal, den er aufschlug. „Im Jahre 1999 wurde von einem holländischen Auftraggeber,<br />

meiner damaligen Gesellschaft 2,3 Millionen Mark überwiesen. Dieses Geld stand je zur<br />

Hälfte mir und meinem damaligen Mitgesellschafter Holt zu. Seinen Anteil habe ich auf<br />

dessen Konto überwiesen. Was er damit gemacht hat oder ob er Einkommensteuer auf diesen<br />

Betrag gezahlt hat, weiß ich nicht.“<br />

Das er seinen Partner Holt um über einhunderttausend Mark betrogen hatte,<br />

verschwieg er. Jetzt befürchtete er, Holt hätte sich endlich aufgerafft, Anzeige zu erstatten.<br />

Der LKA-Mann machte sich einige Notizen. „Können Sie mir eine Kopie der<br />

Überweisung machen? Wenn ich diese habe, wäre die Angelegenheit schon für Sie erledigt.“<br />

Panzer fiel ein Stein vom Herzen. Sie sind hinter Holt her! Was hat denn dieses<br />

wandelnde Rechtsbewusstsein verzapft, um vom LKA überprüft zu werden? Es sollte ihm<br />

egal bleiben, eigentlich war es gut so, wenn die Kripo sich um Holt kümmerte, dann würde er<br />

wohl nicht aus Amerika zurückkommen und ihm auf die Pelle rücken.<br />

Als Greif mit der Kopie der Überweisung in seiner Tasche, in das Auto stieg, grinste er<br />

zufrieden. Was sind die Deutschen doch für Untertanen, ein falscher Ausweis oder eine<br />

Hauptmannsuniform reichen aus, damit ihnen das Herz in die Hose rutscht.<br />

*<br />

Der Sommer ging und der Herbst nahte. Pauline und Holt waren fast jedes Wochenende mit<br />

Andi zusammen auf dessen Gartengrundstück. Mit der letzten Post der Woche kam vom<br />

Arbeitsamt eine Aufforderung, sich in der kommenden Woche bei der Abteilung „Hilfe zur<br />

Selbsthilfe“, zwecks Arbeitsbeschaffung in einem Sonderprogramm zu melden. Das<br />

Sozialamt hatte auch zwei Liebesbriefe für Holt. Die Leistungsabteilung hatte Holts Stütze<br />

339


auf fünfunddreißig Euro gekürzt. Paulines Witwenrente wurde vom US-Dollar zum Euro eins<br />

zu eins auf das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft angerechnet. Die Beratungsabteilung<br />

verlangte von ihm das Scheidungsurteil seiner ersten Ehe und die Bankauszüge des letzten<br />

Jahres. Ein Finanzamt aus Berlin hatte dem Sozialamt Rostock im Zuge eines<br />

Amtshilfeverfahrens mitgeteilt, Holt habe noch Einkünfte, die er verschwiegen haben müsste.<br />

Beim Finanzamt waren für einen Hans Holt Zinsabschlagsteuern eingezahlt worden. Man<br />

ging davon aus, Holt verfüge über viel angelegtes Geld, dessen Zinsen über den Freibetrag<br />

hinausgingen. Dieser war verärgert und überrascht dachte er, Warum wollten diese<br />

Schwachköpfe das Scheidungsurteil einer Ehe, welche schon vor über dreißig Jahren beendet<br />

wurde und was soll das mit dem verschwiegenem Vermögen? Für ein Wochenende waren es<br />

genug schlechte Nachrichten. Andi hatte in seiner Gelassenheit viel zu tun, den aufgebrachten<br />

Holt zu beruhigen.<br />

Am Montag ging Holt sofort zu seiner Bank, um die Auszüge des letzten Jahres noch einmal<br />

abzurufen. Das kostete sechsunddreißig Euro. Diese Belege brachte er selbst zur nun neuen<br />

Sachbearbeiterin beim Sozialamt. Nach zwei Stunden Wartezeit war er dran. Die junge Frau,<br />

die nun für ihn zuständig war, sah sich die Bankauszüge an und schüttelte dann den Kopf.<br />

„Herr Holt, ich benötige die Bankauszüge von Ihrer Berliner Bank. Diese hier<br />

benötigen wir nicht.“<br />

„Ich habe bereits seit 1998 keine Bankverbindungen mehr in Berlin. Wie kommen Sie,<br />

ich meine ihre Sozialschnüffler darauf?“<br />

Die Frau überhörte Sozialschnüffler. „Weil Sie mit Einkommen aus Verzinsung beim<br />

Finanzamt Berlin gemeldet sind?“<br />

„Im Telefonbuch von Berlin finden Sie neun Hans Holt, zwei H. Holt und achtzehn<br />

Holt. Ich jedenfalls bin nicht der Inhaber so einer Bankverbindung.“<br />

„Das brauchen wir aber schriftlich. Die Bankgesellschaft Berlin muss Ihnen<br />

bestätigen, dass Sie kein verstecktes Vermögen besitzen.“<br />

„Das ist doch Schwachsinn, ich muss beweisen, dass ich nichts besitze. Ich glaube, Sie<br />

müssen mir beweisen, dass ich etwas besitze oder verschwiegen habe.“<br />

„Sie irren sich Herr Holt, im Sozialhilferecht gilt die Beweislastumkehr. Sie haben zu<br />

beweisen! Wenn mir diese Beweise innerhalb vierzehn Tagen nicht vorliegen, wird Ihnen die<br />

Sozialhilfe gekürzt oder die Zahlung wird eingestellt.“<br />

„Was wollen Sie noch von den mir verbliebenen fünfunddreißig Euro kürzen?“<br />

„Zum Beispiel die Übernahme der Mietkosten Herr Holt!“<br />

Er war stinksauer. Die zentrale Auskunft bei der Bankgesellschaft Berlin konnte auch<br />

nicht weiterhelfen. Die Dame bei der Auskunft gab ihm den Rat, selbst einmal vorzusprechen.<br />

Daher beschloss er, einen Tag später ganz früh am Morgen nach Berlin zu fahren und abends<br />

wieder zurückzukommen.<br />

Am folgenden Abend war er im Besitz einer Bestätigung der Berliner Bank, dass er über<br />

keine Bankverbindung und damit auch nicht über Vermögen verfügte. Die zuerst angesteuerte<br />

ehemalige Filiale in Lichterfelde konnte nichts finden und verwies Holt zur Zentrale in der<br />

Bundesallee. Dort war man gründlicher und fand heraus, dass Holt bis 1998 Kunde bei der<br />

Bank war. Die Konten waren gelöscht, Vermögen war nicht vorhanden. Alles das wusste Holt<br />

bereits. Sicherheitshalber ließ er sich sein Armsein bei der Bank bestätigen. Im Glauben, nun<br />

sei alles erledigt, reichte er diese Bestätigung und das erste Scheidungsurteil ein, welches er<br />

zwischenzeitlich als Abschrift vom Amtsgericht Bergen erhalten hatte.<br />

Pauline war nun offiziell bei Holt ausgezogen und bei Andi als Untermieterin eingezogen.<br />

Diese Ummeldung ging sofort an das Sozialamt. Bereits mit der nächsten Stütze hatte er<br />

wieder den vollen Betrag, aber dafür die Aufforderung, sich innerhalb von drei Monaten eine<br />

340


kleinere Wohnung zu suchen. Die Wohnung in der Fischerstraße sei dreizehn Quadratmeter<br />

für einen Alleinstehenden zu groß.<br />

Die Schikanen und Einengungen wurden größer als die Freude am Leben, welche<br />

mehr und mehr durch den Obrigkeitsstaat erstickt wurde. Den Rest bekam Holt bei der<br />

Abteilung „Hilfe zur Selbsthilfe“. Besagte Abteilung lag in Gehlsdorf, im ehemaligen<br />

Oberkommando der DDR-Volksmarine. Er kannte das Gebäude noch aus der DDR-Zeit. Mit<br />

der Straßenbahn musste er bis zum Nordufer der Warnow fahren und dort in den Bus nach<br />

Gehlsdorf umsteigen. An der Endstation lag auch die Zweigstelle des Arbeitsamtes.<br />

Die Gänge der dreistöckigen „Platte“ waren vollgestopft mit Menschen, welche auf<br />

langen Bänken saßen und warteten. Holt hörte nur Russisch. Die wartenden Menschen waren<br />

überwiegend Spätaussiedler aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Auch hier ging es<br />

nach dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens. Bei „H“ angekommen, schaute Holt sich<br />

um. Alle Bänke waren besetzt, einen „Nummernautomaten“ gab es nicht. Mit dem<br />

Aufforderungsschreiben in der Hand trat er nach einem kurzen, aber heftigen Klopfen ein.<br />

Eine ältere Frau schaute erschrocken auf. Im Büro befand sich kein weiterer „Kunde“. Er<br />

reichte das Schreiben herüber und sprach sie an.<br />

„Entschuldigen Sie bitte, ich bin mir nicht sicher, ob ich hier unter den ganzen Russen<br />

richtig bin?“<br />

Die Frau schaute überrascht auf, weil sie vielleicht zum ersten Mal des Tages auf<br />

Deutsch angesprochen wurde und sie sah sich Holts Schreiben an, wies auf den Stuhl, damit<br />

er sich setzten möge und gab seine Daten in den Computer ein.<br />

„Wer hat Sie denn hierher geschickt Herr Holt? Sie sind hier total falsch. Sie brauchen<br />

keinen Deutschkurs noch eine Ausbildung. Das war Quatsch, Sie hier anzumelden.“<br />

„Und was soll ich jetzt machen?“, wollte Holt wissen.<br />

„Wieder nach Hause fahren,“ kam die spontane Antwort, „aber warten Sie. Sie sind<br />

doch bereits über achtundfünfzig, ich werde im zentralen Computer der Arbeitsagentur<br />

eingeben, dass Sie ausgemustert sind.“<br />

„Und welche Unannehmlichkeit ist damit verbunden?“<br />

„Keine, Sie werden von den Ämtern in Ruhe gelassen, brauchen sich nicht mehr um<br />

Arbeit bemühen und können auch nicht zu den Ein-Euro-Jobs hinzugezogen werden.“<br />

„Jobs für einen Euro? Wer soll damit leben können?“<br />

„Das ist doch nur ein Zusatzbrot zur Sozialhilfe.“<br />

Holt war neugierig geworden. Ein paar Euro mehr, würden auch nicht zu verachten<br />

sein. Bei einer Tätigkeit in irgendeinem Büro, unter Menschen, das könnte was sein. „Was<br />

muss ich dafür zum Beispiel tun?“<br />

„Nun ja, diese Stellen dürfen keinen normalen Job kaputtmachen. Also da wären Laub<br />

im Park harken, oder Schnee im Winter räumen und Hundekot wegräumen.“<br />

„Hundescheiße fegen?“ Holt hatte das deftige, volkstümliche Wort für die<br />

Hinterlassenschaften der Vierbeiner absichtlich gewählt.<br />

„Ja, natürlich, dieses auch.“<br />

„Nein Danke, ohne mich. Ich kann es mir bildlich vorstellen, wenn irgendeine<br />

Aufsicht meine Arbeit moniert mit den Worten, Herr Holt bitte, Sie haben hier noch einen<br />

Haufen übersehen!“<br />

Die Frau musste auch lachen. „Ich trage Sie jetzt aus, also brauchen Sie in Zukunft<br />

auch keine Hundescheiße kehren.“<br />

Abends auf dem Heimweg, Holt hatte Pauline vom Salon abgeholt, als diese fragte, was er am<br />

heutigen Tage erreicht habe.<br />

„Pauli, ich brauch keine Angst mehr haben, für einen Euro Hundescheiße kehren zu<br />

müssen!“<br />

„Hat man das von dir verlangt?“<br />

341


„So in etwa, aber ich fand eine gnädige Seele. Die hat mich aussortiert und auf den<br />

Müll geworfen.“<br />

Pauline hatte die Bitterkeit in Holts Stimme und Stimmung bemerkt. Klug, wie sie<br />

war, goss sie kein Öl ins Feuer, sondern lotste Holt ins Tex-Mex. Nach drei Schwarzbier<br />

vergaß Holt, dass er nun ein „Ausgemusterter“ war.<br />

Holt nahm die Wohnungssuche nicht ernst, schaute sich zwar in der Umgebung ein paar<br />

angebotene Wohnungen an, suchte die teuersten aus und gab die Unterlagen zum Sozialamt<br />

weiter, das auch prompt ablehnte. Er hatte alles getan, was man von ihm verlangte. Mit einer<br />

Ausnahme, er vorsichtiger geworden. Jedes Mal, wenn es an der Tür klingelte, überzeugte<br />

sich Holt zuerst davon, wer vor der Tür stand. Zweimal kamen unangemeldet die Schnüffler<br />

von der GEZ, aber er hatte vom Sozialamt eine Freistellung von den Zwangsgebühren für die<br />

Nutzung der deutschen Hofberichterstattung. Schwer gemacht hatte er es den Männern der<br />

GEZ trotzdem. Sie kamen zu zweit, einer musste draußen stehen bleiben, der andere sich die<br />

Schuhe ausziehen. Holt belehrte sie zuvor über Unverletzbarkeit der Wohnung und der<br />

Persönlichkeitsrechte und fragte nach einer gerichtlichen Verfügung, die ihnen erlaubte, in<br />

seiner Wohnung rumzuschnüffeln. Er wollte nur vorbeugen. Die Schnüffler von der GEZ<br />

erschienen nicht wieder. Entweder hatten sie Holt immer verpasst oder er stand nicht unter<br />

Generalverdacht, ein Sozialschmarotzer zu sein. Letzteres hätte ihn aber gewundert, da er<br />

„seine Genossinnen“ im Amt kannte.<br />

Ein Jahr, nachdem Pauline im Salon Tuchmacher angefangen hatte, starb Frau Tuchmacher an<br />

Krebs. Die Nachlassverwalterin, die Schwiegermutter, übernahm den Laden. Während die<br />

Verstorbene sich monetär zurückgehalten hatte, war die Schwiegermutter ausgesprochen<br />

geizig. Die übrigen Angestellten stöhnten, die Stimmung war mies und die Frau verlangte für<br />

Paulines Arbeitsplatz nun das Doppelte. Bei der letzten Belegschaftsversammlung hatte die<br />

alte Tuchmacher auf Paulines Einwand, sie möge nicht übertreiben, geantwortet, sie könne<br />

sich ja einen anderen Arbeitsplatz suchen. Sie war überrascht und hatte nicht mit Paulines<br />

Willen gerechnet, sich nicht ausnehmen zu lassen. Für fünfundzwanzig Euro erhielt sie beim<br />

Gewerbeamt die Erlaubnis, einen eigenen Laden aufzumachen. In einem Frisiersalon, direkt<br />

an der Kröpeliner Straße bekam sie drei Arbeitsplätze zum halben Preis, als im<br />

vorhergehenden Salon. Nach einer Woche hatte sie eine Angestellte und nach drei Wochen<br />

waren sie zu dritt, damit komplett. Holt konstatierte, dass der Tod auch seine Vorzüge haben<br />

konnte, Pauline verdiente das Dreifache und konnte Geld zurücklegen.<br />

Das alte Jahr endete besser als erwartet. An den langen Wintertagen vor Weihnachten wurde<br />

der Parkplatz zum Weihnachtsmarkt umgewandelt. Anfänglich hatte Holt starke<br />

Lärmbelästigungen erwartet, was jedoch nie eintrat. Jedes Mal um Punkt zweiundzwanzig<br />

Uhr trat eine gespenstige Ruhe ein. Innerhalb von wenigen Minuten endete das Gelächter der<br />

Menschen, die Musik und die Geräusche der Jahrmarktkarussells. Einige Male waren Holt<br />

und Pauline über den Markt geschlendert. Sie hatten kandierte Äpfel gegessen und Glühwein<br />

getrunken. Holt hatte einmal einen kleinen Weihnachtsmann an der Schießbude geschossen.<br />

Als dann noch ein paar Tage vor Weihnachten Schnee fiel, war die Stimmung auf dem Markt<br />

perfekt. Heilig Abend waren sie wieder, wie im Vorjahr, bei Andi. Diesmal war nur der<br />

jüngste Sohn und die neue Freundin von Andi anwesend. Young Lee, so hieß die Dame, kam<br />

aus Peking und war Opernsängerin am Rostocker Theater. Sie war nett, gebildet und<br />

aufgeschlossen. Pauline und Holt freuten sich für Andi.<br />

Ein Ereignis im Frühjahr des nächsten Jahres sollte die Weichen stellen. Holt war schon lange<br />

der Bevormundung durch die Ämter müde. Seine Klagen am Sozialgericht schmorten, seine<br />

Widersprüche wurden traditionell negativ beschieden, Arbeit gab es nicht und das Sozialamt<br />

342


machte Druck, dass er die Wohnung nun endlich aufgeben müsste. Letztlich drohten sie<br />

ersatzweise mit Kürzung des Mietzuschusses. Im März war es so weit. Das Sozialamt kürzte<br />

die Miete um die „überschüssigen“ zwölf Quadratmeter. Holt war dies egal. Das Geld reichte<br />

und Pauline sparte. Aus Berlin kam merkwürdige Post. Die Zentrale der Landesbank bat Holt<br />

um einen Besuch zur Klärung eines Sachverhaltes, an der Holts Mitwirkung gefordert war.<br />

Mit dem Morgenzug ging es früh los. Bereit vor Mittag saß er in der Bundesallee, vor einen<br />

etwas höheren Bediensteten der Berliner Bank.<br />

„Herr Holt, wir möchten uns für diese Unannehmlichkeit entschuldigen. Wir haben<br />

einen Fehler gemacht. Ihr Hauptkonto ist zwar 1998 gelöscht worden, aber Sie hatten bei uns<br />

noch ein Sonderkonto, auf dem von Ihrer Firma eine Banksicherheit ruhte. Der Zeitraum der<br />

Verfügungssperre endete am 31. Dezember letzten Jahres und Sie können wieder über das<br />

Geld verfügen, nur ... „<br />

„Sagen Sie nicht, ich hätte bei Ihnen noch Schulden, die Höher als die Einlage sind,“<br />

unterbrach Holt den Banker.<br />

„... nur, wir wissen nicht wohin damit, da Sie kein Konto mehr bei uns haben,“<br />

beendete dieser seinen Satz.<br />

„Da kann ich Ihnen helfen, geben Sie es mir in bar.“<br />

Der Banker tat erstaunt. „Alle sechsundzwanzig Tausend?“<br />

Holt glaubte, sich verhört zu haben. Hatte der Kerl nicht gerade sechsundzwanzig<br />

Tausend gesagt? Und woher kam das Geld? Schwach fiel ihm ein, er hatte einmal für die<br />

Absicherung eines Bauvorhabens 1994 einen Betrag in dieser Größenordnung festlegen<br />

müssen. Das musste das Geld sein. Er hatte es beim Zusammenbruch seiner Firma 1996 glatt<br />

vergessen, beziehungsweise damals geglaubt, es wäre auch verloren gegangen. Er hatte sich<br />

offensichtlich geirrt, nach zehn Jahren war der Betrag als Festanlage war es nun frei.<br />

Sechsundzwanzigtausend Euro waren nur zweiundfünfzig Scheine. Diese passten noch<br />

in Holts Jackentasche. Beim Wegstecken der Bündel Geldes, fiel ihm ein, das Finanzamt<br />

würde in diesem Jahr keine Zinsabschlagsteuer bekommen. In Rostock angekommen, fuhr er<br />

mit der Straßenbahn bis zum Neuen Markt. Pauline war noch im Salon und bediente eine<br />

Kundin. Sie bemerkte erfreut Holts Eintreten und beeilte sich, fertig zu werden. Mit dem<br />

Zeigefinger deutete er zur Decke. In der darüber liegenden Etage hatte Andi seine neue<br />

Kanzlei, wo er im großen Besprechungsraum warten wollte. Zu seiner Überraschung fand er<br />

Andi noch in seinem kleinen Kabuff sitzend, über eine Akte gebeugt.<br />

„Willst du unbedingt Millionär werden?“, fragte er den ebenfalls überraschten Andi.<br />

„Nein, ich hab die Scheiße bis zum letzten Tag verschoben. Morgen ist Termin und<br />

ich hatte noch nichts gemacht. Aber in fünf Minuten bin ich fertig. Gehen wir dann was<br />

trinken?“<br />

„Wenn du willst, gehen wir ins Kalinka. Pauli kommt sicherlich gleich hoch und dann<br />

können wir losstiefeln.“ Das schien das Stichwort gewesen zu sein, Pauline pochte an der Tür.<br />

Fünfzehn Minuten später saßen sie im Obergeschoss des russischen Lokals bei einem guten<br />

Glas Wein. Holt berichtete über die Überraschung, die er in Berlin erlebt hatte.<br />

„Du kannst das Geld nicht auf dein Konto einzahlen oder zu Hause deponieren. Die<br />

vom Amt könnten es mitbekommen. Du kannst mir das Geld geben.“<br />

„Klar Andi, ich weiß, du bist auch immer klamm.“<br />

„Nein du Dussel, so meine ich das nicht. Ich richte für dich ein Anwalts-Anderkonto<br />

ein. Als Anwalt bin ich nicht verpflichtet zu sagen, von wem und für wen das Geld ist. Fällt<br />

unter das Anwaltsgeheimnis, verstanden?“ Er hatte verstanden. Der treu sorgende Andi wollte<br />

nur nicht Holt in neue Schwierigkeiten mit seinem Lieblingsamt sehen.<br />

Ende Mai, Anfang Juni war es klar, sie würden Deutschland wieder im Herbst, in Richtung<br />

Palmen verlassen. Holt hatte seinen Herzenswunsch, dem langen Gerippe in Costa Rica doch<br />

noch etwas überzubraten, nicht aufgegeben. Noch im Sommer sprach er mit dem<br />

343


Generalstabschef Greif und teilte diesem mit, dass die Operation „Schweinebucht“ im Winter<br />

starten könnte. Für dieses Vorhaben hätte er zehntausend Euro zur Verfügung. Greif sagte zu,<br />

den Plan nach Angaben Holts zu modifizieren und auch für diesen durchführbar zu machen.<br />

Es sollte der letzte Sommer in Deutschland sein. Pauline und Holt nutzten das schöne Wetter<br />

und fuhren manchmal mit der S-Bahn nach Warnemünde. In der Woche gingen sie abends an<br />

der Warnow spazieren, besuchten den kleinen Jachthafen und kehrten im Restaurant Alter<br />

Fritz ein. Diese Gaststätte war total auf den Tourismus eingestellt und im alten Hansestil der<br />

Seefahrer eingerichtet. Hauptsitz dieser kleinen Kette war in Stralsund. Die dortige Brauerei<br />

hatte bereits in den fünfziger Jahren eine eigene Kneipe gehabt. Holt konnte sich an diese<br />

erinnern, dort hatte er sich als junger Lehrling seinen ersten kräftigen Rausch angetrunken.<br />

Drei Tage war er krank. Diese Kneipe war vergrößert und modernisiert worden. Nun hieß sie<br />

Alter Fritz Stralsund. Ein weiteres Restaurant der Minikette gab es im Seebad Binz.<br />

Die Brauerei in Stralsund war über ihren eigenen Schatten gesprungen. Die<br />

ursprüngliche Plörre war in der Tat durch drei verschiedene, aber schmackhafte<br />

Hausbiersorten abgelöst worden. Besonders gut mundete ein dunkles Starkbier mit Namen<br />

Störtebeker, welches auch Pauline wegen des leicht süßlichen Aromas schmeckte. Die<br />

aufmerksame Bedienung bot den Gästen auch eine Besonderheit des Hauses an. Aus den<br />

Brauresten brannte die Brauerei den sogenannten „Bierwhisky“. Holt, der Whisky von<br />

ganzem Herzen verabscheute, winkte zuerst ab, was die Bedienung aufreizte, Holt ein kleines<br />

Probeglas gratis zu bringen. Vorsichtig erschnüffelte er, wie ein Trüffelschwein im Walde die<br />

Knolle, das Aroma des Braunen. Er roch entfernt nach Whisky. Dann nippte er an der<br />

Flüssigkeit und verdrehte die Augen. Welch ein toller Geschmack! Der braune Stoff schien<br />

eine Verbindung zwischen Dunkelbier und Cognac zu sein. Die Bedienung war stolz, als Holt<br />

mehrere, nacheinander folgende Runden bestellte. Selbst Pauline, die kräftige Schnäpse nicht<br />

mochte und sich mehr auf „Kommodenlack“ konzentrierte, hielt mit ... und war natürlich die,<br />

welche bis zuletzt ohne Schwierigkeiten nachbestellen konnte, während Holt anfing, zu lallen.<br />

Am nächsten Tag dachte er mit noch brummendem Schädel über das Restaurant Alter Fritz,<br />

über Tex-Mex und Kölsch nach. Warum fühlte er sich mit einem Mal in Kneipen so wohl, er<br />

hatte doch ein schönes Zuhause. Bis ihm die Erkenntnis kam, es waren die Leute in den<br />

Kneipen. Diese waren überwiegend jung und aufgeschlossen, durch das Zusammensein mit<br />

Freunden und den Alkohol aufgekratzt. Dadurch unterschieden sie sich von den mausgrauen<br />

Gestalten auf den Straßen, in den Einkaufstellen und auf den Ämtern. Unterschwellig<br />

vermisste er die leichte Lebensform der Südländer, der Latinos. Am Abend sprach er über<br />

seine Erkenntnis mit Pauline. Diese bestätigte Holts Gefühl, nur dass sie es wegen ihrer vielen<br />

jüngeren Kundinnen nicht so stark wahrnahm.<br />

Bei einem Sonntagsspaziergang an der Warnow sahen sie den An- und Ablegmanövern der<br />

Segler zu. Eine stolze Jacht lief gerade aus und Holt konnte am Heck den Namen des<br />

Heimathafens entziffern, San Andrés. Pauline hatte die goldenen Lettern auch gelesen. Sie<br />

schauten sich an und dachten in diesem Moment das Gleiche: Lass uns wieder in der Sonne<br />

unter Palmen leben!<br />

Als Aufbruchtermin wählten sie den ersten September. Anfang August fuhren sie noch einmal<br />

nach Berlin, um Roger zu treffen und um ein paar Dinge einzulagern. Holt beabsichtigte, noch<br />

einmal bei Batunin vorbeizuschauen. Während Pauline am Ku`Damm einkaufte, ging Holt in<br />

die Kantstraße. Noch von Rostock aus hatte er einen Termin mit ihm vereinbart, der im Büro<br />

auf ihn wartete. Holt schielte zur Abhöranlage, die sich unschuldig als Wechselsprechanlage<br />

gab. Batunin hatte Holts misstrauischen Blick bemerkt und lachte. Sicherlich hatte Greif ihn<br />

über die Technik informiert.<br />

344


„Gaspodien Holt, ich habe noch einmal mit Greif und Kondaschwieli gesprochen. Sie<br />

machen mit. Es kommt uns nicht unbedingt auf das große Geld an, wir wollen nur nicht etwas<br />

dazubuttern müssen. Wenn Sie die Kosten der Flüge und zwei Wochen Unterkunft haben,<br />

reicht es. Im schlimmsten Fall haben wir einen normalen Kurzurlaub gemacht.“<br />

„Nein, nein, das ist mir klar,“ antwortete Holt.<br />

„Für diese Angelegenheit benötige ich noch Informationen, wie die Kleidung und<br />

Ausrüstung der Polizei in Costa Rica aussieht. Das heißt, wie sieht die Einsatzkleidung der<br />

Sondereinheiten aus, welchen Autotyp nutzen diese und wie sieht die Lackierung aus. Weiter<br />

benötige ich ein Muster eines Autokennzeichens der Polizei.“<br />

„Warum denn das?“<br />

Batunin erläuterte Holt in groben Zügen den Plan. Er würde mit seinen Leuten<br />

während der Aktion in der Öffentlichkeit als ein Einsatzkommando der Polizei auftreten. Er<br />

und Kondaschwieli sprachen fließend Spanisch. In den Siebzigern waren sie längere Zeit<br />

gemeinsam auf Kuba stationiert. Dort hatten Sie für Castro den Schutz der verbliebenen<br />

kleineren Raketenanlagen der Luftabwehr organisiert. Die notwendigen<br />

Ausrüstungsgegenstände würde er in Panama organisieren. Lediglich die Veränderungen, auf<br />

Costa Rica zugeschnitten, müssten noch erledigt werden. Alle für die Operation notwendigen<br />

Gegenstände sollten auf dem Seeweg ins Operationsgebiet gebracht werden, bis auf das<br />

benötigte Polizeiauto. Das sollte erst in Costa Rica „beschafft“ werden. Ihm, Holt, unterlag<br />

der Transport, die Unterbringung und die Bezahlung.<br />

Weiter sollte er sich um den „Stützpunkt“ kümmern. Dieser sollte außerhalb und<br />

abgelegen für Dritte sein, in der Nähe von San José liegen und zur Aufnahme von vier<br />

„Spednaz“ und vier „Gästen“ geeignet sein. Letztlich bekam Holt einen Rahmen-<br />

Operationsplan in die Hand gedrückt. Die zeitliche Abfolge vor der direkten Aktion wurde<br />

mit Minus plus Stunde und Tag davor, der Start des Unternehmens mit Null und der<br />

nachfolgende Zeitablauf mit Plus, einschließlich Stunde und Tag bezeichnet. Dieser Plan war<br />

aufgestellt für Alpha, Beta, Gamma und Delta. Jeder Grieche hatte seine Aufgaben. An den<br />

Aufgaben Deltas erkannte Holt seine Operationsbezeichnung. Batunin war ohne Zweifel der<br />

Teamleader Alpha.<br />

*<br />

Andi ließ es sich nicht anmerken. Dennoch bemerkte Holt dessen Traurigkeit und<br />

Resignation, seine Freunde wieder zu verlieren. Er half bei der Auflösung der Wohnung, wo<br />

er konnte. Ein Teil der Möbel ging auf sein Gartengrundstück. Andi hatte ihm dafür<br />

großzügig eintausend Euro gegeben. Viel zu viel, aber es war ein „Geschäft unter Freunden“.<br />

Die letzten drei Tage hatten sich Pauline und Holt auf einem ehemaligen Wohnschiff der<br />

Volksmarine einquartiert, welches als Hotelschiff im Stadthafen lag. Die Volksmarine hatte<br />

für ihre drei Torpedobootflottillen drei solcher Wohnschiffe besessen. Auf einem hatte Holt<br />

ein halbes Jahr leben müssen. Nach der Wiedervereinigung wurden alle Schiffe an die<br />

Bundesmarine übergeben, die diese an den Rest der Welt verscherbelte. Nicht Verkäufliches<br />

wurde auch verschenkt, so bekam die Stadt Rostock ein Wohnschiff. Die Stadt verpachtete es<br />

an private Unternehmer. Nun betrat Holt möglicherweise sein altes Wohnschiff, welches jetzt<br />

Hotelschiff Hansestadt Rostock hieß.<br />

Die letzten drei Tage vergingen ganz schnell. Andi hatte es sich nicht nehmen lassen, Pauline<br />

und Holt nach Berlin zu fahren. Der Wagen war zum bersten voll. Ein Teil der Sachen sollten<br />

für Roger sein oder in dessen Keller für bessere Zeiten gebunkert werden. Das letzte Mal<br />

fuhren sie gemeinsam auf der Autobahn, an in voller Pracht stehenden, erntereifen Feldern<br />

vorbei. Im Norden Mecklenburg-Vorpommern verschandelten tausende von Windrädern die<br />

Landschaft. Bei dessen Anblick musste Holt daran denken, das Panzer damals in solche<br />

345


Windräder investieren wollte. Der Lump war nicht nur ein Betrüger sondern auch ein<br />

Umweltverschandeler.<br />

Noch bevor sie zu Rogers Wohnung fuhren, aßen sie zusammen in der Uhlandstraße in einem<br />

Bistro zu Mittag. Die Stimmung war niedergeschlagen, Pauline standen oftmals Tränen in den<br />

Augen, Holt konnte sie mit Erfolg unterdrücken. Sie waren froh, Deutschland wieder zu<br />

verlassen, aber auch traurig, Freunde zurücklassen zu müssen.<br />

Roger, der in den letzten Jahren stets ein unterkühltes Verhältnis zu seinem Vater<br />

hatte, war während der letzten paar Treffen aufgetaut. Holt spürte es, sein Sohn bemühte sich,<br />

mehr als nur ein Sohn zu sein. Zu Pauline hatte er ein sehr gutes und enges Verhältnis, er<br />

mochte sie. Während Roger in der Vergangenheit Holts aktuelle<br />

„Lebensabschnittsgefährtinnen“ zum Spott manchmal „Stiefmama“ oder „Mama“ genannt<br />

hatte, hielt er sich damit bei Pauline zurück. Manchmal wurmte es Holt, zu sehen wie die<br />

Beiden miteinander gelockert und vertraulich umgingen, als ob Pauline seine wirkliche<br />

Mutter sei.<br />

Am Vorabend des Abfluges waren sie noch einmal zusammen im Hasenstall. Dort hatte ja die<br />

Bekanntschaft zu Pauline begonnen. Der Abend wurde schön und lang. Erst in der Maschine<br />

nach München bekam Holt einen klaren Kopf. Pauline saß neben ihm und schlief tief und fest,<br />

den Kopf an seine Schulter gelehnt. Diese Frau, dachte Holt, zuerst säuft sie einen unter den<br />

Tisch und dann tut sie so, als ob sie von einem Kaffeekränzchen käme.<br />

Die Reise ging über München, Miami nach San José, Costa Rica. Mit dem Bus nach Puerto<br />

Viejo und ein paar Tage später über die Grenze nach Bocas del Toro in Panama. Dort wollten<br />

sie länger bleiben.<br />

346


Wieder unter Palmen<br />

Als Ziel hatten sie sich die Inselgruppe Bocas del Toro in Panama auserkoren. Holt konnte<br />

sich noch gut an die Hauptinsel Colon und die in der Nachbarschaft liegende Insel<br />

Bastimentos erinnern, auch an das Abenteuer mit Nelio. Auf der Hauptinsel würde es mit<br />

Bestimmtheit etwas zum Anmieten geben. Im Internet hatte er vier Herbergen gefunden, die<br />

auch für längere Zeit Appartements zum günstigeren Preis anboten. Von einer Vorbestellung<br />

hatte er abgesehen, da er die Lage dieser Beherbergungen nicht genau kannte. Eigentlich<br />

fuhren sie ins Ungewisse.<br />

In San José blieben sie nur eine Nacht. Sie hatten in einem kleinen Hotel, ganz in der<br />

Nähe zur Fußgängerzone, bei einem Schweizer Unterkunft gefunden. Abends gingen sie noch<br />

in eine Bar, die direkt an der Fußgängerzone lag. Sie konnten tausende Menschen<br />

vorbeiziehen sehen, welche allabendlich die Straße bevölkerten. Es hatte sich nicht viel<br />

geändert. Am nächsten Morgen ging es vom Terminal Caribe weiter nach Puerto Viejo. Die<br />

Fahrt dauerte über sechs Stunden, führte über Puerto Limon und Cahuita. Kurz vor Limon<br />

hielt der Bus für eine halbe Stunde an einer Raststätte, danach setzte er seine Fahrt fort. Nach<br />

Limon wurde die Straße schlechter, die letzten sechs Kilometer bestanden sie nur aus einer<br />

Sandpiste. Holt hatte sich Puerto Viejo als Zwischenrast ausgesucht, er wollte verhindern, vor<br />

einem geschlossenen Grenzübergang zu stehen. Der Übergang bei Sixaola wurde bereits um<br />

sechs Uhr geschlossen. Es gab für die zirka dreihundert Kilometer keine Garantie, dass der<br />

Bus aus San José noch vor sechs Uhr an der Grenze ankam.<br />

Als sie mit ihrem Gepäck ratlos an der Bushaltestelle in Puerto Viejo standen, hielt vor<br />

ihnen ein „Pirata“, ein Taxi ohne Lizenz. Der Fahrer sprach gut Englisch, er versprach, die<br />

Beiden bei einem Deutsch sprechenden Hotelier abzusetzen. Dieser entpuppte sich als Oliver,<br />

der Mann, bei dem Holt 2003 auf Bastimentos wohnte. Die Überraschung war auf beiden<br />

Seiten groß. Um die Neuankömmlinge sprangen zwei große Hunde kläffend herum, bis Katja<br />

erschien und diese zum Schweigen brachte. Aus der geplanten einen Nacht wurden drei<br />

Nächte. Oliver und Katja hatte das Schicksal von Bastimentos zuerst nach Cahuita<br />

verschlagen. Der Eigentümer hatte die Herberge auf der Insel nur für ein Jahr an seine<br />

Verwandten abgegeben. In diesem Jahr hatten sie gutes Geld gemacht und dieses in Cahuita<br />

in einem kleinen angepachteten Hostel angelegt. Ein Unwetter machte alles zunichte. Um<br />

überleben zu können, hatten sie ein Jahr nach Bastimentos bereits in Puerto Viejo, von einem<br />

Deutschen aus San José, das Backpackerhostel Isla Verde angemietet. Es war ein einfaches<br />

Hostel und bestand aus Balken, Brettern und Wellblech. Jedoch war es sehr exotisch und<br />

wurde von Katja pedantisch sauber gehalten. Wenn ein Gast in seinem Raum niesen musste,<br />

wussten die übrigen Gäste im Hotel, einer von uns hat Schnupfen. Jetzt nach über zwei Jahren<br />

kamen Oliver und Katja damit heraus, dass sie damals Holt für einen Kriminellen hielten, der<br />

vor der Polizei auf der Flucht war. Holt musste darüber lachen.<br />

Am dritten Tag ging es mit dem zweiten Bus am Morgen in Richtung Sixaola. Oliver hatte<br />

von einem „Indio-Express“ gesprochen. In der Tat, im Bus waren bis auf ein englisches<br />

Pärchen mit Pauline und Holt, nur Indios. Ein Express war der Bus jedoch nicht, alle hundert<br />

bis dreihundert Meter hielt er, um Leute aus- und einsteigen zu lassen. In Bri Bri, der<br />

größeren Ortschaft mit der Verwaltung dieser Gegend, stiegen fast alle Indios aus. Holt war<br />

erleichtert, denn die Enge war unangenehm. Jedoch stiegen ebenso viele Indios wieder ein.<br />

Für die achtundsechzig Kilometer benötigte der Bus beinahe zwei Stunden.<br />

Schon mehrere hundert Meter vorher konnte man den hohen Bogen der Grenzbrücke sehen,<br />

die hier über den Sixaola River ging. Die Grenzabfertigung war, wie immer bei den Ticos,<br />

zäh und umständlich. Zwei Jugendliche hatten sich angeboten, das Gepäck für je einen Dollar<br />

über die Brücke zu tragen. Holt war später froh, die Träger nicht abgewiesen zu haben. Die<br />

347


Brückenquerung war ein Abenteuer. Ursprünglich war die Stahlträgerbrücke als<br />

Eisenbahnbrücke gebaut worden. Bis in die sechziger Jahre fuhr hier eine Gütereisenbahn für<br />

die Bananengesellschaften. Nachdem andere und schnellere Möglichkeiten für den<br />

boomenden Bananenexport gefunden wurden, fiel die Brücke erst einmal ein paar Jahre in<br />

einen Dornröschenschlaf. Dann legte man zwischen den noch liegenden Schienen starke<br />

Holzbohlen, auf denen dann die Bananentransporter fahren konnten. Auf einer extra breiten<br />

Bohle gingen die Fußgänger. Im Laufe der Jahre waren viele Balken zersplittert und<br />

vermodert. Neue wurden gelegt oder auch nicht. Inzwischen waren mehr Lücken im Belag als<br />

Bohlen. Die Fußgänger sprangen oftmals von Bohle zur Bohle, mehr als zehn Meter unter<br />

sich den oftmals reißenden Fluss sehend. Für schwangere Frauen, Gebrechliche und kleine<br />

Kinder war dieser Grenzübergang lebensgefährlich. Holt hatte so etwas noch nie gesehen. Die<br />

jungen und kräftigen Gepäckträger waren wirklich notwendig.<br />

An der anderen Seite, in Panama, ging die Abfertigung etwas schneller. Gleich neben<br />

der Grenzstelle hielten die Taxis. Ein Fahrer bot ihnen seine Dienste an. Für fünf Dollar je<br />

Person war er bereit Pauline und Holt zur Finca 25 zu fahren, der Haltestelle für Wassertaxis<br />

zu den Bocas. Das Taxi hielt an der Bootshaltestelle, als schon Kinder angestürmt kamen, um<br />

das Gepäck zu schleppen. Hier handelte es sich um Steppkes, die oftmals kleiner als die<br />

Gepäckstücke waren. Holt drückte diesen Kindern ein paar kleinere Geldstücke in die<br />

schmutzigen Händchen und verscheuchte sie. Am Büro der „Ozeanlinie“ standen schon einige<br />

Touristen und Einheimische, welche auf die Passage warteten. Das Wassertaxi ging alle halbe<br />

Stunde, für drei Dollar und fünfzig Cent. Nach bereits zehn Minuten kam das Boot. Nachdem<br />

die alten Passagiere mit ihrem Gepäck ausgestiegen waren, stiegen die neuen ein.<br />

Die Fahrt nach Colon dauerte etwas über eine Stunde. Zuerst ging es einen Flussarm entlang,<br />

nachdem die Mündung erreicht war, kurz in einer bewegten See, der Karibik, etwa zwei<br />

Kilometer weiter durch eine Landenge, in das Binnenmeer des Archipels. Hier steuerte das<br />

Boot scheinbar auf eine Insel zu, die sich am Horizont abzeichnete. Links lag die zur Karibik<br />

abschottende Insel, die nach Nord verlief, im weiteren Verlauf einen Bogen machte und bis<br />

sie dann direkt wieder vor dem Taxi lag. Hinter einer Landzunge tauchten zuerst rot-weiß<br />

gestrichene Sendemasten auf. Darunter, geduckt am Wasser lag der Ort, das Ziel. Auf Reede<br />

lagen mindestens fünfzig Segelboote, kleinere und größere. An der Spitze der Landzunge<br />

befand sich das Fährterminal für die Autofähre, die nach Almirante fuhr. Nun konnte sich<br />

Holt wieder an den Ort erinnern.<br />

An der Anlegestelle angekommen, erinnerte sich Holt noch an das Hotel der deutschen<br />

Italiener. Das Laguna lag nur siebzig Meter entfernt. In der Rezeption saß eine junge Frau,<br />

welche noch drei Zimmer anbieten konnte. Pauline entschied sich für ein Zimmer mit Balkon<br />

zur Straße. Es wurde schon wieder Abend. Auf dem Luftweg waren es in einer Geraden bis<br />

nach Puerto Viejo nur knappe hundert Kilometer. Sie benötigten für den Weg ungefähr vier<br />

Stunden.<br />

Holt erinnerte sich auch an das Limbo, einem Hotel mit Restaurant und Bar, direkt am<br />

Wasser. Hier aßen sie zu Abend. Das Restaurant war gut besucht, nur die Bedienung ein<br />

wenig zu langsam. Er beschloss, sich zwar nicht dem Lebensrhythmus der Latinos<br />

anzupassen, diesen jedoch zu akzeptieren und gelassen zu bleiben. Das fiel ihm aber<br />

verdammt schwer.<br />

Ein Makler hatte direkt neben dem Hotel sein Büro. Am Schaufenster waren die Angebote für<br />

Häuser und Appartements angebracht. Bei genauerer Nachfrage stellte sich heraus, zu weit<br />

weg, zu teuer, zu klein. Zwei weitere Makler im Ort hatten auch keine passenden Objekte. Es<br />

kam nur ein Angebot in Frage, es lag jedoch am Nordzipfel der Insel, nur mit einem Auto<br />

nach vierzigminütiger Fahrt zu erreichen. Also wieder kein passendes Angebot. Beim letzten<br />

Makler teilte eine Mitarbeiterin mit, sie würde einen Amerikaner kennen, der ein Haus<br />

348


vermieten wolle. Sie verwies Pauline und Holt zum Polizeigefängnis der Insel. Gegenüber<br />

solle sich das besagte Haus befinden. Pauline und Holt fanden es. Am Zaun hing ein<br />

Pappschild „SE AQUILAR!“ Innen wurde noch gearbeitet. Aufmerksam geworden kam ein<br />

Mann zum Zaun und fragte nach, was sie wollten. Der Mann war der Eigentümer, ein<br />

Amerikaner. Das Haus eignete sich, nach Holts Meinung, nicht zum Beherbergen von<br />

Menschen. Die kleinen Fenster waren mit Lochbausteinen vermauert, ein Wohnraum mit<br />

Küchenecke und ein kleines Schlafzimmer. Die Toilette befand sich außen, hinter dem<br />

Hinterausgang auf dem Hof. Die Möbel würden in Berlin noch nicht einmal als Sperrmüll zu<br />

bezeichnen sein. Das Alles war eine Zumutung. Der Ami verlangte für dieses Loch<br />

achthundert Dollar kalt. Von dieser Raffgier angewidert ließen sie den „Slamlord“, ohne noch<br />

ein Wort zu sagen, stehen.<br />

Die Suche am nächsten Tag verlief ergebnislos, am übernächsten Tag ebenfalls. Holt<br />

befand sich in einer Zwickmühle. Er hatte ja mit Batunin vereinbart, sich einen Stützpunkt in<br />

Panama zuzulegen. Wenn schon der erste Schritt nicht gelang, was sollte dann mit der<br />

Durchführung des weiteren Planes werden? Er musste sich entweder nach einem anderen<br />

Platz auf dem Festland in Panama umschauen oder zurück nach Costa Rica gehen.<br />

Die Entscheidung fiel gegen Panama. Pauline meinte, in Costa Rica würden sie sich<br />

auskennen und bereits mehrere Bezugspunkte haben. Vielleicht wüssten Katja und Oliver eine<br />

vorübergehende Lösung. Holt willigte ein. Am Abend es nächsten Tages stellten sie ermüdet<br />

vor dem Eingang des Isla Verde ihr Gepäck ab. Katja war erstaunt, die Beiden schon wieder<br />

zu sehen. Isla Verde war für zwei Wochen ausgebucht. Nicht weit entfernt hatte eine<br />

Deutsche ein Restaurant und ein paar Zimmer. Erwartungsvoll gingen sie zusammen mit<br />

Katja hin. Auch hier war alles ausgebucht, jedoch hatte sie einen Tipp und sie rief dort auch<br />

gleich an. Sie sollten dort sofort vorbeikommen. Schräg gegenüber vom Isla Verde lag das<br />

Monte Sol. Peter, der deutsche Eigentümer erwartete sie an der Rezeption. Er war ein<br />

jüngerer, schlanker Mann, verheiratet mit einer farbigen Tica. Mitten im Gang zur Rezeption<br />

lag ein heller cremefarbiger Wuschelteppich, der sich mit einem Mal bewegte. Sophie<br />

beschnüffelte die Ankömmlinge und ließ sich streicheln. Um die Ecke kam ein zweiter Hund<br />

mit gelbbraunem Fell und traurigen Hundeaugen. Ein etwas zu klein geratener Schäferhund,<br />

scheinbar gekreuzt mit einem australischen Dingo, das war Nadschib.<br />

Peter hatte im Moment kein Appartement frei, nur ein im hinteren Teil der Anlage<br />

stehendes Holzhaus mit zwei Etagen. Nach einer Besichtigung entschlossen sie sich, das Haus<br />

für fünfhundert Dollar im Monat anzumieten.<br />

Im unteren Geschoss befanden sich die Küche mit Bar, ein Schlafzimmer und ein Bad.<br />

Außen, von der unteren Terrasse aus ging es zum zweiten Bad und die Treppe herauf zur<br />

zweiten Etage, mit angrenzender Terrasse. Von dort ging es über einen kleinen<br />

rechtwinkeligen Gang in drei weitere Zimmer und zur Gästetoilette. Raum gab es genug. Nur<br />

waren die Zimmer alle als Schlafräume ausgestattet. Peter willigte ein, dass Pauline und Holt<br />

die Zimmer nach ihrem Bedarf umräumen und bauliche Veränderungen vornehmen konnten.<br />

Das Zimmer neben der Küche wurde zum Wohnzimmer, der größere Raum in der zweiten<br />

Etage, das Schlafzimmer und das kleinste Zimmer sollte das zukünftige Büro sein. Der<br />

mittlere Raum in der zweiten Etage blieb als Gästezimmer erhalten.<br />

Bereits nach zwei Monaten waren die Fenster mit Fliegengitter versehen. Im<br />

Wohnzimmer standen ein Fernsehgerät und die zweisitzige Couch einer Garnitur aus<br />

geflochtenen Tropenhölzern und Bambusholz. Auf der oberen Terrasse standen die Sessel. In<br />

der Mitte ein dicker Holzstamm mit einer Scheibe aus noch breiterem Holz. Das Ganze sah<br />

aus wie ein Riesensteinpilz mit flacher Kappe.<br />

349


Holt hatte Batunin über die Zeitverzögerung informiert. Der war cool geblieben und hatte nur<br />

gemeint, Dann verschieben wir es etwas und ändern gegebenenfalls das Programm. Holt<br />

solle nur rechtzeitig mitteilen, wann er zur Aktion bereit sei.<br />

Holt gab allerdings den Plan, aus Gründen der Sicherheit, von Panama aus zu<br />

operieren nicht auf. Er hatte sich umgehört und auch im Internet informiert. Als zukünftiger<br />

Stützpunkt kam nur noch die Gegend um David oder das Bergland von Boquete in Frage. Bis<br />

zur Grenze nach Costa Rica war es Luftlinie nicht mehr als fünfzig Kilometer. Über die<br />

Staatsgrenzen beider Länder hinweg lag der Parque National La Amistad, der Nationalpark<br />

der Freundschaft.<br />

Über Weihnachten hatten sie Besuch aus Deutschland, eine ehemalige Kundin Paulines aus<br />

Rostock. Die junge Frau, Simone, wollte auch einen Abstecher nach David und ins Umland<br />

von Boquete machen. Sie hatte im Internet gelesen, Boquete wäre das größte<br />

Kaffeeanbaugebiet Panamas mit einem Klima, welches an die europäische Sommerzeit<br />

erinnerte. Pauline und Holt beschlossen, sich dem Trip anzuschließen. In David wollten sie<br />

sich nach einem Haus oder einer anderen Wohnmöglichkeit umschauen.<br />

Die Reise ging mit dem Bus bis nach Sixaola. Diese Route kannten beide bereits.<br />

Abweichend von der vorherigen Reise fuhr das Taxi zum Busbahnhof nach Changuinola. Alle<br />

halbe Stunde ging ein Bus nach David. Bis nach Almirante war die Strecke auch für Holt<br />

Neuland. Erst ab Almirante konnte er sich erinnern. Diese Strecke war er bereits vor drei<br />

Jahren in umgekehrter Richtung gefahren, als er von Panama City kam, um nach den Bocas<br />

zu kommen. Pauline und Simone waren das erste Mal in dieser Gegend. Nach sechs Stunden<br />

fuhren Sie im Busbahnhof von David ein. Als Hotel suchten sie sich das Alcalar aus, es lag<br />

direkt im Zentrum.<br />

Wenn man den Reiseführern Glauben schenken sollte, war David die drittgrößte Stadt<br />

Panamas, nach Panama City und La Chorrera, aber die wärmste. Nach einem Tag Aufenthalt<br />

glaube es auch Holt, zweifelte aber daran, dass es ständig über fünfundvierzig Grad wären.<br />

Die Frauen tobten sich im nahe gelegenen Shoppingcenter aus. Er hatte es vorgezogen, im<br />

AC-gekühlten Speisesalon zu bleiben und den Straßenverkehr durch die breiten Fenster zu<br />

beobachten. Vor dem Hotel befand sich ein kleiner Parkhafen, in dem Autos hineinfuhren,<br />

Passagiere ausstiegen und Autos wieder verschwanden. Nachdem Holt schon zwanzig<br />

Minuten zugeschaut hatte, fuhr ein blauer BMW vor. Neben dem panamesischen<br />

Autokennzeichen prangte ein „D“. Eine blonde Frau, im mittleren Alter stieg aus und ging zur<br />

Eingangstür des Hotels. Holt konnte sie durch das Glasfenster des Salons in Richtung<br />

Rezeption gehen sehen. Kurze Zeit später ging sie in umgekehrter Richtung zum Auto zurück.<br />

Der BMW fuhr an, bog rechts in die Garageneinfahrt des Hotels und verschwand aus seinem<br />

Gesichtsfeld. Holt hatte sich wieder dem Treiben auf der Straße zugewandt und nicht auf die<br />

neu eintretenden Gäste geachtet. Als er einen kurzen Blick auf den oberhalb an der Wand<br />

angebrachten Fernseher richtete, sah er in der Ecke die blonde Frau aus dem BMW sitzen. Sie<br />

könnte eine Deutsche sein, sinnierte Holt. Mal sehen ob es klappt, es herauszufinden?<br />

Auf dem Tisch der Frau lag eine Speisekarte. Holt stand auf, ging zum Tisch und<br />

zeigte auf diese.<br />

„Bitte ... äh ... povaor, Carta?“ Die Frau verstand und reichte Holt die Karte, der sich<br />

mit einem freundlichen, echten deutschen „Danke“ verabschiedete.<br />

Hinter sich hörte er die Frau fragen, „Sind Sie Deutscher?“ Es hat geklappt, sie hat<br />

meine Vermutung bestätigt!, dachte er. Er drehte sich, überrascht gebend um und antwortete<br />

mit „Ja!“<br />

Holt lag jedoch falsch. Elisabeth, so hieß die Blonde, war Panamenia und auch nicht<br />

von Natur aus blond. Vor über fünfzehn Jahren hatte sie einen Ingenieur aus Kiel geheiratet,<br />

der für ein deutsches Unternehmen in Panama arbeitete. Danach lebten sie ein paar Jahre in<br />

Deutschland, bis das Heimweh so stark wurde und sie mit ihrem deutschen Mann, der<br />

350


inzwischen Rentner war, wieder nach Panama zog. Ihr Mann war vor einem Jahr gestorben,<br />

das deutsche Auto mit seinem großen „D“ aber lebte weiter.<br />

Elisabeths Deutsch war sehr gut. Als Pauline und Simone erschöpft vom Einkaufen<br />

zurückkamen, saß Holt noch immer erzählend mit Elisabeth zusammen. Pauline hatte ihn<br />

bereits durch die Fenster mit der fremden blonden Frau gesehen. Sie war überrascht, da Holt<br />

normalerweise zu fremden Frauen keinen Kontakt suchte. Aber da diese blond war, kamen ihr<br />

Bedenken. Was quatscht der Kerl dort mit der fremden Frau so angeregt? Zuerst hatte sie<br />

vorgehabt, aufs Zimmer zu gehen, um sich frisch zu machen. Nun schien es ihr dringlicher zu<br />

sein, Klarheit zu bekommen. Alle Befürchtungen, ihr Hans würde „Unerlaubtes“ machen,<br />

lösten sich in Wohlgefallen auf. Pauline fand Elisabeth sympathisch.<br />

Das Beste an dieser Zufallsbekanntschaft war jedoch eine Tatsache; Elisabeth arbeitete<br />

als Gelegenheitsmaklerin und kannte einige zur Vermietung ausgewiesene Häuser, so auch<br />

eines im Ortsteil San Christobal. Sie versprach, sich darum zu kümmern und an der Rezeption<br />

eine Nachricht zu hinterlassen. Sie hielt Wort, bereits am nächsten Morgen, nach dem<br />

Frühstück holte sie Pauline und Holt zu einigen Hausbesichtigungen ab, während Simone<br />

einen Tagesausflug nach Boquete machte.<br />

Zwei Angebote kamen nicht in Frage. Das Haus in San Christobal war auf den ersten<br />

Blick passabel, es war groß genug und hatte genug Potenzial für Holts Umbauwut. Der<br />

Vermieter war ein freundlicher und entgegenkommender Mann, ein echter Hidalgo. Er<br />

versprach, das Haus für Pauline und Holt bis zum übernächsten Ersten des Monats frei zu<br />

halten. Die Ernsthaftigkeit der Anmietung wurde durch die Zahlung einer ersten Monatsmiete<br />

glaubhaft gemacht. Pauline und Holt hatten ein neues Zuhause, einhundertzwanzig<br />

Quadratmeter Wohnfläche, mit Veranda und hinterem Garten, für zweihundertundfünfzig<br />

Dollar.<br />

Als Simone am späten Nachmittag aus Boquete zurückkam, berichteten sie stolz, in<br />

David ein Haus angemietet zu haben. Simone hatte auch Interessantes zu berichten. Sie teilte<br />

den aufmerksam zuhörenden Neumietern mit, sie habe noch nie so eine schöne Umgebung<br />

und gesundes Klima erlebt wie in den Bergen von Boquete. Pauline und Holt beschlossen,<br />

wenn sie erst einmal in David wohnen würden, sich auch einmal dieses komische Nest<br />

anzuschauen, für das schon einige Gringos in Costa Rica geschwärmt hatten und dessen<br />

Charme nun auch Simone offensichtlich erlegen war. Holt dachte nur, Ich als<br />

Flachlandtiroler könnte nicht in den Bergen leben. Wie sollte er sich täuschen.<br />

Zurück in Puerto Viejo, war es eine harte Nuss, den enttäuschten Peter von der<br />

Umzugsabsicht zu überzeugen. Dieser hatte darauf gebaut, gute Langzeitmieter, einen guten<br />

Handwerker und Freunde auf längere Zeit zu behalten. Holt und Pauline tat es auch leid, sie<br />

hatten sich mit Peters Familie angefreundet. Iris, eine schlanke Mulattin, hatte aus erster Ehe<br />

zwei Mädchen, Irina und Brindy. In den letzten Monaten bildete sich ein familiäres Klima,<br />

welches von den Hunden Sophie und Nadschib forciert wurde. Pünktlich zu den Essenszeiten<br />

stellten die Nassauer sich ein, um ein paar Leckerbissen zu ergattern. Es kam auch vor, dass<br />

sie sich zum Nickerchen auf der oberen Terrasse einfanden und Pauline und Holt Gesellschaft<br />

leisteten. Die kleinere Sophie war die Adoptionsmutter von Nadschib, der als kleiner Welpe<br />

zur Familie kam und in wenigen Monaten doppelt so groß, wie seine Ersatzmutter wurde.<br />

Aber sie hatte nach wie vor das Sagen. Wenn ihr tapsiger Sohn dummes Zeug anstellte, setzte<br />

es was. Sophie schüttelte den Übeltäter nach einem Biss im Nacken. Der wurde schlagartig<br />

ganz brav. Eines Tages, als Nadschib auf der oberen Terrasse döste, hörte Holt Sophie die<br />

Treppe herauf kommen. Im Maul hielt sie einige Ränder einer großen Familienpizza, die von<br />

Peters Familie zu Mittag verspeist worden war. Nadschib öffnete ein Auge und riss dann<br />

beide Augen weit auf. Vor seiner Nase ließ Sophie die Pizzareste fallen. Nadschib schlang<br />

eilig die Gabe herunter während Sophie ihren Sohn mütterlich betrachtete. Als Holt das sah,<br />

351


musste er laut lachen, wobei Sophie den Kopf schief hielt und ihn dabei anschaute. Warum<br />

lachst du so blöde?, schien sie zu fragen.<br />

Eines Abends bei Vollmond schaute Holt hoch zum Firmament. In den Tropen ist der<br />

Nachthimmel immer ein besonderes Erlebnis. Anders als im verstaubten Himmel Europas,<br />

war die Milchstraße zu sehen mit Myriaden von funkelnden Sternen. Nadschib hatte neben<br />

Holt Platz genommen und schaute auch zum Himmel, zum Mond. Holt schaute zu Nadschib<br />

herunter und danach wieder in den Himmel.<br />

„Na mein Alter, wollen wir jetzt gemeinsam den Mond anheulen?“ Nadschib winselte.<br />

„Na so wie ich ... uuuh ... uuhhuu.“ Erst zaghaft, dann immer lauter stimmte der Hund mit ein.<br />

„Uuuh ... uuuhhhuuu“.<br />

Von der anderen Seite der Straße hörte Holt zuerst Katja laut lachen und dann Oliver<br />

brüllen. „Ich heule gleich mit, ihr Schwachköpfe, haltet eure Schnauzen!“<br />

Holt hörte auf, Nadschib auch. Dann schauten sie sich an und freuten sich über das<br />

gelungene Kammerkonzert. Schwanzwedelnd verschwand Nadschib um Sophie<br />

wahrscheinlich zu erzählen, was für ein toller Heuler er wäre.<br />

Die letzten Tage vergingen schnell. Peter war bereit, für ein paar Möbel zu zahlen. Die Koffer<br />

waren gepackt aber es gab noch eine Menge Hausrat und Kleinkram, der sich innerhalb eines<br />

halben Jahres angehäuft hatte. Es war beiden klar, dass sie sich diese Gegenstände auch in<br />

Panama wieder kaufen müssten, um ein normales zivilisiertes Leben führen zu können. Was<br />

also tun? Sie beschlossen, den ganzen Kram mit nach David zu nehmen. Durch Oliver<br />

kannten sie den Taxifahrer Bull, der zur Branche auf der anderen Seite der Grenze familiäre<br />

Kontakte hatte. Bulls Onkel hatte in Changuinola ein Pik-up- Taxi. Dieser erklärte sich bereit,<br />

für zweihundert Dollar den Transport zu übernehmen. Bull wollte mit seinem Taxi Pauline,<br />

Holt und das Gerümpel bis zur Brücke in Sixaola bringen. Noch auf der costa-ricanischen<br />

Seite sollte alles umgeladen werden. Bulls Onkel wollte dann auf der panamesischen Seite,<br />

hinter der Grenzabfertigung warten.<br />

So wie geplant, so verlief zur Überraschung Holts auch der Umzug. Früh um sieben<br />

Uhr stand Bull vor dem Monte Sol. Nach zehn Minuten war alles verstaut. Peters gesamte<br />

Familie, nebst Sophie und Nadschib, war zur Verabschiedung erschienen. Die Mädchen<br />

weinten ein wenig und auch die Hunde hatten mitbekommen, dass hier ein Menschenabschied<br />

angesagt war. Als das Taxi durch Puerto Viejo fuhr, sahen sie für lange Zeit noch einmal<br />

Vertrautes.<br />

Bulls Onkel wartete bereits an der Grenze, wie abgesprochen. Das Umladen ging<br />

schnell über die Bühne. Während Holt noch bei der costa-ricanischen Abfertigung stand,<br />

befanden sich die Koffer und das Umzugsgut auf dem Boden Panamas, ohne das auch nur ein<br />

Grenzbeamter etwas kontrollierte. Der Beamte in Panama kannte Holt schon aus der<br />

Vergangenheit. Bei einer Einreise, Wochen zuvor, fragte er Holt, was er in Deutschland<br />

beruflich gemacht habe. Unter dem Gelächter der anwesenden anderen Beamten und einigen<br />

Reisenden hatte Holt zum Scherz „Immigrationsbeamter“ geantwortet. Nun erkannte er seinen<br />

„Kollegen“ wieder. „Herzlich Willkommen und viel Glück in Panama!“ Wir können es<br />

gebrauchen, dachte Holt.<br />

Fünf Stunden später fuhr das Taxi auf die Autoauffahrt des Hauses in David. Der<br />

Vermieter erwartete sie bereits. Zur Begrüßung hatte er eine kleine Flasche Sekt kaltgestellt<br />

und für den ersten Tag ein paar Lebensmittel in dem Kühlschrank deponiert. Es war ein<br />

warmer und herzlicher Empfang. Der Himmel war leicht bewölkt, die Temperatur, etwa so,<br />

wie an der Karibikküste. Vom nächsten Tag an sollten Pauline und Holt erfahren, was für<br />

Temperaturen normalerweise in David herrschen. Im Haus gab es keine AC, nur der von<br />

Puerto Viejo mitgebrachte Ventilator, der fortan auf Höchststufe lief und dennoch keine<br />

Abkühlung verschaffte.<br />

352


Nach einer Woche waren sie am Ende ihrer Kräfte. Zu der unerträglichen Hitze des Tages<br />

kam die nur geringfügig kleine Abkühlung, welche den Namen nicht verdiente. Anstatt der<br />

fünfundvierzig Grad am Tage waren es achtunddreißig Grad in der Nacht. Die Krone des<br />

ganzen Übels war ein kleiner, giftiger Hund der Nachbarn. Dieser kläffte die ganze Nacht vor<br />

dem Schlafzimmerfenster. Holt, der nun wahrlich ein Tierfreund war, hätte den kleinen<br />

Kläffer mit bloßen Händen erwürgen können. Die Nachbarn waren Ignoranten. Einen Tag<br />

hatten sie den Kläffer nachts eingesperrt, in der folgenden Nacht raubte er Pauline und Holt<br />

wieder den Schlaf. Zusätzlich wurden in der weiteren Umgebung Partys gefeiert, welche erst<br />

um dreiundzwanzig Uhr begannen und um fünf Uhr morgens zum Ende kamen. Hier lebten<br />

Latinos der unteren sozialen Schicht, die offensichtlich einem anderen Lebensrhythmus<br />

frönten und keine Ohren zu haben schienen. Beim Spaziergang eines Abends, rund um das<br />

Karree, erkannte Holt, sein angemietetes Haus war das Beste der Gegend. Hinsichtlich der<br />

Nachbarschaft vermutete er für den Vermieter ständige Probleme mit einer wechselnden<br />

Mieterschaft. Welcher normaler Mensch sollte in dieser Umgebung leben wollen? Holt und<br />

Pauline jedenfalls nicht. Mit einer AC hätten sie die Hitze, aber nicht den ständigen Lärm<br />

bekämpfen können. Bereits nach einer Woche stand es fest: nur weg von hier!<br />

Simone hatte so von Boquete geschwärmt. Sollte man sich diesen Ort nicht auch einmal<br />

anschauen, einmal einen Tag frieren dürfen? Pauline liebte die Berge, Holt nicht so sehr.<br />

Trotzdem willigte er ein, einen Trip nach Boquete zu machen. Vom Busbahnhof fuhren alle<br />

halbe Stunde die Busse. So stand es jedenfalls an einem Aushang, auf dem der Name des<br />

Zieles stand. Noch war der Bushafen leer. Auf der anderen Seite der Haltestelle hatte ein<br />

gelber amerikanischer Schulbus Indios ausgeladen. Nachdem er leer war, setze er sich<br />

langsam in Bewegung und steuerte auf den leeren Bushafen zu. Es war der Bus nach Boquete.<br />

Bereits nach fünfzehn Minuten setzte sich ein halb voller Bus in Bewegung. Zuerst fuhr er<br />

noch durch die Innenstadt, kreuzte die Panamericana an einem großen Einkaufszentrum, bog<br />

dann auf eine Straße, an der das Hinweisschild „Boquete – 38 KM“ stand. Die Fahrt ging<br />

ständig, aber leicht bergauf. Hinter David lagen zwei Flusstäler, die der Bus über Brücken<br />

überwand. Bei der Ortschaft Dolega wurde es im Bus, der über keine AC verfügte und mit<br />

offenen Fenstern fuhr, merklich kühler. Im Zentrum der Ortschaft befand sich eine<br />

bemerkenswerte Skulptur, ein Mönch fütterte einen Wolf. Nach Dolega wurde die Bewaldung<br />

spärlicher und durch eine links und rechts der Strecke liegende Steppe mit vulkanischen<br />

Eruptionsrückständen abgelöst. Die Lavabrocken wurden zum Markenzeichen dieser Gegend.<br />

Links, am Horizont, lag der Verursacher dieser Landschaft, der Vulkan Baru. Der rechte<br />

Horizont wurde durch das Gebirge der Cordillera Central begrenzt, hinter denen bereits in<br />

weiter Ferne das Archipel Bocas del Toro zu sehen sein müsste. Der Bus steuerte einem<br />

Gebirgszug in der Mitte zu. Die Lavabrocken wurden durch immer mehr Häuser abgelöst. Ein<br />

Passagier verriet Holt den Namen dieser Ortschaft. Es war bereits ein Ortsteil von Boquete,<br />

Alto Boquete, was ungefähr Alt-Boquete bedeutete. Nachdem der Bus einen riesigen<br />

Torbogen mit Girlanden passierte und leicht in einem Bogen bergab fuhr, sah Holt eine Art<br />

schweizer Gebirgstal. Unten, längsseits eines Flusses, lag die Ortschaft, deren äußere<br />

Bebauung sich an die Hänge der umgebenden Berge anschmiegte, um sich in der Steigung<br />

zwischen der Bewaldung zu verlieren. Von der Hauptstraße gingen links und rechts<br />

Querstraßen ab. An einem kleinen Park, dem Parque Central, hielt der Bus. Endstation, die<br />

restlichen Passagiere stiegen aus.<br />

Pauline und Holt verspürten sofort das angenehme Klima. Bei einer leichten Windbrise betrug<br />

die Temperatur ungefähr fünfundzwanzig Grad. Als sie den Park umrundeten, fanden sie ein<br />

Gartenrestaurant und daneben ein Maklerbüro. Zuerst nahmen sie im Los Amigos, im Garten<br />

Platz. Rundherum saßen Gäste, deren Muttersprache offensichtlich Englisch war.<br />

Überwiegend waren es US-Amerikaner und Kanadier. Darunter gab es aber auch Panamenios,<br />

353


die sich auch in Englisch unterhielten. Das Personal war zweisprachig, flink und aufmerksam.<br />

Holt konnte durch die offene Tür des Maklerbüros eine ältere Frau sehen, welche telefonierte.<br />

Nach einiger Zeit kam sie heraus und setzte sich zu einem Pärchen. Pauline hatte den größten<br />

Teil des Gesprächs mitbekommen und wandte sich an Holt.<br />

„Hans, die Frau am Nebentisch ist die Maklerin, sie heiß MacDonald. Gerade hat sie<br />

den Leuten drei Häuser zur Anmietung und vier zum Verkauf, angeboten. Wir sollten auch<br />

Mal nachfragen.“<br />

„Mach es Pauli, aber warte, bis sie mit ihren Kunden fertig ist. Diese könnten dich<br />

sonnst als Wegschnapper oder Strohfrau empfinden.“<br />

„Hans, du liest zu viele Krimis,“ war ihre Antwort, als sie ihren Stuhl umdrehte und<br />

die Frau ansprach.<br />

Frau McDonald hatte leider keine passenden Angebote, aber die Telefonnummer einer<br />

Panamenia, die ihr Haus vermieten wollte. Dieser Tipp war umsonst und nicht Bestandteil<br />

ihrer Maklertätigkeit. Warum, sollte Holt bei der Besichtigung des Hauses erfahren. Es war<br />

eigentlich ein Angebot für Einheimische, denn kein Amerikaner wäre in das Haus<br />

eingezogen.<br />

Das angebotene Haus lag fast am Ende der Ortschaft, dort, wo es bereits wieder in die Berge<br />

ging. Der Taxifahrer bezeichnete diesen Ortsteil als Los Naranjos, Zu den Orangen. Noch<br />

vom Restaurant aus hatte Pauline angerufen. Die Frau am anderen Ende der Leitung verstand<br />

ausreichend Englisch und beschrieb Pauline den Weg. Wenn sie hinter der Tienda Economica<br />

war, sollte sie dort nach einer Daisy fragen. Besagte Frau stand im Vorgarten eines<br />

Triplexhauses und wässerte den Garten. Daisy, die Tochter des Don Bolivar, dem Hidalgo<br />

dieser Gegend, war bereits über fünfzig Jahre alt, ein wenig untersetzt, quirlig aber sehr<br />

aufgeschlossen. Sie schloss die Tür auf und zeigte ihren Interessenten das Haus. Holt dachte<br />

sofort an die Worte von Heinrich Zille: Mit einer Wohnung kann man einen Menschen, wie<br />

mit einer Axt erschlagen. Das Haus war in einem schrecklichen Zustand. Der Fußboden<br />

bestand aus Waschbeton, die Wände waren mehrfarbig gestrichen. Ein Durchgangszimmer<br />

hatte keine Fenster, die Möbel schienen bereits von den Concistadores aus Spanien<br />

mitgebracht worden zu sein. Auf den ersten Blick war es eine Zumutung. Daisy wollte für<br />

dieses Haus zweihundertfünfzig Dollar haben. Um nicht unhöflich und arrogant zu wirken,<br />

redeten sie sich mit noch weiteren Besichtigungen heraus, um danach eine Entscheidung zu<br />

treffen. Die Entscheidung war bereits nach zehn Sekunden gefallen, jedenfalls bei Pauline.<br />

Frau McDonald gab ihnen jedoch noch zwei weitere Adressen, die sie am Nachmittag auch<br />

abklapperten. Eines war zu groß und extrem teuer, das Andere lag in der Walachei, im oberen<br />

Stockwerk eines Verwaltungsgebäudes einer scheinbaren Hühnerfarm, mit mehreren<br />

Wachhunden. Zurück im glühend heißen Haus in San Christobal, erschien ihnen das Haus in<br />

Los Naranjos als ein paradiesisches Geschenk. Nach kurzer Beratschlagung waren sich<br />

Pauline und Holt einig. Sie würden das Haus anmieten, wenn Daisy es ihnen gestattet, alles<br />

umfangreich umzugestalten. Bereits am Telefon sagte diese zu, dass sie alles machen könnten,<br />

soweit der Wert des Hauses nicht gemindert würde. Bei der zweiten Besichtigung am Tage<br />

darauf nahm die Umgestaltung Konturen an. Zuerst müssten die Möbel umgestellt, die Wände<br />

weiß gestrichen und helle Fliesen gelegt werden. Später sollte ein Fenster im dunklen<br />

Durchgangszimmer eingebaut und die hintere Terrasse vergrößert und entrümpelt werden.<br />

Daisy war mit allem einverstanden.<br />

Für den Vermieter in David war der Auszug ein Schock. Er tat Pauline und Holt leid. Aber<br />

wider Erwarten war er einsichtig und verstand die Motive. Selbst die Monatskaution gab er<br />

anstandslos zurück. Mitte April zogen sie wieder einmal um. Ihr Hausrat war inzwischen um<br />

einen runden Tisch mit vier Stühlen erweitert worden. Dennoch passte noch alles auf die<br />

354


Ladefläche des Taxis. Der Fahrer, Martin, war eine freundliche und hilfsbereite<br />

Quasselstrippe, er sollte in den nächsten Monaten noch so manche Fahrt für Pauline und Holt<br />

durchführen. Selbst beim Ausladen packte er mit an. Nachdem die Fracht im Haus abgestellt<br />

und der Taxifahrer nach zwei Bier wieder abfuhr, hatte Holt zum ersten Mal Zeit, sich die<br />

Umgebung näher anzuschauen. Das Haus lag am Ende einer leichten Steigung, hinter der es<br />

wieder ein wenig tiefer zum Fluss ging. Nach der Senke ging es wieder bergauf bis zum Ende<br />

der Ortschaft. Dort teilte sich die Hauptstraße und führte ins Gebirge. Gegenüber standen drei<br />

Häuser, die alle dem Don gehörten. Das Haus rechts davon, eigentlich eine Bretterbruchbude,<br />

gehörte Wilma und ihrer vielköpfigen Familie. Im hinteren Teil ihres Hauses standen zwei<br />

simple Betonbauten mit Löchern in den Wänden, die Fenster sein sollten. Rechts vom Haus<br />

stand ein Doppelhaus und links davon ein Einzelhaus, auch im Eigentum des Don. Hinter dem<br />

Haus befand sich eine große Plantage mit Kaffeesträuchern, Orangenbäumen und<br />

Bananenstauden. Natürlich auch im Eigentum des Don, Daisys Vater. Hinter dem Grün der<br />

Plantage schimmerte das rote Dach eines Hauses. Hinter diesem Dach stieg eine steile<br />

bewachsene Felswand empor, auf deren Kamm Bäume standen. Hinter den Häusern der<br />

gegenüberliegenden Straßenseite, lag im Tal der Fluss, der Rio Caldera. Das linke Ufer des<br />

Flusses, in Fließrichtung gesehen, bestand aus einem ungefähr fünfzig Meter breiten<br />

Geröllstreifen, hinter dem das Tal in einer achtzig Meter hohen, ebenfalls begrünten Felswand<br />

endete. Im unteren, noch flacheren Teil der Talwand, waren in der gleichmäßigen Struktur<br />

Kaffeepflanzungen zu sehen. Das überwiegende Grün der Umgebung streichelte die Seele, es<br />

verbreitete sich eine Ruhe, die Holt schon seit Monaten nicht erlebt hatte. Pauline empfand es<br />

ebenso.<br />

Bereits am Abend des ersten Tages waren die Möbel umgestellt und einige zu<br />

gebrechlich wirkende Teile an Daisy zurückgegeben worden. Nach einer Woche waren die<br />

Wände weiß gestrichen, nach einem Monat ein Fenster eingebaut und nach drei Monaten die<br />

Terrasse erweitert und umgebaut. Das Haus war nun ansehnlich und hell. Daisy erkannte es<br />

nicht wieder.<br />

Bereits nach einigen Tagen erschienen am Zaun zur Plantage Besucher. Zuerst eine<br />

Schar Hühner, darunter eine Henne mit acht kleinen Küken. Holt nannte die Hühnermutter<br />

Mutterchen. Diese Henne war mutig, nachdem ihre Küken durch die Rauten des Zaunes auf<br />

die Terrasse geklettert waren, überflog sie den Zaun und machte es sich im Schatten des<br />

Daches mit ihren Kindern bequem. Holt machte den Fehler, die Hühnerbande zu füttern und<br />

wurde sie damit nie wieder los. Nach zwei Wochen erschienen noch weitere Gäste. Eines<br />

Vormittags saßen vor dem Zaun zwei große Hunde. Einer war rotbraun, mit spitzen Ohren,<br />

der sich durch ein lautes „Wuff“ bemerkbar machte. Da er am Zaun schnüffelte, nannte Holt<br />

diesen „Schnuffel“. Der Schweigsamere war schwarz, hatte Hängeohren und traurige Augen.<br />

Mit diesen starrte er Holt aufmerksam an und schien auf etwas zu warten. Holt begriff.<br />

Nachdem jeder der Hunde eine Bockwurst bekam, trollten sie sich. Der Schwarze schien den<br />

Brauen erst einmal weggelockt zu haben. Jedenfalls kam er nach einer viertel Stunde allein<br />

wieder und schaute durch den Zaun auf Pauline und Holt, die bei einem Kaffee auf der<br />

Terrasse saßen.<br />

„Was willst du Möppel?“, fragte Holt den Hängeohrenhund.<br />

Der Möppel hielt den Kopf schief und zuckte gleichzeitig mit den Schlappohren. Noch<br />

was zu fressen, du einfältiger Mensch, schien der Hund schweigend zu sagen. Holt pellte noch<br />

eine Wurst ab und schob diese Stückchen für Stückchen durch den Zaun. Der Hund nahm sie<br />

ihm vorsichtig ab, ohne zuzuschnappen. Danach kratzte er sich lustvoll hinter dem Kopf und<br />

verschwand nach einiger Zeit zwischen den Kaffeesträuchern. Aber er kam wieder, immer<br />

öfters, allein und in Gesellschaft von Schnuffel. Möppel wurde ständiger Gast am Zaun.<br />

Später, als die Terrasse fertig war und eine anständige Tür im Zaun, wurde er Gast auf der<br />

Terrasse. Eines Tages drückte er mit seinem dicken Kopf die nur leicht angelehnte Tür zur<br />

Küche auf. Danach inspizierte er die gesamte Wohnung. Holt und Pauline, die ihn dabei<br />

355


eobachteten, ignorierte er. Letztlich fand er an der Couch im Wohnzimmer Gefallen.<br />

Nachdem er sie ausgiebig beschnüffelt hatte, stellte er eine Pfote auf die Sitzfläche. Über<br />

seine Schulter schaute er den abwartenden Holt an. Als dieser nichts sagte und auch nicht<br />

reagierte, stellte Möppel seine zweite Vorderpfote auf die Couch. Wieder ein Blick zu Holt.<br />

Dann zog er seinen Körper hoch, setzte die Hinterpfote auf und ließ sich nieder, wobei er<br />

vernehmlich seufzte. Holt musste lachen. Möppel schaute ihn an, als ob er sagen wollte,<br />

Danke, dass du einen alten Hund auf dem weichen Sofa liegen lässt, Danke Mensch!<br />

*<br />

Holt wurde unruhig, er rief bei Batunin in Berlin an. Seine Befürchtungen, seine Hiwis<br />

würden abspringen, erwiesen sich als unbegründet.<br />

„Was ist Gaspodien Holt, können wir loslegen?“, war seine erste Frage, als Holt sich<br />

mit Namen meldete.<br />

„Geben Sie mir einen Monat Zeit, sagen wir, morgen am Ersten ist minus dreißig.“<br />

„Das ist ein Wort. Ich gebe Ihnen in spätestens drei Tagen die Adresse durch, bei der<br />

Sie in Panama City die Sachen abholen und bezahlen können. Die Technik ist komplett. Ich<br />

brauch nur noch die Bezeichnung, welche die Spezialbullen in Costa Rica auf dem Rücken<br />

tragen. Die Landesfarben für den Oberarm habe ich schon anfertigen lassen. Bei minus drei<br />

muss alles vor Ort sein. Schaffen Sie das?“<br />

„Ich glaube ja,“ war Holts Antwort.<br />

Batunin war nicht erfreut, seine Antwort fiel entsprechend aus. „Was heißt hier ich<br />

glaube? Als ehemaliger Kommunist halte ich nichts vom Glauben. Sie sollten also wissen!“<br />

„Also, ich weiß, dass bei minus drei die Sachen spätestens vor Ort in Costa Rica sind.“<br />

„Karascho, also bis in drei Tagen.“ Batunin legte auf.<br />

Am Abend des folgenden Tages hatte er auf seine Frage bezüglich der Bezeichnung für die<br />

Sondereinheit der Polizei, von seinem alten Dolmetscher eine Antwort. Diese Sondereinheit<br />

hieß Fuerza especiale. Bei minus neunundzwanzig kannte er die Anschrift des Lieferanten in<br />

Panama City und dessen Namen sowie den etwaigen Preis für die Ware. Vier<br />

Komplettausrüstungen für eine Sondereinheit der Polizei kosteten auf dem Schwarzmarkt<br />

zusammen viertausend Dollar. Dazu gehörten je Einheit, eine Maschinenpistole, eine Pistole,<br />

ein Satz Handschellen, ein Schlagstock, die schwarze Uniform, Stiefel, Koppelzeug,<br />

Skimaske und ein Funksprechsatz.<br />

Letztlich blieb nur der Kontakt zu Thorsten, dem Seefahrer. Ihm fiel die Aufgabe zu, all die<br />

Ausrüstungsgegenstände von Panama illegal nach Costa Rica zu verfrachten. Thorstens Jacht<br />

lag in der Nähe von Puerto Limon. Er war noch unter seiner alten Telefonnummer zu<br />

erreichen. Bereits nach dem zweiten Klingelzeichen nahm er ab. Es war der Tag minus<br />

fünfundzwanzig.<br />

356


In den Bergen<br />

Tag minus vierundzwanzig. Thorsten wollte sich mit Holt in Portete treffen, der nicht wusste,<br />

wo er das Nest finden sollte.<br />

„Du kennst doch Limon?“, was Holt bejahte.<br />

„Dann fährst du mit `nem Taxi zum Hafen von Moin. Bevor du aufs Hafengelände<br />

kommst, liegt davor ein kleiner Jachthafen. Das ist Portete. Du kannst mich nicht verfehlen.<br />

Am einzigsten Bootssteg habe ich dort das größte Boot, die Mare Caribicum.“<br />

„Thorsten können wir uns nicht auf den Bocas treffen? Das ist für mich günstiger und<br />

außerdem habe ich schon eine Ladung für dich.“<br />

„Nichts da, zuerst treffen wir uns in Portete und besprechen die Details. Dann kann ich<br />

immer noch nach den Bocas kommen. Will ja Geld verdienen, aber zuvor muss ich wissen,<br />

was da läuft.“<br />

Thorsten war nicht umzustimmen, also musste Holt zuerst zur Besprechung nach Portete<br />

fahren. Er beschloss, nachdem er mit Thorsten dann alles besprochen hatte, in Escazú im<br />

Hotel Maria Alexandra die anfängliche Unterkunft für seine Crew zu buchen und über einen<br />

Makler in den Bergen eine Finca anzumieten. Am nächsten Tag brach er auf. Pauline war<br />

nicht glücklich, aber Holt konnte sie ein wenig beruhigen.<br />

„Pauli, diesmal sind Profis dabei und die verstehen ihr Handwerk.“<br />

„Aber die vielen Waffen, als ob ihr einen Krieg anfangen wollt. Es kann Tote geben<br />

Hans.“ Pauline blieb skeptisch.<br />

„Ich habe mit Batunin vereinbart, dass nur in Notwehr, im äußersten Fall, geschossen<br />

wird. Die Uniformen und Waffen sind nur zur Einschüchterung der Ticos und damit sie nicht<br />

auf die Idee kommen sich einzumischen oder nach der echten Polizei zu rufen. Wir versuchen<br />

alles außerhalb der Öffentlichkeit zu erledigen, aber manchmal ist es nicht möglich,“<br />

erläuterte Holt, der sich sorgsam die richtigen Worte zusammenlegte.<br />

„Verspreche mir, jeden Abend um sieben Uhr anzurufen und mir alles zu erzählen.“<br />

„Das verspreche ich. Aber ich kann am Telefon nicht Klartext reden. Ich werde dann<br />

immer von der Oma sprechen, wenn ich Schulz und Konsorten meine. Du wirst mich schon<br />

verstehen.“<br />

Der Enkelsohn, der seiner Oma eine Überraschung bieten wollte, fuhr am nächsten Morgen<br />

früh ab. Pauline stand auf der vorderen Terrasse und winkte hinterher. Diesmal war alles<br />

anders, als damals auf Gran Canaria.<br />

Holt nahm die Regionalmaschine von David nach Bocas. Sechs Stunden später war er in<br />

Puerto Limon. Dazwischen lagen eine Grenze, ein Kurzbesuch bei Katja und Oliver und eine<br />

kurze Besprechung mit Peter. Er bekam eine Instruktion und hundert Dollar in die Hand<br />

gedrückt. Es war vereinbart, wenn sich Holt nach einem bestimmten Anruf nicht mehr meldet,<br />

dass Peter dann drei Tage später einen Brief bei der Ochota in San José abgeben sollte. Das<br />

war eine Art Lebensversicherung.<br />

Der Taxifahrer kannte den kleinen Jachthafen. Am einzigen Bootsteg lagen acht Boote. Vorne<br />

am Steg lag die Mare Caribicum. Eine weiße Jacht, mit blauen Absetzungen und einem<br />

honigfarbenen Teakholzdeck. Zweifelsohne das beste Stück weit und breit. Auf dem<br />

Sonnendeck lag Thorsten mit einer braun gebrannten Schönheit. Als er Holt kommen sah,<br />

stand er auf und deutete zur Hafenkneipe hinüber. Holt begriff und ging zur Kneipe, wo er<br />

sich im Schatten an einen verstaubten Tisch setzte. Thorsten kam zehn Minuten später,<br />

angezogen mit einem schlapprigen T-Shirt und kurzen Hosen.<br />

357


Nachdem Holt sich überzeugt hatte, von niemandem belauscht zu werden, erzählte er<br />

Thorsten eine abgespeckte Version des Vorhabens. Dieser hörte aufmerksam zu und fasste<br />

noch einmal seine Beteiligung zusammen.<br />

„Also, wenn ich es richtig verstanden habe, soll ich dich und ein paar Sachen von den<br />

Bocas abholen und nach Limon bringen. Dann soll ich warten, bis du mich benachrichtigst.<br />

Dann bringe ich dich und ein paar Sachen wieder nach den Bocas zurück. Ist es so richtig?“<br />

„Ja, so ist es richtig!“<br />

„Und um was für Sachen handelt es sich bei der Hinfahrt und bei der Rückfahrt?“,<br />

wollte Thorsten wissen.<br />

„Das willst du doch gar nicht wissen,“ antwortete Holt.<br />

„Hans du spinnst wohl. Natürlich will ich das wissen. Bei Drogen muss ich mich<br />

anders vorbereiten, als ob ich nur blinde Passagiere an Bord hätte.“<br />

„Es sind keine Drogen und auch keine blinden Passagiere,“ erklärte Holt und dachte<br />

darüber nach, wie viel er Thorsten anvertrauen konnte. Der Mann war ja nicht blöde. “Also es<br />

sind die Ausrüstungsgegenstände für eine kleine Truppe Privatpolizei. Uniformen,<br />

Schlagstöcke, Handschellen und Funksprechgeräte.“<br />

„Keine Waffen?“<br />

„Irgendwelche Pumpguns für Gummigeschosse und Elektroschocker sind wohl dabei.<br />

Sonnst nichts Gefährliches,“ log Holt. „Die Sachen sind in Sporttaschen verpackt und werden<br />

erst in San José von einem privaten Sicherheitsdienst ausgepackt.“<br />

„Bekommt man nicht so etwas auch in Costa Rica?“, wollte der misstrauische<br />

Thorsten wissen.<br />

„Natürlich, aber dort ist alles um das Dreifache teurer und die ganze Prozedur mit den<br />

Erlaubnissen dauert fast ein Jahr.“<br />

„Und was mach ich, wenn die Ticos mich erwischen?“<br />

„Werden sie nicht. Ich habe vorgesorgt. Noch vor Reede werden die Sachen auf die<br />

Barkasse der Hafenmeisterei umgeladen und ganz legal an Land gebracht. Du kannst dann<br />

leer nach Hause segeln.“<br />

„Hans, bist du wahnsinnig! Die Hafenmeisterei ist im Haus der Hafenpolizei, ich<br />

glaube der Hafenmeister ist sogar von der Polizei.“<br />

„Mach dir Mal darum keine Sorgen, das ist alles schon geregelt.“ Holt übertrieb ein<br />

wenig, als er fortsetzte. „Die Polizei hilft sogar beim Verladen auf das Auto.“<br />

„Was bekomme ich für das krumme Ding?“<br />

„Für die Passagen zahle ich dir zusammen zweitausend Dollar.“<br />

„Und was ist mit `nem Gefahrenzuschlag?“<br />

„Da du dich nicht in Gefahr begeben musst, gibt es dafür auch kein Extra.“<br />

„Und wenn doch?“<br />

„Dann bekommst du wahlweise eine Kugel oder eine Kostenübernahme für den Arzt,<br />

der dir die Kugeln wieder herausoperiert,“ antwortete Holt lachend.<br />

Thorsten hatte letztlich zugesagt, alles so zu machen, wie es Holt verlangt hatte. Er<br />

wartete nur auf den Anruf, um dann nach den Bocas zu segeln.<br />

Fito war leicht zu finden. Er freute sich, Holt nach über zwei Jahren wieder zu sehen. Als Holt<br />

ihn um die Gefälligkeit bat, sagte er auch sofort zu.<br />

„Das ist kein Problem. Aturo, mein Schwager, fährt noch immer die Barkasse des<br />

Hafenmeisters. Der fährt oftmals Sachen am Zoll vorbei. Wenn der Segler kommt, bist du ja<br />

wohl auch an Bord und ich werde meinem Schwager helfen.“<br />

„Was wollt ihr dafür nehmen?“<br />

„Gebe uns einen Hunderter. Das ist unter Freunden genug, und wenn du eine Flasche<br />

Abuelo aus Panama mitbringen kannst, ist für uns der Rest des Tages gerettet.“<br />

358


Bereits eine Stunde später saß Holt im Expressbus nach San José und drei Stunden<br />

später im Bus nach Escazú. Im Maria Alexandra nahm er sich ein Zimmer auf unbestimmte<br />

Zeit. Es war bereits dunkel. Morgen war der Tag minus dreiundzwanzig.<br />

Pauline war froh über Holts leichte Erledigungen und die unbeschadete Ankunft in Escazú.<br />

Die Rezeptzionistin konnte zwei Zimmer für die von Holt avisierte Zeit reservieren. Die dritte<br />

Vorbereitung war auch erledigt. Alles ging leichter als angenommen.<br />

Schräg gegenüber, vom Einkaufzentrum Mas o Menos, hatte es 2003 noch einen Makler<br />

gegeben. Vom Hotel waren es nur hundert Meter. Den Makler gab es noch. Holt schaute sich<br />

die Aushänge im Schaufenster an. Es gab nur Eigentumswohnungen in den neu gebauten<br />

Condos, ein paar Häuser in der Umgebung von Escazú und ein paar Baugrundstücke an der<br />

Pazifikküste. Ich muss zielgerichtet nachfragen, dachte Holt und trat ein. Hinter einem<br />

Computer versteckt, saß ein Grünschnabel, von dem Holt keine Silbe Englisch erwartete. Der<br />

junge Mann hatte sofort in Holt einen Ausländer erkannt und sprach diesen in einem klaren<br />

und akzentfreiem Englisch an. Holt beneidete darum den jungen Mann. Es kam noch<br />

frustrierender. Am harten, deutschen Akzent musste der Jüngling auch Holts Muttersprache<br />

erahnt haben. Freundlich wechselte er vom Englischen ins Deutsche. Holt war einen Moment<br />

sprachlos. Der Jüngling genoss die Situation und klärte den leicht verwirrten Holt auf.<br />

„Mein Vater ist Deutscher, meine Mutter eine Tica. Ich bin in Deutschland acht Jahre<br />

und in Costa Rica, an der Humboldt- Schule, vier Jahre zur Schule gegangen. Jetzt studiere<br />

ich im vierten Jahr an der Uni Tourismus und Betriebswirtschaft. Hier arbeite ich nur zwei<br />

Tage in der Woche und vertrete meinen kranken Vater.“<br />

Holt rechnete nach. Der junge Mann musste bereits über zweiundzwanzig Jahre alt<br />

sein, sah aber wie ein sechszehnjähriger Teenager aus.<br />

Er fing noch einmal, nun in seiner ihm vertrauten deutschen Sprache an. „Also, ähm ...<br />

ich suche für meine Studien in den Bergen eine abgelegene Art Finca. So für ein halbes Jahr<br />

oder auch etwas länger. Einzige Bedingung, totale Ruhe und Abgeschiedenheit und genug<br />

Platz für meine wissenschaftlichen Geräte und die vielen Käfige.“<br />

„Käfige? Was machen sie den überhaupt?“, wollte Teenager Face wissen.<br />

Holt reichte seine präparierte Visitenkarte herüber. „Mein Name ist Professor Doktor<br />

Hugo Weinmeister. Ich habe den Lehrstuhl an der ornithologischen Abteilung an der Freien<br />

Universität Berlin.“<br />

Der Jüngling war sichtlich beeindruckt, er wusste sogar, was ein Ornithologe war.<br />

„Ein Vogelforscher sind Sie also?“<br />

„Na ja, auch Reptilien gehören zu meinem Fach. Sie wissen ja sicherlich, alle unsere<br />

Vögel sind einmal aus den Reptilien oder auch den Sauriern entstanden. Der Archäopteryx<br />

zum Beispiel ist ... „<br />

Der junge Mann musste sich die Einführungsvorlesung des Vogelspezialisten anhören.<br />

Holt konnte nicht entdecken, ob dieser echtes Interesse oder nur höfliche Aufmerksamkeit<br />

zeigte. Nachdem die Vorlesung beendet war, schaute Holt sein Opfer fragend an.<br />

„Äh, Herr Professor, ich glaube da hätte ich etwas für Sie. Es ist nicht bei uns als<br />

Angebot gelistet. Das Grundstück gehört meiner Großmutter, sie kann es aus<br />

gesundheitlichen Gründen nicht mehr bewirtschaften. Seit fünf Jahren steht die Finca leer, nur<br />

einmal im Jahr schaut mein Vater nach. Er war zuletzt vor zwei Monaten da.“<br />

„Und wo liegt die Finca?“<br />

„In der Nähe von Palmichal. Das sind von Escazú ungefähr fünfzehn Kilometer. Man<br />

kommt leicht hin, zuerst über die Autopista bis Tabarcia, dann geht’s durch einen kleinen<br />

abgelegenen Urwald bis Palmichal. Vor der Ortschaft biegt man in die Berge ab. Da ist sonnst<br />

nichts, ganz abgelegen. Rundherum nur Wald und tausende Vögel.“<br />

359


Holt bekam glänzende Augen, die der junge Mann wohl auf die tausenden Vögel<br />

zurückführte, was sich jedoch nur auf das ganz abgelegen bezog.<br />

Der dienstbeflissene junge Mann rief bei seinen Verwandten an. Er musste mit seiner<br />

Großmutter gesprochen haben. Holt verstand nur so viel, dass er seiner Großmutter den<br />

deutschen Professor als Mieter anpries. Die Oma wollte offensichtlich einhundert Dollar pro<br />

Monat, die der Enkel jedoch auf dreihundert erweiterte. Die alte Frau schien erfreut zu sein<br />

und willigte einer Vermietung für ein halbes Jahr zu.<br />

Der Enkelsohn schlug Holt die Eckpunkte des Mietvertrages vor. Beim Mietpreis<br />

wollte dieser jedoch ein Entgegenkommen des Vermieters sehen, da er ja die von der<br />

Großmutter verlangte Miete kannte.<br />

„Junger Mann,“ begann Holt, „da gibt es sicherlich eine kleine Schwierigkeit. Mein<br />

Fachbereich zahlt jedoch nur zweihundert Dollar pro Monat. Außerdem muss ich mir erst<br />

einmal die Gebäude ansehen. Ich bin bereit, die Räume auf meine Kosten herzurichten. Das<br />

könnte eine Menge Geld kosten. Bedenken Sie, wenn ich in einem halben Jahr wieder<br />

verschwinde, ist die Finca wie neu.“<br />

Am nächsten Tag wurde Holt vom Vater des kleinen Maklers abgeholt. Er machte wahrlich<br />

einen kranken Eindruck, war blass und fahrig, aber gegenüber Holt aufgeschlossen. Da sie in<br />

einem herkömmlichen Toyota einstiegen, der keine Geländegänge hatte, vermutete Holt einen<br />

leichten Weg. Bei Palmichal waren sie nach einer halben Stunde. Seit Abfahrt von der<br />

Autopista fuhren sie auf einer asphaltierten Straße. Diese hatte einige Schlaglöcher, war aber<br />

für costa-ricanische Verhältnisse recht gut. Erst kurz vor Palmichal, als es in die Berge führte,<br />

ging der Weg auf einer steilen Schotterstraße weiter. Der Toyota ächzte, fuhr nur noch im<br />

zweiten Gang. Schlimmer hätte die Straße nicht werden dürfen. Die letzten zwei Kilometer<br />

verlangten vom braven Auto das Letzte. Zur rechten Seite lag eine tiefe Schlucht. Aus dem<br />

Beifahrerfenster konnte Holt tief unter sich, zwischen an den Hang wachsenden Bäumen<br />

einen Fluss sehen. Erst nach einer versperrten Tordurchfahrt ging der Weg in eine<br />

waagerechte und ebene Strecke über. Zweihundert Meter vor dem Gebäude waren links und<br />

rechts der Zufahrt hunderte Büsche Bougainville. Das Hauptgebäude besaß eine vordere<br />

Eingangsüberdachung, gestützt auf zwei Säulen. Vor dem Haus befand sich ein verwildertes,<br />

mit tausenden Blumen übersätes Rondell. Hinter einem hohen Drahtzaun begann bereits der<br />

Urwald. Als Holt den Vater fragte, was denn seine Mutter gezüchtet und geerntet habe,<br />

antwortete dieser nur „Tropenhölzer“.<br />

Hinter dem Vorderhaus befand sich ein Anbau mit Keller. Hier hatten die Vorbesitzer<br />

und die Schwiegereltern des Mannes früher ihre Lebensmittel und Getränke untergebracht.<br />

Außer ein paar alte Kisten, befand sich nichts Weiteres im Keller. Holt nahm mit<br />

Befriedigung die Beschaffenheit des großen Raumes wahr. Dieser war länglich und hatte<br />

unterhalb der Decke vier kleine vergitterte Fenster. Es war leicht, hier vier getrennte Räume<br />

einzubauen. Dazu benötigte man nur genug Steine, Sand und Zement sowie vier stabile<br />

Türen. Der erstaunte Vater erklärte sich mit Holts Wunsch einverstanden, den Kellerraum auf<br />

dessen Kosten baulich zu unterteilen.<br />

„Wenn Sie das alles nur für ein halbes Jahr machen wollen, ist es Ihr Problem.“<br />

„Ja,“ antwortete Holt, „was macht man nicht alles für die Wissenschaft.“<br />

Ganz zufrieden war der Mann dennoch nicht mit der Antwort. Er wollte mehr wissen.<br />

„Was wollen Sie denn hier im Keller unterbringen. Die Vögel werden Ihnen doch eingehen.“<br />

„Keine Vögel. Hier kommen die Reptilien und Schlangen unter. Die benötigen oftmals<br />

das Halbdunkel. In einen Raum kommen die wertvollen wissenschaftlichen Geräte, wie<br />

Sensoren, Lauterfassungsgeräte, Oscylografen und so weiter.“<br />

„Und das alles nur für ein halbes Jahr. Lohnt sich das überhaupt?“<br />

360


„Nun ja, ich gehe davon aus, wenn ich für meine Forschung mehr Zeit benötige, dass<br />

ich diese auch von der Universität bekomme. Ich bin ja für ein Jahr freigestellt. Sollte ich<br />

mehr Zeit benötigen, wird ihre Schwiegermutter doch sicherlich den Mietvertrag verlängern?“<br />

Der Mann hatte nichts Eiligeres zu tun, als zu bestätigen, dass seine Schwiegermutter<br />

sicherlich auch zu einer längeren Vermietung bereit sein würde.<br />

Am nächsten Tag unterzeichnete ein Professor Weinmeister mit einer Frau Felicia Alvarez -<br />

Sanchez einen Mietvertrag auf ein halbes Jahr mit einer Verlängerungsoption für eine Finca in<br />

den Bergen bei San José. Der Jüngling hatte Holts Daten von der fingierten Visitenkarte<br />

übernommen, ohne sich auch nur ein anderes amtliches Identifikationspapier anschauen zu<br />

wollen. Entweder war er zu leichtgläubig oder er wollte es nicht so genau wissen, wer nun<br />

wirklich der neue Mieter war. Holt sollte es so recht sein. Morgen war der Tag minus<br />

zweiundzwanzig.<br />

Am nächsten Morgen fuhr Holt mit einem Taxi zum Paseo Colon. Payless Car Rental hatte<br />

offen. Von Gerry war nichts zu sehen. Der Angestellte hatte noch einen kleinen<br />

geländegängigen Suzuki und einen größeren Frontera zur Vermietung frei. Er entschied sich<br />

für das größere Auto, da er an seine Truppe dachte. Für eine Vermietung über einen Monat<br />

bekam er einen stolzen Rabatt. Sollte Paulines Vermietungspraxis nun auch in Costa Rica<br />

Einzug gehalten haben? Zurück fuhr er auf der Autopista bis nach Tabarcia durch. Die letzten<br />

Kilometer bis zur Finca legte er in der Hälfte der Zeit zurück, die der Vater benötigte. Kurze<br />

Zeit später besichtigte er noch einmal den Keller und rechnete den Materialbedarf durch. Für<br />

das Mauerwerk benötigte er ungefähr siebenhundert Blocksteine, zwei Kubikmeter Kies und<br />

sechs Sack Zement. Hinzu kamen die zwei Maueranker zur Aufnahme der Fesselringe. Weiter<br />

waren Maurerwerkzeug und vier massive Holztüren, besser noch Holztüren mit<br />

Stahlblechbeschlag notwendig.<br />

In der Ferreteria in Escazú bestellte er alles noch am gleichen Nachmittag. Auch das<br />

Werkzeug, die zwei Maueranker und die Türen konnten geliefert werden. Oberhalb der Türen<br />

wollte er je Zelle eine Lampe anbringen. Kabel und Fassungen kamen mit auf die Liste. Beim<br />

Bezahlen sah er aus dem Fenster des Büros zwei Maurer, welche gerade auf dem<br />

Betriebsgelände eine neue Wand hochzogen. Dabei kam ihn die Idee.<br />

„Sind das Ihre Leute?“, dabei zeigte er auf die beiden Männer.<br />

„Ja,“ antwortete der Kassierer, „sie gehören zur Firma.“<br />

„Kann ich die für drei Tage mieten?“<br />

Der Kassierer war ratlos. „Da müsste ich den Chef fragen.“<br />

„Na tun Sie es doch bitte.“<br />

Dieser kam persönlich und hörte sich Holts Bitte an. „Claro, Sie können die Beiden<br />

am Freitag und zum Wochenende haben. Für den Freitag bekommen wir pro Maurer zwanzig<br />

Dollar pro Tag. Ich denke mal, den gleichen Betrag sollten Sie pro Tag für das Wochenende<br />

an die Arbeiter zahlen.“<br />

Holt konnte zwar mauern, hatte aber keine Lust, alleine die Wände hochzuziehen. Die<br />

Zwei für hundertachtzig Dollar Lohn zu bekommen war allemal besser, als sich selbst<br />

Blutblasen zu schubbern.<br />

„Okay, lassen Sie die Männer bereits am Donnerstagabend das Material liefern. Ich<br />

komme so um fünf Uhr und fahre mit meinem Wagen voraus. Dann wissen sie, wo die<br />

Baustelle ist und können am Freitag selbst hinfahren.“<br />

„Wo liegt denn die Baustelle?“, wollte der Chef wissen.<br />

Holt beschrieb den Weg und nannte den letzten Ort vor der Finca.<br />

„Um Gottes willen, ein Glück, dass ich gefragt habe. Mit unserem normalen<br />

Lieferwagen kommen wir da nicht hoch. Ich kenne so etwa die Gegend. Dafür muss ich<br />

361


meinen Militärlaster nehmen, nur der schafft beladen die Steigung. Aber das kostet zwanzig<br />

Dollar Anlieferung.“<br />

Am Donnerstagabend fuhr Holt vor einem olivefarbenen Militärlaster. Neben ihm hatte einer<br />

der Maurer Platz genommen. Bei der stärksten Steigung schaute Holt immer wieder in den<br />

Rückspiegel. Mit einem dröhnenden Brummen folgte der Laster, ohne nur ein Zeichen der<br />

Schwäche zu zeigen. Holt zeigte dem Fahrer den Platz vor dem Nebengebäude. Vorsichtig<br />

rangierte der Mann den Wagen bis zum Bestimmungsort. Nach einer Stunde war alles<br />

entladen. Die zwei Maurer fuhren mit dem Laster zurück. Bevor Holt selbst vom Grundstück<br />

fuhr, sperrte er das Gittertor an der Grundstückseinfahrt mit einer Kette und zwei Schlössern<br />

ab.<br />

Bereits um sieben Uhr war Holt auf der Baustelle. Mit Kreide zeichnete er den Mauerverlauf<br />

im Keller am Fußboden an. Um acht Uhr sollten die Arbeiter kommen. Diese trudelten jedoch<br />

erst um halb neun Uhr ein. Sie entschuldigten sich und gaben an, ihr Auto wäre bloß bis zur<br />

letzten Steigung gekommen. Den letzten Kilometer seien sie zu Fuß gegangen. Holt<br />

versprach, sie jeden Morgen an der Abfahrt einzusammeln und abends auch dort wieder<br />

abzusetzen. Als seine Arbeiter am Abend die Kellen aus den Händen legten, war ein Drittel<br />

der Arbeit getan. Die Mauern ragten bereits beträchtlich in die Höhe und die Türöffnungen<br />

waren auch bereits zu erkennen. Während Holts Arbeiter mauerten, hatte er selbst das<br />

Haupthaus umgeräumt. Es bestand aus einem großen Wohnzimmer, einem ehemaligen Büro<br />

und zwei Schlafzimmern. Neben der Küche hatte es noch eine Toilette und ein Badezimmer.<br />

Nach hinten ging eine Tür zum zukünftigen Zellentrakt.<br />

Das ehemalige Büro schien als Vernehmungszimmer geeignet. Bis auf den alten<br />

Schreibtisch und zwei Stühlen, entfernte er alles andere Mobiliar. Im Haus fand er noch vier<br />

alte Matratzen und einige alte Decken, diese schienen für die Gäste gut genug zu sein. Für den<br />

Wachhabenden und den zweiten Wachmann müsste er noch zwei Extramatratzen besorgen.<br />

Der Kühlschrank funktionierte auch, nachdem er am Gartenzaun den Hauszähler entdeckt und<br />

eingeschaltet hatte. Ursprünglich gab es auf der Finca sogar einen Telefonanschluss, aber der<br />

war jetzt tot.<br />

Nachdem er alles umgeräumt und neu geordnet hatte, dachte er über die Ausstattung<br />

der Zellen nach. Eine Matratze, zwei Decken, ein Wasserbehälter, ein Blechnapf für das<br />

Essen und der Notdurftkübel waren Standardausrüstung in jedem primitiven Knast der Welt.<br />

Also fehlte der Kübel und es musste geprüft werden, ob es auch Wasser im Trakt gab. Für die<br />

Finca gab es Wasser aus einer Zisterne, die immer mit frischem Gebirgswasser gefüllt war.<br />

Das Wasser wurde durch eine Pumpe in die Hausleitung gedrückt. Einer der Maurer hatte am<br />

Morgen bereits die Pumpe eingeschaltet. Sie funktionierte. Abgesehen von einem stark<br />

leckenden Wasserhahn an der vorderen Hauswand, schien das System noch in Ordnung zu<br />

sein. Holt war mit der Haustechnik zufrieden.<br />

Am letzten Tag, dem Sonntag, zeichnete es sich ab, dass die Maurer in ihrer normalen<br />

Arbeitszeit nicht fertig würden. Holt wurde darauf hin angesprochen. Die Männer waren mit<br />

Überstunden zufrieden, welche Holt mit doppelter Bezahlung abgelten wollte. Spät abends<br />

um zehn Uhr war der Zellentrakt fertig, die Maurer auch. Holt belohnte die Männer noch mit<br />

der Mitgabe des nun nicht mehr benötigten Maurerwerkzeuges. Danach fuhr er sie bis zum<br />

Auto und lud sie noch zum späten Abendessen in Ciudad Colon ein. Dankbar nahmen sie<br />

seine Einladung an.<br />

In Costa Rica waren die Vorbereitungsarbeiten erledigt. Am Telefon erzählte Holt Pauline, er<br />

würde am übernächsten Tag mit dem Flugzeug nach David fliegen. Der Ankunftstag war der<br />

Tag minus dreizehn.<br />

362


Holt entschied sich, zwei Tage bei Pauline in Boquete zu bleiben. Noch am gleichen Tag rief<br />

er bei Batunin an und teilte diesem den Stand der Dinge mit. In Berlin war es jetzt späte<br />

Nacht. Holt hörte einmal kurz durch das Telefon den Lärm aus dem Barraum, als die<br />

Verbindungstür geöffnet wurde.<br />

„Dann werden wir am Einunddreißigsten kommen. Drei Tage benötigen wir, um uns<br />

zurechtzufinden, Operationsbeginn ist also der Vierte,“ stellte Batunin fest.<br />

Holt schaute auf den Kalender. Jetzt wurde es ernst. Er selbst hatte nur noch zwölf<br />

Tage Zeit. Zu Batunin sprach er, „Ich habe in Escazú, im Maria Alexandra ab dem Ersten auf<br />

den Namen Weinmeister Zimmer für euch reserviert. Nehmt am Flughafen ein Taxi nach<br />

Escazú, lasst euch dort bis zu Rosti Pollo fahren. Das Taxi braucht hinter dem Restaurant nur<br />

einmal um die Ecke fahren, dann seht ihr schon das Hotelschild.“<br />

„Wenn Sie nun noch die Ausrüstung rechtzeitig zur Finca bringen, kann alles wie<br />

geplant ablaufen. Wir sehen uns also am Ersten.“ Ohne eine weitere Höflichkeitsfloskel legte<br />

Batunin auf. Holt hatte sich an das merkwürdige Verhalten bereits gewöhnt.<br />

Pauline hatte auch ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden, nachdem ihr Holt den<br />

abgespeckten Stand der Dinge erzählt hatte. Er selbst tröstete sich damit, ja nicht gelogen, nur<br />

ein wenig verschwiegen zu haben. Dennoch verspürte er ihre Unruhe und die Angst, etwas<br />

könnte schief gehen. Holt nutzte die zwei Tage, um sie von seiner baldigen Abreise ins<br />

Ungewisse abzulenken.<br />

Der Flug von David nach Panama City dauerte fünfundvierzig Minuten. Nicht weit vom<br />

Regionalflughafen lag die Albrook Mall, das größte Einkaufszentrum der Stadt. Batunin hatte<br />

ihm eingeschärft, dort auf den Lieferanten zu warten. Er sollte sich genau um vierzehn Uhr<br />

neben einem großen Plastikelefanten, der im Eingangsbereich platziert ist, auf die dort<br />

stehende Bank setzen. Er sollte eine Ausgabe der Panamenian Post halten, auf der eine<br />

Zigarettenschachtel der Marke Camel liegen sollte. Aber es gab mehrere Eingänge. In allen<br />

Eingangsbereichen standen überdimensionierte Tier- und Fabelfiguren der Kinderwelt. Bis er<br />

den Elefanten am Tor D fand, vergingen zwanzig wertvolle Minuten. Genau zwei Minuten<br />

vor vierzehn Uhr nahm er erschöpft auf der zugewiesenen Bank Platz. Hunderte Menschen<br />

kamen und gingen. Im letzten Moment dachte er, die Zeitung! Es war genau vierzehn Uhr, als<br />

er die Zeitung und die Schachtel Zigaretten neben sich auf die Bank legte. Er hatte keine<br />

Camel gefunden, also legte er die Sorte Viceroy auf die Zeitung. Mit einem Mal stand ein<br />

Asiate vor ihm.<br />

„Könnten Sie mir eine Zigarette geben?“, sprach er Holt an. „Eigentlich rauche ich ja<br />

Camel.“<br />

Holt stockte der Atem. War es Zufall? Der Asiate hatte jedoch das Wort „Camel“ stark<br />

betont. „Camel gab es leider nicht, die ich allerdings bevorzuge.“ Dabei hielt er dem Mann<br />

die Schachtel hin.<br />

„Noch lieber rauche ich das Kraut von Batunin,“ antwortete dieser lachend und zog<br />

sich dabei eine Zigarette aus der Schachtel.<br />

Long Lee nannte sich der Lieferant und er hatte die Ware auf dem Parkplatz in seinem<br />

Lieferwagen. Holt folgte dem Mann, der ihm auf dem Parkplatz, an der entferntesten Ecke,<br />

einen blauen Lieferwagen zeigte.<br />

„Das ist mein Wagen, fahren Sie mit Ihrer Kiste daneben. Halten Sie an der rechten<br />

Seite, dort ist die Schiebetür. Fahren Sie mit Ihrem Auto ein wenig weiter vor, sodass die<br />

Kofferraumklappe in Höhe meiner Tür ist.“<br />

Holt schaute sich um. Der Asiate ging in Richtung des blauen Lieferwagens. Autos<br />

bogen auf den Platz ein, andere fuhren weg und zwischen den abgestellten Wagen liefen eine<br />

Menge Menschen hin und her. Alles schien unverdächtig zu sein. In einem Auto, drei Reihen<br />

363


vor dem blauen Lieferwagen saß ein Mann, der in Richtung Holt schaute. Hinter ihm war der<br />

Eingang D. Holt wurde nervös. Der Mann starrte immer noch in seine Richtung. Hinter sich<br />

hörte er das Klappern eines beladenen Einkaufwagen. Eine korpulente Frau mit einem kleinen<br />

Kind steuerte auf den vermeintlichen Beobachter zu. Der stieg aus und öffnete die<br />

Kofferklappe seines Autos. Die Frau gehörte zu dem wartenden Mann. Der Asiate saß bereits<br />

auf dem Fahrersitz seines Autos. Holt stieg in seinen Frontera und fuhr an die rechte Seite des<br />

anderen Autos. Dann stieg er aus und beim Nachbarn wieder ein.<br />

„Ich hoffe, Sie haben das Geld mit?“, fragte der Asiate.<br />

„Natürlich, darf ich die Ware erst einmal sehen?“, antwortete Holt.<br />

„Klar, habe ich erwartet, die Sachen liegen hinten.“ Er deutete mit dem Kopf zur<br />

Ladefläche und kletterte in den hinteren Raum des Autos. Holt folgte ihm. Die vier länglichen<br />

Pakete waren große Sporttaschen, auf denen Diving Sports Panama stand. Lee zog<br />

nacheinander die Reisverschlüsse auf und drückte mit der einen Hand eine schwarze<br />

Kampfuniform beiseite. Darunter lagen eine Kalaschnikow mit eingeklappter Schulterstütze,<br />

eine Pistole im Schulterhalfter, zwei Schachteln Munition, ein Kurzwellen-Sprechset,<br />

Handschellen, ein Schlagstock, Springerstiefeln, eine Skimaske und Kleinkram, den Holt<br />

nicht sofort identifizieren konnte. In den übrigen drei Taschen befand sich jeweils die gleiche<br />

Ausrüstung. Lee kletterte wieder auf den Fahrersitz und schaute durch die Frontscheibe, ob<br />

sie nicht doch durch Dritte beobachtet wurden. Er schien nichts Verdächtiges festgestellt zu<br />

haben. Er winkte den abwartenden Holt nach vorne, der sich auch setzte. Dieser reichte die<br />

viertausend Dollar in einem Umschlag dem Asiaten.<br />

„Zählen Sie nach!“<br />

„Brauch ich nicht. Ich kann Batunin blind vertrauen. Wenn der sagt, der und der ist<br />

vertrauenswürdig, dann stimmt es, und wenn es meine Schwiegermutter, dieses Miststück,<br />

wäre.“<br />

Holt zuckte mit den Achseln. „Okay, Ihre Sache. Aber ich habe da noch eine Frage.“<br />

„Und die wäre?“<br />

„Kann ich Ihnen die Ausrüstung wieder verkaufen, wen die Operation erledigt ist?“<br />

„Die Klamotten nicht, aber die Waffen und die Technik, aber nur unter zwei<br />

Bedingungen.“<br />

„Und die wären?“<br />

„Die erste Bedingung ist, Rückkauf nur zu einem Viertel des Verkaufspreises und ... „<br />

er machte eine längere Pause, „... es darf mit der Waffe kein Mensch getötet worden sein.“<br />

Holt verstand diese Vorsicht. Eine Waffe, mit der ein Mensch verwundet oder sogar<br />

getötet worden war, galt in diesen Kreisen als verbrannt. Diese Waffen wurden in der Regel<br />

nach dem negativen Einsatz sofort entsorgt. Projektilspuren waren wie Fingerabdrücke oder<br />

eine DNA.<br />

Das Umladen dauerte weniger als eine Minute. Als Holt über die Kanalbrücke in Richtung<br />

Norden fuhr, waren seit seiner Landung mit dem Flugzeug aus David nur vier Stunden<br />

vergangen. Die meiste Zeit hatte er dabei beim Autoverleih verbracht, da das Personal den<br />

bestellten Wagen nicht sofort bereitstellen konnte.<br />

In Santiago hielt er das erste Mal, um nachzutanken und um zu essen. Er hatte bereits<br />

zweihundertfünfzig Kilometer zurückgelegt, weitere vierhundert lagen noch vor ihm. Auf der<br />

halben Strecke zwischen David und Almirante war, am Abzweig nach Chiriqui Grande, eine<br />

Raststätte. Hier hielt Holt zum zweiten Mal zum Nachtanken und für das Abendessen. Als er<br />

schon beim abschließenden Kaffee saß, hielt neben seinem Wagen ein Polizeiauto. Die<br />

aussteigenden zwei Polizisten beachteten weder Holts Auto noch ihn selbst. Seit zwei<br />

Stunden war es bereits dunkel. Holt beschloss, der Straße, die hinter der Raststätte abzweigte,<br />

364


zu folgen. Aus seinen vorherigen Fahrten wusste er, dass diese an einem kleinen Ölterminal<br />

und Anlegeplatz enden musste. Vielleicht gab es dort ein Hotel?<br />

Bereits nach zehn Minuten war er am Hafen, es gab auch ein Hotel, aber es war<br />

geschlossen. Nur eine kleine Bretterbude, als Bierausschank getarnt, hatte noch geöffnet.<br />

Davor standen drei angetrunkene, wankende Gestalten. Holt hätte sich gerne zwei, drei Bier<br />

geholt, verzichtete jedoch wegen einer möglichen Konfrontation mit den Säufern auf diesen<br />

Genuss. Hinter einem Ladeschuppen fand er einen Parkplatz, wo er das Auto abstellte. An der<br />

Rückwand des Schuppens befand sich ein dreckiges Waschbecken, über dem ein rostiger und<br />

tropfender Wasserhahn prangte. Holt drehte auf, es kam sogar Wasser. Im Schein einer<br />

Lampe, die an einem großen Metallbogen hoch an der Wand hing, konnte er das Wasser in<br />

seinen Händen als klar erkennen. Er wusch sich und versuchte ein paar Schluck Wasser zu<br />

trinken. Es schmeckte nur leicht nach Chlor. Nachdem Holt auf der Ladefläche die vier<br />

Taschen zur Seite gestellt hatte, konnte er sich auch hinlegen. Unter den Kopf legte er eine<br />

Jacke und deckte sich mit einem großen Badehandtuch, welches Pauline ihm mitgegeben<br />

hatte, als ob er in einen Badeurlaub fahren würde, zu. Nach mehr als zwei Stunden schlief er<br />

endlich ein. Wach wurde er bereits kurz nach fünf Uhr. Er erfrischte sich am Wasserhahn und<br />

fuhr in Richtung Almirante weiter. Es war der Tag minus neun.<br />

*<br />

Thorsten hatte mitgeteilt, zwei Tage im Hafen von Almirante zu warten. Dort war eine<br />

Anlegestelle für die Autofähre nach den Bocas. Daneben lag eine etwa einhundert Meter<br />

lange Pier, an der höchstens zwei Frachter unter zehntausend Tonnen anlegen konnten. Für<br />

größere Schiffe mit mehr Tiefgang war der Hafen zu flach. Die größeren Bananentransporter<br />

hielten nur am Anfang der Bucht, an einem Terminal der Bananengesellschaft Chiquita. Dort<br />

lag auch ein Boot der Hafenpolizei. An der rechten Seite der Bucht waren auch die zwei<br />

Haltestellen der Wassertaxis. Neben einer solchen hatte Thorsten an einem kleineren privaten<br />

Holzsteg festgemacht. Er kannte den Besitzer des Grundstückes geschäftlich. Über dieses<br />

Grundstück gingen Schmugglerwaren von Panama nach Costa Rica und zurück. Bis auf<br />

Drogen hatte Thorsten schon fast alles geschmuggelt. Holt sollte bis zur zweiten Haltestelle<br />

der Wassertaxen fahren. Das übernächste Grundstück besaß einen kleinen Parkplatz, der bis<br />

zum Steg ging. Das Haus lag halb vor dem Steg und verbarg diesen vor neugierigen Blicken.<br />

Auf dem Parkplatz stand ein altes verrostetes Auto, an der Hauswand gelehnt ein<br />

Moped. Durch die offen stehende Haustür hatte der Hauseigentümer Holt kommen sehen und<br />

sofort das Tor geöffnet. Er beugte sich aus dem Fahrerfenster und fragte nur nach Thorsten.<br />

Der Mann zeigte mit dem Daumen über die Schulter zum Steg.<br />

Thorsten schien taub zu sein. Nachdem Holt zum dritten Mal „Thorsten“ gerufen<br />

hatte, ging die hintere Tür zum Niedergang auf und ein blonder zerzauster Frauenkopf<br />

erschien, danach ein zweiter. Holt war irritiert. Was hatten die Frauen hier zu suchen? Die<br />

Zwei waren Schwedinnen, standen unter Strom und waren halb nackt. Sie teilten den<br />

verärgerten Holt mit, Thorsten sei sturzbetrunken und läge vorne in seiner Koje im Koma.<br />

In der Tat, er machte keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Nachdem Holt ihn<br />

kräftig geschüttelt und eine Ohrfeige verpasste, öffnete er die Augen und schaute Holt<br />

verständnislos an. Nach einigen Sekunden schien er ihn zu erkennen.<br />

„Hans,“ lallte er, „du bist schon da? Ich bin ... äh ... ein wenig abgestürzt. Sag den<br />

beiden Huren, sie soll’n mir mal `nen kräftigen Kaffee machen. Bin bald wieder fitt.“<br />

Holt fand die Frauen am Oberdeck, nun ohne ihre Oberteile der Bikinis. „Könnt ihr<br />

Mal für den Suffkopf und mich einen Kaffee und eventuell auch was zu essen machen?“<br />

Die Eine maulte, aber die Andere hatte wohl auch Hunger oder Kaffeedurst. Etwas<br />

was auf Englisch wohl „Mach ich!“ heißen sollte, kam aus ihrem Munde und sie verschwand,<br />

kräftig mit dem Hintern wackelnd nach unten. Holt überlegte, konnte er die vier Taschen vor<br />

365


den Augen dieser Frauen an Bord tragen? Er beschloss, so lange zu warten bis Thorsten<br />

wieder voll ansprechbar war. Das ging überraschend schnell. Bereits nach einer Stunde war er<br />

im scheinbaren Vollbesitz seiner Kräfte. Nachdem er Holt nach dem Kaffee und ein wenig<br />

Essen gesagt hatte, er könne die Sachen vorne im Bugraum deponieren, verschwand er mit<br />

der einen Schwedin unter Deck, die andere ging zehn Minuten später nach, nachdem sie Holt<br />

ein unverkennbares Angebot gemacht und dieser es angewidert abgelehnt hatte. Am lauten<br />

Lustgestöhn eines flotten Dreiers erkannte Holt, Thorsten war wieder voll einsatzfähig.<br />

Nach einer Stunde erschien er, erfrischt und korrekt angezogen an Deck. Holt hatte<br />

sich im Schatten eines Baumes, der über Steg und Achterdeck reichte, bequem gemacht und<br />

war ein wenig eingenickt.<br />

„In einer Stunde laufen wir aus.“ Holt schreckte hoch, als er Thorsten laut sprechen<br />

hörte. „Wir kommen heute noch bis vor Manzanilla, dort ankern wir in der Bucht und dann<br />

geht es weiter bis Moin. Morgen sind wir dann gegen Abend da.“<br />

Holt hatte sich beim Grundstückseigentümer erkundigt, ob er das Auto im Verleih in<br />

Almirante abgeben könne. Für zwanzig Dollar sagte er zu. Nach einer Stunde legte die Jacht<br />

ab. Erst lief nur der Schiffsdiesel. Bis zum Binnensee benötigte das Boot mehr als eine<br />

Stunde, obwohl es mit ungefähr sechs Knoten fuhr. Erst auf dem Binnenmeer des Archipels,<br />

stellte Thorsten den Motor ab und setzte die Segel. Verwundert nahm Holt zur Kenntnis, dass<br />

die Schwedinnen geschickte Seglerinnen waren. Mit einem Mal schien das Nuttige abgefallen<br />

zu sein, ihre Augen wurden klarer und sie konnten sich mit Holt auch manierlich unterhalten.<br />

Beim Eintritt in die Karibik bäumte sich die Mare Caribicum wie ein ungezähmtes<br />

Wildpferd auf. Sie nahm Fahrt auf. Vorne am Bug spritzte weiße Gischt zu beiden Seiten der<br />

Jacht. Thorsten war ein professioneller Skipper, der mit den zweifelhaften Damen dennoch<br />

einen guten Fang gemacht hatte, soweit es sich auf das Segeln und Vögeln bezog. Holt<br />

spannte ein wenig aus und legte sich auf das Oberdeck. Nachdem er durch die Gischt<br />

vollständig durchnässt war, verzog er sich nach hinten und schaute Thorsten beim Steuern zu.<br />

Die Frauen waren wieder unter Deck verschwunden. Nach zwanzig Minuten tauchte eine bei<br />

Thorsten auf und schob diesem einen Joint in den Mund. Dieser nahm einen tiefen Zug. Sie<br />

bot auch Holt an, daran zu ziehen. Er schüttelte nur den Kopf, worauf sie bereits wieder leicht<br />

lallend antworte, er wisse nicht, was gut sei. Holt wusste es wohl.<br />

Gegen Abend ließen der Wind und auch der Seegang nach. Vor einer Stunde hatten sie<br />

die Mündung des Rio Sixaola passiert. Quer ab lag nun die Bucht von Manzanillo. Ungefähr<br />

einhundert Meter vor dem Ufer warf Thorsten den Anker. Hier fiel Holt ein, an dieser Stelle<br />

war er vor über vier Jahren mit Nelio illegal an Land gegangen.<br />

Thorsten entschied, mit den Frauen zusammen an Land zu gehen, um in der Kneipe<br />

etwas zu trinken. Dafür wollte er das Schlauchboot nutzen. Holt, der Ärger befürchtete,<br />

versuchte ihm diese Idee auszureden. Es könnte eine Polizeistreife Argwohn bekommen und<br />

sich ein wenig für dieses Trio interessieren. Automatisch würden sie dann auch auf die Jacht<br />

stoßen. Das wäre ausgesprochene Scheiße. Thorsten lachte nur.<br />

„Die Ticobullen sind doch alles geile Böcke. Wenn meine Huren mit dem Arsch<br />

wackeln oder die Beine breitmachen, verkaufen die ihre Pistolen. Glaub mir das Hans, hier<br />

brauche ich keinen Polizisten zu befürchten.“<br />

Holt, der die costa-ricanische Polizei kannte, glaubte es. Er blieb jedoch alleine an<br />

Bord zurück. Thorsten zeigte ihm, bevor er an Land ging, hinter dem Niedergang zum<br />

Motorenraum eine kleine Kajüte, die er noch nicht wahrgenommen hatte. Dort befand sich<br />

eine Koje, die könne er nehmen. Nach zwei Stunden Wartezeit ging er in seine Koje und<br />

schlief auch bald, durch das sanfte Wiegen des Bootes eingelullt, ein. Irgendwann in der<br />

Nacht hörte er im Halbschlaf Gelächter, schlief aber schnell wieder ein. Er wachte auf, als das<br />

Schaukeln des Bootes stärker wurde. Thorsten hatte den Anker gehievt und die Segel gesetzt.<br />

Das Ufer lag bereits drei Kilometer entfernt, als Holt an Deck erschien. Es war der Tag minus<br />

fünf. Morgen müssten seine Leute eintreffen.<br />

366


*<br />

Ärger gab es erst vor Limon. Über Sprechfunk hatte sich Thorsten mit Fito in Verbindung<br />

gesetzt. Holt wurde Zeuge des Gesprächs.<br />

„Hier ist die Mare Caribicum. Möchte Fito den Schiffsversorger sprechen. Hörst du<br />

mich?“<br />

„Ja, hier ist Fito.“ Das Funksprechgerät quakte und knisterte. „Du bist von der<br />

Caribicum? Wenn es so ist, gehe auf Kanal vier. Verstanden?“<br />

„Verstanden!“ Thorsten war überrascht, den Kanal wechseln zu müssen. Er schaltete<br />

vom Kanal zwei auf vier um.<br />

„Hier ist die Mare Caribicum auf Kanal vier. Was liegt an?“<br />

Es knisterte wieder laut. Dann Fitos Stimme. „Hast du zwei Frauen an Bord?“<br />

„Ja, warum fragst du?“<br />

„Schmeiß sie über Bord. Das ist für dich das Beste. Wenn Hans an Bord ist, kann er<br />

durch die Frauen Ärger bekommen.“<br />

„Was ist los? Ich kenne die Frauen nicht so genau. Haben die was ausgefressen?“<br />

„Ja, die Ochota sucht die. Sie haben einen Ami in San José besoffen gemacht, sind mit<br />

auf dessen Bude gegangen und haben ihn ausgeraubt. Der lässt aber nicht mit sich spaßen und<br />

hat zehntausend Dollar Kopfprämie ausgesetzt.“<br />

„Und woher weißt du, dass dieses die Frauen sind, die bei mir an Bord sind?“<br />

„Du bist in Moin gesehen worden. Zwei Zeugen haben die Frauen identifiziert. Du<br />

und dein Boot sind auch zur Fahndung ausgeschrieben.“<br />

„Warte, ich melde mich in einer halben Stunde wieder. Ich muss überlegen!“<br />

Das Sprechgerät knackte noch einmal laut, Fito hatte ausgeschaltet. Mit blassem<br />

Gesicht schaute Thorsten Holt an. „Scheiße, was mach ich jetzt?“<br />

„Setz die Beiden an Land ab und sage ihnen, sie sollen in Limon im Hotel warten,“<br />

antwortete Holt spontan. „Dann ziehen wir die Umladung mit Fito durch. Danach segelst du<br />

nach Portete, als ob nichts geschehen sei. Wenn man dich fragt, gibst du zu, dass die Frauen<br />

an Bord waren, du sie aber in Limon abgesetzt hast.“<br />

„Das ist die Idee. Ich werde die Beiden gleich drüben im Freihafen absetzen.“<br />

Nach wenigen Minuten erschien Thorsten mit den schlaftrunkenen und bekifften<br />

Frauen. Sie stiegen willig in das Schlauchboot, glaubten wieder zu einer Sauftour zu fahren.<br />

Bereits nach einer halben Stunde kam Thorsten allein zurück.<br />

Fito meldete sich sofort wieder auf Kanal vier. Eine halbe Stunde später tuckerte die<br />

Hafenbarkasse auf die Jacht zu. Fito stand grinsend an der Reling, sein Schwager in voller<br />

Uniform der Hafenbehörde am Ruder. Das Umladen der vier Taschen und Holts Koffer war in<br />

wenigen Minuten erledigt. Holt drückte Fito den Schein und die Flasche Rum in die Pranken.<br />

Dessen grinsen wurde noch breiter. Als Holt zur Barkasse übergestiegen war, kam Thorsten<br />

nach. An einer langen Leine hielt er das Schlauchboot.<br />

„Nehmt mich mit, ich habe noch etwas zu erledigen.“<br />

Zu viert fuhren sie am Zoll vorbei und legten im Freihafen an. Thorsten hatte es eilig,<br />

er war nach wenigen Minuten verschwunden. An Bord hatte er bereits die erste Hälfte für<br />

seine Passage erhalten. Fito hatte ein Taxi für Holt besorgt, das ihn zum Autoverleih bringen<br />

sollte. Als der Fahrer die vier Sporttaschen im Vorraum des Verleihs abstellte, konnte Holt<br />

durch das Fenster noch sehen, wie Thorsten in die gegenüberliegende Polizeiwache ging. So<br />

ein falscher Hund, der will sich die zehntausend Dollar verdienen!<br />

Holt konnte den Leihwagen in San José abgeben. Das ersparte viel Zeit. Der bei<br />

Payless Car Rental geliehene Frontera stand immer noch auf dem Parkplatz des Hotels in<br />

Escazú. Es war bereits tiefste Nacht, als Holt vor dem Maria Alexandra hielt. Er lud die<br />

Taschen um und brachte seinen Koffer aufs Zimmer. Das Mädchen an der Rezeption fragte<br />

367


nur, „Schon wieder aus Turialba zurück Herr Professor?“, was Holt mit einem freundlichen<br />

„Si“ beantwortete. Erschöpft fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf, als er erwachte, war es<br />

Tag minus vier.<br />

*<br />

Sie waren mit der Zeit, also in Richtung West geflogen. Die Maschine hatte nur geringfügig<br />

Verspätung. Im Flugzeug hatten sie keinen Kontakt miteinander gehabt, sie saßen auch in<br />

verschiedenen Reihen. Beim Wiedersehen an Bord hatten sie nur unmerklich, für Dritte nicht<br />

erkennend, mit dem Kopf genickt. Noch in Berlin vereinbarten sie, in San José getrennt mit<br />

dem Taxi zu fahren.<br />

Holt hatte im Restaurant, vor dem Hoteleingang, zu Abend gegessen und sich, bei ein<br />

paar Bier, viel Zeit gelassen. Als Erster fuhr Batunin vor, er blickte Holt nur kurz an und<br />

verschwand in der Rezeption. Noch während Batunin eincheckte, kam Greif an. Auch dieser<br />

tat, als habe er Holt noch nie gesehen. Auf Kondaschwieli musste er länger warten. Wie<br />

dieser später erzählte, hatte ihn der Taxifahrer erst nach San José, ins falsche Hotel gefahren.<br />

Bis der Irrtum aufgeklärt war, war über eine Stunde Zeit vergangen. Um elf Uhr machte das<br />

Restaurant zu. Holt ging, wie durch Zufall, gleichzeitig mit Kondaschwieli zur Rezeption und<br />

fragte bei der jungen Frau an, wo er in der Nähe noch etwas trinken könne. Sie verwies ihn an<br />

das Rampla, welches nur ungefähr einhundert Meter entfernt an der Hauptstraße lag. Holt<br />

sprach laut, sodass der noch an der Rezeption stehende Kondaschwieli und der in einer<br />

Bücherecke sitzende Greif es hören konnten. „Na, dann werde ich mal ins Rampla gehen!“<br />

Das Rampla war eine Art Diskothek für die einheimische Jugend. Aber auch einige ältere<br />

Touristen hielten sich dort auf. Zu hören war überwiegend aktuelle amerikanische Musik aus<br />

den Charts, untermischt mit lateinamerikanischer Folklore. Im hinteren Raum saßen nur ein<br />

paar knutschende Pärchen, zwei oder drei leichte Damen und eine kleinere Anzahl älterer<br />

Amerikaner. Holt hatte bereits eine viertel Stunde an einen noch freien Tisch Platz<br />

genommen, als Batunin erschien. Er fragte auf Spanisch bei Holt nach, ob am Tisch noch<br />

Platz wäre, was dieser bejahte. Eine halbe Stunde später saßen alle vier Männer zusammen<br />

am Tisch, als ob sie der Zufall dort zusammengeführt hätte. Jeder bestellte für sich und sie<br />

taten so, als ob sie sich hier gerade in der Diskothek kennengelernt hätten. Niemand der<br />

anderen Anwesenden beachtete sie, ausgenommen die jungen „Dienstleisterinnen“, welche<br />

vergeblich auf Kundschaft hofften. Aber diese saßen gegenüber, in der anderen Ecke des<br />

Raumes.<br />

„Können wir uns Morgen die örtlichen Gegebenheiten anschauen?“, begannt Batunin<br />

das Gespräch.<br />

„Ja,“ antwortete Holt, „alle vier Plätze habe ich mir bereits schon einmal angesehen.<br />

Unsere Kunden wohnen noch dort, ich kenne ihre Geflogenheiten und die Zeit, an der sie dort<br />

überwiegend anzutreffen sind.“<br />

„Hoffe nur,“ fiel Greif ein, „du hast es nicht zu auffällig gemacht.“<br />

„Nein, ich habe aus ziemlicher Entfernung observiert. Eine Entdeckung war nicht<br />

möglich, da im Auto an den Fenstern Sonnenschutzfolie angebracht ist.“<br />

„Aber doch nicht an der Frontscheibe, das ist doch wohl auch hier verboten?“, hakte<br />

Batunin nach.<br />

„Vorne war keine Folie. Ich stand so, dass niemand von vorne in das Auto sehen<br />

konnte.“ Holt goss sich Bier nach und schaute sich im Raum um. „Morgen früh, um neun Uhr<br />

herum, gehen wir getrennt aus dem Hotel. Alle gehen rechts die Straße hoch bis zum<br />

Supermarkt. Der heißt Mas o Menos. Ihr geht durch den Laden bis zum hinteren<br />

Kundenausgang am Parkplatz. Dort stehe ich mit dem Auto, es ist ein dunkelbrauner Frontera.<br />

368


Ihr könnt ihn nicht übersehen, er hat an der Windschutzscheibe den deutschen Aufkleber, Ein<br />

Herz für Kinder.<br />

Greif verzog ärgerlich das Gesicht. „Hast du keinen örtlichen Aufkleber finden<br />

können? Kannst ja gleich einen mit Wir sind Deutsche anpappen.“<br />

„Reg dich nicht so auf, der ist nur ein wenig angeheftet, geht schnell wieder ab.<br />

Außerdem gibt es hier eine Menge dieser Aufkleber, nur dass die Worte in Spanisch sind. Hab<br />

das Ding nur angemacht, damit ihr sofort das Auto findet.“<br />

Greif war nicht zufrieden zu stellen. „Glaubst du, wir sind zu blöde, einen Frontera in<br />

Scheiße zu finden?“<br />

Batunin unterband jeden weiteren Streit. „Haltet die Klappen. Nehmt noch einen<br />

Drink und verschwindet so, wie ihr gekommen seid, einzeln!“<br />

Drei Tage vor dem Start des Unternehmens schaute sich Batunin als Leader die Zugriffsorte<br />

an. Holt fing mit dem Anwesen, auf dem Brettschneider wohnte an. Danach fuhr er zu Longes<br />

Kanzlei. Weiter ging es nach Escazú, wo Schulz sich verkrochen hatte. Nach über drei<br />

Stunden Fahrt waren sie in Santa Aña angelangt. Ross Wagen stand vor dem Haus, das<br />

Schiebetor war offen. Holt hielt einhundert Meter davor an.<br />

„Soll ich am Haus vorbei fahren?“, fragte er Batunin.<br />

„Ja, setz die Sonnenbrille auf und zieh die Baseballkappe tiefer. Mich kennt er ja<br />

nicht. Bleib ruhig und fahre einfach nur vorbei,“ antwortete Batunin.<br />

Ross stand im Garten und unterhielt sich mit einem jüngeren Mann, der sich in der<br />

Toreinfahrt, auf der Motorhaube des Autos abgestützt hatte. Holt kannte den Mann nicht oder<br />

er hatte diesen in den drei Sekunden nicht erkennen können. Vierhundert Meter weiter endete<br />

die Straße. Holt wendete und schaute Batunin fragend an.<br />

„Du fährst jetzt einfach weiter. Diesmal schaust du nur geradeaus. Ich schau mir den<br />

Kerl ein wenig näher an.“ Batunin stieg aus. Durch das Fahrerfenster gewandt sprach er zu<br />

Holt. „Warte dort hinten an der Hauptstraße, vor der Kneipe. Bin in zwanzig Minuten dort,<br />

steigt jedoch nicht aus. Bis dann!“<br />

Kondaschwieli, der bislang geschwiegen hatte, rief dem neben dem fahrenden Auto<br />

gehenden Batunin zu. „Batu, soll ich nicht wenigstens mitkommen?“<br />

Batunin schüttelte den Kopf. „Stalin, du bleibst im Wagen und rührst dich nicht. Hast<br />

du mich verstanden?“<br />

Der Mann der mit „Stalin“ angesprochen wurde, antwortete nur mit einem knappen<br />

militärischen „Da“.<br />

Nach zwanzig Minuten tauchte Batunin an der Straßenecke auf und winkte mit dem<br />

Arm. Holt fuhr los und Batunin stieg ein. Der griff in den Handschuhkasten zur Straßenkarte<br />

und schaute sich diese an. Nach einiger Zeit sagte er zu sich selbst, „Ja so machen wir es!“<br />

Batunins Männer wollten, wie Holt auch, wissen, was er damit gemeint hätte.<br />

„So wie Gaspodien Holt die Route abgefahren ist, werden wir auch übermorgen<br />

zuschlagen. Wir sammeln die Ware nacheinander ein, stellen sie im Lieferauto ruhig, bis der<br />

Letzte gekascht wurde. Morgen müssen wir uns noch eine Wanne besorgen.“<br />

Holt wusste, mit Wanne war ein Polizeiauto gemeint. Das schien sich Batunin aber zu<br />

leicht vorzustellen. Selbst der korrupteste Bulle würde sein Auto nicht so leicht hergeben<br />

wollen. Wie wollte Batunin das anstellen?<br />

„Kennst du die nächste Polizeistation, die mindestens einen größeren<br />

Mannschaftswagen haben könnte?“, fragte Batunin zu Holt gewandt.<br />

„Ja, ich kenne die Polizeistation in Heredia. Dort gibt es eine Menge Autos. Zu der in<br />

Escazú kann ich nichts sagen. Der damalige Chef hatte nur ein paar kleine Reiskocher.“<br />

„Also fahr los nach Heredia. Worauf wartest du noch?“, fuhr Batunin Holt an.<br />

„Sie wollen doch nicht am hellen Tag ein Auto vor den Augen der Bullen klauen?“<br />

entfuhr es einem irritierten Holt.<br />

369


„Wer sagt klauen, wir werden uns nur eins ausleihen.“<br />

Sie fuhren nach einer knappen halben Stunde auf den Parkplatz der Polizei. Nachdem Batunin<br />

etwas in seiner Brieftasche gesucht und auch gefunden hatte, wies er die drei Männer an, im<br />

Auto zu warten. Neben dem Hinterausgang der Station standen mehrere kleine Polizeiautos<br />

und drei Wannen. Batunin verschwand im Haus. Nach etwa einer drei viertel Stunde erschien<br />

er zusammen mit einem etwas dicklichen Polizisten lachend an der Tür. Dabei hatte er um<br />

dessen Schultern seinen Arm gelegt. Holt beobachtete es fasziniert. Der Polizist ging mit<br />

Batunin zu den Wannen und zeigte auf eine. Batunin nickte, der Polizist öffnete die hintere<br />

Doppeltür und sie schauten hinein. Dann ging der Polizist wieder in die Wache, nachdem<br />

dieser von Batunin mit einem kameradschaftlichen Schlag auf die Schultern verabschiedet<br />

wurde.<br />

Batunin stieg ein, deutete zum Ausgang, „Paschlie Gaspodien!“<br />

Kondaschwieli fragte von hinten, „Sag Batu, was hast du dort mit den Bullen<br />

gemacht?“<br />

Er grinste. „Ich bin reingegangen und habe sofort nach dem Chef gefragt. Dem<br />

Wachhabenden habe ich einen Dienstausweis der Drogenfahndung unter die Nase gehalten.<br />

Der Chef hat weiche Knie bekommen als ... „<br />

Batunin erzählte seinen belustigten Teammitgliedern, wie er als moderner Hauptmann von<br />

Köpenick, den Polizisten getäuscht hatte. Dieser war bereit, im Zuge der Amtshilfe und einer<br />

Tagesentschädigung von zweihundert Dollar, eine Wanne für einen Tag der „DEA“ zur<br />

Verfügung zu stellen. Holt war sich sicher, diese Entschädigung würde niemals auf einem<br />

Konto der Polizei landen, sondern in der Tasche des Stationschefs. Ihm sollte es egal sein. Als<br />

I-Tüpfelchen hatte er zusätzlich noch vorgebeugt und dem mächtig beeindruckten Chef<br />

erklärt, wenn ihm im Laufe des Vierten eine Meldung zugehen würde, eine unbekannte<br />

Spezialeinheit der Polizei operiere in und um San José, diese zu ignorieren, er brauche auch<br />

nicht im Präsidium anrufen. Die „DEA“ würde in Absprache mit dem Polizeipräsidium<br />

vollständiges Schweigen bewahren und jegliche Aktion verleugnen, vorgeben, nichts zu<br />

wissen. Der Stationschef habe nur verständnisvoll mit dem Kopf genickt. Die Männer im<br />

Auto schlugen sich lachend auf die Schenkel. Batunin hatte während seiner gesamten<br />

Darlegung gegrinst, ihm schien diese Scharrade Spaß zu machen.<br />

Als Holt auf dem Hof der Finca den Motor abstellte, wurde ihm klar, welches Glück er<br />

mit diesen Männern hatte. Es waren eiskalte Profis. Batunin besichtigte zusammen mit Greif<br />

und Kondaschwieli zuerst das Gebäude, dann den Zellentrakt. Keiner sprach. Holt fühlte sich<br />

langsam unwohl, als sich Batunin abrupt zu ihm umdrehte.<br />

„Gut gemacht Holt!“ Zu seinen Leuten gewandt, „Da seht ihr Mal wieder, gebt einem<br />

Deutschen einen klaren Auftrag und eine Konservendose in den Knast und er fährt mit einem<br />

Panzer raus.“<br />

Seine Männer lachten und schauten ihren „Beschaffungsoffizier“ an. Selbst der<br />

pingelige Greif war auf das gemeinsame „Deutschtum“ mit Holt offensichtlich stolz.<br />

Nur bei der Besichtigung der Ausrüstung und Waffen war Batunin einmal<br />

unzufrieden.<br />

„Ich hab beim Chinesen Uzzis bestellt, wie kommt der darauf, uns Kalaschnikows<br />

unterzujubeln? Das fällt doch hier auf!“<br />

Holt konnte Batunin beruhigen. „Ich habe mit Sicherheit bei der Polizei in Costa Rica<br />

auch AK 47 gesehen. Natürlich kenne ich nicht die Ausrüstung der Spezialeinheiten, aber<br />

halte diese Art der Ausrüstung für möglich. Sollten uns Zivilisten beim Einsatz sehen, werden<br />

die mit Sicherheit sich nicht an den Kalaschnikows stören. Wenn die, schwarze Uniformen<br />

sehen, rutscht denen sowieso das Herz in die Hose.“<br />

370


Batunin schien Holts Argument einzuleuchten. „Nun Mädels, zieht euch mal die<br />

Kleidchen an. Nicht dass morgen einer kommt und sagt, das Höschen klemmt.“<br />

Batunin hatte die richtigen Größen geordert. Bei der Anprobe musste Greif nur seine<br />

Uniform mit der Kondaschwielis tauschen. Als Holt, selbst in Uniform, seine Kameraden sah,<br />

lief ihm ein Schauer über den Rücken. Im Wandspiegel des Salons sah er vier bis auf die<br />

Zähne bewaffnete Special Forces. Pauline hätte ihn nicht wieder erkannt. Um Mitternacht<br />

stand die Zeit auf Null. Der Morgen gehörte bereits zum Tag plus Eins.<br />

Holt konnte schlecht einschlafen. Nach Mitternacht stand er von seiner Matratze auf und ging<br />

nach vorne zum Garten. Im Schein des Vollmondes sah er einen Mann am Auto gelehnt<br />

rauchen. Immer wenn er an der Zigarette zog, glimmte diese an der Spitze hellrot auf. Er trat<br />

näher, der Mann wandte seinen Kopf in Holts Richtung. Es war Batunin, der ihn in einem<br />

klaren Deutsch fragte, ob er bei Vollmond auch nicht schlafen könne. Holt bejahte die Frage<br />

und schaute zum Mond hoch.<br />

“Für einen Russen sprichst du fast akzentfrei Deutsch, bist du deutscher<br />

Abstammung?”<br />

“Nein,“ antwortete Batunin, „ ich habe vor meiner Militärzeit an der Lomnossow-<br />

Universität in Moskau Germanistik studiert. Dann hat Mütterchen Russland festgestellt, dass<br />

es mich besonders liebt.”<br />

“Mütterchen Russland, du meinst wohl den KGB?”<br />

Batunin grinste. “Da.”<br />

“Wie kommt ihr Russen darauf, wenn ihr von eurem Land sprecht, von einem<br />

Mütterchen zu reden?”<br />

Batunin zog an seiner Zigarette und schaute Holt an. “Ihr Fritzen habt doch auch ein<br />

Weib als Ikone, die Germania, proper und mit einem Helm auf dem Kopf. Da ist doch die<br />

Marianne der Franzosen im Vergleich, so richtig sexy.”<br />

“Ja, ja, ein altes Weib ist euch Russen doch lieber,” lachte Holt.<br />

“Ja, Chans“ er sprach Hans mit einem Mal gedehnt russisch aus, „aber wir lieben<br />

dieses alte Weib, es ist eben unser Mütterchen.”<br />

“… und dann hat dein Mütterchen dich nach Deutschland geschickt?”<br />

“Nein, ich bin allein drauf gekommen, aber ich hatte einen fünfundvierzig Kilo<br />

schweren Grund, eine deutsche Kommilitonin von der Universität.“ Batunin machte eine<br />

kleine Pause und beendete seine Aussage. „Ich liebte sie.”<br />

“Liebte?”<br />

“Ja, sie ist tot. Sie starb zwei Jahre nach Tschernobyl.”<br />

“Oh Gott, sie war in Tschernobyl?”<br />

“Ja, sie betreute dort eine Spezialistengruppe aus der DDR, als es passierte.”<br />

Holt fühlte mit, er erinnerte sich die Berichterstattung über die verseuchten Helfer der<br />

ersten Stunden nach dem Supergau.<br />

“Mann, da hatte sie aber Pech!”<br />

“Wenn sie nicht gestorben wäre,“ antwortete Batunin, „ wäre es eine andere<br />

Dolmetscherin gewesen. Das Schicksal wollte es so.”<br />

Holt musste bei diesem Sarkasmus schlucken. “Du als alter Kommunist glaubst an das<br />

Schicksal?”<br />

“Ja Hans, wir Kommunisten machen auch gelegentlich Schicksal!”<br />

*<br />

Batunin hatte ursprünglich Holts Idee aufgegriffen, die Kunden durch Scheinangebote aus den<br />

Häusern zu locken, um sie an einem besseren Ort festnageln zu können. Davon war er<br />

abgerückt. Als Holt dies bemerkte, fragte er nach, warum er es jetzt anders machen wolle.<br />

371


„Gaspodien Holt,“ sprach er, „die vier Ratten fühlen sich nur in ihrem Bau sicher.<br />

Dieses scheinbare Sicherheitsgefühl werden wir ausnutzen. Sie denken nicht daran, dass auch<br />

irgendwer es wagt, sie mit brachialer Gewalt herauszuzerren. Wenn wir sie in die<br />

Öffentlichkeit locken, könnten sie dennoch Lunte riechen, uns entweder ins Leere oder in eine<br />

Falle laufen lassen. Der scheinbare Vorteil, dass wir die Wahl des Handlungsortes bestimmen<br />

könnten, wiegt die der Arglosigkeit unserer Kunden nicht auf.“<br />

Holt war überzeugt davon. Seitdem er die Männer in voller Montur und mit Waffen<br />

gesehen hatte, war er davon überzeugt, selbst den korrupten Präsidenten aus seinem Palais<br />

heraus zu bekommen, natürlich nur, wenn es notwendig gewesen wäre.<br />

Um sechs Uhr morgens fuhren alle im Frontera zur Polizeistation. Die Wanne stand zum<br />

Abholen außerhalb des Parkplatzes, auf der Straße, bereit. Kondaschwieli und Greif gingen in<br />

die Polizeistation. Über die Schulter hatten sie ihre Waffen gehängt, am Gürtel hingen die<br />

Pistolen und Handschellen. Über den Kopf hatten sie die Funksprechgeräte gestülpt, die alle<br />

Vier miteinander verbanden. Der Wachhabende riss wegen des martialischen Auftretens der<br />

Zwei die Augen weit auf.<br />

Kondaschwieli hielt die offene Hand hin. „Die Schlüssel bitte, Kollege!“<br />

Der „Kollege“ griff an das hinter ihm hängende Schlüsselbrett, entnahm einen<br />

Schlüsselbund und reichte es über den Tresen. Er war am Abend vorher vom Stationschef<br />

bestens instruiert worden.<br />

„Ich ... äh ... soll Ihnen vom Chef die besten Grüße ausrichten und sagen, dass wir den<br />

Tank vollgemacht haben. Unter dem Radkasten ist noch ein weiterer Ersatztank, äh ...<br />

natürlich auch voll.“<br />

Kondaschwieli konnte sich einen Scherz nicht verkneifen. „Wenn wir die Dealer<br />

festgenommen haben, bekommt ihr hier auf der Station ein Kilo Koks gratis.“<br />

Der Polizist glaubte, sich verhört zu haben, antwortete dennoch. „Aber ... aber das<br />

können wir doch nicht annehmen.“<br />

„Warum nicht, wir sagen ja nichts!“, antwortete der lachende Kondaschwieli bereits<br />

beim Hinausgehen. Er ließ einen konfusen Wachhabenden zurück.<br />

Holt fuhr alleine vor. In der Wanne saß Greif am Steuer. Batunin und Kondaschwieli hatten<br />

hinten Platz genommen. Bei San Isidro verließen sie die Autopista und fuhren noch einmal<br />

fünf Kilometer auf einer staubigen Landstraße in Richtung Berge. Nach einem weiteren<br />

Abzweig hielt Holt neben einem abgesperrten Tor. Greif fuhr mit der Wanne direkt davor.<br />

Batunin kam von hinten mit einem Bolzenschneider und zerschnitt die Kette. Danach schob er<br />

das Tor weit auf. Das Haus war zwischen den Bäumen zu sehen. Bis auf einen dösenden<br />

Hund an der Kette war kein Leben zu erkennen. Alle Mitglieder des Teams hatten vorher ihre<br />

Skimasken übergezogen. Greif fuhr schnell auf das Haus zu. Der Hund war vor Schreck<br />

aufgesprungen und vergaß zu bellen. Direkt vor der Haustür ließ Greif den Motor laut<br />

aufheulen. Batunin und Kondaschwieli standen links und rechts der Tür, Holt fünf Meter<br />

davor, die Kalaschnikow im Anschlag. Die Tür knarrte und ein verschlafener Brettschneider<br />

erschien. Mit aufgerissenen Augen schaute er in den Lauf des Sturmgewehrs. Dadurch<br />

abgelenkt nahm er die beiden anderen Eindringlinge nicht sofort wahr. Erst als sich an seine<br />

Schläfe der Lauf einer Waffe drückte und ihn ein Knie im Rücken zu Boden drückte, erkannte<br />

er die missliche Situation. Da war es zu spät. Holt hörte das Einrasten der Handschellen. Die<br />

Männer rissen Brettschneider wieder auf die Beine. Batunin herrschte den erschrockenen<br />

Mann auf Spanisch an.<br />

„Bist du alleine?“<br />

Brettschneider nickte nur. Kondaschwieli holte aus seiner Beintasche eine Rolle Tape<br />

und einen sauberen Putzlappen. Diesen steckte er Brettschneider in durch seine rechte Pranke<br />

372


aufgedrückten sperrangelweiten Mund. Mit drei Umrundungen des Schädels verklebte das<br />

Tape alle zukünftigen Bemühungen einer Lautäußerung.<br />

In der Wanne befanden sich vier einzelne Gitterzellen. Brettschneider wurde in die<br />

erste gezerrt, seine Füße mit einer Kabelschlaufe aus Plastik gefesselt und die Zellentür durch<br />

ein Schloss abgeschlossen. Holt war mit Batunin ins Haus gegangen, um nachzuschauen, was<br />

gegen Brettschneider zu verwerten sei. In einer Schublade im Wohnzimmer fanden sie<br />

Brettschneiders Papiere, eine Visa Card und weniger als einhundert Dollar. Irgendwelche<br />

Papiere, die seine Verstrickungen in kriminelle Sachen hätten belegen können, wurden nicht<br />

gefunden. Die Männer nahmen nur die Sachen aus der Schublade mit, ließen das übrige Haus<br />

jedoch unberührt.<br />

Beim Hinausgehen auf den Hof ging Holt auf den nun wütend kläffenden Hund zu.<br />

Brauny stutzte, als er Holts Stimme vernahm und er hörte auf zu bellen. Sollte er ihn nach<br />

über acht Jahren wiedererkannt haben? Holt hielt dem Hund den Handrücken unter die Nase.<br />

Dieser schnüffelte daran und fing an zu winseln. Am Abend kommt die Tica von der Arbeit,<br />

also brauchte Holt den Hund nicht ableinen, er würde nicht an der Kette verhungern.<br />

Greif hatte hinter dem Haus ein altes, aber fahrbereites Auto gefunden, zu dem der<br />

Schlüssel passte, der auf einem kleinen Tisch im Flur lag.<br />

„Wir nehmen die Rostlaube bis nach San José mit, dort lassen wir sie einfach stehen,“<br />

ordnete Batunin an. „Wenn die Tica nach Hause kommt und Brettschneider nicht vorfindet,<br />

wird sie nach dem Auto schauen. Erst morgen oder übermorgen wird sie unruhig und<br />

eventuell in der Schublade nachsehen. Es wird ihr vielleicht klar werden, dass sich ihr<br />

Liebhaber abgesetzt haben könnte, sie wird nicht nach Brettschneider durch die Polizei<br />

suchen lassen, und wenn doch, macht es auch nichts.“<br />

Die Kette wurde wieder vorgelegt, diesmal ohne Schloss. Mitten in San José, nicht<br />

weit von der Achten Straße, in der Holt einmal gewohnt hatte, parkte Kondaschwieli das<br />

Auto, ohne es abzuschließen. Dann stieg er wieder in die nachfolgende Wanne.<br />

Sie bewegten sich bereits auf der Straße, in der Longe seine Kanzlei hatte. Dies war eine<br />

Einbahnstraße. Holt hielt ein wenig weiter vorne. Die Wanne stand mit der hinteren Tür direkt<br />

vor dem Eingang zur Kanzlei. Holt war ausgestiegen und deutete auf den Eingang. Batunin,<br />

der neben Greif vorne saß, drehte den Kopf zurück und gab Kondaschwieli das Zeichen,<br />

mitzukommen. Auf der Treppe zogen sie die Sturmhauben übers Gesicht und nahmen die<br />

Waffen in Anschlag. Holt deutete nach rechts. Batunin sah eine erschrockene Empfangsdame,<br />

die sich hinter dem Tresen versteckte. Als Batunin sich zu Holt umdrehte, konnte sie den<br />

Schriftzug auf dessen Rücken lesen. Polizei!<br />

Batunin wandte sich wieder der Frau zu. „Longe?“, mehr fragte er nicht.<br />

Die Frau wies zu dem linken Gang. „Die zweite Tür Señor.“<br />

Holt stieß die Tür auf, die krachend an die Wand schlug. Hinter einem Schreibtisch<br />

sprang Longe entsetzt auf und ließ den Telefonhörer fallen.<br />

„Sie sind festgenommen!“, brüllte Batunin den vor Schreck gelähmten Mann an.<br />

„Wenn Sie zu fliehen versuchen machen wir von der Schusswaffe Gebrauch.“ Mit diesen<br />

Worten drehte er ihn um und fesselte seine Hände auf dem Rücken. Holt zog eine Kapuze aus<br />

dem Gürtel und stülpte diese über Longes Gesicht. Die zwei Mandanten, die entweder zu<br />

Longe oder dessen Kollegen wollten, erstarrten vor Schreck. Einer fingerte an seinem Telefon<br />

und wollte dieses aufklappen.<br />

„Finger weg vom Telefon, oder wir nehmen dich wegen Beihilfe gleich auch mit fest,“<br />

knurrte Batunin.<br />

Der Mann entschied sich, nicht wegen Beihilfe festgenommen zu werden und rührte<br />

sich nicht mehr. Holt hatte inzwischen einige Akten aus einem Hänger genommen und die<br />

Abdeckung des Computers entfernt. Nachdem er vier kleine Schrauben gelöst und die zwei<br />

Stecker gezogen hatte, lag die Festplatte mit im Wäschekorb bei den Akten. Batunin hatte mit<br />

373


Kondaschwieli inzwischen Longe in der Wanne verfrachtet und wie Brettschneider in Zelle<br />

Zwei gesichert. Holt stellte den Wäschekorb in die Wanne und knallte die Tür zu. Es waren<br />

genau sechs Minuten vergangen, als sich die Autos in den fließenden Verkehr mit dem<br />

Vorrecht eines Blaulichtes einfädelten. Bis auf die drei Personen in der Kanzlei und zwei<br />

Passanten, die aus dem Weg springen mussten, als Longe abgeführt wurde, hatte niemand<br />

etwas mitbekommen. Der Kunde Zwei befand sich im Gewahrsam. Nun sollte der härteste<br />

Brocken in Escazú an die Reihe kommen.<br />

Die Fahrt durch das Rondell zeigte, Schulz war im Haus. Der blaue BMW stand in der<br />

Einfahrt. Greif stellte die Wanne auf dem freien Feld neben der Schlucht ab. Neben ihm saß<br />

Batunin. Holt hatte sich hundert Meter weiter, kurz vor die Einmündung der Schleife, an den<br />

Straßenrand gestellt. Sein Herz raste. Jetzt war der entscheidende Augenblick. Nur keinen<br />

Mist machen!, dachte er.<br />

Batunin konnte die Einfahrt zum Haus gut einsehen. „Holt, bist du auf Position?“<br />

fragte er.<br />

„Ja!“ hörte er die knappe Antwort.<br />

Nach fast vierzig Minuten tat sich etwas. Die Haustür ging auf und Schulz trat zum<br />

BMW. Er stieg ein, die Schiebetür ging langsam auf und das blaue Auto erschien mit dem<br />

Heck zuerst auf der Straße, schlug links ein und fuhr vorwärts weg.<br />

„Holt, fahre zwanzig Meter hinter die Schlaufe und stelle dich quer, damit niemand<br />

vorbei kommt. Das Zielauto muss jetzt fünfzig Meter hinter dir sein. Siehst du es?“<br />

„Ja, ich sehe es, stelle mich jetzt quer!“, antwortete er.<br />

Schulz bremste hinter Holts Auto. Im Rückspiegel vermeinte er an den Lippen von Schulz<br />

lesen zu können, wie er dummes Arschloch schimpfte. Kurz hinter ihm hielt die Wanne.<br />

Batunin und Kondaschwieli sprangen heraus. Das Aufreißen der Fahrertür und das<br />

Herausreißen Schulz schienen eine Bewegung zu sein. Ein überraschter Schulz lag mit dem<br />

Bauch im Straßenstaub am Boden. Auf ihn hatte Kondaschwieli sein Knie gesetzt, während<br />

Batunin ihn nach Waffen durchsuchte und aus dessen Hosenbund eine großkalibrige Pistole<br />

zog. Nachdem die Handschellen klickten, rissen sie ihn hoch, stülpten ihm eine Kapuze über<br />

und verfrachteten den Mann in die Wanne, Zelle Drei. Die Wanne setzte rückwärts in die<br />

Straßenschleife und fuhr vorwärts zurück zum Haus, aus dem Schulz gekommen war. Holt<br />

fuhr hinterher. In den anliegenden Häusern hatte niemand die Aktion mitbekommen.<br />

Greif parkte den BMW nur hundert Meter weiter auf einem Platz an der Hauptstraße.<br />

Noch bevor er abfuhr, hatte er Holt den „Klicker“ zugeworfen, den er nur Minuten später<br />

nutzte. Das Schiebetor öffnete sich und Holt fuhr den Frontera rückwärts in den Carport.<br />

Kondaschwieli setzte die Wanne direkt vor die Toreinfahrt, um den Blick für neugierige<br />

Dritte auf das Haus zu versperren.<br />

Holt hatte bereits seine Sturmhaube übergestreift, als sich die Haustür öffnete und die<br />

Freundin von Schulz heraustrat. Mit einem Schrei wollte sie wieder in das Haus zurück, als<br />

Holt sie packte und ein Bein in die Tür stellte.<br />

„Trankilo, Policia!“, herrschte er sie an und schob sie ins Haus zurück. Hinter Holt<br />

erschien Batunin. Kondaschwieli kümmerte sich derzeit um das „Wohlergehen“ des letzten<br />

Gastes und überprüfte noch einmal die Sicherheit in der Wanne. Batunin war von Holt über<br />

die Nica instruiert worden. Diese hatte inzwischen zitternd auf einem zerschlissenen Sessel<br />

Platz genommen.<br />

„Senora,“ sprach Batunin sie ruhig auf Spanisch an, „wir haben Herrn Schulz aufgrund<br />

eines internationalen Haftbefehls festgenommen. Er wird nach Deutschland ausgeliefert. In<br />

welcher Beziehung stehen Sie zu Schulz?“<br />

„Ich bin ... bin ... seine Frau, ähhh ... , seine Freundin,“ stotterte aufgeregt die junge<br />

Frau.<br />

„Zeigen Sie mir bitte Ihre Papiere!“<br />

374


Sie tat, was man von ihr verlangte. Zögernd ging sie zu einem Schrank und zog unter einem<br />

Packen Wäsche eine Plastikhülle hervor. Daraus fingerte sie einen Pass, den sie Batunin<br />

übergab. Batunin blätterte darin.<br />

„Aha, aus Nicaragua sind Sie. Ihre Aufenthaltserlaubnis ist nur für ein Jahr befristet<br />

und läuft in zwei Monaten ab.“<br />

Die eingeschüchterte Frau schwieg.<br />

„Wenn Sie nicht in eine Strafsache mit hineingezogen werden möchten und auch nicht<br />

nach Deutschland deportiert werden wollen, würde ich Ihnen raten, mit uns zu kooperieren.<br />

Haben Sie mich verstanden?“<br />

Merklich nickte sie mit dem Kopf.<br />

Batunin lief zur Höchstform auf. „Wir werden jetzt alle Beweismittel sichern und<br />

mitnehmen. Sie haben danach drei Tage Zeit, die Wohnung aufzulösen. Sie können alles<br />

verwerten, was dann noch im Haus ist. Wie Sie das machen, ist Ihre Angelegenheit. Wenn wir<br />

in drei Tagen wiederkommen, hat das Haus leer zu sein. Ist das klar?“<br />

Wieder nickte die Frau. Sie schaute sich um, als ob sie zum ersten Mal im Hause wäre.<br />

Das alles konnte sie mitnehmen? Sie könnte die Möbel und all den Hausrat verkaufen und den<br />

Rest bei ihrer Cousine in Alajuela unterbringen. So richtig glaubte sie es noch nicht, dass<br />

Schulz nicht wiederkommen würde.<br />

„Was ist, wenn Mike wiederkommt?“<br />

„Der kommt die nächsten zehn Jahre mit Bestimmtheit nicht aus dem Gefängnis. Und<br />

dann wird er nicht mehr in Costa Rica einreisen können. Also, was machen Sie sich<br />

Gedanken. Wenn Sie das Gerümpel nicht haben wollen, werden wir es durch den Vermieter<br />

entsorgen lassen.“<br />

„Nein, nein, ich werde alles erledigen, so wie Sie es gesagt haben.“<br />

„Das würde ich Ihnen auch raten. Und rennen Sie nicht zur normalen Polizei, die<br />

könnten nachforschen, ob Sie nicht an den Schweinereien beteiligt sind. Das ginge schlecht<br />

für Sie aus. Verhöre, Ärger und Abschiebung. Sie brauchen nur beim Vermieter kündigen,<br />

wenn die Bude leer ist.“<br />

Batunin schaute sich im Haus um, während die Frau auf dem Sessel sitzen blieb und<br />

zuschaute, was die Männer trieben. Batunin wies auf den Schrank im Korridor, der zur Wand<br />

des Nachbarhauses stand.<br />

„Wissen Sie, warum der Schrank gerade dort steht?“<br />

„Nein!“<br />

„Warum lügen Sie? Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten mit uns kooperieren. Aber<br />

danach sieht es wohl nicht aus.“<br />

Die Frau bekam einen roten Kopf und sprach nun leise, „Dahinter ist eine Tür zum<br />

Nebenhaus.“<br />

Sie sagte das, was Batunin durch Holt schon erfahren hatte und was durch den hinter<br />

dem Schrank sichtbaren oberen Teil eines Türrahmens auch zu erkennen war.<br />

Greif erschien im Haus und nickte nur. Batunin packte den Schrank und schob ihn zur<br />

freien rechten Seite weg. Es ging leicht, er stand auf Rollen. Eine Tür wurde sichtbar. Batunin<br />

versuchte diese zu öffnen, aber sie war versperrt.<br />

„Wo ist der Schlüssel?“<br />

„Den hat Mike immer am Schlüsselbund.“<br />

Die verdammten Schlüssel, die hat die Ratte noch bei sich, fiel es Holt ein. Greif hörte<br />

es und verstand, er verschwand in der Eingangstür. Holt hörte die Tür der Wanne knarren.<br />

Einige Zeit später hielt er dem wartenden Batunin einen Schlüsselbund hin. Natürlich passte<br />

erst der letzte Schlüssel.<br />

„Kommen Sie mit!“, forderte er die Frau auf. „Sie müssen Zeugin sein, damit später<br />

niemand behauptet, wir hätten etwas privat mitgehen lassen.“<br />

375


Das Nebenhaus war kleiner als das, welches Schulz bewohnte. Offensichtlich hatte er<br />

es längere Zeit als Computerwerkstatt und Lager für Diebesgut genutzt. Bis auf drei<br />

Uraltcomputer, Werkzeug, einer Werkbank mit Lampe, schien das Haus leer zu sein. Holt<br />

packte im ersten Haus alle Akten in den Wäschekorb und baute die Festplatte aus dem<br />

Computer. Danach ging er ins kleinere Haus zu Batunin, während Kondaschwieli das Haus<br />

nach weiteren Verstecken überprüfte.<br />

Im größeren Gebäude konnte Holt den damals braun lackierten Safe von Schulz nicht<br />

entdecken. Kondaschwieli überprüfte den Fußboden nach ablösbaren Dielen oder solchen, die<br />

erst vor kürzerer Zeit ausgewechselt worden waren. Wo hat das Gerippe den Safe versteckt?,<br />

ärgerte sich Holt.<br />

Batunin erschien wieder in der Verbindungstür und zuckte mit den Schultern. Der Safe<br />

kann nur im kleineren Trakt sein, kam es Holt in den Sinn. In Bello Horizonte hatte Schulz<br />

den Safe unter den Dielenbrettern vor der Toilette versenkt. Holt schaute nach. In diesem<br />

Haus gab es in der kleinen Küche und im Bad keinen Bretterfußboden. Nur die Speisekammer<br />

neben der Küche schien einen Bretterfußboden zu haben. Der war jedoch mit alten Kartons<br />

und Gemüsekörben vollgestellt. Holt holte die Kartons heraus und räumte die Körbe weg. Die<br />

mit Nut und Feder versehenen Bretter lagen nur auf den Balken. Dort, wo sie zur Tür hin<br />

auflagen, war eine Kerbe im Holz, als ob jemand mit einem spitzen Gegenstand, wie einem<br />

Schraubenzieher oder einem großen Nagel dort versucht hatte, die Bretter hochzudrücken.<br />

Holt stand auf und ging zur Werkstatt zurück. Dort fand er einen größeren<br />

Schraubenzieher. Es war leicht, er steckte den Schraubenzieher in die Kerbe und drückt<br />

diesen am Griff herunter. Ungefähr sechs Dielenbretter kamen hoch. Holt fasste unter den<br />

Spalt und hob die gesamte Dielenplatte hoch, darunter erschien der gesuchte Safe, auf dem<br />

eine in geölter Putzwolle gewickelte Pistole lag. An den Konturen erkannte Batunin sofort<br />

eine Heckler & Koch.<br />

Kondaschwieli hatte ein „Beschlagnahmeformular“ angefertigt. Darin trug er achtzehn Akten,<br />

eine Festplatte, einhundertzehn Disketten, eine Pistole und einen verschlossenen Safe ein. Er<br />

ließ die Frau als „Zeugin“ unterzeichnen und unterschrieb mit Comandante Raoul Castro.<br />

Danach drückte er der Frau eine frisch angefertigte Kopie in die Hand.<br />

„Wem gehören die fünfundachtzig Dollar, die wir in der Küchenschatulle gefunden<br />

haben?“, fragte Batunin streng.<br />

„Das ist unser Haushaltsgeld, es ist von mir und von Mike.“<br />

„Na, wir werden es ausnahmsweise nicht beschlagnahmen, Sie können ja nichts dafür,<br />

dass Ihr Freund ein Verbrecher ist.“<br />

Batunin war bereits beim Hinausgehen, als ihm noch etwas einfiel. Er wandte sich<br />

noch einmal zu der erleichtert erscheinenden Frau um.<br />

„Dies hier war eine geheime Sonderaktion der Drogenfahndung, zusammen mit der<br />

Sonderkommission zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Selbst die normale Polizei<br />

weiß nichts davon, weil wir andere Verbrecher nicht warnen wollen. Wenn Sie Ihre Klappe<br />

nicht halten und alles herausposaunen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie nach<br />

Nicaragua abgeschoben werden. Aber vorher sitzen Sie wegen Vertuschung und Beihilfe drei<br />

Jahre ab. Also, ich würde an Ihrer Stelle hier alles einsacken und still und heimlich<br />

verschwinden.“ Er wollte gehen und drehte sich doch noch einmal um. „Dem Vermieter sagen<br />

Sie, Schulz musste dringend nach Deutschland zurück, weil da Mutter sehr krank ist.“<br />

Die Aktion, im nun ehemaligen Haus von Schulz, dauerte etwas über eine Stunde. Die<br />

Nachbarn hatten wohl nichts mitbekommen, beziehungsweise, sie trauten sich nicht auf die<br />

Straße. Als die Wanne, nun mit drei Gästen abfuhr, folgte Holt im Frontera. Die junge Frau<br />

schloss weisungsgemäß mit dem „Klicker“ das Tor und schaute Holt nach, bis auch der an der<br />

Ecke verschwunden war.<br />

376


Warum hat sie nicht geheult und gejammert?, fragte sich Holt. Sie hatte ihn nicht<br />

wiedererkannt, konnte sie ja auch nicht, denn er sprach nicht in ihrer Gegenwart, noch hatte<br />

sie sein Gesicht gesehen. Aber sie musste mit dem plötzlichen Abgang Schulzens gerechnet<br />

haben, so oder so. Entweder weil er einmal ihrer überdrüssig wurde oder weil Dritte Schulz<br />

abholten. Nun war Ross an der Reihe. Bisher klappte alles wie geplant.<br />

Ross Festnahme war die leichteste. Damit hatte Holt überhaupt nicht gerechnet. Als sie am<br />

Haus vorbei fuhren, hörten sie hinter dem verkleideten Tor die Stimme von Ross. Er stand im<br />

Garten und telefonierte. Batunin schaute durch einen Ritz zwischen Schiebetor und<br />

Torpfosten. Sie machten wieder den Einsatz zu dritt. Greif und Kondaschwieli standen links<br />

und rechts am Tor, Batunin zwei Meter, aber schräg versetzt davor. Da er mehr rechts stand,<br />

musste Ross das Tor ein wenig mehr öffnen, um zu sehen, wer davor stand. Die Wanne wurde<br />

direkt als Blickfang auf der anderen Straßenseite, in Front zum Tor abgestellt.<br />

Die drei Männer nahmen ihre Position ein. Batunin hämmerte mit der Faust an die Tür<br />

und trat zurück, das Sturmgewehr im Anschlag. Ross musste durch den Spalt geschaut, aber<br />

nichts gesehen haben. Die Schiebetür glitt auf und er trat, nach links schauend, halb heraus.<br />

Als er Batunin mit seiner Waffe sah, erstarrte er. Kondaschwieli hatte ihn aus dem Tor<br />

gezogen und sich hinter ihn gestellt. Als Ross die Pistole im Genick spürte, hob er die Hände.<br />

Greif zog den linken Arm, Kondaschwieli den rechten hinter den Rücken ihres Opfers. Holt,<br />

der vor der Wanne stand, konnte das Rrrrrsch beim Einrasten der Handschellen hören.<br />

Batunin trat auf Ross zu. „Auf den Boden!“<br />

Ross ging in die Knie und ließ sich nach vorne fallen. Batunin tastete ihn nach Waffen<br />

ab, er hatte nichts am Körper. Holt war in die Wanne gestiegen und hatte diese etwas<br />

zurückgefahren. Danach setzte er den Wagen direkt vor die Toreinfahrt. Niemand konnte<br />

mehr sehen, was hinter der Wanne geschah.<br />

Bevor Holt die Sicht versperrte, hatten Greif und Kondaschwieli Ross auf das<br />

Grundstück zurückgezogen. Dieser saß nun mit dem Rücken an die Abgrenzungsmauer<br />

gelehnt in einem schmalen Blumenbeet und starrte die „Polizisten“ fassungslos an.<br />

„Wer lebt hier noch?“, fragte Batunin.<br />

„Ich allein, manchmal ist auch auf längere Zeit meine Freundin aus Mexiko hier.“<br />

„Wo ist die jetzt?“<br />

„Ich glaube, sie ist zurzeit in Acapulco,“ antwortete dieser.<br />

„Schafft ihn in die Wanne und nehmt ihm die Schlüssel ab!“<br />

Nachdem Greif aus der Hosentasche von Ross ein Schlüsselbund gefischt hatte, wurde<br />

er in die Wanne verfrachtet. Gast Nummer vier befand sich im Gewahrsam.<br />

*<br />

Ross telefonierte gerade im Garten, als er vor dem Tor die Geräusche mehrerer Autos und<br />

Stimmen hörte. Das beunruhigte ihn nicht weiter, nebenan war eine kleine Autowerkstatt und<br />

ständig kamen und gingen Kunden. Gerade hatte er das Gespräch beendet und sein Handy<br />

eingeklappt, als jemand heftig am Tor klopfte. Wer zum Teufel will was von mir?, fragte er<br />

sich. Er trat auf das Tor zu und schaute durch den Spalt. Gegenüber glaubte er das Mittelteil<br />

eines großen Lieferwagens zu sehen, vor dem eine schwarz gekleidete Person stand. Mit dem<br />

rechten Zeigefinger drückte er auf den, an der Torsäule befestigten Knopf des elektrischen<br />

Türöffners. Um mehr nach links schauen zu können, öffnete er das Tor noch etwas mehr. Er<br />

trat einen halben Schritt vor und kräftige Hände packten ihn am rechten Oberarm und zogen<br />

ihn auf die Straße. Vor ihm stand ein vermummter Polizist in der schwarzen Uniform eines<br />

Sonderkommandos, der auf ihn eine Kalaschnikow richtete. Gleichzeitig verspürte er im<br />

Nacken den kalten Lauf einer Waffe. Der Mann trat vor ihn und herrschte ihn an. „Auf den<br />

Boden!“<br />

377


Die nachfolgenden Momente erlebte Ross wie durch Watte. Erst als er in das große<br />

Auto, was sich als eine Art Mannschaftswagen der Polizei herausstellte, geschleift wurde,<br />

kam er wider aus der Schreckstarre heraus. Kurz bevor ihn einer dieser Polizisten knebelte<br />

und eine Kapuze über den Kopf zog, konnte er noch die Zellen erkennen, in denen drei<br />

Personen saßen. Diese hatten auch alle Kapuzen über den Köpfen. Was geht hier vor?, dachte<br />

er. Sollte die Festnahme mit der uralten Angelegenheit in Nicaragua zu tun haben? Jetzt<br />

waren schon über zehn Jahre vergangen, da musste doch bereits Grass darüber gewachsen<br />

sein. Das war hier eine größere Aktion, welche nichts mit Nicaragua zu tun haben konnte.<br />

Vielleicht war es eine Abschiebeaktion der Immigration? Aber diese bediente sich nicht eines<br />

Spezialkommandos. Verflucht, was geht hier vor?<br />

Durch die Kapuze hörte er seine Leidensgenossen schnaufen und schwer atmen.<br />

Schwere Schritte näherten sich seiner Zelle. Jemand legte Ketten um seine Füße und die<br />

Schließgeräusche ließen ihn erahnen, dass er jetzt irgendwo angefesselt war. An eine Flucht<br />

war nicht zu denken, da sie einfach nicht möglich erschien.<br />

Nach zehn Minuten öffnete sich wieder die Tür und irgendwelche Dinge wurden<br />

eingeladen. Mindestens zwei Polizisten mussten zugestiegen sein. Das Auto setzte sich in<br />

Bewegung. An den Geräuschen, die von draußen eindrangen und der Bewegung des Autos,<br />

versuchte Ross sich zu orientieren, wohin man fuhr. Den Anfang des Weges konnte er noch<br />

rekonstruieren. Der Wagen war an der Hauptstraße links abgebogen, dann später nach rechts.<br />

Sie mussten jetzt auf der Hauptstraße in Santa Aña sein. Als sie wenig später wieder nach<br />

rechts abbogen, wusste Ross, es geht zur Autopista. Er hörte dann auch die Geräusche der<br />

Autobahn. Jetzt muss er nach rechts abbiegen! Ross glaubte immer noch, es würde nach San<br />

José gehen. Jedoch fuhren sie unter der Autobahnbrücke durch. Am Hall des Geräusches<br />

erkannte er, dass sie weiterfuhren. Nachdem die Brücke passiert war, bog der Wagen scharf<br />

links ab und fuhr eine Steigung zur Autopista herauf. Die Fahrt musste in Richtung Ciudad<br />

Colon gehen. Wo bringen die mich hin?, schoss es ihm durch den Kopf. Er kannte in dieser<br />

Gegend keine Polizeistation noch wusste er über die Existenz eines<br />

Untersuchungsgefängnisses Bescheid. Die Fahrt auf der Autopista dauerte ungefähr eine<br />

halbe Stunde. Ross hatte das Zeitgefühl verloren. Die Geräusche ebbten ab, bis das Auto<br />

scheinbar wieder nach links abbog und eine Steigung nahm. Am Brummen des Motors und<br />

dem Ruckeln erkannte er, das sie sich nun auf einem schmalen, steinigen mit Löchern<br />

übersätem Weg befinden mussten. Was wollen die mit mir in der Walachei? Trotzt aller<br />

Befürchtungen, wurden bei Ross die Instinkte eines verletzten Raubtiers wach. Hier lauerte<br />

eine unbekannte Gefahr, die er noch nicht konkret einordnen konnte.<br />

Der Wagen hielt kurz. Ross hörte das Klappern eines Metalltores. Als das Auto sich<br />

wieder in Bewegung setzte, fuhr es nach einer langen Zeit wieder in der Waagerechten,<br />

entweder über Beton oder einem breiten Kiesweg. Nach einem kleinen Bogen hielten sie an.<br />

Der Motor wurde abgestellt. Ross hörte in der einsetzenden Stille das Kreischen vieler Vögel<br />

und die Laute einer ungezügelten Natur. Dann öffnete sich die Tür. Die Polizisten sprachen<br />

Spanisch, aber nicht so wie in Costa Rica. Woher kamen diese Bullen? Nach und nach wurden<br />

scheinbar die anderen Häftlinge und irgendwelche Gegenstände herausgeholt. Dann öffnete<br />

sich bei ihm die Auto-Zellentür. Links und rechts wurde er an den Oberarmen gepackt und<br />

hochgezerrt. An den Bewegungen zu seinen Füßen bemerkte er, die Fußfesseln wurden auch<br />

entfernt. Es ging einige Schritte weiter und am Schein der warmen Sonne spürte er, dass es<br />

sich um einen offenen Hof handeln musste. Danach kamen ein Gang und ein Zimmer. Dort<br />

drückte man ihn auf eine Sitzgelegenheit herunter. Jemand zog ihm die Kapuze herunter. Ross<br />

blinzelte und schaute sich um. Er war in einer Gefängniszelle. Am Boden lag eine Matratze<br />

mit zwei Decken. Außer dem Hocker, auf dem er nun saß, befand sich eine Kanne mit<br />

Wasser, eine Schüssel und in der Ecke ein Kübel für die Notdurft. In der Wand war ein<br />

Eisenring eingelassen, an dem eine Kette hing. Der Mann, der ihm die Kapuze abgezogen<br />

378


hatte, befestigte das andere Ende der Kette an einem kleineren Eisenring, der am rechten Bein<br />

angeschlossen wurde. Dann kam der Schock, der Polizist sprach ihn auf Deutsch an.<br />

„Wenn du Lärm machst, bekommst du Prügel und beim Fluchtversuch eine Kugel.<br />

Hast du mich verstanden du Sack?“<br />

Ross war wie betäubt. Er war in der Hand der deutschen Polizei! Aber es konnte dennoch<br />

nicht ganz stimmen. Kein deutscher Polizist würde ihm mit Prügel drohen oder sogar eine<br />

Kugel anbieten. War es ein Bulle, der zufälliger Weise nur Deutsch sprach. Ja, das musste es<br />

sein, ein etwas gebildeter Ticobulle, sonnst wäre er ja auch nicht zu der Sondereinheit<br />

gekommen. Wo waren die Anderen und vor allen Dingen, wer waren sie? Als sich die<br />

Zellentür schloss, erleichterte er sich erst einmal im Kübel. Dann ging er, wie ein Tier an die<br />

Kette gelegt, in seiner Zelle auf und ab, um nachzudenken, wie er aus dieser Situation heraus<br />

kommen könnte.<br />

*<br />

Batunin ließ im Wohnzimmer Kriegsrat halten, vielmehr er ordnete an:<br />

„Zuerst werden wir einmal die Akten, Festplatten und Disketten auswerten. Außerdem<br />

müssen wir uns mit dem Inhalt des Safes beschäftigen. Dafür haben wir nicht mehr als drei<br />

Tage Zeit. Während dieser Zeit lassen wir das Pack schmoren und weich kochen. Greif und<br />

ich übernehmen doppelte Rollen, einmal als Mitglieder der Sondereinheit und zweitens als<br />

zivile Ermittler. Unsere Schützlinge dürfen nicht mitbekommen, wie viele Leute wirklich<br />

agieren. Sie Holt“, dabei wies er auf diesen, „Sie werden draußen mit den Autos am Tage ein<br />

paar Mal hin und her fahren und Krach machen. Stalin, du brüllst ein paar Kommandos, als ob<br />

du über zweihundert Mann verfügst.“ Dabei deutete er auf Kondaschwieli.<br />

„Was meinen Sie Holt, können wir in zwei Tagen noch ein Bild vom Präsidenten und<br />

eine Staatsfahne bekommen?“<br />

„Ich glaube schon.“<br />

„Sie schon wieder mit Ihrem Glauben. Ein Kommunist glaubt nicht, er weiß!“<br />

„Aber ich bin kein Kommunist!“, warf Holt verärgert ein.<br />

„Das gilt auch für Atheisten, verstanden? Also ist es möglich? Ja oder nein?“<br />

„Ja, es ist möglich,“ antwortete er verschnupft. „Wir können ja auch ein Kruzifix an<br />

die Wand hängen. Das habe ich schon desöfteren gesehen.“<br />

„Es ist mir im Grunde scheißegal, was an der Wand hängt. Unsere Kunden sollen nur<br />

glauben“, dabei betonte er das Wort, „sie seien in staatlicher Hand. Also macht es auch ein<br />

Kreuz, besser wäre jedoch das Bild vom amtierenden Präsidenten. Greif, du befragst den<br />

Langen bereits in einer Sache vorher. Wir benötigen den Code für den Safe.“<br />

„Wird gemacht. In Uniform oder bereits im Zivil?“<br />

„Im Zivil, dann kannst du den Mistkerl gleich richtig einschüchtern. Holt und<br />

Kondaschwieli bringen ihn in Uniform ins Vernehmungszimmer. Und noch etwas, ich hätte<br />

es beinahe vergessen. Ab sofort bezieht einer Posten im Zellengang, auch über Nacht. Die<br />

Schicht dauert vierundzwanzig Stunden. Nur die Vernehmer bleiben ausgeschlossen.“<br />

„Dafür bleiben doch nur Holt und ich übrig,“ maulte Kondaschwieli.<br />

„Stalin, siehst du hier mehr Leute? Also fangen wir an. Bringt den Langen ins<br />

Vernehmungszimmer, Holt bleibt als Erster dann im Gang und morgen du. Keine Widerrede,<br />

Paschlie!“<br />

Bevor sie den Trakt betraten, zogen sie sich die Sturmhauben übers Gesicht. Schulz<br />

hatte auf der Matratze gelegen und schreckte hoch, als die Männer eintraten.<br />

„Zur Vernehmung!“, rief Holt auf Spanisch, legte Schulz auf dem Rücken<br />

Handschellen an und löste die Fußfesseln. Danach stülpte er ihm eine mitgebrachte Kapuze<br />

über. Links und rechts an den Armen gehalten führten sie den ängstlichen Mann ins<br />

379


Vernehmungszimmer. Greif hatte sich umgezogen, seinen guten Anzug angelegt und eine<br />

Krawatte umgebunden. Nachdem Schulz auf dem Stuhl Platz genommen hatte, nahm<br />

Kondaschwieli Fußfesseln und Kapuze ab und schloss die Handschellen nach vorne. Während<br />

Holt sich weisungsgemäß zum Zellentrakt begab, postierte sich Kondaschwieli drohend vor<br />

der Tür.<br />

„Entschuldigen Sie bitte den fehlenden Komfort,“ begann Greif das Verhör, „wir<br />

haben die Gebäude erst vor ein paar Tagen bezogen. Alles ist noch unfertig. Aber Sie werden<br />

es schon ertragen. Später, in Deutschland haben Sie in der Untersuchungshaft dann wieder<br />

allen Komfort, der Ihnen zusteht.“<br />

Schulz war bei den deutschen Worten und beim Wort Untersuchungshaft und<br />

Deutschland zusammengezuckt.<br />

„Mein Name ist Hase, ich bin Kriminalhauptkommissar beim Bundeskriminalamt.“<br />

Greif freute sich, er war versucht gewesen zu sagen, dass er im Walde wohne, aber er tat es<br />

nicht. „Im Zuge der Amtshilfe operieren wir hier mit unseren costa-ricanischen Kollegen.<br />

Gegen Sie liegen drei Haftbefehle vor, darunter ein internationaler. Aber die wird später ein<br />

Richter verlesen. Zuerst benötigen wir die Zahlenkombination Ihres Safes.“<br />

Schulz war auf seinem Stuhl zusammengefallen und seine glasigen Augen im Gesicht<br />

kaum noch zu erkennen. Er schwieg.<br />

„Also, Sie sagen mir die Zahlen sofort, ohne Zwang oder Sie nennen sie uns nach<br />

einem ausgiebigen Waterboarding, zwanzig Minuten später. Sie können den Weg wählen,<br />

jedenfalls in einer halben Stunde habe ich die Zahlen, so oder so.“<br />

Schulz dachte nach und schien einsichtig. Leise sprach er, „Elf vor, Acht vor, Neun<br />

zurück, Zehn zurück, Sechs vor und Fünf vor.“<br />

„Na also, es geht doch. Wenn Sie weiter so gut kooperieren, sitzen Sie in vierzehn<br />

Tagen bereits im Flieger, zurück zu unser schönem Deutschland.“<br />

Nachdem man Schulz wieder abgeführt hatte, öffnete Batunin nach den Zahlen von Greif den<br />

Safe. Alle, bis auf Holt, der wütend im Gang des Zellentrakts auf einem Stuhl saß, schauten<br />

zu. Die Kombination stimmte, der Safe ließ sich öffnen. Nach der Bestandaufnahme ging er<br />

zum Zellentrakt und winkte Holt kurz vor die Tür.<br />

„Im Safe waren hundertachtzigtausend Dollar, ein Bündel Wechsel über ungefähr<br />

fünfundzwanzig Millionen Deutsche Mark, zwei Pässe, beide auf Schulz ausgestellt, jedoch<br />

mit verschiedenen Namen, und einige Dokumente, welche ich noch nicht durchgelesen habe.“<br />

„Die Dokumente sind wichtig. Bringen Sie mir diese, ich kann sie mir hier in Ruhe<br />

durchlesen und Ihnen morgen sagen, ob wir sie verwenden können.“<br />

„Gut, Greif wird Ihnen den ganzen Packen bringen. Wollen Sie was trinken oder<br />

essen? Wenn Kondaschwieli den Gefangenen Essen bringt, können Sie auch gleich etwas<br />

abbekommen.“<br />

„Danke, dass Sie auch an mich gedacht haben,“ antwortete ein immer noch<br />

verstimmter Holt.<br />

Batunin grinste wieder. „Klar, zuerst kommen die eigenen Leute dran.“<br />

Holt war froh, dass Batunin ihn zu seinen Leuten zählte, auch wenn er Teammitglied<br />

Delta, der Letzte, nicht das Letzte, war.<br />

Kondaschwieli fuhr mit Greif los, um die Wanne in Heredia abzugeben. Zurück sollten sie<br />

mit einem anderen Mietwagen kommen. Als Kondaschwieli die Wagenschlüssel abgab, hatte<br />

der gleiche Wachhabende Dienst. Der grinste den schwarzen Mann breit an und fragte nach<br />

dem versprochenen Koks.<br />

„Haben wir nicht,“ antwortete er, ebenfalls grinsend, „die festgenommenen<br />

Drecksäcke hatten nur Waffen und Geld bei sich. Waffen hast du ja selbst und das Geld war<br />

nur in Dollar. Keine Colonies für dich. Vielleicht klappt`s beim nächsten Mal.“<br />

380


„Wusste doch, dass ihr euch alles selbst unter den Nagel reißt und nicht an die armen<br />

Kollegen denkt,“ rief ihn der Wachhabende hinterher.<br />

Der Angestellte beim Autoverleih wäre am liebsten davongelaufen. Als er jedoch mitbekam,<br />

die Männer wollten nur ein Auto mieten, wurde er gelassener.<br />

„Hab Ihr nicht genug Autos in eurer Dienststelle?“, wollte er wissen.<br />

Kondaschwieli erklärte es ihm. „Morgen früh fahre ich zum Hochzeitstag mit meiner<br />

Frau nach Jako. Mein Auto hat `nen Blechschaden und mit `nem Polizeiauto fahren ist nicht<br />

erlaubt.“<br />

„Ach so“, sagte der Angestellte, „ich hätte beinahe die Rechnung für die Polizei<br />

ausgestellt.“<br />

„Was, das geht?“<br />

„Ja, für den Dienstgebrauch bei der Polizei liefern wir ständig Mietautos. Ärgerlich ist<br />

immer nur, wir bekommen unser Geld erst zwei Monate später.“<br />

„Eigentlich,“ antwortete Kondaschwieli, „ist die Fahrt nach Jako eine verdeckte<br />

Operation. Also geht sie auf Kosten der Polizei.“<br />

„Soll ich es so machen, wie immer?“<br />

„Ja, machen Sie es so wie immer,“ antwortete Kondaschwieli, der überhaupt nicht<br />

wusste, wie es immer gemacht wurde.<br />

Als sie im Mietwagen saßen, meinte Greif bloß, „Schwieli, was bist du nur für ein<br />

abgebrühter Hund. Der arme Kerl muss wahrscheinlich in zwei Monaten das Geld selbst<br />

bezahlen.“<br />

„Das glaube ich nicht. Der Sachbearbeiter in San José wird anstandslos das Geld<br />

überweisen. Meinst du, der macht sich die Mühe, zu kontrollieren, ob die Sache koscher ist?<br />

Ich glaube es nicht!“<br />

Außerhalb von Heredia zogen sie sich noch im Auto um. Vorsorglich hatten sie ihre<br />

Sporttaschen mit den Zivilsachen mitgenommen. In Ciudad Colon hielt Greif vor einer<br />

Kneipe und sie genehmigten sich ein paar Bier. Als sie zwei Stunden später auf der Finca<br />

eintrudelten, fauchte Batunin sie an.<br />

„Wo habt ihr Arschlöcher euch so lange rumgetrieben? Habt ihr vergessen, dass wir<br />

uns im Einsatz befinden?“<br />

Greif hielt es für besser, nicht darauf zu antworten, nur Kondaschwieli versuchte sich,<br />

herauszureden. „Na der Verkehr, weißt du, der ... „ Er schwieg aber sofort, als er Batunins<br />

eisernes und versteinertes Gesicht sah.<br />

Die Auswertung der eingesammelten Beweise brachten für Holt keine neuen Erkenntnisse.<br />

Aus keinem der Papiere war eine direkte Strafbarkeit, wie Anstiftung oder Beihilfe,<br />

erkennbar. Die Dokumente zeigten nur einen nicht änderbaren Sachverhalt. Holt hatte<br />

zumindest Quittungen für Bestechungs- und Schmiergelder oder auch schriftliche Hinweise<br />

zu gesetzwidrigem Verhalten erwartet, er fand nichts. Nur die Wechsel und die damit<br />

verbundenen Papiere gaben mehr her. Bereits vor 1998 versuchte Schulz, diese zu versilbern.<br />

Die Aussteller der meisten Wechsel waren in Protest gegangen, was hieß, sie waren für<br />

rechtswidrig oder belastet erklärt worden; sie konnten nicht mehr gezogen werden. Aus dem<br />

Schriftverkehr ging jedoch hervor, dass einige Versicherungen, welche die Aussteller<br />

vertraten, bereit waren, zehn Prozent des Nennwertes der Wechsel zu zahlen. Auf den ersten<br />

Blick erschien dieses Angebot widersinnig, zeigte jedoch nach einem Nachdenken die<br />

Gedankengänge der Versicherer auf. Mögliche zivilrechtliche Ansprüche „gutgläubiger“<br />

Inhaber dieser „verbrannten“ Wechsel könnten für die Versicherung weitaus teurer werden,<br />

als nur die damals angebotenen zehn Prozent. Warum hat das lange Gerippe diese Chance<br />

nicht wahrgenommen? Holt kam auf zwei Möglichkeiten. Entweder traute sich Schulz nicht<br />

nach Deutschland oder er traute auch keinen Mitwirkenden und ihm waren die zehn Prozent<br />

381


zu wenig. Holt, der Schulz nur allzu gut durchschaute, erkannte, beide Möglichkeiten<br />

zusammen hatten damals Schulz daran gehindert, die Wechsel zu Geld zu machen.<br />

Er sprach mit Batunin über die Wechsel. Dieser hörte aufmerksam zu, was Holt zu<br />

sagen hatte.<br />

„Gaspodien Holt,“ antwortete er, „gehen wir einmal davon aus, ich wäre ein<br />

gutgläubiger Erwerber dieser Wechsel, dann könnte ich doch Ansprüche auf Zahlungen<br />

haben?“<br />

„Im Prinzip ja, Sie müssten nur beweisen, beim Erwerb gutgläubig gewesen zu sein.“<br />

Wider seiner rudimentären kommunistischen Einstellung erklärte Batunin gelassen,<br />

„Ich bin immer gutgläubig und manchmal sogar leichtgläubig.“<br />

„Im deutschen Recht gibt es im BGB einen Paragrafen, der sich mit den sogenannten<br />

Guten Sitten im Rechtsverkehr beschäftigt, genau gesagt mit Treu und Glauben. Wenn man es<br />

ganz geschickt anstellt, müssten die Versicherungen auch heute noch bereit sein, zehn Prozent<br />

zu zahlen. Wir sollten es versuchen!“, erklärte Holt.<br />

Batunin sprach mehr zu sich selbst als zu Holt. „Zehn Prozent von fünfundzwanzig<br />

Millionen und dreihunderttausend Mark sind zwei Millionen fünfhundertdreißigtausend<br />

Mark. Jetzt wären es umgerechnet eine Million zweihundertfünfundsechzigtausend Euro.“<br />

Dann wandte er sich direkt zu Holt: „Wir machen es, wir zupfen das Geld!“<br />

Am letzten Abend vor den Verhören setzten sich Batunin, Greif und Holt zusammen, um die<br />

Richtung bei den Verhören festzulegen. Kondaschwieli hatte Wache im Trakt, er lag auf einer<br />

Matratze und schmökerte in alten Playboy-Magazinen.<br />

Batunin sagte, er würde den Anwalt ausquetschen und sein Hauptaugenmerk auf<br />

Anstiftung und Beihilfe bei verschiedenen Straftaten wie Bestechung und Urkundenfälschung<br />

richten. Ganz so nebenbei wolle er ihn wegen Mandantenverrates festnageln. Greif solle die<br />

Deutschen vernehmen. Zuerst den Brettschneider, danach Ross und zum Schluss Schulz. Alle<br />

Aussagen der Anderen sollten gegen den jeweilig Vernommenen eingesetzt werden. Hinzu<br />

kämen Behauptungen und Lügen. Die Vernehmungen sollten mit einem Videogerät<br />

aufgezeichnet und über die Kopfhörer für die anderen drei übertragen werden. Dazu solle<br />

noch ein Set lose und eingeschaltet auf dem Vernehmungstisch liegen.<br />

Sie waren mit der Besprechung noch nicht zu Ende, als Kondaschwieli in der Tür<br />

auftauchte. „Batu, mit Nummer Vier stimmt etwas nicht. Komm schau ihn dir mal an!“<br />

Batunin und Holt ergriffen ihre Sturmmasken und zogen sie über den Kopf. Ross lag<br />

zusammen gekrümmt auf seiner Matratze und atmete schwer. Hin und wieder stöhnte er laut.<br />

Batunin ging in die Knie und rüttelte Ross an der Schulter.<br />

„Was ist los Mann, simuliere hier nicht rum!“<br />

Ross machte die Augen auf und schaute mit weit geöffneten Pupillen Batunin an. „Mir<br />

ist so schlecht ... kotzelend ... Ihr habt mich vergiftet!“ Er krümmte sich wie ein Wurm und<br />

wandte sich vor Schmerzen.<br />

„Quatsch keinen Mist. Warum sollten wir dich vergiften? Wenn wir dich umbringen<br />

wollten, hätten wir dir eine Kugel verpasst!“<br />

Die Antwort schien Ross beruhigt zu haben. „Was war im Essen? Ich kann nichts mit<br />

Tomaten oder anderen Nachtschattengewächsen vertragen. Hab ’ne gefährliche Allergie.“<br />

Batunin drehte sich zu Kondaschwieli um, der abwartend in der Tür stand. „Beta, was<br />

hast du in den Fraß getan?“<br />

„Äh ... Kommandante, da war im Kartoffelbrei Tomatensoße und das Fleisch war in<br />

einer scharfen Soße eingelegt. ... Alles hat gut gerochen und war frisch.“<br />

„Na, da haben wir ja den Übeltäter. Musst du nun krepieren oder können wir dein<br />

erbärmliches Leben noch retten?“, wollte Batunin wissen.<br />

Ross überlegte. „Ich brauche Betaoblegaton, das ist zu Hause bei mir im<br />

Badezimmer.“<br />

382


„Da fahren wir jetzt nicht hin!“<br />

Ross wimmerte. „Wenn ich nicht meine Medizin bekomme, sterbe ich!“<br />

„Ach was, so schnell stirbt es sich nicht,“ antwortete Batunin eiskalt. Er dachte jedoch<br />

darüber nach, was es bringen würde, wenn Ross tatsächlich den Löffel abgeben würde. Er<br />

wandte sich an Holt.<br />

„Unten, im Nest habe ich eine Pharmacy gesehen. Delta, Sie fragen nach, ob sie das<br />

Zeug haben. Wie hieß es noch?“<br />

„Betaoblegaton“, hauchte Ross.<br />

Die Pharmacy hatte Nachtbereitschaft und Holt Glück, er bekam von einer<br />

griesgrämigen Apothekerin ein Fläschchen zu einem unverschämt hohen Preis. Eine Stunde<br />

später hatte sich bei Ross das Erscheinungsbild positiv geändert. Sein Gesicht nahm wieder<br />

eine normale Farbe an und die Pupillen erschienen wieder normal. Kondaschwieli, als<br />

abkommandierte Nachtwache, schaute nach Mitternacht bei Ross herein, der scheinbar fest<br />

schlief.<br />

Auch Holt machte einen Kontrollgang. Als er um die Hausecke zum Hof beim Zellentrakt<br />

ankam, sah er davor Kondaschwieli auf einem wackligen Stuhl sitzen. In seiner Hand hielt er<br />

eine angetrunkene Wodkaflasche.<br />

“Kannst du nicht schlafen, Stalin?”<br />

Kondaschwieli schreckt hoch und stiert Holt überrascht an. Woher kennt der meinen<br />

Scheiß-Spitznamen? “Jupp twoi o match! 52 Warum nennst du mich Stalin?” Er lehnte sich auf<br />

dem Stuhl zurück und trank den Rest des Wodkas.<br />

“Na, ja” Holt macht eine längere Pause. “ Joseph Wissoronowitsch!”<br />

“Das hab ich meinem Vater zu verdanken,“ antwortete Kondaschwieli ärgerlich, „er<br />

hieß Wissori mit Rufnamen. Der Sohn heißt im Russischen immer Sohn des Wissori, also auf<br />

Russisch Wissoronowitsch. Obwohl er angeblich Stalin hasste, hat er mir den Namen Josef<br />

verpasst. Keiner in unserer Familie hieß zuvor Josef.”<br />

“Vielleicht war er doch ein Anhänger von Stalin?”, fragte Holt ironisch.<br />

“Ich glaube nicht! Er hat Ihn gehasst!”<br />

“Und du?”<br />

Kondaschwieli zögerte. “Ich nicht! Was weißt du schon über Stalin? Ihr Deutschen<br />

glaubt doch, er wäre Dreck, ein kaukasisches Schwein. Aber glaube mir, Stalin war anders, er<br />

hat uns Georgier einen Platz in Russland gegeben. Den, der uns zusteht. Glaub mir, nicht alles<br />

war schlecht, was Stalin gemacht hat. Euer Hitler hatte ja wohl auch seine guten Seiten.”<br />

Wie kann ein Russe solch eine Einstellung zu Hitler haben?, dachte Holt. “Glaubst du<br />

es ehrlich?”<br />

“Glauben? Nein, ich weiß es, ich fühle es.”<br />

Holt konnte sich ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen, was Stalin trotzt des<br />

Zwielichts wahrnahm und verärgerte.<br />

“Aber Kondaschwieli, dein Stalin und unser Hitler waren aus gleichem Holz<br />

geschnitzt. Sie waren mehr oder weniger nur Verrückte, die das Schicksal nach oben spülte.<br />

Ja, Sie ….”<br />

Kondaschwieli sprang erregt vom Stuhl auf. “Pass auf, was du sagst, Stalin war nicht<br />

verrückt!”<br />

Holt empfand die unerwartete Reaktion unangenehm. “Du musst nicht gleich beleidigt<br />

sein, wenn ich deinen Zaren vom Sockel stoße. Ich habe nur eine andere Meinung darüber.”<br />

Kondaschwieli ging in Richtung Tür zum Zellentrakt. “Behalte deine beschissene<br />

Meinung für dich …” Dann knallte er die Tür zu.<br />

*<br />

383


Longe kam zum Verhör. Nachdem er von der Kapuze befreit war, schaute er sich<br />

eingeschüchtert um. In der Ecke stand in einem Ständer die Nationalfahne von Costa Rica, an<br />

der Wand hing sein Onkel, der Präsident der Republik. Er schien sich in einer Dienststelle zu<br />

befinden, die sich dem Zugriff seines Onkels entzogen hatte. Wie war dies möglich?<br />

Der Vernehmer stellte sich vor: „Mein Name ist Hugo Chavez, ich bin leitender<br />

Staatsanwalt beim Sondertribunal zur Bekämpfung der Korruption.“<br />

Longe erstarrte. Sondertribunal. Er hatte schon seit Jahren von der beabsichtigten Einrichtung<br />

eines solchen Tribunals gehört, aber immer auf die Korruption in der politischen Führung<br />

vertraut, die so etwas stets verhinderte.<br />

Der Staatsanwalt fuhr fort, „Zuerst nehmen wir Ihre persönlichen Daten auf. Danach<br />

teile ich Ihnen mit, was wir Ihnen vorwerfen und dann kommen wir zu den Einzelheiten. Zu<br />

den persönlichen Angaben müssen Sie sich äußern, wenn wir zum Vorwurf kommen, können<br />

Sie als Beschuldigter die Antwort verweigern. Wir sind ja in einem Rechtsstaat!“<br />

Batunin fühlte sich wohl in dieser Rolle, er spürte seine Macht, die er auf das vor ihm<br />

sitzende Häufchen Elend ausübte.<br />

„Sie können auch rechtsanwaltlichen Beistand verlangen. Möchten Sie, dass ich<br />

jemanden von der Notar- und Anwaltskammer hinzuziehe?“<br />

Bei Longe zogen sich die Gedärme krampfhaft zusammen. Niemand durfte erfahren,<br />

was hier los war, es wäre das Ende seiner Reputation als Notar und Neffe des Präsidenten.<br />

„Nein, ich werde alles sagen was ich weiß oder was Sie von mir wissen wollen.“<br />

Batunin grinste. „Lassen Sie es mich nur mal so sagen, uns interessieren nicht alle<br />

Schweinereien, die Sie begangen haben. Wir wollen nur über die genau Bescheid wissen, bei<br />

denen Ausländer Ihre Opfer wurden. Haben Sie mich verstanden? Wenn Sie unsere eigenen<br />

Leute betrogen haben, das will das Tribunal gar nicht wissen. Wir müssten sonnst alle<br />

Rechtsanwälte und Notare aus dem Verkehr ziehen, die Costa Rica aufzubieten hat, oder<br />

kennen Sie einen Kollegen, der nicht korrupt ist?“<br />

Longe schüttelte den Kopf und hauchte ein schwaches „Nein!“<br />

„Also fangen wir an. Ihr Name? ....“<br />

Nach drei Stunden und vierzig Minuten hatte Batunin ein unterschriebenes<br />

Geständnis, welches sich auf über fünfzig Fälle bezog, darunter auch der Fall „Holt“.<br />

Am Nachmittag war Greif mit Brettschneider an der Reihe. Die Vernehmung von Ross wurde<br />

wegen dessen Zustandes um einen Tag verschoben.<br />

Brettschneider schien erbärmlich. Greif verachtete ihn sofort und machte aus seiner<br />

Verachtung auch keinen Hehl.<br />

„Setzt dich und sperr deine Lauscher auf!“, brüllte er den unschlüssigen Brettschneider<br />

an, der noch vor dem Stuhl stand. „Ich heiße Müller, bin Kriminalhauptkommissar beim<br />

BKA. Du nennst mich stets Herr Kriminalhauptkommissar Müller, solltest du das einmal<br />

vergessen, haue ich dir eins in die Fresse. Verstanden?“<br />

„Ja!“<br />

Greifs Hand schlug klatschend ins Gesicht des erschrockenen Mannes. „Wie heiße ich,<br />

du Wurm?“<br />

„Äh ... Herr Kriminalkommissar Müller.“ Wieder bekam er eine klatschende Ohrfeige.<br />

„Du Schwachkopf, ich bin ein Hauptkommissär! Also noch einmal. Hast du mich<br />

verstanden?“<br />

„Jawohl, Herr Kriminalhauptkommissar Müller!“<br />

„So verstehen wir uns doch gleich besser.“<br />

„Ja Herr .... „<br />

Greif war mit sich zufrieden, er hatte bereits in den ersten Minuten des Verhörs den Willen<br />

des Mannes gebrochen. Holt, der am Kopfhörer alles mithörte, war mit der üblen<br />

384


Professionalität des ehemaligen Stasibullen sehr zufrieden. Er gönnte Brettschneider diese<br />

Behandlung und empfand bei den Schlägen kein Mitleid. Eigentlich war es nicht seine Natur.<br />

Bereits nach zwei Stunden kam Greif mit einem unterschriebenen Geständnis heraus.<br />

„Wenn wir so weiter machen, sind wir bereits morgen mit den Verhören fertig.“<br />

„Täusche dich nicht. Schulz ist von einem anderen Kaliber, der ist verschlagen und<br />

verlogen, Ross ebenfalls. Nur bei dem musst du anders vorgehen, Ross ist zudem noch<br />

hochintelligent,“ antwortete Holt skeptisch.<br />

„Ach, was erzählst du, ich habe bisher alle klein bekommen.“<br />

„Ja, sicherlich, aber in der DDR und nicht in einem Rechtsstaat.“<br />

„Träumer, was glaubst du, was wir hier abziehen? Ein rechtsstaatliches Verfahren?<br />

Wir üben für dich nur Selbstjustiz, das hat mit einem Rechtstaat genau so wenig zu tun, wie<br />

damals mit der DDR.“<br />

Holt war beschämt. Er, der sich stets für Rechtstaatlichkeit eingesetzt hatte, brach dieses<br />

Prinzip in erzwungener Nothilfe, da dieses verfluchte Land alles andere als ein Rechtsstaat<br />

war. Er fühlte sich mit beschmutzt.<br />

*<br />

Ross wurde durch Kondaschwieli und Holt vorgeführt. Als man ihm die Kapuze abnahm,<br />

blinzelte er mit den Augen und starrte zur Fahne, dann zu Batunin und Greif. Greif als<br />

Vernehmungsführer hatte hinter dem Tisch Platz genommen, Batunin saß seitlich auf einen<br />

separaten Stuhl.<br />

„Nehmen Sie Platz Herr Ross,“ begann Greif das Verhör, „wie darf ich Sie anreden,<br />

mit Volker oder mit Peter, dem Namen Ihres Bruders, dessen Pass Sie besitzen?“<br />

Der Einstieg saß. Ross war bei der ersten Frage gleich angeschlagen. Greif wollte auch<br />

keine spontane Antwort.<br />

„Zu Ihren Personaldaten kommen wir später, ich meine den richtigen.“ Greif schlug<br />

eine auf dem Tisch liegende Akte auf und tat so, als ob er darin lesen würde.<br />

„Mein Name ist Müller, ich bin von der Fahndungsabteilung Interpol Deutschland.<br />

Das dort,“ er wies mit den Kopf zu Batunin, „ist Kriminalassistent Cindyno aus Nicaragua.<br />

Ebenfalls Interpol.“<br />

„Erzählen Sie mir keinen Scheiß!“ Ross hatte sich aggressiv im Stuhl aufgerichtet.<br />

„Interpol hat keine eigene Fahndungsabteilung. Sie kann niemanden festnehmen, sind doch<br />

alles Sesselfurzer. Ich fresse auch einen Besen, wenn Sie Müller heißen.“<br />

„Na Sie Klugscheißer, dann sagen Sie mir doch, von welcher Firma ich komme und<br />

wie ich heiße?“, knurrte ein gereizter Greif sein Gegenüber an.<br />

„Sie sind ein Bulle aus Deutschland, entweder vom BKA oder LKA Hamburg.“<br />

„Was Sie nicht alles wissen. Es spielt überhaupt keine Rolle, woher ich komme. Ich<br />

hab Sie an den Eiern gepackt und wenn Sie nicht kooperieren, drücke ich kräftig zu.“<br />

„Sagte ich, ich will nicht kooperieren? Sie dürfen mich eben nicht für dümmer halten,<br />

als es die Polizei erlaubt.“<br />

„Na, wenn es nach meinen Kollegen hier im Lande geht, dürften Sie eine Portion<br />

dümmer sein. Also fangen wir an.“<br />

Greif war missgelaunt. Holt hatte Recht, dieses Stück Scheiße war nicht zu<br />

unterschätzen. Egal was er denkt,, ich bleibe bei meiner Vernehmungstaktik.<br />

„Gegen Sie liegen zwei Haftbefehle vor, ein internationaler aus Nicaragua und einer<br />

aus Deutschland. In beiden steht als Haftgrund versuchter Mord, einmal in Tateinheit mit<br />

unerlaubtem Waffenbesitz, Urkundenfälschung und versuchter Entführung. Beim anderen ist<br />

er der alleinige Haftgrund. Fangen wir mit dem Letzteren an, bei dem ein Deutscher Opfer<br />

werden sollte.“<br />

385


Ross staunte nur. Er wusste über die Existenz eines Haftbefehls bezüglich der<br />

Ereignisse in Massaya, Nicaragua, aber das ein zweiter vorlag, war ihm neu.<br />

Greif schaute in die Akte. „Sie werden beschuldigt, in der Zeit um den dritten März<br />

2003 herum den deutschen Staatsbürger Hans Holt ermorden zu wollen. Sie versuchten<br />

ebenfalls, den gleichen deutschen Staatsbürger anzustiften, Michael Andreas Martin Schulz<br />

zu ermorden. Nachdem Sie sich am Eigentum vom Schulz bereichert hätten, oder auch davor,<br />

wollten Sie Holt gemeinsam mit einem costa-ricanischen Staatsbürger umbringen.“<br />

„Das ist doch Unsinn. Wer hat so einen Quatsch behauptet? Der Holt war mein<br />

Freund. Damals habe ich ihm geholfen, sein Eigentum von Schulz zurück zu bekommen, was<br />

dieser ihm geklaut hatte. Es hat zwar nicht geklappt, aber ich habe doch nicht versucht<br />

jemanden umzubringen,“ empörte sich Ross.<br />

„Dann hat Holt sich wohl alles aus den Fingern gesogen?“<br />

„Was, der Holt hat gegen mich Anzeige erstattet?“ Ungläubig schaute er Greif an.<br />

„Er hat ausgesagt, damals hätten Sie eines Nachts mit einem Lopez telefoniert, und<br />

mit diesem vereinbart, mit Schulz auch Holt zu beseitigen. Sie wollten die Leichen den<br />

Krokodilen zum Fraß vorwerfen. Streiten Sie das ab?“<br />

„Ich kenne gar keinen Lopez. Wer soll das sein?“<br />

„Macht nichts, streiten Sie ruhig alles ab. Wir haben Lopez hier im Bau. Mal sehen, ob<br />

er bei der Gegenüberstellung auch vorgibt, Sie nicht zu kennen.“<br />

„Was, ich hab ihn doch noch am Sonnabend gesehen und ....“, Ross biss sich auf die<br />

Zunge. Er hatte sich verquatscht!<br />

Batunin schaltete sich ein. „Uns interessiert nicht, was 1993 in Nicaragua geschah.<br />

Wir wollen Ihnen auch nicht unbedingt einen Strick daraus drehen. Selbst das kleine<br />

Würstchen Lopez ist uns egal. Was wir jedoch wissen wollen ist, auf welchem Wege Sie<br />

Drogen in die USA gebracht haben, ob eine gewisse Stewardess Mary Ihre alleinige<br />

Komplizin war und welche anderen Wege es noch gibt? So nebenbei erzählen Sie uns auch<br />

noch die Geschichte mit Holt, denn da ist ein weiterer amerikanischer Staatsbürger mit<br />

involviert.“<br />

Ross wurde merklich blass. „Sie sind nicht vom BKA, Sie sind von der<br />

amerikanischen Drogenfahndung oder vom FBI!“<br />

„Ein helles Kerlchen sind Sie. Reden wir mal Tacheles: Entweder Sie packen aus und<br />

kooperieren oder wir hängen Ihnen zwei Mordversuche an und übergeben Sie entweder den<br />

Deutschen oder den Nicaraguanern. Haben wir uns verstanden Freundchen?“<br />

Ross glaubte nun, seine Gegner am anderen Ende des Tisches zu kennen. Was<br />

erzählten die für einen Quatsch. Die Sache mit Mary war nicht organisiert, sie hatte nur<br />

sporadisch Koks nach Huston gebracht und in umgekehrter Richtung ein paar Computerteile.<br />

Aber mit den paranoiden Amis war nicht zu spaßen, er musste Ihnen etwas zum Fraß<br />

vorwerfen und wenn es seine ehemalige Geliebte wäre.<br />

„Zuerst erzählen Sie uns etwas über die Angelegenheit mit Holt. Wollten Sie diesen<br />

beseitigen oder nicht?“, fragte Greif.<br />

„Na ja, der Lopez hat in dieser Nacht vielleicht den Vorschlag gemacht, aber es war<br />

sicherlich nicht ernst gemeint. Wir waren ja besoffen. Was der Holt gehört haben will, mag ja<br />

zutreffend sein. Haben Sie nicht vielleicht auch einmal zu Ihrer Schwiegermutter gesagt, Ich<br />

bringe dich um!, ohne es ernst zu meinen?“<br />

Greif grinste. „Ich habe es nicht nur gesagt, ich habe das Aas wirklich umgebracht!“<br />

Ross schluckte und schaute in die eiskalten Augen Greifs. Machte der Kerl nur Spaß<br />

oder war es die Wahrheit?, ging es durch seinen Kopf. Ihm war es zuzutrauen.<br />

„Also, Sie bleiben dabei, keine ernsthaften Tötungsabsichten gegen Holt gehabt zu<br />

haben?“, nahm Batunin wieder den Faden auf.<br />

„Ja,“ antwortete Ross klar und deutlich.<br />

386


„Gut, dann machen wir für heute Schluss. Morgen reden wir über Ihren Drogenhandel.<br />

Nutzen Sie die Zeit um sich über die Konsequenzen klar zu werden, falls Sie uns<br />

verschaukeln wollen.“<br />

Zu Holt gewandt, der die ganze Zeit mit heruntergezogener Sturmhaube vor der Tür<br />

stand, sprach er in Spanisch, „Führen Sie den Untersuchungsgefangenen ab!“<br />

Holt klopfte an die Tür, Kondaschwieli trat ein. Dieser zog Ross eine Kapuze über den<br />

Kopf und brachte ihn zurück in die Zelle. Nachdem sie nur noch alleine zu dritt waren,<br />

entfernte er seine Sturmhaube. Batunin schaute in ein verschwitztes, ärgerliches Gesicht.<br />

„Ich glaube Holt,“ begann Batunin, „dem Ross können wir zu keinem Geständnis<br />

bewegen, Sie irgendwann einmal ermorden zu wollen. Morgen oder übermorgen befragen wir<br />

ihn, nur pro forma, noch einmal über Nicaragua und Huston. Der Kerl ist zwar kein<br />

Unschuldslamm, aber ihn hier festzunageln, geht wohl nicht. Ob die Nicos den nach all den<br />

Jahren noch haben wollen, wage ich zu bezweifeln. Denken Sie darüber nach, was wir mit<br />

ihm machen sollen? Vielleicht schmeißen wir ihn in eine tiefe Schlucht?“<br />

Beim Hinausgehen dachte Holt noch, Meint Batunin wirklich, wie er es eben mit der<br />

Schlucht gesagt hatte?<br />

*<br />

Vor der nächsten Vernehmung besprachen alle drei nochmals das Vorgehen. Holt schlug vor,<br />

dass Batunin die Befragung eröffnen sollte und Greif diese dann später weiterführt. Greif<br />

sollte zudem die Kopfhörer der Sprechanlage aufsetzen. Holt wollte vom anderen Zimmer<br />

mithören und ad hoc ihn anweisen, zielgerichtete Fragen zu stellen oder auf Lügen zu<br />

reagieren.<br />

Kondaschwieli und Holt, in den schwarzen Uniformen mit Sturmhauben, holten<br />

Schulz aus seiner Zelle. Gleich zu Anfang brüllte Kondaschwieli Schulz in Deutsch an.<br />

„Mitkommen! Na, beweg deinen Arsch ein wenig schneller. Soll ich dir Beine<br />

machen?“ Dabei stieß er den taumelnden, blinden Schulz vor sich her, zog ihn nur dann in<br />

eine bestimmte Richtung, wenn der unmittelbar gegen eine Wand zu laufen schien.<br />

Schulz war erschrocken. Der große Bulle sprach auch Deutsch! Nachdem man ihm die<br />

Kapuze abzog, erkannte er Hase, den Bullen vom BKA. Neben dem Tisch saß ein weiterer<br />

Mann, von dem für Schulz eine nicht bestimmbare, tödliche Gefahr ausging. Hase hatte auf<br />

seinem Schädel ein Kopfhörer mit Mikrofon. Mit wem ist der Bulle verdrahtet? Dieses Ding<br />

reicht nur fünfhundert Meter. Der andere muss auch hier in der Dienststelle sein, schoss es<br />

Schulz durch den Kopf.<br />

Greif klopfte am Mikrofon des Kassettenrekorders und rückte eine Akte zurecht.<br />

„Schulz, gegen dich liegen insgesamt vier Haftbefehle vor. Du wirst wegen<br />

verschiedener Straftaten in Deutschland, Spanien und Panama gesucht. Aufgrund des<br />

internationalen Haftbefehls, der nun auch in Costa Rica vollstreckt werden kann, konnten wir<br />

dich festnehmen. Die Regierung von Costa Rica hat eine erneute Vernehmung, im Beisein<br />

eines Beamten der Ochota, zur Bedingung für deine Auslieferung nach Deutschland gestellt.<br />

Anwesend ist daher Señor Augusto Niemez, Abteilungsleiter für Ausländerkriminalität.“<br />

Schulz machte den verzweifelten Versuch eines Widerstandes. „Ohne meinen Anwalt<br />

sage ich gar nichts.“<br />

Greif lachte. „Wenn du Marco Longe meinst, dann kann er ja gleich neben dir Platz<br />

nehmen, er sitzt hier auch ein. Oder kennst du noch einen anderen Anwalt, den du geschmiert<br />

hast? Den könnten wir dann auch gleich einbuchten.“<br />

Schulz zog es vor, erst einmal nichts zu sagen.<br />

„Du hast so viel Dreck am Stecken, dass wir hier noch in zwei Monaten sitzen<br />

würden, wenn wir das alles zu Protokoll nehmen. Ich habe Anweisung aus Deutschland, nur<br />

in zwei Dingen Klarheit zu verschaffen. Diese sind ... „ Greif blätterte in der Akte, „ ... ja hier,<br />

387


... die Wechselgeschichte in Deutschland und ... der versuchte Mord, die Unterschlagung und<br />

die Bestechung von Staatsbediensteten in Costa Rica. ... Mann o Mann, hast ja ganz schöne<br />

Dinger abgezogen, wie ich es so sehe. Das reicht für fünfzehn Jahre Knast. Also fangen wir<br />

mal an.“<br />

Schulz war das Herz in die Hosentasche gerutscht und er wurde von einem starken<br />

Harndrang gepeinigt.<br />

„Der Richtigkeit halber zuerst deine persönlichen Daten, dann zu den Vorwürfen. Ich<br />

frage und du antwortest, aber der Wahrheit gemäß. Solltest du anfangen zu lügen, geht mein<br />

costa-ricanischer Kollege mal schnell raus, eine Zigarette rauchen und wir beide tanzen dann<br />

eine Runde Tango. Ich hoffe, du kannst den Tanz? Hast du mich verstanden?“<br />

Schulz ahnte, was ihm blühte, sollte er anfangen zu lügen. Aber wenn er die Wahrheit<br />

sagte, käme er nie wieder aus dem Knast heraus. Was mache ich nur?, dachte er verzweifelt<br />

nach. Seine Hände und Beine fingen an zu zittern, als er an das Gefängnis in Ulm dachte.<br />

Damals war er von einem fetten Schläger in der Haft missbraucht worden.<br />

„Dein vollständiger Name und deine Alias?“<br />

„Ich heiße Michael Andreas Martin Schulz. Ich weiß nicht, wer Alias ist?“<br />

Greif schaute Schulz prüfend an. War der Kerl so blöd oder tat er nur so? „Ein Alias ist ein<br />

Spitzname, Künstler- oder Tarnname. Hast du so einen?“<br />

„Nein!“<br />

Greif schaute in die Akte. „Und was ist mit Andreas Martin oder Martin Michael?“<br />

„Aber das sind doch meine Vornamen,“ stotterte Schulz.<br />

„Wenn sie in einer falschen Reihenfolge oder ohne Familiennamen genannt werden,<br />

handelt es sich um Verfälschungen nach dem Namensrecht. Dadurch wird bewusst verhindert,<br />

dem Namen eine bestimmte Person zuzuordnen. Das ist Betrug und der Stummelname ist ein<br />

Alias. Also weiter. Wann wurdest du und wo geboren?“<br />

„Mein Geburtstag ist der 18. Juni 1962 und ich wurde in Ulm geboren.“<br />

Greif konnte sich in der nächsten Stunde davon überzeugen, Schulz hielt sich bislang<br />

an die Wahrheit. Die Angaben von Holt stimmten mit denen von ihm überein. Batunin hatte<br />

zu all dem geschwiegen und machte sich Aufzeichnungen.<br />

„So, jetzt zu der Sache, Anfang der neunziger Jahre in Deutschland,“ begann Greif den<br />

zweiten Teil des Verhörs. „Dir wird durch die Staatsanwaltschaft Ulm vorgeworfen, in<br />

Gemeinschaft mit drei weiteren Tätern, schweren Betruges, Urkundenfälschung,<br />

Falschbeurkundung und Unterschlagung begangen zu haben. Ist dieser Vorwurf zutreffend?“<br />

Schulz wand sich wie ein Wurm am Angelhaken, dann antwortete er, fast flüsternd.<br />

„Ja, teilweise, aber ich ... „<br />

Nach drei Stunden war für Greif, Batunin und Holt der Sachverhalt klar. Schulz hatte den<br />

Tatvorwurf generell nicht bestritten, jedoch versucht, die meiste Schuld seinen Mittätern<br />

unterzuschieben. Seinen Tatbeitrag versuchte er kleinzureden, aber nach gezielten Einwürfen<br />

durch Greif, jedes Mal in voller Höhe endlich zugegeben. Ziel der Vernehmung war jedoch<br />

nicht das volle Geständnis, sondern zu erfahren, inwieweit Schulz bereits Kontakte geknüpft<br />

hatte, Lösegeld oder eine Rückbeschaffungsbelohnung für die Wechsel herauszuschlagen.<br />

Das Ergebnis war überraschend und voll zufriedenstellend. Er hatte drei konkrete Angebote<br />

erhalten, zwei von den Versicherungsträgern der Geschädigten und eines von jemandem, der<br />

vermutlich selbst Dreck am Stecken hatte und die Angelegenheit durch Lösegeld aus der Welt<br />

schaffen wollte. Batunin schrieb die Namen und Daten mit, die Schulz bereitwillig angab.<br />

Greif legte den Kopfhörer und seinen Füllfederhalter ab. „Wir machen jetzt<br />

Mittagspause, in zwei Stunden geht es weiter, dann wird dich der Kollege von der Ochota<br />

vernehmen zum Vorwurf des versuchten Mordes und den anderen Sachen, die du hier in<br />

Costa Rica abgezogen hast.“<br />

388


In der Mittagspause werteten die Drei die Vernehmung aus. Das Ergebnis reichte für<br />

die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland aus, um Schulz auf Jahre hinter Gitter zu<br />

bringen und für das Team Batunin, möglicherweise an das von den Versicherungen<br />

ausgelobte Geld zu kommen. Die Vernehmung der Dinge aus Costa Rica sollten nur dazu<br />

dienen, dass für Schulz hier der Boden zu heiß wurde und die restliche Klarheit für Holt, wie<br />

damals alles abgelaufen war. Dafür konnte er sich aber nichts kaufen.<br />

Nach Auskunft Kondaschwielis rührte Schulz sein Mittagessen nicht an, da er das Frühstück<br />

erbrach. Der Mann schien fertig zu sein. Als er in das Vernehmungszimmer geschoben wurde,<br />

machte er in der Tat einen erbärmlichen Eindruck. Nun saß Batunin auf dem Stuhl des<br />

amtierenden Vernehmers, Greif etwas abseits an der Tür.<br />

„Kommen wir zu den Ereignissen aus den Jahren 1998 bis 2001 in Costa Rica. Es geht<br />

in dieser Angelegenheit um diverse Straftaten gegen den deutschen Staatsbürger Hans Holt.<br />

Möchten Sie ein freiwilliges Geständnis ablegen?“ Batunin hatte mit bedacht die<br />

Höflichkeitsform „Sie“ beibehalten um sich positiv von Greif abzuheben.<br />

Schulz sackte in sich zusammen, sein blasses Gesicht wurde leicht grün. Batunin<br />

befürchtete schon, Schulz müsste wieder kotzen.<br />

„Wenn ich das alles zugebe, bleibt es nicht bei fünfzehn Jahre,“ keuchte er.<br />

„Aber das Gericht würdigt Ihre freiwillige Aussage vielleicht als strafmildernd. Sie<br />

sollten jeden Strohhalm ergreifen, den wir Ihnen reichen.“<br />

Schulz schwieg einen Moment, dann fing er stotternd an, sich erleichternd von der<br />

Seele zu reden. Holt, der diesmal als vermummte Wache innen vor der Tür stand, konnte es<br />

nicht glauben. Dieses verschlagene, rücksichtslose Stück wimmerte wie ein kleines Kind,<br />

welches sich unter Tränen dazu durchrang, seiner Mutter zu erzählen, er habe die Hauskatze<br />

ermordet.<br />

Alles das, was sich Pauline und Holt zusammengereimt hatten, was Dritte bereits<br />

bestätigten und aus den gefundenen Unterlagen andeutungsweise ersichtlich war, traf zu.<br />

Schulz hatte zusammen mit Longe, den Plan ausgearbeitet, dessen Ursprungsidee einmal von<br />

Brettschneider gekommen war. Ross und all die anderen Ganoven, hin bis Alvaro, machten<br />

nur wegen des Geldes mit. Nur in einem Punkt blieb Schulz unklar, er gab nicht zu,<br />

Brettschneider angestiftet zu haben, Holt zu ermorden. Er gab an, Brettschneider müsse aus<br />

eigenem Antrieb so etwas vorgehabt haben. Batunin hatte mehrmals auf diesen Punkt<br />

eindringlich hingewiesen. Schulz blieb jedoch bei seiner Version.<br />

„Delta, holen Sie zur Gegenüberstellung den Untersuchungsgefangenen<br />

Brettschneider!“ Holt ging zum Trakt. Zusammen mit Kondaschwieli brachten sie einen vor<br />

Angst schlotternden Brettschneider ins Vernehmungszimmer. Als Holt ihm die Kapuze vom<br />

Kopf zog, erstarrte er, wie vom Blitz getroffen. Er glotzte Schulz mit hervor getretenen Augen<br />

an.<br />

„Kennen Sie diesen Mann?“, fuhr Batunin Brettschneider an.<br />

„Ja, es ist Mike Schulz.“<br />

„Nun, dann sagen Sie einmal, wer hat 2001 die Ermordung von Hans Holt angeordnet,<br />

beziehungsweise angeregt?“<br />

„Das war er!“ Dabei zeigte er mit zitternden Fingern auf Schulz, der beinahe vom<br />

Stuhl gefallen wäre, wenn Greif ihn nicht rechtzeitig aufgefangen hätte.<br />

„Delta, führen Sie den Mann wieder ab!“ Danach wartete er, bis sich Holt wieder vor<br />

die Tür stellte.<br />

„Bleiben Sie bei Ihrer Version, Sie hätten mit den zwei Mordanschlägen auf Holt und<br />

seine Freundin nichts zu tun?“<br />

„Ich ... ich ... habe doch nur gesagt, er soll die Beiden einschüchtern.“<br />

Bei Holt brannten die Sicherungen durch. Mit einem Satz war er bei Schulz und riss<br />

diesen vom Stuhl hoch. „Du verlogene Sau, ich schlage dir den Schädel ein!“<br />

389


Schulz kam die deutsche Stimme bekannt vor. Bevor er sich darüber klar wurde, wer<br />

dieser hysterische Mann war, hatte sich dieser die Sturmmaske vom Kopf gezogen. Ein von<br />

Wut verzerrtes Gesicht schaute ihn in einer schaurigen Art eindringlich und blutrünstig an.<br />

Holt!!! Schulz schwanden die Sinne, seine Knie gaben nach, zwischen den Beinen bildete sich<br />

ein feuchter, immer größer werdender Fleck. Holt ließ den Bastard zu Boden fallen, dann<br />

schaute er von oben verächtlich auf den Haufen Dreck. Greif ging zur Küche und kam mit<br />

einer Schüssel kaltem Wasser zurück, welches er Schulz ins leichenblasse Gesicht goss.<br />

Dieser regte sich und öffnete die Augen. Holt zog ihn wieder auf den Stuhl.<br />

„Nun bleibst du Sau bei der Wahrheit oder du siehst die Sonne nie wieder!“<br />

„Ich habe doch die Wahrheit gesagt,“ keuchte Schulz. „Es war Brettschneiders Idee, er<br />

wollte euch umbringen und dafür von mir zehntausend Dollar kassieren. Das Geld wollte ich<br />

ihm nicht geben.“<br />

„Ach ja, für hundert Dollar hättest du uns umbringen lassen, du Sack?“<br />

„Nein, nein, ich wollte niemanden umbringen lassen“, jammerte Schulz, „ihr solltet<br />

doch nur Angst bekommen und einfach nach Amerika abhauen. Es tat mir sogar leid, was ...<br />

was geschehen war. Glaub es mir Holt, ich wollte doch nur an dein Geld. Ich bin nur ein<br />

Betrüger aber kein Mörder!“<br />

Holt schaute zu Batunin und Greif. Diese hatten fasziniert zugeschaut und schienen<br />

der Auffassung zu sein, dass Schulz in dieser Situation endlich die Wahrheit sprach. Danach<br />

packte er Schulz am Arm. „Komm mit du Stück Scheiße!“<br />

„Was hast du mit mir vor, willst du mich nun umbringen?“<br />

„Nein, du kommst nur ins Loch, da lass ich dich dann verrotten.“ Holt stieß das<br />

Bündel Elend in die Zelle zurück und knallte die Tür zu. Hinter den anderen Türen hatten die<br />

benachbarten Gefangenen alles gehört und ihnen müsste jetzt ein Licht aufgehen. Sie waren in<br />

der Gewalt von Männern, wovon einige Deutsch sprachen! Aber wer waren diese?<br />

*<br />

Mehr konnten sie aus dieser Sache nicht herausholen. Batunin, Greif und Holt waren<br />

ausnahmsweise einmal der gleichen Meinung. Obwohl sie noch eine Woche für die<br />

Vernehmungen eingeplant hatten, schien alles „ausgeplaudert“ worden zu sein.<br />

„Wir werden,“ fing Batunin die Abschlussbesprechung an, „morgen mit dem ganzen<br />

Kram nach San José, zum Notar fahren. Die Protokolle müssen in Spanisch sein, sonnst<br />

bekommen wir für die Dokumente keine Beurkundung. Holt wird sich mit seinem Übersetzer<br />

Manfred kurzschließen, der muss dann auch gleich zum Notar kommen. Schwieli und ich<br />

werden die Schriftsätze noch heute grob übersetzen, damit Manfred nicht so viel zu tun hat.“<br />

„Was machen wir mit den Videos und Rekorderaufnahmen?“, wollte Greif wissen.<br />

„Die werden als Beweismittel zu den beurkundeten Dokumenten gegeben. Im Fall<br />

Longe muss alles doppelt sein, da wir den ganzen Mist zusätzlich zur La Nation schicken.<br />

Das gilt auch für alle Aufzeichnungen,“ erläuterte Batunin.<br />

Kondaschwieli, der bislang schweigend zuhörte, machte sich bemerkbar. „Und was<br />

machen wir mit diesem Gesindel?“ Dabei wies er mit dem Kopf zum Zellentrakt.<br />

„Ja, hier gibt es ein paar Probleme,“ antwortete Batunin. „So wie es Holt ursprünglich<br />

geplant hatte, geht es nicht. Wir können den Ross nicht nach Nicaragua deportieren und<br />

Brettschneider, wie auch Schulz, in einen Flieger nach Deutschland setzen.“<br />

„Wie wäre es Gaspodien Batunin,“ warf Holt ein, „wenn wir die ganze Sache mit den<br />

Bullen in Heredia wiederholen?“<br />

„Wie meinen Sie das, wiederholen?“<br />

„Ganz einfach, wir leihen uns wieder die Wanne. Diesmal lassen wir bei der Abgabe<br />

unsere Gefangenen im Wagen. Wir übergeben dem dicken Stationschef die Akten und<br />

Beweismittel für die Staatsanwaltschaft.“<br />

390


Greif sprang auf. „Die lassen doch das Pack laufen!“<br />

„Nein, das werden sie nicht,“ entgegnete Holt. „Wir werden dem Chef zweitausend<br />

Dollar Bearbeitungsaufwand zahlen, wenn er für ausländische Freunde Costa Ricas, im Wege<br />

der Amtshilfe tätig wird. Bei der ganzen Übergabeaktion müssten wir bei dem Polizisten den<br />

Eindruck erwecken, wir wären eine operativ arbeitende, illegale CIA-Einheit. Wenn der dann<br />

in die beglaubigten Urkunden schaut, wird er auf keinen Fall wagen, das Gesindel laufen zu<br />

lassen. Das Einzigste was er im höchsten Fall macht, er wird bei der Familie Longe anrufen.<br />

Dafür geben wir zur Sicherheit eine Kopie der Akte Longe bei der La Nation ab. Diese Sache<br />

ist dann nicht mehr zu vertuschen.“<br />

Batunin hörte aufmerksam zu. In Abweichung zu seinem bisherigen Verhalten duzte<br />

er Holt mit einem Mal. „Aus dir wäre ein guter Abwehrmann geworden. Du hast gute Ideen<br />

und Fantasie, daraus schmiedet man den Klassenkampf.“ Er wandte sich an den Rest des<br />

Teams. „So werden wir es machen. Du Greif durchdenkst noch einmal die Abgabeaktion und<br />

sicherst einen reibungslosen Ablauf. Holt, Sie organisieren den Treff mit ihrem Übersetzer<br />

beim Notar. Also lasst uns anfangen.“<br />

*<br />

Seitdem der große Bulle seinen Nachbarn lautstark in die Zelle zurückgebracht hatte, war<br />

Ross auf einige Unstimmigkeiten gestoßen. Er hatte schon mehrere Tage darüber<br />

nachgegrübelt. Wie viele Polizisten gab es hier, wo lag dieser Knast, wie viele Gefangene<br />

saßen hier ein und wer waren sie? Ross hatte die kurze Zeit genutzt, als die Wache wieder<br />

einen Gefangenen wegbrachte. In dieser Zeit, nur wenige Minuten, waren die Gefangenen<br />

allein. Draußen im Gang musste sich sonst ständig eine Wache aufhalten, auch nachts. Auf<br />

seine im gedämpften Ton gestellten Fragen, durch die geschlossenen Türen, wer seine<br />

Nachbarn seien, hörte er nur unverständliche Laute. Er schien einen Namen herauszuhören,<br />

der wie „Mulz“ klang. Schlagartig war der Gang nicht mehr besetzt, die Wache schien<br />

abgezogen zu sein. Er ging zur Tür, ging auf die Knie und rief auf Deutsch durch den kleinen<br />

Spalt: „Hört mich hier einer?“<br />

Ganz schwach, doch klar, konnte er die Antwort hören: „Hier ist Mike Schulz, ein<br />

Mann namens Jens Brettschneider ist auch hier. Wer bist du?“<br />

Ross glaubte, sich verhört zu haben. „Michael Schulz aus Ulm?“<br />

„Ja, wer bist du?“<br />

„Dein alter Buddy Ross, du Blödmann!“<br />

Es folgte ein Moment des Schweigens. „Hans Holt steckt hinter der ganzen Sache.<br />

Longe und Brettschneider sind auch hier,“ antwortete Schulz.<br />

Ross Gedanken überschlugen sich. Das kann doch nicht wahr sein. Holt, dieser Versager,<br />

bringt es fertig mit geschmierten Polizisten so eine Aktion durchzuziehen? Oder waren die<br />

Bullen selbst gar keine? Man kann nicht eine ganze Polizeistation, einschließlich<br />

Knastpersonal, schmieren, das ist selbst in Costa Rica nicht möglich. Doch, Halt! Eine ganze<br />

Polizeistation? Wie viele Polizisten und Zivilisten hatte er wirklich gesehen? Er zählte nach,<br />

vier Bullen in Uniform und zwei in Zivil. Er hatte höchstens sechs Bullen gezählt, wenn die<br />

zwei Vernehmer in anderen Situationen Uniform trugen, könnten es auch nur vier Mann sein.<br />

Die Geräusche auf dem Hof und die laut gebrüllten Befehle sprachen jedoch eine andere<br />

Sprache. Hier stimmte in der Tat etwas nicht! Eigentlich vernahm er stets nur die Stimme<br />

eines Mannes und Autogeräusche. So etwas kann man vorspielen. Ross kam zur<br />

Überzeugung: Das hier ist ein potemkinsches Dorf! Na warte Holt, du wirst deine<br />

Überraschung erleben, das machst du nicht noch einmal mit mir!<br />

*<br />

391


Batunin und Holt fuhren nach dem Frühstück nach San José. Bei sich hatten sie alle<br />

notwendigen Unterlagen und Beweismittel. Zurück blieben nur das beschlagnahmte Bargeld<br />

und die Wechsel, die Holt im Safe deponierte, nachdem er den Code geändert hatte. In den<br />

nun leeren Akten, die immer noch auf dem Tisch im Vernehmungszimmer lagen, hatte Greif<br />

in der Umschlagtasche die Pässe absichtlich stecken lassen oder auch vergessen.<br />

Kondaschwieli und Greif hielten entspannt die Stellung. Zu Mittag hatte Kondaschwieli<br />

mehrere Büchsen Gemüseeintopf und Schweinefleisch vorbereitet. Wahrscheinlich die letzte<br />

Mittagskost für die Gefangenen. Ab morgen würden sie entweder von der Polizei in Heredia<br />

oder in San José beköstig werden. Greif bekam mit, dass sich die Gefangenen miteinander<br />

unterhielten. Jetzt hatten solche Gespräche keinen Einfluss mehr auf die Vernehmungen, diese<br />

waren abgeschlossen. Das laute Gequatsche nervte ihn dennoch. Er öffnete die Tür zum<br />

Zellentrakt und brüllte laut, „Haltet die Klappen Ihr Gesindel, sonnst stopf ich sie euch!“ Für<br />

eine Weile schien alles ruhig zu sein, dann sprachen sie ungerührt weiter.<br />

Mittags teilte Kondaschwieli das Essen aus. Greif blieb immer an der Tür stehen. Ross<br />

nahm es entgegen und bedankte sich sogar, was Kondaschwieli überraschte. „Ab morgen wird<br />

der Fraß besser,“ antwortete er, „ihr werdet zur Polizei nach Heredia verlegt.“<br />

Er sah nicht das erschrockene Aufblitzen in den Augen von Ross. Nachdem<br />

Kondaschwieli sich versicherte, dass die Kette am Fuß von Ross angeschlossen war, verließ<br />

er die Zelle und fütterte die anderen drei Gefangenen ab. Greif ging ins Wohnzimmer. Was er<br />

dort trieb, blieb Kondaschwieli verborgen, der sich vor dem Ausgang zum Zellentrakt auf<br />

einen wackligen Stuhl setzte und eine Zigarette rauchte.<br />

Aus der halb offenen Durchgangstür hörte Kondaschwieli ein lautes Stöhnen. Er stand auf<br />

und trat in den Gang des Zellentraktes. Das Stöhnen kam aus der Zelle von Ross. Scheiße! Im<br />

Gemüse muss Tomate gewesen sein, ging es ihm durch den Kopf. Als er den Riegel<br />

zurückschob und die Tür öffnete, sah er den zusammengekrümmten und laut stöhnenden Ross<br />

auf seiner Matratze liegen. Er drehte Ross auf den Rücken, dieser hielt die Augen<br />

geschlossen, stöhnte nur noch lauter. Kondaschwieli schaute sich um. Wo war der Rest der<br />

Medizin? Die Suche nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Aus dem Augenwinkel<br />

sah er die schnelle Bewegung zu spät. Die Kette legte sich um seinen Hals und wurde<br />

ruckartig zugezogen. Mit der linken Hand versuchte er zwischen Kette und Hals zu kommen,<br />

die rechte griff zur Pistole am Gürtel. Die Tasche war mit einem Druckknopf geschlossen, der<br />

ausgerechnet diesmal widerspenstig war. Kondaschwieli schwanden bereits die Sinne, als er<br />

die Pistole zog. Mit letzter Kraft schob er mit dem Daumen den Sicherungshebel herunter und<br />

brachte die Waffe zwischen sich und Ross. Dieser hatte die Bewegung rechtzeitig<br />

wahrgenommen. Blitzschnell ließ er das eine Ende der Kette los, packte über Kondaschwielis<br />

Handgelenk und drückte die Hand mit umschlossener Waffe in Richtung seines Widersachers.<br />

Ein dumpfer Knall erscholl. Ross merkte, wie Kondaschwieli erbebte und dessen Körper in<br />

sich zusammen sank und leblos wurde. Langsam schob er den Körper von sich. Dieser hatte<br />

am Bauch einen immer größer werdenden Blutfleck. Vorsichtig löste er Kondaschwielis<br />

verkrampfte Finger von der Waffe und nahm sie an sich. Dann tastete er die Hosentasche des<br />

verwundeten Mannes ab und fand den Schlüsselbund für die Schlösser der Fußfesseln. Nach<br />

wenigen Sekunden war er frei und eilte aus der Zelle. Im Gang war niemand zu sehen. Die<br />

Waffe vor sich haltend trat er ins Freie, wo er vom hellen Sonnenschein geblendet wurde. Nur<br />

schemenhaft sah er vor sich die erstarrte Gestalt eines Mannes, der in einer Tür stand.<br />

Zweimal peitschten die Schüsse im Hof. Ross sah den Mann vor sich langsam über das<br />

Geländer an der Tür zur Erde fallen.<br />

Was ist das hier?, ging es ihm durch den Kopf. Er schaute sich in Erwartung weiterer<br />

Gegner um, aber niemand erschien. Langsam ging er auf die noch offen stehende Tür zu.<br />

392


Daneben lag ein Toter mit weit aufgerissenen Augen und einem Loch zwischen den Augen,<br />

direkt auf der Nasenwurzel. Er erkannte den Mann, es war der angebliche Vernehmer vom<br />

BKA. Das Gebäude, welches er zögernd betrat, war keine Polizeistation, es ähnelte mehr<br />

einem Verwaltungsgebäude einer kleineren Firma. Er sah keine weiteren Menschen. Als er<br />

eine Tür öffnete, fand er sich im Vernehmungszimmer wieder. Auf dem Tisch lagen noch die<br />

Akten. Schnell schlug er nach. Longe, Schulz, Brettschneider, Ross. Im Deckblatt seiner Akte<br />

steckten sogar der falsche Pass und die Cedula, ansonsten befand sich kein weiteres Blatt<br />

darin.<br />

Er blickte aus dem Fenster und sah auf dem vorderen Hof ein Auto. Ringsherum nur Urwald.<br />

Mit schnellen Schritten war er im Zellentrakt und schob die Riegel zurück. Schulz erwartete<br />

wohl seinen Mörder, war aber erleichtert, nur einem blutverschmierten Ross zu sehen. Schnell<br />

schloss er die Fußfesseln auf. „Hier, nimm die Schlüssel und mach Longe frei. Ich kümmere<br />

mich um das Auto. Du brauchst keine Angst zu haben, die anderen sind weg und die Beiden<br />

die aufpassten, habe ich umgelegt.“<br />

Schulz glaubte im falschen Film zu sein. „Wen hast du umgelegt? Die Wachen?“<br />

Ross nickte nur. „Beeil dich, bevor die Anderen zurückkommen!“<br />

Im Haus fand er auf dem Küchentisch ein paar Autoschlüssel, mit denen er zum<br />

abgestellten Wagen ging. Die Schlüssel passten und er sprang sofort an. Er ließ den Motor<br />

laufen und lief zum Zellentrakt, aus dem gerade Longe herauskam.<br />

„Wo ist Schulz?“, wollte er wissen.<br />

„Der will Brettschneider frei schließen.“<br />

„Die Sau bleibt hier!“, tobte Ross und stürmte den Gang zur letzten Zelle entlang.<br />

Schulz wollte gerade Brettschneider von den Fesseln befreien. „Lass das, er soll selbst<br />

zusehen, wie er weiter kommt.“ Er warf jedoch Brettschneider den Schlüsselbund zu und zog<br />

Schulz aus der Zelle. Die Tür warf er zu und schob den Riegel vor.<br />

„Ich bin am Wagen!“, dabei zeigte er zur Hausecke, hinter der ein Automotor tuckerte. „Geh<br />

ins Haus, auf der linken Seite ist das Vernehmungszimmer. Nimm alle Akten mit, die auf dem<br />

Tisch liegen. Aber mach schnell. Sonnst fahre ich ohne dich los!“<br />

Schulz stolperte ins Haus und kam nach einigen Augenblicken zur Vordertür heraus,<br />

mit Akten unter dem Arm. In der Eile ergriff er noch eine Kalaschnikow, die an einem Stuhl<br />

gelehnt stand. Mit aufheulendem Motor jagte das Auto mit den drei Flüchtlingen vom Hof, in<br />

Richtung Grundstücksausgang.<br />

Brettschneider hatte sich inzwischen von den Fußfesseln befreit. Wütend hämmerte er an die<br />

verriegelte Tür. „Ross du falsche Sau!“, brüllte er machtlos. Nach einiger Zeit vernahm er<br />

schlurfende Schritte. Mühsam wurde der Riegel weggeschoben. Die Tür öffnete sich halb.<br />

Brettschneider hatte sich flach an die Wand gepresst. Der Mann davor konnte ihn nicht sehen.<br />

Dann entfernten sich wieder die schlurfenden Schritte, die Tür blieb jedoch offen.<br />

Vorsichtig schaute er um die Ecke. Der Gang war leer, auf dem Boden waren Blutspritzer zu<br />

sehen. Die anderen Zellentüren standen offen, die Zellen waren leer. Auf dem Hof sah er den<br />

großen Bullen, wie er sich gerade über einen am Boden liegenden Körper beugte. Neben der<br />

Wand lag eine Holzbohle. Er nahm sie auf und ging auf den Mann zu, der ihm den Rücken<br />

zukehrte. Er hob die Bohle hoch und wollte gerade zuschlagen, als der Mann sich umdrehte.<br />

Brettschneider sah in den Lauf einer Waffe. Es war das Letzte, was er in seinem schäbigen<br />

Leben sah.<br />

*<br />

Holts Notar Marco Neto las sich alle Dokumente durch. Danach hörte er sich eine Kassette an<br />

und sah auch die Videoaufnahmen. Sein Urteil: Die Dokumente und die Beweismittel wären<br />

393


in einem möglichen Strafverfahren anwendbar, jedoch nur in Spanisch, die anderen in<br />

Deutsch, nur im Zusammenwirken mit einem vom Gericht anerkannten Dolmetscher.<br />

Manfred korrigierte noch einige Kleinigkeiten, bevor Neto sie beurkundete. Von allen<br />

„Vernehmungsurkunden“ wurden drei Kopien gemacht. Als Holt mit Batunin und Manfred<br />

die Kanzlei verlies, hatte er sechshundert Dollar weniger und einen Haufen Papier mehr.<br />

Manfred ließ sich in Sabana Norte absetzen.<br />

Selbst Batunin war aufgeräumt. „In einer Woche können wir nach Hause fliegen. Die<br />

letzten Tage sollte ich mir mal dieses Nest anschauen, vom dem du immer so schwärmst. Wie<br />

heißt es noch?“<br />

„Hako, wird aber vorne mit einen „J“ geschrieben,“ antwortete Holt.<br />

„Du solltest auch ein paar Tage Urlaub machen, siehst beschissen aus.“<br />

„So sehe ich immer aus. Nein, ich muss zu Pauline zurück nach Panama. Die macht<br />

sich sicher schon Sorgen.“<br />

Batunin lachte. Holt hatte sich geändert, er war nun einer von ihnen.<br />

Ungefähr achthundert Meter vor der Finca tauchte plötzlich ein Auto auf der schmalen Straße<br />

auf. Batunin riss das Lenkrad herum, bis es direkt an den Abgrund fuhr. Vorbei preschte der<br />

Vitara, der eigentlich auf dem Hof der Finca hätte stehen müssen. Im Bruchteil einer Sekunde<br />

sah Batunin im anderen Auto das blasse Gesicht von Ross und die Schemen zweier weiterer<br />

Köpfe. Er riss den Kopf herum und schaute hinterher.<br />

„Zum Teufel, was ist hier los. Hast du das gesehen, im Wagen saß der Ross!“<br />

Holt hatte nur ein helles Gesicht gesehen, dies aber nicht erkannt. Batunin schlug das Lenkrad<br />

hart links ein, fuhr bis zur Felswand, setzte rechts eingeschlagen bis zum Abgrund zurück,<br />

Dann raste er hinter dem Vitara her, beim Fahren öffnete er das Handschuhfach und holte<br />

seine Pistole heraus. Der Weg war voll aufgewirbeltem Staub und nahm den Verfolgern fast<br />

jede Sicht. Auf der Kuppe einer kleinen Steigung sahen sie das verfolgte Fahrzeug. Mit<br />

überhöhter Geschwindigkeit ging es in die Kurve und prallte gegen einen begrenzenden<br />

Steinblock am Abgrund. Wie einem Clown gleich, machte es eine Rolle vorne über, aus der<br />

Beifahrerseite löste sich in Richtung Abgrund ein dunkler Fleck. Dann verschwand alles.<br />

Batunin jagte die leichte Anhöhe hoch, bremst scharf ab und kam nur Zentimeter vor dem<br />

Abgrund zum Stehen. Beide stiegen aus. Zwischen den Bäumen und Büschen am Hang sahen<br />

sie am Grunde der Schlucht, neben dem Flussbett die Reste des Autos. Plötzlich schoss eine<br />

Stichflamme in den Himmel. Holt glaubte die Hitze achtzig Meter höher zu spüren. Er<br />

schaute Batunin an, der in die Knie gegangen war und den Hang absuchte. Man sah nur Astund<br />

Blättergewirr vor dem Hintergrund eines lodernden Feuerballs.<br />

„Lass uns schnell zur Finca zurück fahren und sehen, was dort geschehen ist,“<br />

murmelte Batunin, kaum hörbar für Holt.<br />

Ihm schwante nichts Gutes. Das Tor zum Grundstück hing in den Angeln, das Grundstück lag<br />

scheinbar ruhig und verlassen in der gleißenden Tropensonne. Die Haustür stand<br />

sperrangelweit auf. Langsam fuhr Batunin um die Hausecke. Er trat so spontan auf die<br />

Bremse, dass Holt mit dem Kopf an die Windschutzscheibe stieß. Vorne, zwischen den Türen,<br />

lagen drei reglose menschliche Körper. Batunin sprang aus dem Wagen und lief zur Gruppe.<br />

Holt folgte zögernd, sein Herzschlag stockte, als er das viele Blut sah. Batunin hatte sich zu<br />

dem mit Blut verschmierten Kondaschwieli gebeugt, ging in die Knie und hielt diesen wie ein<br />

kleines Kind in seinen Armen. Er streichelte das Gesicht und sprach leise etwas in russischer<br />

Sprache. Holt trat zu ihnen. Zu Füßen Kondaschwielis lag der tote Brettschneider und am<br />

Kopfende der tote Greif.<br />

Holt verstand die Worte die Batunin sprach. Schwieli, mein Bruder, wie kannst du jetzt<br />

gehen? Sterbe bitte nicht!<br />

394


Ergriffen und beklommen schaute Holt der Szene zu. Kondaschwieli lebte noch. Sein<br />

Brustkorb bewegte sich auf und ab. Er öffnete die Augen und schaute sterbend seinen Freund<br />

an.<br />

„Wir hatten zusammen eine schöne Zeit ... „, er hustete und im Mundwinkel erschien<br />

roter Schaum, „damals in Afghanistan ... erinnerst du dich noch mein Kapitan? Oder in ... na<br />

ja in ...“ ihm fielen die Worte schwer.<br />

„Bleib ruhig mein Bruder, ich schaff dich zum Arzt. Nächsten Monat bist du wieder<br />

auf dem Damm und dann saufen wir jeder eine Flasche Wodka. Einverstanden?“<br />

„Ach Vitali, mir ist so kalt. Kannst du ... „ seine letzten Worte waren nicht mehr zu<br />

verstehen. Er schaute in den blauen Himmel Costa Ricas, der so weit weg war von seinem<br />

geliebten Russland. Dann brachen die Augen und der letzte Atem wich aus dem Körper.<br />

Gardesergeant der Sowjetarmee, Josef Wissoronowitsch Kondaschwieli, von seinen Freunden<br />

Schwieli, von seinen Neidern Stalin genannt, hatte seine letzte Schlacht geschlagen, nun lag er<br />

tot in den Armen seines Freundes und ehemaligen Kommandeurs.<br />

Als Batunin sich aufrichtete, hatte der harte Mann Tränen in den Augen, Holt auch. Er<br />

legte dem benommenen Holt eine Hand auf die Schulter und wandte sich halb um, die Toten<br />

noch einmal betrachtend. „Lass uns hier aufräumen!“<br />

Der Spätnachmittag war hart, zerrte an der Psyche und Physe der beiden überlebenden<br />

Männer. Batunin bestand darauf, die Leiche Brettschneiders sollte zum Auto in die Schlucht<br />

geworfen werden. Nicht aus Pietätlosigkeit gegenüber diesem, sondern nur vorbeugend. Sollte<br />

irgendjemand die sterblichen Überreste finden, würde man zuerst an einen Unfall glauben.<br />

Kondaschwieli und Greif sollten im hinteren Teil des Grundstückes, inmitten von<br />

Bougainville und Orchideen ordentlich beerdigt werden.<br />

An der Absturzstelle angekommen, konnten sie unten im Grund nichts mehr erkennen. Sie<br />

ließen den Körper Brettschneiders zwischen den Sträuchern in die Tiefe gleiten.<br />

„Wir kommen morgen bei Licht wieder, nachdem wir unsere Kameraden beerdigt<br />

haben und schauen nach, was unten angekommen ist,“ sprach Batunin, „nun lass uns<br />

zurückfahren.“<br />

Holt lag die ganze Nacht schlaflos auf seiner Matratze. Batunin hatte sich anfänglich<br />

in der Küche niedergelassen. In der Nacht schaute Holt nach, wo Batunin abgeblieben war, als<br />

er diesen nicht in der Küche fand. Er fand ihn später im Zellentrakt, er hielt in voller Montur<br />

stehend vor Kondaschwieli und Greif militärische Ehrenwache. Holt war erschüttert, leise<br />

drehte er sich um, um ihn nicht zu stören und um nicht bemerkt zu werden. Als er Batunin<br />

zum Frühstück holte, stand dieser immer noch wie ein Zinnsoldat bei den Toten.<br />

„Komm Batu, du hast deinen Freunden nun ausreichend die letzte Ehre erwiesen!“ Er<br />

folgte Holt stumm in die Küche.<br />

Die Toten ruhten im kühlen Zellentrakt, als Batunin und Holt zum abgestürzten Auto fuhren.<br />

Sie waren der Meinung, erst komme der Job, dann die Trauer. In der Bodega fand Holt eine<br />

ungefähr hundert Meter lange Wäscheleine, die gut genug war, einen neunzig Kilo schweren<br />

Mann am Fels zu halten. Als sie oben auf der Straße standen, sahen sie unten das<br />

ausgebrannte Wrack. Batunin legte das obere Ende der Leine um einen Baumstamm, machte<br />

damit eine Bergsteigerschleife um seinen Körper und seilte sich, mit den Beinen am Hang<br />

abstützend, langsam Hand über Hand nachlassend, ab. Als er sicher unten war, gab er dem<br />

herabschauenden Holt nur ein Zeichen, er wäre gut angekommen. Einige Mal sah er Batunin<br />

um das Wrack herumgehen und auch am Rand des Flussbettes stehen. Dann stieg wieder<br />

Rauch vom Wrack auf, was Holt verwunderte. Am Straffen der Leine erkannte er, Batunin<br />

kam wieder hoch. Nach einiger Zeit tauchte zuerst der Kopf, dann der Oberkörper und<br />

395


letztlich der ganze Mann auf. Über der Schulter trug er nun eine Kalaschnikow. Nachdem er<br />

die Waffe abgelegt, sich hingesetzt und ein wenig erholt hatte, berichtete er.<br />

„Unten im Wrack liegen nur Ross und Longe. Beide sind nicht mehr zu identifizieren.<br />

Schulz habe ich nicht gefunden, er muss aus dem Wagen geschleudert sein und ins Wasser<br />

gefallen sein. Vielleicht hat ihn die Strömung fortgeschwemmt.“<br />

„Warum hast du noch einmal dort unten Feuer gemacht und woher hast du die<br />

Waffe?“<br />

„Die Kalaschnikow lag neben dem Wrack. Ross oder Schulz muss sie sich noch im<br />

Haus geschnappt haben. Ich tippe, es war Schulz. Die Waffe hatte kein Magazin und Ross<br />

wäre dies auch in höchster Eile nicht passiert, sich eine Waffe ohne Munition zu greifen.“ Er<br />

machte eine Pause, um sich den Schweiß abzuwischen. „Unten fand ich noch einen vollen<br />

Benzinkanister, der auch herausgeschleudert wurde und nicht explodiert ist. Ich habe<br />

Brettschneider ins Auto gezehrt, Äste über dessen Kopf gelegt und alles mit Benzin<br />

übergossen und angezündet. Das hässliche Loch im Kopf hätte jeder sofort als Einschussloch<br />

identifiziert. Ich hoffe, dass er nach dem Feuer keinen Kopf mehr hat.“<br />

„Glaubst du, der Schulz ist abgetrieben?“<br />

Batunin stand auf und schaute sich den Bewuchs am Hang und dann die mögliche<br />

Flugbahn eines aus dem Auto heraus geschleuderten Körpers an. Für sich selbst schüttelte er<br />

den Kopf. „Ich kann es nicht so richtig glauben. Vom Aufschlagsort des Autos bis zum<br />

fließenden Wasser sind es noch einmal ungefähr sechs Meter. Er kann nur aus der<br />

Beifahrertür geschleudert oder gesprungen sein. Seine Flugbahn wäre dann die des Autos<br />

gewesen, er hätte nur zwischen Hang und Auto aufschlagen können, nicht weiter davon<br />

entfernt.“<br />

Prüfend schaute Batunin sich um. „Dort, an diesem Stein ist das Auto angestoßen.“<br />

Dabei zeigte er an den Begrenzungsstein, an dessen oberen Seite die Lackspuren des Vitara zu<br />

sehen waren. „Dann hat es den Salto, halb links drehend gemacht.“ Er zeigte mit seinen<br />

Armen die vermutete Fallrichtung des Autos. „Bei dieser Drehung müsste ein<br />

herausspringender Schulz sich vom Auto gegen die Schwerkraft abstoßen. Also, er verkürzt<br />

damit den Fallwinkel. Damit wäre er in diese Richtung gefallen.“ Batunin deutete direkt auf<br />

eine Kiefer, die zwei Meter tiefer schräg im Felsen wuchs. Einige Äste waren abgebrochen<br />

und einige zeigten Anbrüche, als ob ein schwerer Körper in den Baum gefallen wäre.<br />

Holt trat näher an die Kante. Im gesplitterten Geäst des Baumes unter ihm hing ein<br />

Fetzen dunkelblauen Stoffes. Schulz trug ein dunkelblaues Hemd! Langsam ließ er sich herab.<br />

Der Fels war stark zerklüftet, es hatten sich mehrere Stufen im Gestein gebildet, die Holt nach<br />

unten nutzen konnte.<br />

„Hans, nimm die Leine, ist sicherer!“, hörte er über sich die Stimme Batunins.<br />

„Bin gleich da, ist nicht so gefährlich,“ antwortete Holt.<br />

Nach wenigen Augenblicken betrachtete er den Stofffetzen. Ja, er gehörte<br />

zweifelsohne zu Schulzens Hemd. Außerdem fand er dort Blutspuren. Vorsichtig drückte er<br />

die Äste auseinander und schaute nach unten. Bis zum nächsten Vorsprung waren es ungefähr<br />

dreißig Meter. Der Vorsprung war leer und ganz unten am Boden, nochmals dreißig Meter<br />

tiefer, war auch nichts zu sehen. Dann schaute Holt nach oben. Vom Baumstamm bis zur<br />

Kante war der Fels auch für ungeübte Kletterer begehbar.<br />

Batunin hatte alles von oben beobachtet und auch seine Rückschlüsse gezogen. „Der<br />

Lump hat mehr Glück als Verstand. Er ist uns entkommen!“<br />

Die Aufräumungs- und Beseitigungsarbeiten auf der Finca waren schwerer als zuerst<br />

angenommen. Zusammen gingen sie in den hinteren Teil des Gartens, um eine geeignete<br />

Beerdigungsstelle für die Toten zu finden. Neben einem großen Strauch, der in voller Blüte<br />

stand, blieb Batunin stehen. Er deutete nach unten.<br />

396


„Hier Hans werden wir sie bestatten.“ Gleich hinter dem Zaun begann der Urwald.<br />

Aus weiter Ferne hörten sie das Rauschen des Flusses in der Schlucht. Ein idyllischer Platz<br />

zum Ausruhen.<br />

Das Ausschachten des Grabes war eine körperlich schwere Arbeit. Nur die ersten<br />

achtzig Zentimeter bestanden aus loser Erde, danach kam ein Gemisch von Lehm und<br />

Steinen, die, je tiefer man kam, größer und größer wurden. Bei einer Tiefe von zwei Metern<br />

war nur noch reiner Fels. Batunin stieß mit dem Spaten darauf und sagte zu Holt, „Es ist nun<br />

tief genug.“ Dann half er zuerst Holt aus der Grube und zog sich an dessen Hand ebenfalls<br />

heraus.<br />

*<br />

Als die beiden Männer starben, trugen sie ihre Uniformen. Greifs Uniform war relativ sauber,<br />

bis das sich im Tode seine Blase entleert hatte. Batunins Uniform war über und über mit Blut<br />

bedeckt. Batunin schaute sich in der Zelle noch einmal seinen toten Freund an und wandte<br />

sich zu Holt um.<br />

„Ich kann ihn nicht wie ein abgeschlachtetes Schwein verbuddeln. Er braucht eine<br />

saubere Uniform. Wir ziehen ihm meine an.“<br />

Holt hatte noch nie einen Toten entkleidet und gewaschen. Batunin schien darin mehr<br />

Übung zu haben. Holt handelte nach seinen Anweisungen wie in Trance. Als Batunin den<br />

Körper Kondaschwielis wusch, liefen ihm immer wieder Tränen übers Gesicht. Das Anziehen<br />

der neuen Uniform war leicht, nur sie war zu eng, als Batunin den Reißverschluss des<br />

Oberteiles zuziehen wollte. Er zog aus der Oberschenkeltasche der bereits angelegten<br />

Uniform ein Kampfmesser, rollte den Körper auf die Seite und schnitt am Rücken den Overall<br />

auf. Dann drehte er ihn wieder auf den Rücken und zog den Reißverschluss zu. Wie<br />

entschuldigend schaute er zu Holt.<br />

„Das sieht ja nun keiner und Schwieli würde mit dieser Lösung einverstanden sein.“<br />

Mit Greif war es leichter. Holt hatte nur mit einem nassen Lappen dessen Stirn vom<br />

Blut gesäubert und das verstaubte Gesicht abgewischt. Anschließend wurden beide<br />

nacheinander auf einem breiten Brett zur Grube getragen. Batunin sprang hinein und Holt zog<br />

die Körper über die Kante, damit Batunin sie am Boden nebeneinander hinlegen konnte.<br />

Nachdem er mit Holts Hilfe wieder neben dem aufgeschütteten Erdhügel stand, fiel ihm etwas<br />

ein.<br />

„Wir werden jetzt alle unnötigen Ausrüstungsgegenstände, Waffen und Munition<br />

einsammeln und als Grabbeilagen mit in die Grube legen, zu Füßen meiner Männer. Ich<br />

behalte nur meine Pistole und sechzehn Schuss Munition, du solltest auch deine Waffe<br />

behalten, bis wir außer Landes sind.“<br />

Während Batunin die Sachen einsammelte, kam Holt eine spontane Idee. Er zog seine<br />

Uniform an und ging zur Grube. Dort nahm eine geladene Kalaschnikow und stellte sich in<br />

Hab-Acht-Stellung neben das offene Grab. Batunin, als alter Soldat, hatte sofort verstanden.<br />

Er stellte sich ans Grabende und schaute zum letzten Mal auf seine Männer. Leise sprach er,<br />

erst in russischer, dann in deutscher Sprache das Vaterunser. Holt hörte einen alten<br />

Kommunisten beten. Anschließend schaute Batunin auffordernd zu Holt. Dieser entsicherte<br />

das Sturmgewehr, stellte es auf Einzelfeuer und wartete auf das Kommando.<br />

„Salut!“<br />

Ein Schuss peitschte. „Salut!“, nochmals „Salut“. Alls der letzte Knall im Wald<br />

verhallte und an den Felsen verklungen war, präsentierte Holt die Waffe und Batunin legte die<br />

rechte Hand grüßend an die Schläfe. Danach legte Holt die noch am Lauf warme Waffe in die<br />

Grube. Batunin breitete eine große Decke über die Toten. Dann griffen sie zu den Schaufeln<br />

und füllten das Grab zu.<br />

397


Beide waren der Meinung, die neue Mauer im Zellentrakt musste zusammen mit den Türen<br />

wieder verschwinden. Der Eigentümer oder auch andere Personen sollten nicht auf den Zweck<br />

des Bauwerkes kommen. Die Maurer hatten die sperrige Schubkarre zurückgelassen und in<br />

der Bodega befand sich noch ein alter Vorschlaghammer. Nach und nach wurde die Mauer<br />

wieder abgetragen und die Brocken in die Schubkarre zum Abhang gefahren. Dafür musste<br />

nur ein Loch im Zaun geschnitten werden. Bereits zehn Meter weiter war die Schlucht. Nach<br />

neunzehn Uhr stellten sie die Abbrucharbeiten ein, es war zu dunkel.<br />

„Lass uns morgen weitermachen. Wir müssen bei Licht nach verräterischen Spuren<br />

suchen. Kein Mensch darf vermuten, was sich hier abgespielt hat.“<br />

Durch die Erschöpfung konnte Holt diese Nacht besser schlafen. Dennoch fühlte er<br />

sich am nächsten Morgen, als ob er unter eine Dampfwalze gekommen wäre. Batunin schien<br />

es auch so ergangen zu sein. Beim Frühstück nagte er nur an dem, nun bereits drei Tage alten<br />

Weißbrot und kippte es mit abgestandenem Kaffee herunter.<br />

Am frühen Nachmittag waren alle Spuren ihrer Anwesenheit beseitigt. Die Sachen, die Holt<br />

mitnehmen wollte, waren im Auto verstaut. Bevor er den Strom und die Wasserpumpe<br />

abstellte, reinigten sie sich noch ausgiebig. Genau um vierzehn Uhr fünfundzwanzig verließen<br />

sie die Finca. Beide Männer schauten noch einmal zur Gartenecke herüber, in der die Toten<br />

ruhten. Batunin hatte noch, als Holt die Sachen im Auto verstaute, auf die leere Fläche Laub<br />

verstreut und zwei Blumen gelegt.<br />

Eine Nacht wollten sie noch im Maria Alexandra bleiben. Am nächsten Tag wollte Batunin<br />

nach Deutschland zurückfliegen und Holt, zusammen mit Thorsten, nach Panama. Im<br />

Restaurant hatten sie am Abend über die finanziellen Angelegenheiten gesprochen. Batunin<br />

war der Meinung, dass Holt das ganze Bargeld an sich nehmen sollte. Nachdem Holt die<br />

Wechsel und Unterlagen, nach Deutschland, zu Händen Batunins, geschickt hatte, wollte<br />

dieser sich an die Versicherungen wenden. Aus dem Erlös wollte er drei Viertel einbehalten,<br />

seinen Anteil und den der verstorbenen Männer. Das Geld, welches Greif und Kondaschwieli<br />

zugestanden hätte, sollten dessen Erben bekommen. Falls Batunin diese nicht herausfinden<br />

könnte, wollte er das Geld einem Waisenhaus geben. Er wollte nicht am Tod seiner Freunde<br />

verdienen und Holt wollte es auch nicht.<br />

Bezüglich des verschwundenen Schulz, sollte Holt erst einmal abwarten, was sich<br />

ergeben würde. Es war nicht damit zu rechnen, dass Schulz sich an die Polizei wenden<br />

könnte. Aus dieser Sicht bestand keine Gefahr. Batunin sagte jedoch zu, sofort wieder nach<br />

Costa Rica zu kommen, falls Holt seine Hilfe benötigte.<br />

Noch einmal beschäftigte sich Batunin mit dem Tod seiner Männer. Nachdem sie bereits eine<br />

Weile schweigend auf der Terrasse des Restaurants saßen, fragte Batunin Holt, „Weißt du wie<br />

das vorgestern abgelaufen ist?“<br />

„Ich kann es mir in etwa vorstellen. Der Schulz muss sich frei gemacht und Schwieli<br />

überlistet haben.“<br />

„Nein Hans, es war anders. Es kann nur Ross gewesen sein. Dieser muss einen neuen<br />

Anfall vorgetäuscht haben. Nur so kann es gewesen sein. Kondaschwieli war nicht so ein<br />

harter Hund, wie es schien. Er hatte ein weiches Herz und immer für alle Mitleid. Wenn<br />

jemand Schmerzen hatte, fühlte er stets mit. Damals in Afghanistan hatten wir mal einen<br />

Sniper der Mudschaheddin erwischt. Der hatte zuvor drei Männer von uns durch Kopfschuss<br />

getötet. Im Gefecht hatten wir den Sniper verwundet und gefangen genommen, der hatte<br />

mächtige Schmerzen. Meine Leute wollten den Kerl sofort aufhängen. Kondaschwieli ging<br />

dazwischen und hat es verhindert. Die Männer waren stinksauer, es störte Schwieli nicht. Er<br />

hat den Sniper ordentlich verbunden und Mohnsaft gegen die Schmerzen gegeben. Dann hat<br />

er den Gefangenen verhört, ohne auch nur einmal gewalttätig werden zu müssen. Der<br />

398


Gefangene hatte von alleine zugegeben, kein regulärer Soldat zu sein. Nach dem<br />

internationalen Recht stand er damit nicht unter dem Schutz der Genfer Konvention, er konnte<br />

sofort standrechtlich erschossen werden. Kondaschwieli sagte auf Paschtun zu ihm: Sage,<br />

dass du ein Soldat der gestürzten Regierung bist, dann kommst du in ein<br />

Kriegsgefangenenlager. Der Mann war ein Fanatiker und antwortete nur, nein ich bin ein<br />

Soldat Allahs. Dann soll dir nun auch Allah helfen, hatte Kondaschwieli gesagt, den Mann an<br />

die Hausmauer gestellt und mit seiner Makarow erschossen. Das war mein Freund<br />

Kondaschwieli!“<br />

Holt fuhr Batunin zum Flughafen. Er schaute lange hinterher, bis der Mann, der in Costa Rica<br />

so viel verloren hatte, hinter der Sperre verschwand. Bei Payless Car Rental, an der Paseo<br />

Colon in San José, vereinbarte Holt, das Auto in Limon abzugeben. Am Abend vorher rief er<br />

Pauline an und sagte ihr, in zwei Tagen würde er nach Hause kommen. Er hörte am Telefon,<br />

wie sie schluchzte. Thorsten sagte auch zu, am kommenden Tag in Portete auf dem Boot zu<br />

sein.<br />

*<br />

Die Fahrt nach Limon verlief spannend. Kurz hinter Siquirres geriet er in eine<br />

Polizeikontrolle. Ihm stockte der Atem, ausbrechen konnte er nicht mehr. Hinter ihm hatte<br />

eine schwer bewaffnete Einheit alles dicht gemacht und voraus war die Straße mit zwei<br />

Streifenwagen versperrt, vor denen mehrere mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten<br />

standen. Das Gute daran war, es war nur die normale Polizei. Jetzt bedankte er sich im Geiste<br />

beim toten Greif. Dieser hatte vorsorglich für alle Teammitglieder einen gefälschten<br />

Dienstausweis von Interpol angefertigt. Sie sahen tatsächlich echt aus, weil es sich, bis auf die<br />

dort eingetragenen Daten und das jeweilige Foto, um echte Dienstausweise handelte. Woher<br />

Greif diese bezogen hatte, blieb sein Geheimnis, welches er mit ins Grab genommen hatte.<br />

Zu dritt gingen die Polizisten auf jeden Wagen zu. Ein Polizist stellte sich vor jedes zu<br />

kontrollierende Auto, einer stellte sich dahinter, der Dritte führte die Überprüfung durch.<br />

Einer, mit drei braunen Winkeln am Arm, bat um die Papiere. Holt reichte jedoch nur den<br />

Interpolausweis hinaus. Der Polizist schaute sich den Ausweis an, verglich das Bild mit Holts<br />

Gesicht und reichte den Ausweis zurück, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Dann winkte er<br />

dem vor dem Auto stehenden Posten, Holt passieren zu lassen. Im Schritttempo fuhr er durch<br />

die Lücke bei den quergestellten Polizeiautos vorbei.<br />

Bevor er den Wagen in Limon abgab, fuhr Holt nach Portete, um nachzuschauen, ob Thorsten<br />

mit seiner Jacht tatsächlich im Hafen lag. Sie war da. Holt hätte bereits sein Gepäck auf dem<br />

Boot lassen können. Im letzten Moment zögerte er. Thorsten war ein unangenehmer und<br />

schwer durchschaubarer Zeitgenosse, er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Ohne zu<br />

halten, fuhr er zurück nach Limon. Nachdem er das Leihauto abgegeben hatte, ging er zum<br />

Chinesen essen.<br />

Wie bestellt, traf er dort Fito. Fito hatte den Chinesen zu seinem Büro gemacht. Als<br />

Holt auf dessen Tisch zutrat, telefonierte er und beschimpfte gerade einen Lieferanten, soweit<br />

Holt es verstehen konnte. Fito grinste Holt an und wies auf einen freien Stuhl, unterbrach<br />

jedoch nicht das Gespräch. Die nachfolgende Unterhaltung war äußerst interessant und hätte<br />

eigentlich Holt zu bedenken geben müssen. Fito erzählte ihm, der Deutsche aus Portete sei ein<br />

krummer Hund. Das war selbst für Holt nicht neu. Der Deutsche habe die Schwedinnen für<br />

Geld an die Polizei verraten und außerdem habe er zwei Schmuggler, die vor Limon kreuzten,<br />

auch an die Polizei oder Drogenfahndung verkauft. Er selbst würde Koksen wie ein<br />

Weltmeister. Er habe gehört, ein Dealer aus Kolumbien oder Panama, genau wüsste er es<br />

399


nicht, woher der käme, habe für den Deutschen ein Kopfgeld ausgesetzt. Dessen<br />

Überlebenszeit sei damit rapide verkleinert.<br />

„Hans, mach keine Geschäfte mit diesem Lumpen, er verrät dich für ein paar<br />

Silberlinge!“, warnte Fito.<br />

„Fito, wenn der Transport an der Immigration vorbei ein Geschäft ist, so ist es<br />

sicherlich das letzte, was ich mit diesem Mann tätige. Danke, dass du mich gewarnt hast, ich<br />

werde auf mich aufpassen.“ Holt haute dem treuen Mann auf die Schultern und ging in<br />

Richtung Ausgang. Fito rief hinterher.<br />

„Er ist falsch wie eine Schlange!“<br />

Die Schlange wartete auf Holt, bereits angetrunken oder angekifft, oder auch beides, auf<br />

seiner Jacht. Thorsten tat so, als ob er sich darüber freue, Holt wieder an Bord zu haben.<br />

Zwanzig Minuten später legte die Jacht ab, bereits nach einer Stunde waren sie außerhalb der<br />

Hoheitsgewässer von Costa Rica.<br />

Die Wirkung des Alkohols und der Drogen nahm bei Thorsten ab. Holt erstaunte es<br />

immer wieder, wie er sich innerhalb weniger Stunden veränderte. Aus dem bekifften<br />

Gammler wurde der professionelle Segler. Über Seefunk hatte Thorsten von einem Bekannten<br />

erfahren, die Kolumbianer machten zusammen mit den Panamenios auf der karibischen Seite<br />

verstärkt Kontrollen. Er wurde sehr nervös, als sie sich aus nordwestlicher Richtung<br />

kommend, den Hoheitsgewässern von Panama näherten. Die dem Archipel vorgelagerte Insel<br />

Colon war schon in Sicht. Bis zum Hoheitsgebiet waren es noch ungefähr fünf Seemeilen. An<br />

der Kimm waren kleinere Schiffe und ein größerer Pott zu sehen. Mit bloßem Auge konnte<br />

man nicht ausmachen, wer dort herumschipperte. Thorsten holte aus dem Inneren des Schiffes<br />

einen Feldstecher und schaute in Richtung der Schiffe. Dann ließ er den Feldstecher sinken.<br />

„Ich kann es nicht so genau erkennen, aber es könnte ein Boot der Küstenwache sein.<br />

Wir werden hier ankern und ich gehe mal kurz Schnorcheln. Die haben bessere Gläser und<br />

müssten sehen, dass wir nur normale Touristen sind.“ Der Skipper schaute Holt argwöhnisch<br />

an. „Hast du was bei dir, was uns Ärger einbringen könnte?“<br />

Holt fielen die Wechsel und das viele Bargeld ein, welches er am Boden seiner<br />

Sporttasche, unter der Wäsche, versteckt hatte. Es war nicht verboten Wechsel und Bargeld<br />

mit sich zu führen, jedoch war es schwer, bei einer möglichen Kontrolle der Küstenwache zu<br />

erklären, warum er diese Sachen auf See mitnahm.<br />

Thorsten nahm wohl das Erschrecken Holts unterschwellig wahr, er zeigte jedoch<br />

keine Regung, als dieser antwortete.<br />

„Nein, nichts was verboten wäre, aber etwas, was zu einem Angelausflug auch<br />

niemand mitnimmt.“<br />

„Und was wäre?“, wollte Thorsten wissen.<br />

„Ein paar Akten von meiner ehemaligen Firma in Costa Rica. Aber da kann ich mich<br />

gegebenenfalls herausreden, diese in der Ruhe eines Segeltörns prüfen zu wollen.“<br />

Thorsten zeigte Holt nicht seinen Argwohn, gepaart mit aufkommender Neugierde,<br />

äußerlich blieb er cool.<br />

„Wir warten hier noch zwei Stunden, dann laufen wir Bocas an. Nach Almirante wäre<br />

es zu gefährlich, wir müssten an der Polizeistation vorbei. Ich geh mir mal einen Schluck<br />

genehmigen. Willst du auch was trinken? Ich hab guten Flor de Caña an Bord. Holt schüttelte<br />

nur verneinend den Kopf.<br />

Er blieb an Deck und schaute ab und zu zur Kimm. Die verdächtigen Boote<br />

verschwanden. Nur ein Katamaran segelte quer ab in Richtung Nordwest, immer kleiner<br />

werdend. Thorsten war nun schon fast zwei Stunden unter Deck. Er schaute einer Möwe zu,<br />

die sich im Sturzflug auf einen Fisch, welcher dicht unter der Wasseroberfläche schwamm,<br />

stürzte. Um besser sehen zu können, setzte er sich auf den hintersten Sitz neben dem<br />

400


Notruder. Mit einem Mal erschien Thorsten am Niedergang zur Kajüte. Mit Wut verzerrtem<br />

Gesicht und blutunterlaufenen Augen hielt er einen Packen Papier in der Hand.<br />

„Holt du Betrüger! Von wegen Akten! Das ist bares Geld, du willst mich bescheißen.<br />

Ein Haufen Knete, über hundertfünfzig Riesen und Millionenschecks ... und mich willst du<br />

mit lausigen zweitausend Dollar abspeisen?“<br />

Holt erstarrte vor Schreck. Der Suffkopf hatte seine Tasche durchwühlt und alles<br />

entdeckt, was er wissen wollte.<br />

„Das ist wohl meine Sache, ich habe dich nicht beschissen. Wir haben für die Fahrt<br />

jeweils zweitausend Dollar vereinbart. Du warst damit einverstanden, damit bist du noch<br />

überbezahlt. Was willst du noch? Du schnüffelst in meinen Sachen rum, besäufst dich und<br />

machst Stunk!“<br />

Thorsten rollte mit den Augen. Das ursprüngliche Weiß seiner Augen hatte eine rosa,<br />

mit feinen Blutäderchen durchzogene Farbe angenommen. Der Mann sah wie ein Monster aus<br />

und er benahm sich auch so.<br />

„Ich will die Hälfte! Ich will die Hälfte von allem! Wenn du mir die nicht gibst,<br />

schmeiße ich den Scheiß in den Ozean. Hast du mich verstanden Holt, ich schmeiß alles ins<br />

Wasser!“<br />

Holts Gedanken überschlugen sich. Der Mann war nicht mehr zurechnungsfähig. Bei<br />

der geringsten ablehnenden Haltung würde er zweifellos seine Drohung wahr machen. Du<br />

musst ihn beruhigen!, dachte er.<br />

„Mann, bleib ruhig! Mach kein Scheiß. Du hast mir ja geholfen und diese Hilfe geht<br />

weit über einen normalen Transport hinaus. Ich werde es auch honorieren. Das Bargeld und<br />

die Wechsel gehören meiner Firma, in der ich doch nur zu dreißig Prozent Eigentümer war.<br />

Also, von meinem Anteil am Bargeld könnte ich dir die Hälfte abgeben. Das sind so ungefähr<br />

fünfundzwanzigtausend Dollar.“<br />

„Du Lump willst mich mit Peanuts abspeisen. Was ist mit den Wertpapieren?“<br />

„Thorsten, die müssen gezogen werden. Das dauert noch mindestens ein Jahr, bevor<br />

ich die zu Geld gemacht habe. Das geht nur über meine Bank in Deutschland, bei der ich tief<br />

in der Kreide stehe. Wenn die ihr Geld bekommen haben, bleiben nur noch ungefähr fünf<br />

Prozent vom Nennwert übrig.“<br />

„Ja, und die bekomme ich!“<br />

Mit dem aufgebrachten Mann war nicht zu reden. Holt stand auf und ging auf<br />

Thorsten zu. Der stürzte an die Reling und hielt die Wechsel übers Wasser. Dabei kreischte<br />

er, „Nicht einen Schritt weiter, oder ich lasse alles fallen!“<br />

Holt blieb stehen. Thorsten entspannte sich ein wenig. Wie kann ich den Kerl von<br />

dieser Wahnsinnstat abbringen? Nur durch eine List! Holt schaute in Richtung Vordeck und<br />

rief, „Scheiße, die Küstenwache!“<br />

Beim Wort Küstenwache riss Thorsten seinen Kopf herum, er erhob sich halb, um<br />

über die Kajüte nach vorne schauen zu können. Dabei nahm er den Arm zurück. Diesen<br />

Moment der Ablenkung nutzte Holt. Mit einem Satz sprang er Thorsten an, der vor Schreck<br />

die Papiere in die offene Plicht des Bootes fallen ließ. Dieser verlor den Halt und stürzte<br />

rückwärts über die Reling. Mit einem hässlichen Geräusch schlug er mit dem Hinterkopf an<br />

die hervorstehende Scheuerleiste. Danach klatschte er ins Meer. Nachdem sich das<br />

aufschäumende Wasser gelegt hatte, trieb er mit dem Gesicht nach oben weiter. Holt konnte<br />

erkennen, dass er die Augen geöffnet hatte. Rund um den Kopf färbte sich das Wasser rot. Er<br />

schien jedoch bei Besinnung zu sein und hob den rechten Arm.<br />

„Warte, halt aus, ich ziehe dich heraus!“<br />

Wo hatte er nur den verdammten Enterhaken gesehen? Vorne am Mast, ja, dort war<br />

einer angelascht. Holt taumelte zum Mast und packte den Enterhaken, der jedoch seinen<br />

Bemühungen widerstand. Die Metallschlaufen am Gurt waren durch das Salzwasser<br />

eingerostet und lösten sich nicht. Aus dem Augenwinkel sah er eine knallrote Farbe. Im<br />

401


Blickfeld sah er den Rettungsring an der vorderen Schräge der Kajüte. Holt riss den Ring aus<br />

der Halterung und eilte zur Reling. Thorsten schwamm ungefähr fünfzehn Meter vom Boot<br />

entfernt in die falsche Richtung. Was war mit dem Kerl los? Dann sah er den Grund dieser<br />

eigenartigen Schwimmrichtung. Zwischen der Jacht und dem um sein Leben schwimmenden<br />

Thorsten tauchten die Rückenflossen eines, dann zweier und ein wenig später dreier Haie auf.<br />

Eine Flosse umrundete bereits Thorsten. Mit einem Mal riss dieser beide Arme hoch und<br />

verschwand fasst senkrecht im Meer. An der Stelle, wo er in die Tiefe gerissen wurde, färbte<br />

sich das Wasser rot. Ein paar Blasen kamen noch zur Oberfläche, dann war die See wieder<br />

still. Auch die Haie schienen verschwunden zu sein.<br />

Holt stand, den Rettungsring immer noch wurfbereit in der Hand, erstarrt an Deck.<br />

Das was er gerade gesehen hatte,, schien aus dem Film Der weiße Hai zu sein. Aber vor ihm<br />

war nicht die Leinwand eines Kinos, sondern die sich leicht bewegende Oberfläche der<br />

Karibik. Dann ging er in die Knie, lehnte sich über die Reling, um zu erbrechen.<br />

Ringsherum war das Meer frei von Schiffen. Den Katamaran erkannte man am<br />

Horizont nur noch als winzigen weißen Fleck. Die Küste von Colon war nur ein paar<br />

Seemeilen entfernt. Da musste er hin, aber damit sollte er noch bis zum Anbruch der<br />

Dunkelheit warten. Langsam ging er zum hinteren Deck und hob die verstreut liegenden<br />

Papiere auf. In der Kajüte fand er die von Thorsten stark geleerte Flasche Rum. Mit einem<br />

kräftigen Schluck leerte er sie. Auf dein Wohl du Scheißkerl, dachte er, so einen Tod hast du<br />

aber nicht verdient.<br />

Holt beschloss, in der Nacht die Jacht an der Küste auf Grund zu setzen und mit dem<br />

Schlauchboot an Land zu gehen. Vorher musste er jedoch alle Spuren beseitigen, die auf seine<br />

zeitweilige Anwesenheit hätte schließen können. Unter der Koje, in der Thorsten immer<br />

schlief, befand sich eine sogenannte Backkiste. Diese öffnete er und schaute hinein. Neben<br />

einem Reisepass, den Eignerpapieren zur Jacht und einigen persönlichen Briefen fand er nur<br />

neuntausend Dollar, eine Rolex und eine kleine Tüte, scheinbar mit Kokain gefüllt. Holt<br />

wollte bereits die Backkiste schließen, ohne etwas entnommen zu haben, als er ein kleines<br />

Bündelchen Visitenkarten entdeckte, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden.<br />

Er entfernte das Band und sichtete die Karten, seine Visitenkarte war auch darunter. Er<br />

entfernte sie und legte das Gummi wieder herum.<br />

In der Kajüte fand er auch das Logbuch. Entgegen den seerechtlichen Bestimmungen,<br />

hatte Thorsten keinen Passagier und als Zielort war auch nicht Almirante eingetragen. Im<br />

Logbuch stand nur, Ziel: Acandi, Columbia. Was hat Thorsten mit diesem Eintrag bezweckt?,<br />

überlegte er. Dann ging ihm ein Licht auf. Es war Thorstens Plan gewesen, er selbst wäre nie<br />

in Almirante oder Acandi angekommen, er wäre nirgendwo angekommen. Thorsten hätte ihn<br />

beiseitegeschafft, wahrscheinlich in der kommenden Nacht. Er hatte nur noch den letzten Rest<br />

der Zurückhaltung, einen Menschen zu ermorden, mit dem Flor de Caña weggesoffen.<br />

Zwei Stunden später warf Holt den Schiffsdiesel an. Mit langsamer Fahrt fuhr er auf die<br />

Küste zu, welche er nur an einem Licht erkannte, das aus irgendeinem Haus drang. Bis<br />

ungefähr hundert Meter kam er an das Ufer heran, als es unten im Boot knirschte und ein<br />

Ruck durchs Boot ging. Danach bewegte es sich nicht mehr, die Jacht lag auf Grund. Durch<br />

den fest sitzenden Kiel auf dem Meeresboden wurde die Jacht in einer schrägen Lage gehalten<br />

und es wiegte sich mit den Wellen sanft auf und ab. Mit ein paar Ruderschlägen war Holt mit<br />

dem Schlauchboot am Ufer. Er hatte mit der Anlandung Glück, er traf auf eine kleine Bucht<br />

mit einer Sandbank. Bevor er am Ufer in Richtung des Hauses ging, kippte er das<br />

Schlauchboot um.<br />

Das Haus gehörte bereits zur kleinen Ortschaft Del Drago, im Norden der Hauptinsel. Hier<br />

gab es drei Hotels, ausnahmslos alle für zahlungskräftige Touristen. Holt betrat das erst Beste<br />

402


und ging zur Rezeption. Er beobachtete, wie zwei Taxen auf dem Platz hielten. Bevor er an<br />

der Straße angelangt war, waren sie schon wieder abgefahren. Also tat er so, als ob er gerade<br />

mit einem der Taxen angekommen wäre. In der Kneipe des Hotels saßen viele Gäste, der Ort<br />

schien gut besucht zu sein, Holt würde nicht auffallen, er war einer von den vielen Touristen.<br />

Am nächsten Morgen fuhr er mit einem Taxi zum Flughafen auf Colon. Es waren<br />

noch Plätze frei. Das Mittagessen nahm er bereits in David ein. Pauline hatte nach seinem<br />

Anruf Humberto, einen Taxifahrer losgeschickt, der Holt vom Restaurant Maritim abholen<br />

sollte. Er verschluckte sich beinahe an seinem Fisch, als er eine strahlende Pauline, mit<br />

Humberto im Gefolge, eintreten sah.<br />

*<br />

Humberto verstand kein Deutsch. Holt konnte Pauline alles erzählen, was er erlebt hatte, aber<br />

er tat es nicht. Nach seiner Version waren alle seine Helfer nach Deutschland zurückgeflogen.<br />

Ross saß in Nicaragua in Haft und Longe erwartete ein Verfahren vor der Kammer für<br />

Antikorruption. Nach dieser Version war der Schulz nur geflitzt. Pauline ärgerte sich nicht<br />

besonders darüber.<br />

„Hans, den bekommst du auch noch, ärgere dich nicht. Wir haben ja fasst alles<br />

erreicht, selbst das Geld haben wir zum größten Teil wieder.“<br />

Als Holt in Los Naranjos aus dem Taxi stieg, saß Möppel, der Gasthund vor der Gittertür. Er<br />

sprang auf und wedelte, ganz unüblich, zweimal kurz mit seinem Schwanz. Das war sein<br />

Ausdruck für überschäumende Freude, Holt wiederzusehen.<br />

Er hatte nicht nur Pauline, sondern auch den sonderbaren, großen Hund, wie auch die nette<br />

Nachbarschaft vermisst. Möppel folgte ihm unaufgefordert ins Haus. Seine Augen blickten<br />

noch depressiver als je zuvor und die Schlappohren hingen auch ein wenig trauriger und<br />

tiefer. Holt musste bei diesem Anblick lachen. Der Hund hob in einer Art Stirnrunzeln beide<br />

Ohren gleichzeitig an und legte den Kopf schief. Warum bellst du mich so komisch an?,<br />

schienen seine Augen zu fragen. Erst nachdem er den Hund mit einer Bockwurst „gestopft“<br />

hatte, legte sich dieser auf die Terrasse auf ein altes Badehandtuch, auf dem er nach wenigen<br />

Minuten, laut anfing zu schnarchen. Holt war wieder zu Hause!<br />

Das spontane Nichtstun, nach einer Zeit hektischer und gefährlicher Aktivitäten behagte Holt<br />

nicht. Pauline bemerkte seine Unruhe und innere Anspannung, ging darauf aber nicht ein, in<br />

der Hoffnung, er würde von alleine über die Ursachen zu sprechen kommen. Nach einer<br />

Woche riss ihm der Geduldsfaden, er schnappte sich einen Zollstock und vermaß den Carport.<br />

Pauline, die ihn dabei beobachtete, fragte, was er dort anstelle. Holt murmelte was vor sich<br />

her und Pauline wurde ärgerlich.<br />

„Was brabbelst du da? Hast du was vor?“, fragte sie noch einmal.<br />

„Vielleicht könnte ich hier das zweite Badezimmer und eine Bodega bauen.“ Mit dem<br />

Zollstock wies er auf den Fußboden. „Die Mauern würden hier, ... hier ... und hier stehen. Da<br />

kommt die Dusche, hier die Toilette hin.“<br />

„Hans, aber dort ist doch die Tür.“<br />

„Ja, noch. Ich versetze sie hier hin,“ dabei wies er mit dem Zollstock unter das<br />

Fenster.<br />

„ ... ? .... Dort wo das Fenster ist?“<br />

„Ja, dann nicht mehr, ich ...“ und Holt erklärte einer geduldigen Pauline den Bauplan<br />

für das Vorhaben Neubau eines Bades.<br />

Pauline war begeistert. Sie wollte schon immer ein zweites und größeres Bad haben.<br />

Geld für den Umbau war nun vorhanden, Holt war arbeitswütig und das Wetter war gut. Es<br />

war jetzt Trockenzeit.<br />

403


In den nächsten vier Wochen war Holt beschäftigt. Das Bad stand kurz vor seiner<br />

Fertigstellung. Möppel hatte Holt oft bei der Arbeit behindert, er lag ständig auf dem Bausand<br />

und schaute zur kleinen, räudigen Hündin herüber, welche bei den Leuten auf der Gegenseite<br />

lebte. Er hatte gerade diesen hässlichen Zwerg zu seiner Freundin auserkoren. Holt konnte<br />

den Hund nicht verstehen.<br />

Batunin meldete sich aus Deutschland. Er hatte die Abwicklung der Wechselgeschichte beim<br />

Landgericht II München anhängig gemacht. Die Versicherung, die ihren Hauptsitz in<br />

München hatte, stellte den gutgläubigen Erwerb der Wechsel in Frage. Nachdem Batunin mit<br />

schweren Geschützen zurückgefeuert und einen kostspieligen und langen Rechtsstreit<br />

ankündigte, lenkte die Versicherung ein und gab sich mit einem Mal mit einer notariellen<br />

Erklärung und eidesstattlichen Versicherung der „gutgläubigen Erwerber“ Batunin und Holt<br />

zufrieden. Was die kapitalstärkste deutsche Versicherung dazu bewog, nun doch einzulenken<br />

blieb Holt verschlossen. Er musste jedoch selbst nach Deutschland reisen.<br />

Pauline, die das Alleinsein satthatte, beschloss, in dieser Zeit zu Bonnie nach Texas zu<br />

fliegen. Bonnie war von Rockledge, Florida nach Willis in Texas umgezogen. Beide flogen<br />

eine Woche später gemeinsam nach San José, um noch am gleichen Tag, ein paar Stunden<br />

später getrennt, weiter zu fliegen. Aber es gab die erste Überraschung. Holt, der als Zweiter<br />

abfliegen sollte, brachte Pauline zum Schalter. Über Lautsprecher kam eine Durchsage, dass<br />

sich ein Passagier bei der Immigration melden solle. Dieser Passagier war Pauline. Sie wurde<br />

direkt am Abfertigungsschalter von zwei Polizisten in Empfang genommen und abgeführt.<br />

Mit blassem Gesicht schaute sie zum ratlosen Holt zurück, der sich jedoch damit beruhigte, es<br />

müsse sich um einen Irrtum handeln. Sein Flieger ging nur eine halbe Stunde später. Beim<br />

problemlosen Einchecken dachte er an die arme Pauline. Erhebliche Probleme bekam er<br />

jedoch selbst in Miami.<br />

Gedächtnisprotokoll:<br />

*<br />

Ort:<br />

Zeit:<br />

Internationaler Flughafen Miami, Fl. USA<br />

7. Oktober 2007 19:30 bis 8. Oktober 2007 20:30 (Ortszeit)<br />

19:30 Ankunft der Maschine MP 646 aus San Jose, Costa Rica. Ich gehe zur Immigration.<br />

Der Beamte gibt meine Daten in den Computer, liest die Angaben durch und bringt mich zum<br />

Vorgesetzten im Anhörungsbereich. Der dort tätige Beamte gibt meine Daten erneut in den<br />

Computer, er ruft seinen Kollegen zu sich. Ein Dritter liest mit. Sie scheinen sich zu wundern<br />

bzw. ich habe den Eindruck, sie amüsieren sich.<br />

19:50 Zwei Beamte bringen mich ins Hauptgebäude zum Departement Homeland Security<br />

20:00 Ich werde von einer Beamtin befragt, die mir nebenbei erzählt, sie stamme aus Panama<br />

und hätte in der Nähe von Panama City, in Richtung Colon gelebt. Sie schaut sich die<br />

vorliegenden auf Papier gedruckten Daten, an und erklärt, nachdem sie diese gelesen hat,<br />

ihren Vorgesetzten zu fragen, was sie veranlassen soll. Ich warte wieder im Warteraum.<br />

20:30 Der Beamte „Gruenau“ kommt zu mir und erklärt, dass er eine „Befragung“<br />

durchführen muss. Im Vernehmungszimmer belehrt er mich, dass ich die Wahrheit zu sagen<br />

hätte und das die Unwahrheit für mich schwer wiegende Folgen hätte.<br />

404


20:40 Ich werde vereidigt, die Befragung beginnt. Zuerst werden die allgemeinen Daten zur<br />

Person befragt, die ich beantworte. Danach werde ich befragt, ob ich jemals unter einem<br />

anderen Namen gelebt hätte und damit in die USA eingereist wäre. Ich verneine.<br />

Anschließend werden die Vornamen meiner Eltern gefragt. Ich habe immer noch keine<br />

Ahnung, was der Grund meiner „Schwierigkeiten“ ist. Aus den Befragungen vom 3.<br />

September 2005 vermute ich, dass es sich um ein Problem im Zusammenhang mit meinem<br />

Asylantrag aus dem Jahre 2001 handeln muss. Mr. Gruenau erklärt mir, dass ich nicht wegen<br />

des Verdachts einer Straftat, sondern wegen eines Verstoßes gegen administrative Regeln<br />

(Ordnungswidrigkeit?) befragt werde. Er erläutert: Ich bin im Jahre 2001 im Rahmen des 90-<br />

Tage-Weavers legal eingereist, habe die befristete Zeit überschritten und danach das Asyl<br />

beantragt. Mit der Rücknahme meines Antrages auf Asyl Ende 2001 oder Anfang 2002 habe<br />

ich nochmals gegen das vorgenannte Programm verstoßen, da ich offensichtlich keine<br />

Genehmigung von einem Immigrationsrichter hatte. Im August 2002 muss sich ein<br />

Immigrationsrichter daran gestoßen und etwas verfügt haben. Ich vermute, dass ihn die<br />

Begründung meiner Rücknahmeerklärung nicht gefallen hat.<br />

21:00 Entgegen der Erklärung des Mr. Gruenau, ich würde wegen einer Ordnungswidrigkeit<br />

befragt werden, ist die Handhabung meiner Befragung, die einer Ermittlung im<br />

Strafverfahren. Innerhalb von vier Stunden werden bei mir zweimal Abdrücke des linken und<br />

rechten Zeigefingers genommen, einmal wird die ganze linke und rechte Hand eingescannt,<br />

zweimal werden Fingerprints auf Farbbasis gemacht und zweimal muss ich Ermittlungsbögen<br />

mit Fingerabdrücken versehen. Es werden Fragen zur Augenfarbe und zum Gewicht gemacht.<br />

Im Nachhinein angefertigtem Deckblatt dieser „Befragung“ werde ich ständig als „Suspect“<br />

bezeichnet. In der deutschen Übersetzung ist damit ein Verdächtigter oder Beschuldigter<br />

gemeint.<br />

Ich erkläre Mr. Gruenau, dass ich zu keiner Zeit vorsätzlich oder fahrlässig ein US-Gesetz<br />

gebrochen habe. Meine Einreise 2001 im Rahmen des 90-Tage-Weavers war notwendig, da<br />

mein Leben in Costa Rica in Gefahr war und ich aus tatsächlichen Gründen kein Visa vorab<br />

beantragen konnte. Die sich aus der versuchten Regelung meiner Probleme ergebende<br />

Überziehung der limitierten Zeit glaubte ich, durch meine Gefährdungssituation und der<br />

Antragstellung auf ein Asyl geheilt zu haben. Von keiner offiziellen Stelle wurde ich bis zum<br />

heutigen Tag darauf hingewiesen. Diese Vermutung wurde bislang auch bestätigt, da ich im<br />

Jahre 2003 zweimal im Wege des Transits von Deutschland nach Panama und von Costa Rica<br />

nach Deutschland, über Miami geflogen bin und niemals belästigt wurde. Die Befragung vom<br />

3.10.2005 in Philadelphia und die nachfolgende unbehelligte Einreise in die USA waren für<br />

mich Anzeichen, dass ich zwar gegenüber den amerikanischen Behörden „etwas“ aufklären<br />

müsste, jedoch nicht, dass ich in Gefahr laufen könnte, Schwierigkeiten bei der erneuten<br />

Einreise oder im Transit haben würde.<br />

Mr. Gruenau erklärte mir, dass es ein Fehler der Behörden in Philadelphia gewesen wäre,<br />

mich einreisen zu lassen., da ich wegen des Verstoßes aus dem Jahre 2001 nicht mehr das 90-<br />

Tage-Weaver- Programm nutzen könne. Eine Verjährung scheint es in den USA nicht zu<br />

geben.<br />

Nach Auskunft von Mr. Gruenau darf ich das 90-Tage-Weaver-Programm in Zukunft nicht<br />

mehr nutzen. Jede Einreise, auch unter Ausfüllung des grünen Fragebogens, würde als<br />

Gesetzesverstoß geahndet werden. Ich kann nur noch mit ein von der US-Botschaft Berlin<br />

ausgestelltes Einreisevisum in die USA einreisen, auch beim bloßen Transit. Auf meinem<br />

Einwand, dass ich in anderen Ländern beim Transit kein Visa benötige, erklärte er, dass die<br />

USA nicht zu diesen Ländern gehören. Ich sagte ihm, dass meiner Meinung, ein Visa über<br />

sechs Monate Aufenthaltsdauer, für maximal drei Stunden Wartezeit im Transitraum eines<br />

USA-Flughafens, total überzogen und unlogisch ist. Er antwortete, dass diese Maßnahmen<br />

405


durch den Kongress festgelegt worden seien und er keinen Grund sähe, diese anzuzweifeln;<br />

ich möchte meine Fragen in Berlin bei der Botschaft vortragen.<br />

23:30 Mr. Gruenau legt das Ergebnis der bisherigen Ermittlungen den vorgesetzten Beamten<br />

vor. Dieser ordnet eine erneute eingehende Befragung zu einigen Punkten an. Ich bin müde<br />

und unkonzentriert. Mr. Gruenau wird auch unklarer und wirkt genervt. Ich befürchte Fehler<br />

zu machen, da ich manchmal nicht mehr alles verstehe. Meine Englischkenntnisse erscheinen<br />

mir nicht ausreichend, hinsichtlich der Möglichkeiten, mich durch Missverständnisse in<br />

Gefahr zu begeben.<br />

8. Oktober 2007:<br />

01:00 Das dritte Verhör wird teilweise durch einen weiteren Beamten, jetzt dem vierten,<br />

durchgeführt. Es werden erneut Fingerabdrücke genommen. Der Beamte erklärt, für Mr.<br />

Gruenau „Zuarbeit“ zu leisten.<br />

01:10 Das Verhör ist beendet, ich muss im Wartezimmer weiter warten. Durch die miese<br />

Situation, der Müdigkeit und des Stresses steigt mein Blutdruck auf 165/105 an, meine<br />

Sehkraft ist erheblich beeinträchtigt. Ich befürchte in Bewusstlosigkeit zu fallen und bitte<br />

einen Beamten um Hilfe.<br />

01:30 Ein Rettungsteam behandelt mich, ein EKG-Gerät wird angeschlossen, Blut<br />

abgenommen und Blutdruck gemessen. Ein „Leutnant“ des Teams erklärt mir, dass ich so<br />

nicht fliegen könne und ins Hospital müsste, worauf der Beamte hinter dem Counter<br />

antwortete, dass ich höchstwahrscheinlich auch nicht fliegen würde. Ich lehne auch eine<br />

Überführung ins Hospital ab.<br />

02:30 Ich werde in eine Art „Gefangenensammelstelle“ ins Nebengebäude gebracht. Es<br />

erfolgt eine Leibesvisitation. Frauen und Männer sind getrennt untergebracht. Die dort<br />

anwesenden Beamten haben eine andere Uniform, sie erklären mir, sie wären ein Service der<br />

Immigration und kein Gefängnis.<br />

Ich bleibe den ganzen Sonntag bis abends um 20:30 in einem Gefängnis, das offiziell keines<br />

ist, unter Verschluss.<br />

20.30 Zwei bewaffnete Beamte bringen mich zum Abflugsbereich. Dort übergeben sie dem<br />

Personal der Fluggesellschaft meinen Pass und die Flugscheine. Als letzter Passagier werde<br />

ich bis zum Eingang zum Flugzeug begleitet. Einige Mitreisende bekommen das mit und<br />

machen „lange Hälse“. An ihren Gesichtern sehe ich, dass sie mich für einen Verbrecher<br />

halten.<br />

Allgemeine Bemerkung: Die Bediensteten der Immigration waren korrekt und nicht<br />

ausgesprochen unfreundlich, die Bediensteten des Services waren sehr freundlich, mitfühlend<br />

und hilfsbereit.<br />

In meinem Reisepass ist auf der letzten Seite ein handschriftlicher Eintrag wie folgt:<br />

8 CFR 217, 4 (a)(1)<br />

A 079 509 101 MIAMIAP<br />

Oct. 7. 2007<br />

München, den 10.10.2007<br />

Hans Holt<br />

406


*<br />

Holt hatte sich die Zeiten und Stichpunkte bereits im Flughafen Miami auf der Rückseite<br />

seines Flugtickets notiert und diese im Flugzeug ergänzt. Eine Stewardess gab ihm einen<br />

größeren Papierbogen, sie wusste Bescheid und empfand für Holt Mitgefühl.<br />

„Machen Sie sich nichts daraus,“ flüsterte sie, darauf achtend, von niemandem gehört<br />

zu werden, „die Amerikaner sind wie die Nazis. Wir haben hier oftmals solche<br />

Abschiebungen. Wo wollten Sie ursprünglich hin?“<br />

„Nach München.“<br />

„Was? Das verstehe ich nicht, Sie sitzen ja in der Maschine nach München.“<br />

„Ja, das stimmt,“ antwortete Holt, „aber einen Tag später, nachdem die mich einen<br />

Tag in Abschiebehaft hielten. Ich hab es wohl einem Beamten zu verdanken, dass ich nicht<br />

nach Costa Rica zurück musste. Er hatte entweder Mitleid mit mir oder die wollten mich so<br />

schnell wie möglich los werden.“<br />

Den Rest des Fluges verbrachte er in einer mitfühlenden Atmosphäre der Crew. Selbst<br />

einige Passagiere, die ihn zusammen mit seinem „Begleitkommando“ gesehen hatten,<br />

entdeckten, dass Holt wohl kein gefährlicher Gangster sei.<br />

Batunin hatte bei der Fluggesellschaft eine Nachricht hinterlassen, er sollte in das Hotel<br />

Bayrischer Hof kommen, dort sei für ihn ein Zimmer reserviert, er selbst würde am späten<br />

Nachmittag wieder im Hotel sein.<br />

Holt hielt sich den ganzen Tag im Hotel auf, er vervollständigte sein<br />

Gedächtnisprotokoll und legte sich nach dem Mittagessen angezogen aufs Bett und er schlief<br />

sofort ein. Gegen drei Uhr wurde er durch ein Klopfen an der Tür wach. Vor der Tür stand<br />

Batunin.<br />

Batunin hatte bereits alles vorbereitet. Der Notar zur Abgabe der eidesstattlichen<br />

Versicherung hatte seine Kanzlei nur dreihundert Meter weiter. Schräg gegenüber lag auch<br />

das Landgericht München. Nachdem Batunin und Holt die Urkunden bei der Geschäftsstelle<br />

des Gerichts abgegeben hatten, war ihre Anwesenheit in München eigentlich nicht mehr<br />

erforderlich. Batunin sagte jedoch beim Hinausgehen aus dem Gerichtsgebäude, er hätte noch<br />

eine interessante Information.<br />

„Bei der Versicherung ist ein ominöser Widerspruch gegen eine Auszahlung<br />

eingegangen. Die Blödmänner von deren Rechtsabteilung haben diesen Widerspruch mit beim<br />

Gericht eingereicht. Vom Gericht habe ich eine Kopie bekommen. Hier schau mal!“<br />

Batunin reichte Holt die Kopie einer E-Mail herüber, der sie las. Absender war<br />

hexed666@racsa.cr.<br />

„Hohes Gericht, ich protestiere gegen die Auszahlung meines Geldes. Der Verbrächer<br />

Holt hat mir meine Wechsel geklaut, er war niemals Besitzer, dänn er is ein Lügner!!!<br />

Hochachtungsvoll Michael Martin Andreas Schulz, der ächte Eigentümer“<br />

Holt musste laut lachen. Ein paar Leute, die gerade vorbei gingen, schauten ihn groß<br />

an. „Er ist ein Idiot! Er hat schon immer hexed666 benutzt.“<br />

„Ja,“ antwortete Batunin, „dadurch habe ich aber seine Anschrift herausgefunden, von<br />

wo er die Mail abgeschickt hat. Die IP-Adresse ist von der staatlichen Gesellschaft RACSA<br />

an ein Internetcafé in San José vergeben worden. Ich habe es bereits herausgefunden, das liegt<br />

direkt neben dem Grand Hotel.“<br />

„Er hat ja jetzt fast nichts mehr, auch keinen Computer,“ sinnierte Holt laut, „er wird<br />

wieder dorthin gehen müssen und ich werde dort auf ihn warten.“<br />

Batunin war auch seiner Meinung. „Soll ich mit dir nach Costa Rica zurückfliegen?“<br />

„Nein Batu,“ antwortete Holt, absichtlich die vertrauliche Anrede benutzend, „du wirst<br />

hier in Deutschland gebraucht.“<br />

407


Beim Abendessen berichtete Batunin über die Stimmung bei den zurückgebliebenen<br />

Verwandten und Bekannten von Kondaschwieli und Greif. Der Russe hatte keine Verwandten<br />

mehr, Greif nur eine Schwester.<br />

„Wenn wir das Geld haben,“ sprach Holt, „soll Greifs Schwester seinen Anteil<br />

bekommen und Stalins Geld solltest du für irgendwelche Waisen anlegen. Ich jedenfalls<br />

möchte davon nichts haben.“<br />

„Ich auch nicht!“ antwortete Batunin spontan.<br />

*<br />

Pauline hatte sich aus Willis gemeldet. Sie war mit einem Tag Verspätung eingetroffen. Bei<br />

der Immigration in Costa Rica lag gegen sie eine Ausreisesperre vor, besser gesagt, die<br />

ursprünglich von Schulz bewirkte Sperre war ein Jahr später automatisch ausgelaufen. Sie<br />

erfüllte damals für Schulz ihren Zweck, Holt und Pauline nicht mehr so schnell oder gar nicht<br />

wieder zu sehen. Nur hatten die Dilettanten bei der Immigration diese Sperre nicht aus dem<br />

Computersystem gelöscht. Nach tausend Entschuldigungen über diese Panne durfte Pauline<br />

wieder gehen. Niemand kam allerdings für die Umbuchungs- und Übernachtungskosten auf.<br />

Nur Achselzucken, keine Verantwortung aber stets hörte man von den Ticos die durch die<br />

Wahrheit widerlegbare Behauptung, die Schweiz Mittelamerikas zu sein. Holt fiel ein Stein<br />

vom Herzen, die Ungewissheit, was mit Pauline geschehen war, hatte ihm stark zugesetzt.<br />

Der Rückflug über Miami, wo er unerwünscht war, konnte nicht umgebucht werden. Holt<br />

entschied sich für einen Flug über die Dominikanische Republik nach San José. Der Flieger<br />

war voller „All Inclusiv Touristen“, die für wenig Geld in der Dom-Rep viel erleben wollten.<br />

In der Regel war es aber so, dass, wenn sie wieder zurück nach Hause flogen, viele Gäste<br />

nicht wussten, wie das Land hinter dem Zaun der Anlage aussah. Holt sollten diese Spießer<br />

egal sein, nur sie lärmten und soffen um die Wette. Es waren überwiegend unangenehme<br />

Zeitgenossen. Erleichtert atmete er auf, als diese Spezies in Santo Domingo ausstiegen. Nach<br />

zwei Stunden Aufenthalt ging es weiter nach Costa Rica.<br />

Holt entschied sich, in San José, im Grand Hotel ein Zimmer zu nehmen. An der Rezeption<br />

hatten sie noch mehrere Zimmer zum Plaza de la Cultura frei. Er buchte eines in der dritten<br />

Etage. Nachdem er das Zimmer betreten und dem Bediensteten das Trinkgeld in die Hand<br />

gedrückt hatte, öffnete er die Balkontür. Der Balkon verdiente seinen Namen nicht, es war ein<br />

ungefähr ein Meter breiter und achtzig Zentimeter tiefer Abstellplatz für höchstens zwei<br />

Stühle. Doch das war für Holt ausreichend. Das Internetcafé lag ungefähr fünfzig Meter<br />

Luftlinie entfernt. Er konnte eine kleine Bar und mindestens drei Computerplätze erkennen.<br />

Von den Bildschirmen waren nur die oberen Kanten zu sehen, von den Personen, die an den<br />

Tischen saßen, nur die Köpfe. Das musste ausreichen. Ein Problem gab es noch. Das<br />

Internetcafé hatte insgesamt zwölf Plätze, neun innerhalb und drei nach außen gelegen im<br />

Raum mit der Bar. Der Haupteingang war vom Fenster aus nicht einsehbar, nur der Ausgang<br />

zur Kolonnade des Hotels. Holt würde von dieser Position aus nichts sehen können, falls<br />

Schulz durch den Haupteingang kam und drinnen einen Computer nutze. Wenn er wieder,<br />

vorne den Laden verließ, würde Holt noch Jahre auf Schulz warten müssen, in der Hoffnung,<br />

dass dieser einmal durch den Seiteneingang kommen, oder dass er sich im Nebenraum an<br />

einen Computer setzen würde.<br />

Nach diesen Gedankengängen ging er herunter zur Lobby. An einem Andenkenstand<br />

kaufte er sich eine breitrandige Mütze mit einem grünen Froschsticker und setze diesen und<br />

die Sonnenbrille auf. Das Internetcafé war spärlich besucht, es saßen nur zwei Teenager an<br />

einem Computer, die sich köstlich über etwas amüsierten. An der Kasse saß ein hagerer<br />

Mann, der gelangweilt in einer Zeitung blätterte. Holt trat auf ihn zu.<br />

408


„Ich möchte mal eine halbe Stunde ins Internet. Was muss ich machen?“<br />

Der Mann musterte Holt. Ein Gringo! „Sie zeigen mir Ihren Pass, ich trage Ihren<br />

Namen und die Passnummer hier auf einen Zettel. Dann weise ich Ihnen einen Computer zu.<br />

Wenn Sie fertig sind, kommen Sie hier zur Kasse und zahlen. Das ist alles.“<br />

„Und was kostet der Spaß?“<br />

„Die ersten fünfzehn Minuten fünfhundert Colonies, jede weitere viertel Stunde<br />

hundert Colonies,“ antwortete der Kassierer.<br />

Holt legte seinen Pass vor. Der Mann trug nur den Familiennamen und die<br />

Passnummer auf einen Stundenzettel.<br />

„Wenn Sie öfters kommen, geben wir Ihnen pro volle Stunde Nutzungszeit eine viertel<br />

Stunde gratis. Also schmeißen Sie diesen Zettel nicht weg, er ist bares Geld.“<br />

Holt ging zu seinem Computer mit der Nummer sechs. Der befand sich innerhalb des<br />

Cafés. In einer ausführlichen E-Mail an Bonnie in den USA, teilte er Pauline ausführlich den<br />

Stand der Dinge mit. Er hatte sie zuletzt von München aus, angerufen. Nachdem er über eine<br />

Stunde vor dem Computer verbrachte, ging er zur Kasse und legte seinen Zettel auf den Tisch.<br />

Der Kassierer tippte einen Betrag ein und sagte, „Sechshundert Colonies.“<br />

Holt legte einen roten Tausender hin. „Stimmt so.“ Dann drehte er sich um, als ob er<br />

gehen wollte, drehte sich noch einmal um und sprach den Mann an, der gerade sein Propina<br />

einsteckte.<br />

„Ich hab da noch eine Frage, mehr eine Bitte.“ Er tat so, als ob er unschlüssig wäre,<br />

diese Bitte zu äußern.<br />

Der Kassierer wurde neugierig und schaute Holt erwartungsvoll an.<br />

„Meine Schwester hat Pech gehabt. Ein Landsmann von uns hat sie geschwängert und<br />

im Stich gelassen. Nun sitzt sie mit den Zwillingen allein, der Dreckskerl bezahlt keinen<br />

Pfennig. Er hat sich nach Costa Rica abgesetzt, soll hier in San José leben.“<br />

Holt zog das Bild von Schulz aus der Hemdtasche und hielt es dem Mann unter die<br />

Nase. „Haben Sie den hier schon einmal gesehen?“ Gezielt an die Geschäftstüchtigkeit des<br />

Ticos gerichtet, ergänzte er, „Es soll auch nicht umsonnst sein. Wenn Sie mir helfen, gebe ich<br />

Ihnen für brauchbare Informationen hundert Dollar, aber nur unter der Bedingung, Sie<br />

behalten es für sich und warnen meinen Beinaheschwager nicht.“<br />

Bei hundert Dollar öffneten sich die Pupillen des Mannes. Er tippte mit dem Finger<br />

auf das Bild. „Ja, ich habe den Kerl schon mal hier gesehen. Zuletzt vor ungefähr einer<br />

Woche. Er ist mir aufgefallen, da er ganz flaco und käseweiß ist und das dem die Hände<br />

zitterten, als ob er Parkinson hätte.“<br />

Der Mann hatte tatsächlich eine gute Beobachtungsgabe. Es könnte Schulz gewesen<br />

sein. Holt reichte dem Mann zwanzig Dollar rüber und schrieb auf einen Zettel die<br />

Telefonnummer des Zimmers im Grand Hotel.<br />

„Unter dieser Nummer können Sie mich anrufen, wenn sie den Vater meiner Nichten<br />

sehen. Wenn er das ist, bekommen Sie den Rest.“<br />

„Aber Sie werden ihn doch hier nicht zusammenschlagen oder vielleicht auf ihn<br />

schießen?“, fragte ein leicht verunsicherter Mann.<br />

„Nein,“ antwortete Holt, „ich werde nur versuchen, herauszubekommen, wo er sich<br />

verkrochen hat. Den Rest besorgt dann die Polizei.“<br />

Bei der kannst du lange warten. Die werden sich doch nicht um einen Ausländer<br />

kümmern, der keinen Unterhalt an seine Kinder zahlt. Was bist du für ein Träumer?, dachte<br />

der Mann. Laut sagte er jedoch, „Natürlich, ich bin ja auch Vater und weiß, wie schwer es für<br />

alleinstehende Frauen ist, die Kinder groß zu bekommen.“<br />

Holt ging zufrieden zurück in Richtung Hotel. Dann fiel ihm ein, er müsste jetzt ja<br />

unter Umständen den ganzen Tag auf dem Zimmer bleiben und, falls der Lange kam, hatte er<br />

409


ja noch nicht einmal ein Auto, um ihn zu verfolgen. Was benimmst du dich wieder wie ein<br />

Anfänger Holt?<br />

Vor ihm hatte ein Taxi gerade einen Hotelgast ausgeladen. Der Fahrer brachte ihn zum Paseo<br />

Colon, zu Payless Car Rental. Der Angestellte erkannte Holt wieder und er konnte sogar den<br />

gleichen Frontera ausleihen.<br />

„Ich hab da noch eine Frage, können Sie mir sagen, wo ich für drei oder vier Tage ein<br />

Handy bekommen kann?“<br />

Der Angestellte dachte nach. „Nur für ein paar Tage?“<br />

„Ja,“ antwortete Holt, „nicht länger als eine Woche.“<br />

Der Angestellte langte in eine Schublade und holte ein Handy heraus. „Sie können<br />

dieses benutzen, es hat ein Ami im Auto liegen gelassen. Sie brauchen sich nur eine Karte für<br />

fünf Dollar kaufen, dann funktioniert es wieder.“ Er tippte auf die Tastatur und das Ding<br />

machte „Quiek!“ „Es hat noch ein Guthaben von über drei Dollar, aber die Batterie ist etwas<br />

schwach, Sie müssten diese aufladen. Hier ist das Ladegerät dafür.“ Dabei legte er ein<br />

schwarzes Kästchen mit zwei Kabelchen auf den Tresen.<br />

Holt beäugte das kleine Ding. Die Tasten könnte er notfalls mit einem Streichholz<br />

oder Kugelschreiber bedienen, dachte er. „Wenn Sie mir nun noch die Telefonnummer sagen,<br />

wäre ich wirklich froh.“<br />

Der Mann nahm Holt den Winzling aus der Hand und drückte ein paar Mal auf verschiedenen<br />

Tasten. „Die Nummer ist ... schreiben Sie auf ... „ er reichte Holt einen Zettel rüber, „506 222<br />

127 52“.<br />

Zehn Minuten später stand er fünfzehn Meter vom Internetcafé entfernt in der zweiten<br />

Spur. Erst nach zwanzig Minuten war ein Parkplatz frei. Nachdem er geparkt hatte, ging er<br />

noch einmal in das Internetcafé. Der Kassierer sah ihn erstaunt an.<br />

„Hier, nehmen Sie bitte diese Telefonnummer, ich habe vergessen, dass ich ja nicht<br />

die ganze Zeit im Zimmer sein kann.“<br />

Der Mann nahm den Zettel entgegen und nickte nur mit dem Kopf.<br />

*<br />

Er war Regenzeit. Vormittags schien die Sonne, zur Mittagszeit zogen Wolken auf und am<br />

Nachmittag regnete es eine Stunde oder auch mehr. Am Abend, in der frühen Dunkelheit,<br />

konnte man bereits wieder trockenen Fußes spazieren gehen. Noch schien die Sonne. Holt<br />

machte es sich auf der Terrasse des Hotels, im Schutze einer Hecke und einer mächtigen<br />

Säule mit einem Buch bequem. Jetzt war es angenehm, hier zu sitzen. Noch vor ein paar<br />

Jahren war es nicht möglich, damals als es die Hecke noch nicht gab. Die Straßenverkäufer<br />

und Schnorrer kamen bis auf die Terrasse und belästigten die Gäste. Innerhalb einer viertel<br />

Stunde wurden den dort Sitzenden mehrere Sortimente kubanischer Zigarren oder<br />

paradiesische Holzvögel, mit denen man Balzgeräusche dieser Spezies hervorbringen konnte,<br />

angeboten. Heute war es anders. Den Schutz der Hecke wagten nur ein paar ganz mutige<br />

Händler zu überwinden, die, welche offenbar das Personal bestochen hatten. Es wurden nur<br />

noch Händler mit „Lizenz“ und ordentlich gekleidete Straßenmädchen eingelassen.<br />

Holt saß nun schon den dritten Tag hier. Das Personal hatte sich an seinen Anblick gewöhnt,<br />

auch die Mädchen, welche es aufgegeben hatten, Holt ihre Begleitung anzubieten. Kurz nach<br />

elf Uhr quietschte das Ding los. Mit dem Stiel des Kaffeelöffels drückte Holt die<br />

Empfangstaste nieder. Es konnte ja nur der Mann aus dem Internetcafé sein.<br />

„Señor, Ihr Schwager ist gerade hereingekommen,“ teilte er einem elektrisierten Holt<br />

mit.<br />

410


„Lassen Sie sich nichts anmerken, ich bleibe draußen und warte.“<br />

„Und mein Geld?“<br />

„Das bekommen Sie, wenn ich wieder zurück bin. Sie brauchen keine Angst zu haben,<br />

ich tue es für meine Schwester.“ Dann drückte er wieder das Ding mit dem Kaffeelöffel aus.<br />

Holt gab dem Kellner fünf Dollar und eilte durch die Kolonnade zum Abstellplatz<br />

seines Leihwagens. Unter dem Scheibenwischer hatten alle Werbezettelausträger von San<br />

José ihre Botschaften hinterlassen. Er entfernte diese und setzte sich ins Auto. Dicht vor ihm<br />

parkte ein gelber Motorroller. Ärgerlich startete Holt den Motor und setzte so weit zurück, bis<br />

er mit der rückwärtigen Stoßstange an das hinter ihm stehende Fahrzeug stieß. Nun konnte er<br />

ganz scharf rechts einschlagen, um schnell aus der Parklücke zu kommen. Ungefähr zwanzig<br />

Minuten vergingen, Holt glaubte hier schon seit Stunden zu stehen, als er Schulz die Treppen<br />

zur Straße heraufkommen sah. Er steuerte direkt auf sein Auto zu. Holt sackte auf dem Sitz<br />

zusammen und zog sich die Kappe ins Gesicht. Schulz war nur zwei Meter entfernt. Er beugte<br />

sich am gelben Motorroller herunter. Schulz setzte sich auf den Motorroller und startete. Mit<br />

einem Blick nach hinten fuhr er langsam in den Verkehr, ohne auf Holts Auto zu achten. Als<br />

die Ampel, zwanzig Meter hinter ihm Rot zeigte und der Verkehrsfluss für einen kurzen<br />

Moment abriss, fuhr er in Richtung Ost auf die Avenida Central. Holt konnte sich gerade<br />

noch einfädeln, als bereits die Abbieger der Querstraße anrollten.<br />

Schulz bog bereits bei der ersten Straße links ab. Holt fuhr ungefähr zwanzig Meter<br />

hinter ihm, nur zwei Autos waren dazwischen. Nach der zweiten Abbiegung wusste er, Schulz<br />

wollte zur Autopista. Tatsächlich bog er auf diese ein, die hier begann oder auch endete,<br />

abhängig davon, in welche Richtung man fuhr. Auf der Autopista gab es keine Ampeln mehr.<br />

Holt konnte den Abstand größer halten und öfters mal die Fahrspur wechseln, ohne von<br />

Schulz bemerkt zu werden.<br />

Schulz hielt sich immer auf der rechten Fahrbahn. Zweihundert Meter vor einem<br />

Abzweig fuhr er jedoch auf den rechten Sandstreifen und nach fünfzig Meter, auf einen<br />

schmalen Pfad, der auf eine Straße führte, die zweihundert Meter weiter ordentlich abzweigte.<br />

Holt fluchte, als er sah, wohin Schulz fuhr. Dieser bog auf die Straße ein und fuhr in Richtung<br />

Süd weiter. Holt raste bis zum Abzweig, schnitt zwei Autos und überholte rechtswidrig ein<br />

Polizeifahrzeug. Dieses ignorierte seine Verstöße und bog, wie er noch im Rückspiegel sehen<br />

konnte, auf einen Parkplatz ab. Ganz in der Ferne, kurz vor einer Kurve, sah Holt noch einen<br />

gelben Fleck, der sich bewegte. Als er auf dem Rücken des kleinen Berges war, sah er Schulz<br />

noch rechtzeitig, ungefähr dreihundert Meter vor sich, in eine Straße nach links abbiegen. Als<br />

Holt an der Abbiegung ankam, erkannte er, wo er sich befand. Er hatte diese Straße ein paar<br />

Mal genutzt, hatte jedoch immer eine andere Abfahrt von der Autopista genommen. Er<br />

brauchte nicht mehr weiter fahren, er kannte das Ziel von Schulz.<br />

Der Kassierer im Internetcafé war erfreut, von Holt die restlichen achtzig Dollar zu<br />

bekommen. „Wollen Sie sich noch einmal fünfzig Dollar verdienen?“<br />

„Hundert!“, antwortete dieser schnell.<br />

„Okay, aber dann nur, wenn Sie das machen, was ich Ihnen jetzt genau erkläre.“<br />

Der Mann nickte.<br />

„Also hören Sie zu. Wenn mein Schwager das nächste Mal kommt, dann ... „<br />

Nach fünf Minuten war der Helfer instruiert. Er hatte ein helles Köpfchen und sofort<br />

begriffen, was Holt beabsichtigte.<br />

Holt hatte mindestens zwei Tage Zeit. Diese nutzte er. Bei Payless konnte er mit dem<br />

freundlichen Vermieter vereinbaren, den Wagen im Hafen von Puntarenas abgeben zu<br />

können. Das Quietschding und ein gutes Trinkgeld wollte er im Handschuhfach deponieren.<br />

In einem anderen Internetcafé hatte er sich ausgiebig mit den maritimen Mitfahrmöglichkeiten<br />

von Puntarenas aus, beschäftigt. Eine holländische Reederei bot eine Mitfahrgelegenheit nach<br />

411


Panama City, mit Stopp in Armuelles, an. Am Telefon teilte ihm eine Frau in Amsterdam mit,<br />

das Schiff würde am Siebenundzwanzigsten von Puntarenas auslaufen, noch wäre ein Platz<br />

frei. Kapitän Van Damme würde sogar zwei Stunden länger warten. Holt buchte die Passage.<br />

Er hatte also noch sechs Tage Zeit. Den Vormittag verbrachte Holt im Goldmuseum. Es lag<br />

vom Hotel nur vierzig Meter entfernt. Als er sich bereits im Vorraum zur Kasse, ein<br />

Museumsprospekt genommen hatte und zur Kasse gehen wollte, klingelte sein Minitelefon.<br />

Holt hörte sich die Meldung an und verließ danach eilig das Museum. Eine halbe Stunde<br />

später fuhr er den Weg zum Haus von Brettschneider hoch. Das Absperrgitter stand offen, ein<br />

neues Schloss war bislang nicht angebracht worden. Vor dem Haus döste Brauny, sie lag im<br />

Schatten ihrer Hundehütte. Wenn Brettschneiders Freundin noch die Arbeit in der<br />

Buchhandlung des Multiplazas bei Escazú hatte, kam sie erst frühestens um sechs Uhr abends<br />

nach Hause. Holt stellte das Auto hinter einem kleinen Wäldchen ab. Danach ging er langsam<br />

den Weg zum Haus hoch, im Hosenbund am Rücken steckte eine geladene, aber noch<br />

gesicherte Heckler & Koch. Brauny hob den Kopf und schaute Holt mit großen Augen an. Sie<br />

war sich nicht schlüssig, ob sie bellen sollte. Holts Stimme beruhigte das Tier, es erkannte<br />

einen alten Freund wieder. Langsam ging er vor dem Hund in die Knie und streichelte diesen<br />

hinter den Ohren.<br />

„Na altes Mädchen, erkennst du mich wieder?“ Brauny leckte Holts Hand, sprang auf<br />

und winselte erfreut.<br />

„Ich schau mich nur einmal um. Morgen komm ich wieder und werde dir was<br />

Leckeres mitbringen.“<br />

Holt ging um das Haus. Alle Türen waren verschlossen. Über einem kleinen Vorbau<br />

stand ein kleines Fenster ein wenig offen, nur ein Spalt, aber Holt sah es. An der rückwärtigen<br />

Seite lag ein Stapel Zementblocksteine. Über diese kam Holt auf das Wellblechdach.<br />

Vorsichtig drückte er das Fenster auf. Er konnte seinen Oberkörper gerade so durch die<br />

Öffnung quetschen. Es handelte sich um eine Art Abstellkammer oder Lager. Er ließ sich<br />

vorwärts nach unten auf den Boden fallen und landete in einem alten Wäschekorb, der<br />

knirschend unter seiner Last zerbrach. Langsam öffnete er die unverschlossene Tür. Niemand<br />

hielt sich im Haus auf. Die zwei Schlafzimmer schienen benutzt zu sein. Schulz war also nicht<br />

in ein gemachtes Bett gekrochen, er erwartete Brettschneider zwar nicht so schnell zurück,<br />

wenn überhaupt, dann wohl erst in ein paar Jahren. Das sein Körper, teilweise verbrannt, nun<br />

in einer Schlucht vermoderte, konnte er nicht wissen.<br />

Auf einem Regal in der Küche fand Holt eine Schachtel mit lösbarem<br />

Limonadenpulver. Schulz trank also immer noch mit Vorliebe die Sorte „Tang“. Beim<br />

Betrachten der Schachtel kam ihn eine Idee. Vor Jahren hatte er selbst ein paar Mal diese<br />

Limonade getrunken. Sie schmeckte stark nach Zitrone, mehr sauer mit süßem<br />

Nachgeschmack. In dieses Pulver könnte man leicht „Etwas“ beimischen, ohne das es<br />

auffallen würde. Das Pulverbeutelchen war am oberen Ende nur verklebt. Dieses könnte man<br />

leicht öffnen, etwas Pulver abfüllen, neues zufüllen, schön vermischen und wieder verkleben.<br />

Man müsste jedoch die Aktion im Auge behalten.<br />

Holt schaute sich um. Wo könnte er sich unbemerkt verstecken? Wie überall in<br />

Mittelamerika waren nur die Wände der Häuser gemauert. Darauf lag in der Regel, auf einer<br />

Holzstellage, das Wellblech der Dächer. Direkt in der Abstellkammer war an der Decke eine<br />

Zugstiegsklappe, um auf den Dachboden zu gelangen. Neben einem wackligen Schrank stand<br />

eine Holzleiter für diesen Zweck. Holt lehnte die Leiter unter der Klappe an die Wand und<br />

drückte diese hoch, bis sie an einem Balken gelehnt stand. Durch das Licht, welches durch die<br />

Ritzen des Daches schien, konnte er, nachdem sich seine Augen an das Halbdunkle gewöhnt<br />

hatten, alles auf dem Dachboden erkennen. Er schob sich Meter um Meter auf der<br />

Mauerkrone zu der Fläche, unter der sich das Hauptzimmer und die Küchenecke befanden.<br />

412


Durch einen Spalt in der Bretterdecke konnte er den mittleren Teil des Wohnzimmers<br />

und die Küche erblicken. Vor ihm stand eine Couch mit Tisch und direkt unter ihm musste<br />

der Fernseher stehen. Bei jeder Bewegung knackte das Holzgebälk. Die Hitze unter dem<br />

Wellblechdach wurde unerträglich. Holt musste für die Durchführung seines Planes diese<br />

Gegebenheiten berücksichtigen. Er hoffte nur, dass, wenn es so weit sei, die Sonne nicht<br />

scheinen würde.<br />

Als Holt an Brauny vorbeiging, schlief diese vor ihrer Hütte. Sie öffnete nur ein Auge<br />

und schloss es sofort wieder, als sie Holt erkannte. In Höhe des Tors klingelte das Telefon.<br />

Der Helfer im Internetcafé teilte Holt mit, Schulz war gerade abgefahren.<br />

*<br />

Batunin blieb nicht untätig, er hatte sich als Rechtsanwalt der Versicherung ausgegeben und<br />

Schulz dazu gezwungen täglich ins Internetcafé zu fahren. Er gab vor, einige Informationen<br />

des „rechtmäßigen“ Eigentümers der Wechsel zu benötigen. Dabei erklärte er, es sähe gut aus,<br />

er Schulz, würde wahrscheinlich den Anspruch auf die Entschädigungssumme zugesprochen<br />

bekommen. Als Holt sich in Brettschneiders Haus aufhielt, hatte er mit Schulz über das<br />

Internetnetz von Skype gesprochen und es so eingerichtet, dass Schulz am nächsten Tag<br />

wieder anrufen musste. In dieser Zeit wollte Holt seine Vorbereitungen treffen, was dieser in<br />

San José und San Isidro auch tat.<br />

In einer Pharmacy erwarb er ein starkes Schlafmittel. Der Verkäufer wollte es nur auf Rezept<br />

herausgeben. Holt hatte so eines, nur auf der Vorderseite war ein Bild von Mr. Jackson aus<br />

den USA und die Zahl „20“ zu sehen. Dem Verkäufer akzeptierte dieses Rezept und Holt<br />

hatte sein Wundermittel. Neben Klebeband und großen Plastikkabelschlaufen benötigte er<br />

noch zwei Decken und ein paar weitere Kleinigkeiten aus der Pharmacy sowie ein Kästchen<br />

mit dem Limonadenpulver Tang. Im Hotelzimmer öffnete er vorsichtig zwei Beutelchen,<br />

nahm jeweils einen Teelöffel Pulver heraus und mischte die zerstoßenen Pillen des<br />

Schlafmittels unter. Auf jedes Beutelchen des Supergetränkes kamen sechs Pillen. Das müsste<br />

reichen. Zusätzlich präparierte er ein drittes Beutelchen. Nachdem er alles vermischt hatte,<br />

gab er zweieinhalb Teelöffel dieses Gemisches in seinen Zahnputzbecher. Danach ließ er aus<br />

dem Hahn Wasser zulaufen und rührte alles um. Die Limonade hatte sich vollständig<br />

aufgelöst, nur das Schlafmittel hinterließ am Boden des Bechers einen weißen, kaum<br />

wahrnehmbaren Film. Sorgfältig nahm Holt einen Schluck und ließ diesen an seinen<br />

Geschmacksnerven wirken. Es schmeckte nach Zitronenlimonade. Dann spuckte er die Brühe<br />

in das Waschbecken, nahm einen frischen Schluck Wasser und gurgelte damit. Der<br />

Geschmack war verschwunden, die verfälschte Limonade war geschmacklich genießbar, wie<br />

die Originalrezeptur. Holt war mit sich zufrieden.<br />

Nachdem er im Hotel auscheckte, wartete er auf Batunins Anruf. Um zehn Minuten nach zwei<br />

Uhr klingelte das kleine Telefon. Batunin war auf der anderen Seite in Deutschland.<br />

„Hans, ich habe ihn auf der anderen Leitung. Du hast von jetzt ab noch ungefähr eine<br />

halbe Stunde Vorsprung, solange kann ich ihn aufhalten. Ich wünsch dir viel Erfolg.“ Danach<br />

legte er auf.<br />

Der Wettergott meinte es gut. Bereits in der Nacht waren Wolken aufgezogen und es wehte<br />

den ganzen Tag ein kühler Wind. In einer kleinen Pulperia kaufte Holt ein Paket Salchichas<br />

für Brauny, als Belohnung für ihr braves Benehmen. Nachdem er den Wagen wieder hinter<br />

dem Wäldchen abstellte, ging er mit seinen Sachen zum Haus. Brauny verschlang das ganze<br />

Päckchen Wurst auf einmal. Im Haus war er fünf Minuten später. Nachdem er die zwei<br />

obersten Brausepulverpäckchen ausgetauscht hatte, ging er auf seinen Beobachtungsposten<br />

413


auf dem Dachboden. Gerade noch rechtzeitig. Er hatte es sich gerade auf der Tür bequem<br />

gemacht, als er den Motorroller hörte. Schließgeräusche und das Knarren der Eingangstür<br />

folgten. Holt schaute durch den Ritz. Schulz war noch außerhalb des Sichtbereiches. Kurze<br />

Zeit später sah er ihn, Schulz ging an den Kühlschrank und stopfte sich etwas in den Mund.<br />

Danach griff er zur Limonadenschachtel, verharrte jedoch einen Moment und ging ins<br />

Wohnzimmer zurück. Unter sich hörte Holt, wie der Fernseher angestellt wurde. Es war die<br />

volle Stunde. Holt schaute auf seine Uhr. Schulz wollte die Noticias sehen, die aktuellen<br />

Lokalnachrichten. Mit schlurfenden Schritten ging er in die Küche zurück und setzte fort, was<br />

er begonnen hatte: Er rührte sich eine Zitronenlimonade an. Den Handbewegungen nach<br />

musste er drei Teelöffelchen Pulver eingerührt haben. Noch besser! Als Schulz sich umdrehte<br />

und zu dem laufenden Fernseher schaute, konnte Holt sehen, wie er mit dem Löffel noch im<br />

Glas rührte. Dann legte er den Löffel auf die Küchenbar und nahm noch im Gehen einen<br />

kräftigen Schluck. Am Gesicht konnte Holt keine Veränderung ablesen, er hatte keinen<br />

Unterschied gemerkt. Nachdem er sein Glas auf dem Tischchen abgesetzt hatte, nahm er auf<br />

der Couch Platz. Aufmerksam verfolgte er die Meldungen im Fernseher. Ab und zu griff er<br />

zum Glas und trank einen weiteren Schluck. Nach den Nachrichten folgte eine Sendung, in<br />

der nur Frauen sprachen, eigentlich mehr kreischten. Schulz verfolgte diese mit<br />

abnehmendem Interesse, zwischendurch gähnte er ein paar Mal. Holt sah, wie er sich ein<br />

Kissen unter den Kopf zog und wie er nach einigen Minuten die Augen schloss. An den<br />

gleichmäßigen Bewegungen seines Brustkorbes erkannte Holt, Schulz schlief fest. Langsam<br />

zog er sich von der Tür und krabbelte zum Ausstieg.<br />

Schulz lag noch so halb auf der Couch, wie ihn Holt zuletzt durch die Ritze gesehen<br />

hatte. Er schlief fest, wurde auch nicht wach, als Holt ihn halb auf den Rücken drehte und<br />

seine Hände mit den Kabelschläuchen fesselte. Er grunzte nur. Bis zur Rückkehr der Frau<br />

waren es noch zwei Stunden. Holt handelte nach Plan.<br />

414


Epilog<br />

oder<br />

Die Nähe zum Tod<br />

Die leere Ampulle warf er in die noch lodernden Flammen. Schulz sah, wie Holt die Luft aus<br />

der Spritze presste, indem er die Nadel nach oben richtete und durch den Druck des kleinen<br />

Pumpschwengels in der Spritze, ein kleiner Teil der Flüssigkeit entwich.<br />

Bei Schulz verkrampfte sich der Magen, er erbrach sich auf den Schoß, er hatte den<br />

Totenkopf gesehen, so wie es Holt auch vorgehabt hatte. Er stöhnte und keuchte, „Das kannst<br />

du nicht machen, mich wie ein Tier mit Gift umbringen.“<br />

„Du bist ein Tier Schulz,“, antwortete Holt und stieß ihm die Nadel in den<br />

Oberschenkel, „aber du wirst nicht sterben, wenn du machst, was ich dir sage. Dein Schicksal<br />

liegt nicht in Gottes, sondern in deiner eigenen Hand.“<br />

Schulz krümmte sich wie ein Wurm, er war blass wie eine Leiche. Pures Entsetzen<br />

schaute aus seinen glasigen Augen. Holt nahm es mit Genugtuung wahr.<br />

„Ich habe dir eben Ebola 53 gespritzt, leider nur eine sehr schwache Variante. Das ist<br />

genauso ein Stoff wie eine Pockenschutzimpfung, bei dem die Kinder das abgeschwächte<br />

Virus einer Kuhpocke bekommen. Ein Freund von mir arbeitet im Tropenmedizinischen<br />

Institut in Hamburg. Dort haben sie diesen Virus entwickelt, jedoch noch nicht an Menschen<br />

ausprobiert. Du bist also der Erste, an dem es ausprobiert wird.“<br />

Schulz fiel nach hinten und rollte zur Seite, das Erbrochene sickerte in den Sand. Er<br />

wurde bewusstlos. Holt schüttelte den Rest der Sachen aus dem Koffer und schöpfte damit am<br />

Ufer Wasser, welches er einige Augenblicke später über Schulz ausschüttete. Der kam wieder<br />

zu sich und blinzelte durch das Wasser in seine Augenhöhlen Holt an.<br />

„Also hör zu du Ebola-Affe. Der Virus hat eine Inkubationszeit von mindestens acht<br />

Wochen, das heißt, wenn du das Gegenmittel vom gleichen Tropenmedizinischen Institut<br />

nicht gespritzt bekommst, krepierst du. Du hast vielleicht auch neun Wochen Zeit, aber keine<br />

zehn, dann ist Basta.“<br />

Schulz fing sich wieder ein wenig. „Was soll ich, verdammt noch einmal, machen, um<br />

nicht zu verrecken?“, wollte er wissen.<br />

„Es ist ganz einfach. Du musst innerhalb von acht Wochen nach Ulm fahren. Dort<br />

meldest du dich bei einem Notar namens Schulz, den ich extra für dich ausgesucht habe,<br />

damit du den Namen nicht vergisst. Bei ihm gibst du dann ein umfangreiches Geständnis aller<br />

deiner Verbrechen zu Protokoll und unterschreibst die Vernehmungsprotokolle, die wir<br />

damals gemacht hatten. Aus diesem muss klar hervorgehen, dass du ohne Zwang handelst. Du<br />

gibst an, von Reue und Heimweh zerrissen, diese Aussage freiwillig zu machen. Wenn du<br />

auch nur meinen Namen nennst oder alle die Punkte nicht in deinem Geständnis enthalten<br />

sind, die ich dem Notar bereits mitgeteilt habe, bekommst du den Schlüssel nicht, der dir das<br />

Tor zum Leben öffnen kann.“<br />

„Was macht der Notar mit dem Geständnis?“, wollte Schulz wissen.<br />

Holt sagte es ihm. „Damit geht er weisungsgemäß zur Staatsanwaltschaft, damit du<br />

deinen Prozess bekommst.“<br />

„Holt, dann bekomme ich mindestens zehn Jahre.“<br />

„Sicherlich, aber du bleibst am Leben und der Gerechtigkeit ist genüge getan.“<br />

„Mensch, wie soll ich jetzt nach Deutschland kommen, du hast meine Papiere<br />

verbrannt, ich habe keine Klamotten am Leib und bin gefesselt.“<br />

„Das ist dein Problem, das ist die Würze an meiner Rache, ich werde dir die<br />

Fußfesseln abnehmen ... und dort am Baum, neben dem schwarzen Stein ... siehst du ihn?“<br />

Schulz drehte den Kopf zum Waldrand und nickte, als er den Baum erkannte.<br />

„Dort werde ich eine kleine Nagelschere anhängen, damit du dir die Handfesseln<br />

durchschneiden kannst. Geh dort am Ufer entlang, bis du in Montezuma auf Menschen stößt.<br />

415


Und eins rate ich dir noch, lass dich nicht in Escazú oder bei Brettschneiders Freundin sehen.<br />

Dein Haus in Escazú ist, wie es dir ja bereits bekannt sein dürfte, vom Vermieter geräumt und<br />

bereits wieder vermietet.“<br />

Holt stand auf und holte aus der Jackentasche noch eine gefüllte Spritze, deren<br />

Schutzhaube er von der Nadel zog. Die Pupillen von Schulz erweiterten sich schreckhaft, was<br />

Holt mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.<br />

„Halt still, zittere nicht wie ein Lämmerschwanz, das ist nur ein Schlafmittel. Ich habe<br />

dir bereits drei davon verpasst. Du wirst in ein paar Stunden wieder aufwachen, wenn du<br />

schläfst, mache ich die Fußfessel auf. Du wirst also irgendwann in der Nacht zu dir kommen,<br />

dann, warte bis es hell wird, ehe du loswanderst.“<br />

Holt schmiss auch diese Spritze in die erlöschenden Flammen und setzte sich auf den<br />

hochkant gestellten Metallkoffer. Als er sah, dass sich Schulz Augen schlossen, wartete er<br />

noch einen Moment und stieß die Spitze seines Schuhs heftig in Schulzens Rippen, der jedoch<br />

darauf nur mit einem Stöhnen reagierte. Danach sammelte er seine Sachen ein, zerschnitt die<br />

Fußfesseln und ging zum Wagen zurück. Am Waldrand schaute er noch einmal auf das im<br />

Sand liegende Bündel Elend, aber es überkam ihn kein Mitleid.<br />

Die Fahrt nach Paquera schaffte er in knapp drei Stunden. Holt hatte Glück, er konnte mit<br />

seinem Wagen als Letzter auf die Fähre, nachdem er nur zehn Minuten wartete. Die Überfahrt<br />

verging schnell, er war im Wagen sitzen geblieben und dachte über die Ereignisse der letzten<br />

Wochen nach und kam zu dem Schluss, alles richtig gemacht zu haben. Im Hafen von<br />

Puntarenas lag der Holländer noch an der Pier, als Auslaufzeit war 17:30 Uhr angegeben.<br />

Gleich neben der Hafenverwaltung befand sich die Autowerkstatt, wo er das Auto abgeben<br />

sollte. Der Meister wusste Bescheid, schaute sich kurz den Wagen an und quittierte Holt den<br />

Empfang. Damit war alles erledigt. In der Hafenverwaltung hatten die Behörden, neben dem<br />

Zoll, auch einen Beamten der Immigration. Die Abfertigung vollzog sich schnell, zur<br />

Verwunderung Holts, der eine zähe und komplizierte Wartezeit vermutete. Zu seinem<br />

Ausreisestempel im Pass bekam er noch ein Formular zum Ausfüllen, das er beim Betreten<br />

des Schiffes an den Polizeiposten an der Gangway abzugeben hatte um passieren zu können.<br />

Die Besatzung war zum Auslaufen bereit. Holt meldete sich beim Kapitän, als der<br />

angekündigte Passagier. Kapitän Van Damme war ein freundlicher älterer Mann, der darauf<br />

bestand, ihn selbst die Unterkunft zu zeigen, die gleich neben der Kapitänskabine lag.<br />

Eigentlich wäre für die Überfahrt nach Puerto Armuelles in Panama keine Kabine notwendig.<br />

Nach acht Stunden Fahrt würde das Schiff schon wieder anlegen. Da sich aber erst in<br />

Armuelles zwei Passagiere zur Weiterfahrt nach Colon, über Panama City und dem Kanal,<br />

angemeldet hatten, konnte Holt ohne Aufpreis die Kabine alleine nutzen, was er auch gerne<br />

tat, nachdem er in der letzten Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte.<br />

Während er noch seine Sachen verstaute, bemerkte er die Erschütterung, entstanden<br />

durch das Anwerfen des großen Schiffsdiesels. Nach kurzer Zeit kam Bewegung in das<br />

Schiff. Durch das geöffnete Bullauge hörte er die kurzen Befehle des Kapitäns zum Ablegen<br />

und das Klatschen der Festmacherleine im Wasser des Hafenbeckens.<br />

Als er aus dem Seitengang auf die Brückennock trat, war die Pier schon fünfzig Meter<br />

entfernt. Das Schiff nahm Kurs auf die offene See. Die Dämmerung brach herein. Nach und<br />

nach verschwanden nun die Konturen des von Holt vom ganzen Herzen verfluchten Landes,<br />

die Lichtpunkte der Beleuchtungsanlagen schimmerten noch durch die junge Nacht, bis auch<br />

diese erlöschten. Dort wo Costa Rica lag, war Dunkelheit, war Vergangenheit, dort irrte jetzt<br />

vielleicht ein total verstörter Schulz durch den nächtlichen Nationalpark von Cabo Blanco. Er<br />

wusste nicht, dass Holt drei Tage vorher in einer Pharmazie in Escazú fünf Spritzenfläschchen<br />

Schlafmittel, eine Ampulle Stärkungsmittel und eine Packung Rattengift, das mit einem<br />

schönen schwarzen Totenkopf versehen war, erworben hatte. Weiter wusste Schulz nicht,<br />

welcher Totenkopf später am Strand ein bestimmtes Fläschchen zierte und ob es in Ulm<br />

416


wirklich einen Notar namens Schulz gab. Ob Holt jemals einen Freund hatte, der angeblich in<br />

einem Tropeninstitut in Hamburg arbeitete. Aber was auf tödliche Weise stimmte, es gab<br />

wirklich EBOLA.<br />

Holt schaute nach vorne zum Bug, er konnte nichts erkennen, bis auf eine Leuchttonne<br />

an der Backbordseite, die scheinbar langsam am Schiff vorbei zog und achtern in der<br />

Dunkelheit verschwand. Dort vorne, in dieser Richtung, muss irgendwo Panama liegen, wo<br />

Pauline voller Sorgen auf ihn wartet.<br />

ENDE<br />

417


Erläuterungen<br />

1) Heredia: Kleinstadt in Costa Rica, nordwestlich von San José gelegen.<br />

2) Poas: Erloschener Vulkan in Costa Rica 2704 Meter über den Meeresspiegel,<br />

nordwestlich von San José gelegen.<br />

3) Puntarenas: Größte Hafenstadt an der Westküste von Costa Rica, in der Bucht von<br />

Nicoya gelegen.<br />

4) Montezuma: Kleiner Küstenort an der Pazifikküste, auf der südlichen Spitze der<br />

Halbinsel Nicoya mit gleichnamigen Strand, der Playa Montezuma. Beide Orte<br />

wurden nach den legendären Aztekenfürsten Montezuma benannt.<br />

5) Puerto Monero: Kleine Hafenortschaft am nordwestlichen Ende der Bucht von<br />

Nicoya. Fähre zur Halbinsel.<br />

6) San José, die Hauptstadt von Costa Rica, liegt im zentralen Tal, gleichnamiger<br />

Kanton mit 1,3 Millionen Einwohner.<br />

7) Playa Tamarindo: Touristengebiet an der nordwestlichen Pazifikküste, Kanton<br />

Guanacaste.<br />

8) Panamericana: Der internationaler Verbindungsweg, der von angeblich von<br />

Alaska, in den USA, bis nach Feuerland, Chile, gehen soll. In Mittelamerika geht<br />

er auch durch Costa Rica, endet in Panama in der Provinz Darien und taucht in<br />

Kolumbien wieder auf. Eine Traumvision der „Panamerikaner“.<br />

9) Playa Tambor: Badestrand an der Pazifikküste am südöstlichen Teil der Halbinsel<br />

Nicoya.<br />

10) Nationalpark Cabo Blanco: Liegt am südlichsten Zipfel der Halbinsel Nicoya.<br />

Dem Park ist eine gleichnamige Insel vorgelagert.<br />

11) Berlinförderungsgesetz: Diente der Ankurbelung der Wirtschaft im ehemaligen<br />

Westberlin, welche aufgrund ihrer abgetrennten Lage vom übrigen Bundesgebiet<br />

oftmals wirtschaftliche Standortnachteile hatte.<br />

12) Günter Schabowski, Regierungssprecher der DDR-Regierung 1989. Schabowski<br />

war viele Jahre 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED von Ostberlin und vorher<br />

Chefredakteur der Parteizeitung Neues Deutschland. In der Wendezeit wird er<br />

kurzfristig Pressesprecher der Modrow- Regierung. Er ist einer der wenigen<br />

Parteifunktionäre, die Verantwortung für die Verbrechen der SED übernommen<br />

haben. Durch ein bundesdeutsches Gericht wurde er in den 90ger Jahren zu einer<br />

Freiheitsstrafe verurteilt. Seit seiner Strafverbüßung lebt er, von seinen ehemaligen<br />

Genossen geschnitten, als freier Schriftsteller in Berlin.<br />

13) Runder Tisch: Bezeichnung für ein Diskussionsforum zwischen Angehörigen der<br />

Bürgerbewegung und gemäßigten Vertretern der SED.<br />

14) Erich Honecker, langjähriger Generalsekretär des ZK der SED. Geboren 1912 in<br />

Wiebelskirchen (Saarland) und gestorben 1994 in Chile. Erbauer der Berliner<br />

Mauer im Auftrage der sowjetischen Besatzer. In seiner Amtszeit fiel 1989 der<br />

Zusammenbruch der DDR.<br />

15) Montagsdemonstration: Demonstration der Bürgerrechtsbewegung, in der<br />

Wendezeit jeden Montag in Leipzig. Von dieser Demonstration ging die friedliche<br />

Revolution 1989 in der DDR aus.<br />

16) „Chinesische Lösung“: Gemeint war die gewaltsame Zerschlagung einer<br />

Demonstration der Bürgerrechtsbewegung nach chinesischem Vorbild. Im<br />

Sommer 1987 hatte die chinesische Volksbefreiungsarmee auf dem Tianaamen-<br />

Platz ein Massaker verursacht.<br />

17) Eigentlich Kampfgruppen der Arbeiterklasse: Bewaffnete Miliz der SED. Wurden<br />

nach dem Volksaufstand 1953 zum Schutz der SED- Funktionäre bei zukünftigen<br />

Auseinandersetzungen mit dem „Klassenfeind“ gegründet.<br />

418


18) Neues Deutschland: Zentralorgan der Zentralkomitee der Sozialistischen<br />

Einheitspartei Deutschlands, Parteizeitung der SED und später der PDS.<br />

19) PKE: Pass/Personen Kontrolleinheit des Ministeriums für Staatssicherheit,<br />

zugeordnet den Grenztruppen der DDR.<br />

20) Tränenpalast: Volkstümliche Bezeichnung für ein Glasgebäude am ehemaligen<br />

Grenzübergang Friedrichstraße, diente nur der Ausreise. Die Einreise wurde über<br />

die Haupthalle des Bahnhofes geleitet.<br />

21) Check Point Charly: Der Grenzübergang für das westalliierte Personal und<br />

Militärpersonal zischen dem amerikanischen und sowjetischen Sektoren in Berlin.<br />

In der Übersetzung lautete dieser Übergang: Kontrollpunkt C.<br />

22) Die Postbeamten gehörten alle der Arbeitsgruppe XVII – Büro für Besuchs- und<br />

Reiseangelegenheiten (BfBR) in Berlin (West) an, welche auch fälschlich im<br />

Westen als Hauptabteilung 17 bezeichnet wurde. Diese Arbeitsgruppe wurde extra<br />

für die Organisation des Besucherdienstes in Westberlin, auf Anraten und Wunsch<br />

vom Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) Generaloberst Markus Wolf,<br />

bereits 1962 gegründet, dem sie jedoch nicht direkt unterstand. Diese<br />

Arbeitsgruppe arbeitete sehr eng mit der Abteilung VI (Operativer Reiseverkehr)<br />

der HVA zusammen.<br />

23) Wolf Biermann: 1976 wurde Biermann von der IG Metall zu einer Konzertreise in<br />

die Bundesrepublik Deutschland eingeladen, wofür ihm die Behörden der DDR<br />

eine Reisegenehmigung erteilten. Das erste Konzert fand, vom Dritten<br />

Fernsehprogramm des WDR live übertragen, am 13. November in der Kölner<br />

Sporthalle statt. Dieses Konzert – Biermann hatte die DDR stellenweise kritisiert,<br />

bei anderen Anlässen wie etwa einer Diskussion über den 17. Juni aber auch<br />

verteidigt – diente dem Politbüro der SED als Vorwand für die Ausbürgerung<br />

wegen grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten, wie von ADN am 16.<br />

November verbreitet wurde. Nach der Ausbürgerung übernahm das ARD-<br />

Fernsehen das Konzert in voller Länge. Erst durch diese Übertragung – das Dritte<br />

Fernsehprogramm des WDR konnte in der DDR nicht empfangen werden –<br />

erfuhren viele Menschen in der DDR zum ersten Mal etwas über Biermanns Lieder<br />

24) Exen: Kommt von Exmatrikulation (Entlassung), umgangssprachlich bei der<br />

Studentenschaft.<br />

25) Beide Gebäude wurden mit dem Geld amerikanischer Investoren bereits 1929 nach<br />

den Plänen des Architekten Peter Behrens gebaut und 1932 fertig gestellt.<br />

26) Es war zu erwarten, dass die im Westen lebenden potenziellen Verkäufer den Wert<br />

ihrer im Osten verbliebenen Immobilien sehr wohl genau kannten oder zumindest<br />

erahnten. Besser wäre es, im Osten verbliebene Eigentümer, die de facto ihrer<br />

Eigentumsrechte beraubt waren, zu ermitteln und diesen Angebote zu unterbreiten.<br />

Etliche dieser Eigentümer hatten viele Jahre unter erheblichen Entbehrungen und<br />

unter dem Druck des sozialistischen Staates leben müssen, sie konnten oftmals von<br />

den gesetzlich vorgeschriebenen Mieteinnahmen nicht einmal die notwendigen<br />

Erhaltungsmaßnahmen durchführen, welche dann durch Zwangshypotheken<br />

aufgenommene Darlehen durchgeführt werden mussten.<br />

27) Reinhold Huhn (* 8. März 1943 in Adorf/Vogtland; † 18. Juni 1962 in Ost-Berlin)<br />

war Soldat der Grenztruppen der DDR, als er in der Zimmerstraße 56 in Berlin<br />

durch den Fluchthelfer Rudolf Müller erschossen wurde. Nach ihm wurde die<br />

Berliner Reinhold-Huhn-Oberschule (POS) benannt, sowie in Berlin, Magdeburg<br />

und Hildburghausen die Reinhold-Huhn-Straße. Ein ihm gewidmetes Denkmal<br />

stand bis 1990 in der Berliner Schützenstraße (die bis zur Wende Reinhold-Huhn-<br />

Straße hieß)/Jerusalemer Straße und eine Gedenktafel in der Nikolai-Bersarin-<br />

Kaserne in Berlin-Lichtenberg.<br />

419


28) Die Conference on Jewish Material Claims Against Germany, auch Claims Conference<br />

und Jewish Claims Conference (JCC), ist ein Zusammenschluss jüdischer<br />

Organisationen. Sie vertritt seit ihrer Gründung 1951 Entschädigungsansprüche<br />

jüdischer Opfer des Nationalsozialismus und Holocaust-Überlebender. Die<br />

Organisation hat ihren Sitz in New York und unterhält in Frankfurt am Main, Wien<br />

und Tel Aviv Repräsentanzen.<br />

29) Eigentlich war die allgemeine Beschreibung in den Zeitungen, dass die DDR der<br />

Bundesrepublik beitrat, verfassungsrechtlich unrichtig. Die DDR würde niemals<br />

beigetreten, sondern nur die neu gebildeten ostdeutschen Länder, die in ihrer<br />

Summe die Fläche der DDR ausmachten. Der Bevölkerung im zukünftigen<br />

Beitrittsgebiet war es egal, auf welchem Wege Deutschland seine Einigung<br />

erzielen sollte. Im Vordergrund allen Denkens und Handelns stand die schnelle<br />

Anhebung des Lebensstandards und die persönliche Freiheit, eingeschlossen die<br />

Freiheit zu reisen, wohin man wollte.<br />

30) Eine ganz bekannte Querele mit der Ostverwaltung der Deutschen Reichsbahn<br />

hatte der Senat über achtzehn Jahre mit den sogenannten Yorkbrücken. Nach dem<br />

Mauerbau wurden viele Strecken in Westberlin stillgelegt und diese vergammelten<br />

im Laufe der Jahre. Die Reichsbahn hatte sich viele Jahre geweigert, für die<br />

Instandhaltung zu sorgen, bis der Senat mit Zwangsmaßnahmen drohte und die<br />

von der DDR-Regierung angewiesene Reichsbahn gegen großzügige<br />

Entschädigungen einlenkte und dem Senat die Instandsetzung aufs Auge drückte.<br />

31) Die SED hatte hier ihre Kader geschult und die Kursanten aus dem gesamten<br />

Gebiet der DDR hier auf Parteiorder hin, faktisch interniert, beköstigt und kulturell<br />

betreut.<br />

32) Die Jugendweihe ist eine festliche Initiation, die den Übergang vom Jugend- ins<br />

Erwachsenenalter kennzeichnen soll. Sie ist eine nichtkirchliche Alternative zur<br />

Konfirmation in den Evangelischen Kirchen und zur Firmung der katholischen<br />

Kirche.<br />

33) Über Perlitz und seinem adligen Widerpart, Graf Hardenberg, wurde ein Film<br />

gedreht: Zwei Charaktere mit diametral entgegen gesetzten Idealen, verbunden<br />

durch den gemeinsamen Feind: Hitler-Deutschland. 1944 begegnen sie sich im<br />

Krankenbau des KZ Sachsenhausen der überzeugte Kommunist und Arbeiter Fritz<br />

Perlitz und der überzeugte Monarchist Carl-Hans Graf Hardenberg. Dass sich der<br />

Weg dieser beiden Männer kreuzte, hat Hitler verursacht. Kämpfte der eine von<br />

Anbeginn gegen das NS-Regime, was ihn 1941 ins KZ brachte, geriet der andere<br />

durch seine Beteiligung an der 20. Juli-Verschwörung, der "Operation Walküre",<br />

in die Fänge der Nazis. Begegnet waren sich beide schon 1931 – inmitten der<br />

verheerenden Weltwirtschaftskrise - anlässlich eines Landarbeiterstreiks und<br />

selbstverständlich auf feindlichen Positionen. Fritz Perlitz stand auf der Seite der<br />

Arbeiter, der Graf als Großgrundbesitzer auf der anderen.<br />

Im KZ lernen sich die zwei "Vaterlandsverräter" kennen und schätzen, deren<br />

Herkunft und Denkweise nicht gegensätzlicher sein konnte. Die Kommunisten im<br />

Lager sorgen nicht nur dafür, dass der Graf, der versucht hatte, sich das Leben zu<br />

nehmen, überlebt, sie zeigen ihm auch, wie man sich bei Verhören zu verhalten<br />

hat. Für kurze Zeit, so will es scheinen, vereinen sich zwei unüberbrückbare<br />

Geisteshaltungen.<br />

34) Die Konstruktion dieser Vertragsform war so gestaltet, dass ein<br />

Grundstückseigentümer einen Dritten, den Benennenden, Vollmacht erteilte, für<br />

ihn bodenrechtliche Maßnahmen einzuleiten, die den Wert seines Grundstückes<br />

erheblich steigerte. Im Gegenzug konnte nur der Benennende für das Grundstück,<br />

zu vorher bereits festgelegten Konditionen, im Namen des Eigentümers, einen<br />

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Käufer „benennen“, daher hieß der Name dieser Vertragsform<br />

„Käuferbennungsvertrag“.<br />

35) Onlinecasino oder auch Onlinekasino und Internetkasino: Spielkasino mit den<br />

klassischen Spielangeboten. Kann jedoch nur auf einer Website, durch das Internet<br />

online gespielt werden.<br />

36) Villa Globus (im Roman der geänderte Name): Diese Privatbank existierte über<br />

dreißig Jahre in San José, die genannten Zinssätze waren real. Auf Betreiben des<br />

US-amerikanischen Finanzministeriums wurden alle Konten eingefroren, die Bank<br />

wurde 2003 handlungsunfähig.<br />

37) Saving Money (im Roman der geänderte Name): Diese Privatbank existierte acht<br />

Jahre in San José, die genannten Zinssätze waren real. Auf Betreiben des USamerikanischen<br />

und des kanadischen Finanzministeriums wurden alle die Bank<br />

wurde 2005 in den Konkurs getrieben.<br />

38) Royalty: Ursprünglich eine spezielle Steuer für Wetten und Spiele an den<br />

britischen Monarchen. Im Internetzeitalter wird damit eine Lizenzgebühr des<br />

Betreibers eines Onlinekasinos an den Entwickler der Software bezeichnet, der<br />

Eigentümer der Software bleibt und diese nur „verleiht“.<br />

39) IQ-Playdorum (im Roman der geänderte Name): Softwareentwickler für Kasinound<br />

Wettbürosoftware. Betreibt selbst seit Mitte der neunziger Jahre Onlinekasinos<br />

und Sportbooks in Costa Rica. Ein Ex-Präsident ist Teilhaber der Firma.<br />

40) Rosti Pollo: Hähnchengrillkette in Costa Rica. Die Hähnchen werden auf<br />

Kaffeeholz gegrillt. Dadurch bekommen sie einen besonderen Geschmack, der von<br />

keinem anderen Grill erreicht werden kann.<br />

41) Power of Attorney: Allumfassende Generalvollmacht für einen Rechtsanwalt.<br />

42) Sportsbook: Wettbüro für Sportwetten, wie Fußball und Pferdesport. Ist oftmals in<br />

den USA illegal, in vielen Ländern jedoch erlaubt, u.a. auch in Costa Rica.<br />

43) Die Intra Costal ist ein großes System von Flüssen mit Einmündungen zum<br />

Atlantik, oftmals großen Seeartigen Verbreiterungen der Flüsse. Alle fünf bis zehn<br />

Meilen überspannten mächtige und hohe Autobrücken die Intra Costal. Die<br />

Straßen über diese Brücken führten in West-Ost-Richtung von der I 95, über die<br />

US 1 zur A1A, der wunderschönen Küstenstraße. Die Intra Costal begann im<br />

Norden bei Jacksonville, eigentlich schön früher in Georgia, noch richtiger,<br />

irgendwo ganz, ganz im Norden bei New York. Sie zog sich immer, nicht weit<br />

entfernt vom Atlantik, durch die östlichen Teile der USA.<br />

44) In den USA gebräuchliche Wordkombination. Setzt sich zusammen, aus den<br />

Begriffen „Slums“ und „Landlord“. Gemeint ist damit ein Haus- oder<br />

Wohnungseigentümer, welcher heruntergekommene Häuser oder Wohnungen in<br />

Slumgebieten vermietet.<br />

45) In den USA beliebtes Unternehmen, welches für Umzugswillige geeignete<br />

Transporter, Hilfsmittel und diverses Umzugsgut vermietet. Der Name meint „Du<br />

transportierst selbst!“<br />

46) Pro Bono: Rechtsfälle, welche von Anwälten unentgeltlich durchgeführt werden.<br />

Meistens handelt es sich um Fälle, in denen sich der Anwalt in der Öffentlichkeit<br />

profilieren kann. Es gibt aber auch sogenannte „Lobbyfälle“, indem Anwälte einer<br />

bestimmten Religion oder Rasse Mandanten gleicher Religion oder Rasse helfen.<br />

47) Taser: Eine Elektroschockpistole (oder Distanz-Elektroimpulswaffe) ist eine<br />

pistolenähnliche Elektroimpulswaffe, die zwei oder vier mit Widerhaken<br />

versehene Projektile gegen den Körper der Zielperson schießt und danach<br />

kontrollierte elektrischen Schläge durch die mit den Projektilen verbundenen<br />

Drähte erzeugt. Der Name Taser stammt als Akronym von Roger A. Swift’s<br />

Electric Rifle.<br />

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48) Propina: Spanisch für Trinkgeld<br />

49) Semjon Michailovitsch Budjonny, Marschall der Sowjetunion, Organisator in der<br />

Roten Armee und Heerführer (Berittene Streitkräfte).<br />

50) Held der Sowjetunion: Höchste Tapferkeitsauszeichnung der sowjetischen<br />

Streitkräfte, ähnlich dem Ritterkreuz der Deutschen Wehrmacht im Zweiten<br />

Weltkrieg.<br />

51) HVA: Hauptverwaltung Aufklärung beim Ministerium für Staatssicherheit der<br />

DDR. War die Spionageabwehr und Gegenspionage der DDR.<br />

52) Stärkster russischer Fluch, der den Betroffenen auffordert, mit seiner Mutter<br />

Geschlechtsverkehr auszuüben.<br />

53) Ebola: Oftmals tödlich verlaufende Tropenkrankheit. Die Viren stammen aus den<br />

tropischen Regenwäldern Zentralafrikas und Südostasiens (Subtyp Reston) und<br />

traten erstmals 1976 in Yambuku, Zaire (Demokratische Republik Kongo) und<br />

nahezu gleichzeitig im Sudan auf. Die Gattung wurde nach dem kongolesischen<br />

Fluss Ebola benannt, in dessen Nähe es zum ersten Ausbruch kam. In 55 Dörfern<br />

entlang dieses Flusses erkrankten 318 Menschen, von denen 280 starben, welches<br />

einer Sterberate von 88% entspricht. Der erste Fall trat in einem belgischen<br />

Missionskrankenhaus auf. Kurz darauf waren fast alle Nonnen und<br />

Krankenschwestern – sowie die meisten, die das Krankenhaus besucht hatten oder<br />

noch dort waren – erkrankt. Die Schwestern besaßen nur fünf Injektions-Nadeln,<br />

die sie, ohne sie zwischendurch zu desinfizieren oder zu sterilisieren, für hunderte<br />

Patienten verwendet hatten.<br />

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