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Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

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502 SCHICKHARDT<br />

inhaltlich näher bestimmt und explizit klärt, worin konkret das Wohl von Kindern besteht<br />

bzw. was im sogenannten Interesse von Kindern liegt. Diese Erwar<strong>tun</strong>g <strong>wir</strong>d allerdings<br />

enttäuscht. Das Kindeswohl ist ein – nicht nur im deutschen Gesetz – unbestimmter<br />

Rechtsbegriff.<br />

Traditionell wurden von liberalen Positionen aus Bedenken und Einwände gegen eine (auch<br />

nur partielle) gesetzliche Festlegung des Kindeswohlbegriffs vorgebracht – wo<strong>bei</strong> meines<br />

Erachtens ein einseitiges Verständnis des liberalen Werts der Freiheit als Basis diente. Die<br />

rechtspolitische Sichtweise, die bestimmten liberalen Bedenken und Einwänden zugrunde<br />

liegt, sowie die sich aus ihr ergebende Rolle des Kindeswohlbegriffs im Rechtssystem zeigen<br />

<strong>bei</strong>spielhaft die Schwierigkeiten, die der Kindeswohlbegriff für den politischen Liberalismus<br />

birgt: Einerseits scheint vom Ideal des liberalen Rechtsstaates die Forderung ableitbar, dass<br />

sich der Staat aus der sensiblen Sphäre der Familie und der elterlichen Kindererziehung<br />

grundsätzlich heraushalten soll. Da eine inhaltliche Bestimmung oder Teilfestlegung des<br />

Kindeswohls darauf hinauslaufen würde, den Eltern mit staatlicher Autorität und potenzieller<br />

staatlicher Gewalt direkt oder indirekt (durch die Bindung des Elternrechts an das<br />

Kindeswohl) ein Erziehungsziel für ihr Kind vorzugeben, erscheint gemäß liberalen Idealen<br />

eine solche inhaltliche Bestimmung als inakzeptabel.<br />

Andererseits anerkennt der Liberalismus jedoch auch generell den Wert der Rechtssicherheit<br />

und des Schutzes der Bürger vor staatlicher Willkür, wozu eben die Bestimmtheit von<br />

Rechtsbegriffen wesentlich <strong>bei</strong>trägt. Der Liberalismus hat speziell aus den Erfahrungen mit<br />

totalitären und autoritären Regimen und Staatssystemen die Lehre gezogen, dass sich ein<br />

vager Kindeswohlbegriff leicht durch den Staat missbrauchen lässt, z.B. um politisch oder<br />

sozial unliebsamen oder unbequemen Eltern unter Berufung auf ein rechtlich unbestimmtes<br />

Kindeswohl ihr Kind wegzunehmen und es der Erziehung und Obhut linientreuer<br />

Adoptiveltern oder staatlicher Einrich<strong>tun</strong>gen zu überantworten. Die Missbrauchsgefahr<br />

durch den Staat ist umso größer, je unbestimmter und vager der Rechtsbegriff des<br />

Kindeswohls ist.<br />

Es kommt somit in Teilen des liberalen Denkens zu der merkwürdigen und problematischen<br />

Konstellation, dass der Staat sich einerseits in möglichst großem Umfang aus der inhaltlichen<br />

Bestimmung des Kindeswohlbegriffs heraushalten soll, andererseits aber gerade die<br />

rechtliche Unbestimmtheit des Kindeswohlbegriffs als unerwünscht und bedrohlich<br />

wahrgenommen <strong>wir</strong>d.<br />

Eine völlige Aufgabe des Kindeswohlbegriffs stellt jedoch auch keine akzeptable Lösung für<br />

diese Problematik dar. Die Funktion, die dem Kindeswohlbegriff zukommt, ist grundsätzlich<br />

unabdingbar. Diese Funktion besteht darin, aus der Perspektive Dritter einen Ersatzwillen<br />

oder ein Hilfskonstrukt für Kinder zu formulieren, die noch nicht kompetent und mündig<br />

bestimmen und erkennen können, was in ihrem Interesse liegt, was gut (bzw. schädlich) für<br />

sie ist, und die sich nicht eigenverantwortlich selbst bestimmen können. Wir ziehen einem<br />

Kleinkind im Winter eine wärmende Jacke an, geben ihm gesundes Essen und passen im<br />

Straßenverkehr auf es auf, weil <strong>wir</strong> <strong>glauben</strong>, dass dies im Interesse des Kindes liegt und dass<br />

das Kind in den fraglichen Angelegenheiten nicht ausreichend mündig und kompetent für<br />

sich selbst sorgen kann.<br />

Ein Verzicht auf den Begriff des Kindeswohls oder auf ein entsprechendes begriffliches<br />

Konstrukt kommt auch im gesetzlichen Kontext nicht infrage, solange man anerkennt, dass<br />

Kinder in ihrem Schicksal und Wohlergehen nicht voll umfänglich und bis zur letzten<br />

Konsequenz ihren Erziehungsberechtigten ausgeliefert sein sollten.<br />

Stark vereinfachend und abstrahierend lassen sich drei verschiedene zeitliche Dimensionen<br />

unterscheiden, auf die sich das Kindeswohl beziehen kann: Ein Kind kann erstens bezüglich<br />

seiner in naher Zukunft liegenden Interessen inkompetent oder unmündig sein, zweitens<br />

bezüglich seiner mittelfristigen Interessen, z.B. wenn es <strong>bei</strong> einem Sechsjährigen darum geht,

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