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Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

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498 GUTWALD<br />

seine Entscheidung, die Brücke zu überqueren, weniger autonom ist, wenn ihm die<br />

Information über den Schaden an der Brücke fehlt.<br />

Mit dieser graduellen Interpretation von Autonomie eröffnen sich hier zwei Probleme, die aus<br />

liberaler Sicht bedenklich sind, und daher Gründe liefern, um das graduelle Konzept als<br />

politisch-liberalen Begriff möglichst wenig einzusetzen.<br />

Zum einen ergibt sich aus dem Millschen Liberalismus ein überzeugender Grund, warum <strong>wir</strong><br />

Autonomie nicht graduell verstehen sollten. So ist es eine zentrale Forderung des<br />

Autonomieschutzes, dass jedem Menschen eine Sphäre zugestanden <strong>wir</strong>d, in der er frei<br />

entscheiden kann und darf. Dieses Ziel ist aber durch die Auffassung von Autonomie als<br />

Schwelle wesentlich besser erreicht. Wenn <strong>wir</strong> Autonomie als graduell und perfektionistisch<br />

verstehen, werden viele Entscheidungen als defizitär gelten. Damit <strong>wir</strong>d ein großer Raum für<br />

Paternalismus eröffnet, da jede Entscheidung, die offen für rationale Kritik ist, offen für einen<br />

potentiellen Eingriff ist, insbesondere wenn, wie die Bounded Rationality-Theorie behauptet,<br />

die meisten unserer Entscheidungen defizitär sind. Damit <strong>wir</strong>d der Freiheitsraum, der im<br />

liberalen System garantiert werden soll, verkleinert. 29<br />

Zweitens <strong>wir</strong>d die Engführung von Rationalität und Autonomie der philosophischen Idee von<br />

Autonomie nicht so gut gerecht wie das alternative Verständnis. Rationalität ist nur eine<br />

Voraussetzung von Autonomie. Das bedeutet aber nicht, dass sie die wichtigste Rolle spielen<br />

soll. Im Gegenteil, Rationalität kann, als graduelles Konzept verstanden, sogar für die<br />

Autonomie hinderlich sein. Stellen <strong>wir</strong> uns vor, neben uns stünde ein Roboter, der sich jedes<br />

Mal in unsere Handlungen einmischt, wann immer <strong>wir</strong> eine Entscheidung treffen, die nicht<br />

völlig unsere eigenen Präferenzen maximiert. 30 Auf diese Art mag die Rationalität einer<br />

Person verbessert werden, aber ihre Autonomie muss so nicht gefördert werden bzw. <strong>wir</strong>d<br />

sogar darunter leiden. Zentral für Autonomie ist, wie Mill betont, die Individualität und<br />

Selbstentwicklung einer Person 31 , d. h. die Führung eines eigenen Lebens. Dies kann und<br />

muss auch die Möglichkeit <strong>bei</strong>nhalten, Fehler zu machen, aus diesen zu lernen bzw. die<br />

Konsequenzen daraus zu ziehen etc. Zu einer eigenen, authentischen Entscheidung gelangt<br />

man nämlich in manchen Fällen erst dadurch, dass man die Freiheit hat, sich zu irren, seine<br />

Fehler einzusehen und daraufhin, den eigenen Weg zu finden.<br />

Gerade letztere Überlegung spricht meiner Ansicht nach dagegen, Autonomieförderung und<br />

insbesondere Enhancement als positiv zu bewerten. Folgt man dem „Spirit“ der o.g.<br />

Argumente Sunstein/Thalers bzw. vieler Medizinethiker, scheint es durchaus gerechtfertigt,<br />

ja evtl. sogar gefordert, Enhancement zur Förderung von Autonomie einzusetzen.<br />

Sunstein/Thaler sprechen z.B. davon, Menschen zu „besseren“ Entscheidungen zu führen.<br />

Autonomie bzw. die relevanten Fähigkeiten werden nicht als individuelle Selbstbestimmung<br />

betrachtet, sondern vielmehr als Ideal, dem die tatsächlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten<br />

der Menschen möglichst entsprechen sollten. Wieso sollte aus dieser Perspektive der<br />

Gedanke fern liegen, dass die Fähigkeiten der Menschen sich generell steigern, um sich<br />

besser selbst bestimmen zu können? Wenn dieses Ziel durch Maßnahmen des kognitiven<br />

Enhancements besser zu erreichen ist, wieso sollten <strong>wir</strong> – angenommen die Vorteile<br />

überwiegen die Risiken – auf diese verzichten? Und sie auch nicht <strong>bei</strong> Menschen mit<br />

Defiziten einsetzen?<br />

29<br />

Anzumerken ist, wie Markus Englerth es tut, dass andere Überlegungen ins Feld geführt werden<br />

können, die gegen einen Eingriff in die Autonomie sprechen, z. B. Überlegungen der Effizienz, das<br />

Vorhandensein milderer Mittel, oder der positiven Effekte, die bestimmte rationale „Fehler“ haben<br />

können (vgl. Englerth 2007). Dies mag stimmen, kann das Problem aber nicht vollständig beheben, da<br />

dies keine prinzipielle Grenze festlegen kann, ab wann in das Leben von autonomen Personen nicht<br />

mehr eingegriffen werden darf.<br />

30<br />

vgl. Arneson 1980<br />

31<br />

vgl. Mill 1859

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