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Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? - bei DuEPublico ...

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474 BLÖSER<br />

dem oben beschriebenen Dilemma, weder die Grundfreiheiten der Familie einschränken,<br />

noch dem Differenzprinzip den Vorrang einräumen zu wollen. Die einzige Möglichkeit,<br />

Chancengleichheit vollumfänglich zu ver<strong>wir</strong>klichen, bestünde darin, die Familie<br />

„abzuschaffen“, was nach Rawls das Ideal der Chancengleichheit zwar verlangt, wofür aber<br />

„im Gesamtzusammenhang der Gerechtigkeitstheorie“ (TdG, 555) wenig spricht, da diese<br />

Maßnahme eindeutig die Grundfreiheiten der Familie untergräbt. Rawls selbst expliziert<br />

nicht, wie weit die Bemühungen um Chancengleichheit gehen <strong>sollen</strong>, obgleich er diese Frage<br />

stellt, sondern verweist wiederum nur darauf, dass durch das ausgleichende Differenzprinzip<br />

Ungleichheiten in den Chancen ‚leichter hinzunehmen’ seien (TdG, 556).<br />

Doch die Unmöglichkeit, Chancengleichheit vollständig zu realisieren, bedeutet noch nicht,<br />

dass das Differenzprinzip den Vorrang erhalten soll. Nach Rawls bedeutet „lexikalischer<br />

Vorrang“, dass das nachgeordnete Prinzip erst dann zum Tragen kommen darf, „wenn die<br />

ihm vorgeordneten entweder voll erfüllt oder nicht anwendbar sind“ (TdG, 62). Die<br />

entscheidende Frage bezüglich des Verhältnisses zwischen Chancen- und Differenzprinzip<br />

lautet also, wann das Chancenprinzip als „nicht anwendbar“ erklärt werden kann.<br />

Zur Beantwor<strong>tun</strong>g dieser Frage muss geklärt werden, wie weit Chancengleichheit ver<strong>wir</strong>klicht<br />

werden kann, ohne die Grundfreiheiten der Familie anzugreifen. Dass es eine Einschränkung<br />

der Grundfreiheiten von Eltern ist, wenn man ihnen ihre Kinder im Alter von drei Jahren<br />

wegnimmt, würden wohl die meisten unterschreiben. Ob es jedoch auch die Grundfreiheiten<br />

beschneidet, wenn der Besuch einer Vorschule für Fünfjährige für verpflichtend erklärt<br />

würde, ist sicherlich diskutierenswert. <strong>Was</strong> zu den Grundfreiheiten gehört und was nicht,<br />

entscheidet also wesentlich darüber, wie stark der Einfluss der Familie ausgeglichen und<br />

damit die Realisierung der Chancengleichheit befördert werden kann. Welche konkreten<br />

Maßnahmen Chancengleichheit ver<strong>wir</strong>klichen können, hängt von den jeweiligen<br />

gesellschaftlichen Bedingungen ab. Diese Maßnahmen müssen in empirischen Studien auf<br />

ihre Wirksamkeit hin überprüft werden.<br />

Es fragt sich, was die Quellen der normativen Regeln zur Bestimmung der familiären<br />

Grundfreiheiten sind. Muss man, um diese Fragen zu beantworten, Rawls’ ideale Theorie<br />

lediglich „anwenden“ ohne sie durch andere normative Regeln zu ergänzen? Das wäre<br />

<strong>bei</strong>spielsweise der Fall, wenn es darum ginge, ob sich das Gehalt eines Managers gegenüber<br />

dem eines Müllmanns noch weiter erhöhen dürfte. Dann müsste man prüfen, ob gemäß dem<br />

Differenzprinzip die Gehaltserhöhung des Managers auch dem Müllmann (und anderen<br />

schlecht gestellten Gesellschaftsmitgliedern) zugute kommt, z.B. durch progressive<br />

Besteuerung. Dies wäre eine „Anwendung“ der idealen Theorie, da keine weiteren normativen<br />

Regeln notwendig wären, um die Frage zu entscheiden. Das ist jedoch im Fall der<br />

Realisierung von Chancengleichheit nicht ohne Weiteres möglich, denn um zu prüfen, ob eine<br />

konkrete Maßnahme die Grundfreiheiten der Familie verletzt, muss der Begriff der familiären<br />

Grundfreiheiten erst einmal inhaltlich bestimmt werden. Die Aufgabe ist demnach eine<br />

Interpretation des Begriffs der familiären Grundfreiheiten und eine Bestimmung der<br />

notwendigen und <strong>wir</strong>ksamen Maßnahmen, die den jeweiligen konkreten Missständen<br />

hinsichtlich der Realisierung von Chancengleichheit angemessen sind.<br />

Diese Aufgabe scheint nicht in den Zuständigkeitsbereich der idealen Theorie zu fallen,<br />

sondern vielmehr eine Aufgabe der öffentlichen Auseinandersetzung zu sein. Gerade in einer<br />

pluralistischen Gesellschaft können die Meinungen darüber auseinandergehen, welche die<br />

schützenswerten Grundfreiheiten der Familie sind. Wenn hinsichtlich dieser Frage ein<br />

Konflikt besteht, müssen die verschiedenen Parteien in einen Prozess der öffentlichen<br />

Rechtfertigung einsteigen, d.h. die<br />

anderen durch öffentlichen Vernunftgebrauch überzeugen, d.h. durch Formen des<br />

Denkens und Schließens, die politischen Grundfragen angemessen sind, sowie durch

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